Schwarz-Weiße Weihnacht von Maginisha ================================================================================ Kapitel 2: 2.Dezember --------------------- Mit gerunzelter Stirn sah Omi aus dem Fenster. Dort draußen fielen bereits seit Stunden weiße Flocken vom Himmel. Gestern war ihm diese Tatsache noch als ein gutes Zeichen vorgekommen. Sie hatten ihren Auftrag in dem Ski-Resort ohne Komplikationen hinter sich gebracht. Jemand hatte junge Frauen entführt und in lebendige Eisskulpturen verwandelt. Sie hatten den Täter gestellt und ihn seinem verdienten Schicksal zugeführt. Die Leiche hatten sie ihm Wald gelassen, wo sie der beginnende Schneefall langsam zugedeckt hatte. Unkompliziert und effektiv. Doch jetzt erschien ihm das weiße Geriesel nicht mehr unbedingt ein Segen zu sein. An den Seiten der Zugstrecke türmten sich bereits große Schneewehen auf und der zunehmende Wind ließ ihn nichts Gutes vorausahnen. Er ließ sich in seinen Sitz auf seinen orangen Anorak sinken und betrachtete seine Teamkameraden.   Aya saß immer noch in seinen weißen Schal und den eleganten, dunkelblauen Wintermantel gehüllt ganz am Gang und hatte die Nase in einem Buch vergraben. Es war offensichtlich, dass er sich nicht unterhalten wollte. Neben Aya durchwühlte Ken gerade seine Tasche nach etwas Essbarem. Um den Hals hing seine Skibrille, von der er sich in den letzten Tagen praktisch nie getrennt hatte. Eine Erinnerung daran, wie er sich eins ums andere Mal todesmutig mit seinem Snowboard die steilen Pisten hinunter gestürzt hatte. Omi war sich sicher, dass der Athlet den Aufenthalt in dem exklusiven Skigebiet am meisten genossen hatte. Sein Blick wanderte weiter zu Yoji. Der Playboy hatte sich wohlweislich von allen sportlichen Aktivitäten ferngehalten, wenn es nicht gerade darum ging, mit seinen Skiern in der Hand die ebenfalls exklusive Damenwelt mit seiner Aufmerksamkeit zu bedenken. Omi wusste nicht, wie er es fertiggebracht hatte, aber er hatte dabei immerhin ausgesehen, als könne er Ski fahren. Omi hingegen hatte mehr als wackelig auf den langen Brettern gestanden und das Ganze schließlich sein lassen. Dafür war er der ungekrönte Sieger in jeder Schneeballschlacht gewesen. Jetzt hingegen wirkte der große Blonde neben ihm so gar nicht mehr wie der Herr der Lage. Er rutschte unruhig in seinem Sitz hin und her, als habe er Mühe, seine langen Beine unterzubringen, und seine Hände spielten nervös mit dem Feuerzeug in seinen Händen. Omi sah kurz zu dem Schild hinauf, das über der Schiebetür des Zugabteils prangte. Nichtraucher. Es war eine Entscheidung von drei gegen einen gewesen. Omi war sich allerdings auch dabei nicht mehr sicher, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war.   Wieder bewegte Yoji sich und stieß dabei den ihm gegenüber sitzenden Aya an. Der ließ sein Buch sinken und bedachte Yoji mit einem eisigen Blick. „Yoji!“ Allein in dem einen Wort lag mehr Frost als auf dem gesamten Zugdach. „Was?“, schnappte der Angesprochene zurück. Der Nikotinmangel schien seine Überlebensinstinkte auf die Beschaffung des notwendigen Suchtstoffs beschränkt zu haben. Für andere mögliche Gefahren, wie beispielsweise den Tod durch die Klinge eines Katanas, war in seiner Wahrnehmung kein Platz mehr. „Sitz still“, präzisierte Aya seine Aussage. Er blickte vielsagend auf Yojis auf und ab wackelndes Knie. „Ich kann nicht!“, jammerte der. „Ich drehe durch, wenn ich nicht gleich eine Zigarette bekomme. Das ist alles eure Schuld.“ Sein verzweifelter Gesichtsausdruck brachte Omi fast dazu, Mitleid mit ihm zu haben. Allerdings nur fast. „Aber Yoji“, versuchte er die Wogen zu glätten. Ein ruhiger Tonfall war bei Verrückten und kleinen Kindern durchaus angebracht. Und Yoji war in diesem Zustand eine Mischung aus beidem. „Wir hätten unmöglich mit dem Auto fahren können. Du siehst doch, was da draußen für Wetter ist.“   Er wollte gerade zum Fenster zeigen, als plötzlich ein Ruck durch den Zug ging. Omi wurde aus seinem Sitz geschleudert und landete auf Ken, der gerade in ein Sandwich hatte beißen wollen. Omi und Eiersalat ergossen sich auf Kens Schoß, der seinen Unmut sofort laut Luft macht. „Pass doch auf, Omi. Sieh mal, wie ich aussehe.“ „Entschuldige Ken“, murmelte Omi und spürte, wie er rot wurde. Er rappelte sich auf und fischte ein Stückchen Ei von seinem Pullover. Mit einem entschuldigenden Blick reichte er Ken eine Packung Taschentücher. „Was war das überhaupt?“, meckerte Ken weiter, während er versuchte, die Bescherung zu beseitigen. „Ich glaube, der Zug hat angehalten? Eine Notbremsung?“   In diesem Moment erwachten die Lautsprecher über ihren Köpfen zu knisterndem Leben. „Sehr verehrte Damen und Herren. Wir möchten hiermit unser größtes Bedauern für die entstandenen Unannehmlichkeiten ausdrücken. Die anhaltenden Schneefälle haben zu Behinderungen auf unserer Fahrtstrecke geführt. Räumarbeiten sind bereits veranlasst. Wir bitten Sie daher noch um ein wenig Geduld. Der Zug wird in Kürze weiterfahren.“   „Was?“ Yoji war aufgesprungen und blickte wie ein waidwundes Reh zu dem Lautsprecher hoch. „Das könnt ihr nicht machen! Ich muss hier raus!“ Er machte Anstalten, die Abteiltür zu öffnen, aber Aya hob seinen Fuß und stellte ihn auf die gegenüberliegende Sitzbank, sodass sein Bein Yoji den Weg versperrte. „Setz dich wieder hin.“ Die Worte duldeten eigentlich keinen Widerspruch. Aber Yoji war gerade nicht in einem Zustand geistiger Gesundheit, die ihm ein rationelles Urteil seiner Lage erlaubt hätten. „Aya, ich muss jetzt sofort eine rauchen. Bitte!“ Das Wimmern in seiner Stimme hätte kleinen wuscheligen Häschen und putzigen Eichhörnchen die Tränen in die Augen getrieben. Vielleicht sogar einem finsteren Yakuza-Boss. Aya hingegen blieb ungerührt. „Du kannst den Zug nicht verlassen“, erklärte er ruhig. „Wir wissen nicht, wann es weiter geht. Am Ende fährt der Zug ohne dich weiter. Es reicht mir schon, dass ich dich alle zwei Wochen aus irgendeiner von Tokios Bars abholen muss. Ich werde bestimmt nicht den Porsche aus der Garage holen und durch das Schneetreiben da draußen fahren, um deinen frierenden Hintern irgendwo aus dem Nirgendwo zu fischen. Also setzt dich wieder hin.“   Dieses Mal schien die Botschaft angekommen zu sein. Yoji pflanzte sich wieder auf den Sitz und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann müsst ihr mich aber ablenken. Sonst gibt es hier Tote!“ Aya hob nur eine Augenbraue und vertiefte sich wieder in sein Buch, aber Ken und Omi sahen sich vielsagend an. Vermutlich war es wirklich besser, wenn sie ihr ältestes Teammitglied mit etwas beschäftigten. Wer wusste schon, zu was der Nikotinmangel Yoji sonst noch trieb. Ken öffnete als Erster den Mund. „Lasst uns doch Scharade spielen“, schlug er vor, aber Omi schüttelte den Kopf. „Dazu ist es hier zu eng. Wie wäre es mit Ich sehe was, was du nicht siehst?“ Yojis Augenbrauen wanderten bis zu seinem gepflegten Haaransatz. „Dann ist das erste, was du hier nicht mehr siehst, mein durchaus perfektes Gesicht.“ „Wir könnten was sing...“ Ken schluckte, als Ayas Blick ihn über den Rand des Buchs hinweg traf. „Ok, vielleicht lieber nicht. Was haltet ihr von Ich packe meinen Koffer? Das spiele ich mit den Kindern immer im Bus, wenn wir zu einem Auswärtsspiel müssen.“ Yoji rollte mit den Augen. „Als Nächstes schlagt ihr noch Wortkette und Teekesselchen vor. Kommt schon, Leute, ich brauche was, wo ich nicht so viel nachdenken muss. Davon bekomme ich Falten.“   „Die kriegt man vom Rauchen auch“, murmelte Omi wohlgemerkt so leise, dass Yoji ihn nicht hören konnte. Sein Blick fiel auf die beschlagene Fensterscheibe. „Wie wäre es mit Montagsmaler? Da hat Yoji was zu tun und wir was zu lachen.“ „Soll das heißen, ich kann nicht malen?“, wollte der aufgebracht wissen. „Du hast ja keine Ahnung. Ich habe sogar mal ein Semester Kunst studiert.“ „Im Ernst?“ Ken machte große Augen. „Na klar. Weißt du, wie viele hübsche Kunststudentinnen es gibt? Du erzählst ein bisschen was von Monet und Van Gogh und sie schmelzen dir in die Arme. Es war ein sehr unterhaltsames Studium.“ Yojis Gesichtsausdruck wurde für einen Augenblick schwärmerisch. Dann klatschte er in die Hände und drängelte sich zum Fenster durch. „Also gut, ihr Anfänger. Dann seht einmal dem Profi zu. Ich mache es auch einfach für euch.“   Er hob in einer gewichtigen Geste den Zeigefinger und fing an, zwei nebeneinander liegende Kugeln zu malen. Darunter setzte er eine lange, nach unten weisende Spitze. Zufrieden mit seinem Werk drehte er sich um. „Na, was ist das?“ Ken legte die Stirn in Falten. „Ähm, ein Pinguin?“ „Falsch!“ „Ein Auto?“ „Wieder falsch?“ „Hund, Katze, Maus?“ Yoji warf in gespielter oder echter Verzweiflung die Arme in die Luft. „Du bist ein hoffnungsloser Fall, Ken. Omi, was siehst du da drin?“ Omi besah sich das Gebilde und spürte, wie ihm warm wurde. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nur ein heiseres Krächzen aus seinem Hals. Seine Wangen hatten angefangen zu brennen. „Omi? Alles in Ordnung?“ Ken sah ernsthaft besorgt aus. Yoji sah von Omi zu seinem Kunstwerk, dann nochmal zu Omi und wieder zur Fensterscheibe. Schließlich schnaubte er entrüstet. „Das ist eine Eistüte, du kleiner Perversling. Also wirklich. Ich sollte mir mal deinen Internet-Verlauf ansehen. Mal sehen, was sich da für Abgründe auftun.“ Ken musterte das Werk, das inzwischen schon leicht verlaufen war, noch einmal genauer. Jetzt zierte auch seine Nase ein kleiner Rotschimmer. „Wer malt bitte eine Eistüte mit zwei Kugeln. Ein normaler Mensch würde drei nehmen.“ „Du vielleicht“, gab Yoji spitz zurück. „Einige von uns achten aber auf ihre schlanke Linie und futtern nicht alles in sich hinein, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Sei bloß froh, dass momentan Winter ist. Vor der Bikini-Saison ist definitiv eine Diät angesagt.“ „Ich musste in letzter Zeit so viel Training ausfallen lassen“, antwortete Ken beleidigt und musterte unauffällig seinen Bauch, auf dem noch die Spuren des Eiersalats klebten. „Außerdem bin ich jetzt dran. Ich war immerhin näher dran als Omi.“ Er stand auf und ging zum Fenster. Als Erstes malte er zwei Kreise.   „Brüste!“, rief Yoji, bevor Ken weitermalen konnte. „Ich war doch noch gar nicht fertig!“, begehrte Ken auf, aber Yoji winkte nur ab. „Ich habe gewonnen. Jetzt ist Omi dran.“ Omi erhob sich, tauschte mit Ken den Platz und betrachtete die Fensterscheibe. Was sollte er nur malen? Plötzlich hatte er eine Idee. Er zeichnete ein flach liegendes Oval und daneben noch eines. „Brüste!“, rief Yoji wieder. Omi drehte sich um. „So ein Blödsinn. Keine Frau der Welt hat solche Brüste.“ Yojis Grinsen wurde breiter. „Und das weißt du woher?“ „Ich..ich..ich...“, stotterte Omi und merkte, wie er bereits zum dritten Mal rot wurde. Das hier war definitiv nicht sein Spiel. Schnell setzte er sich wieder und vergrub den Kopf in den Händen.   „Dann wäre ich jetzt wohl dran“, erklang da plötzlich Ayas tiefe Stimme. Omis Kopf ruckte nach oben. Ein schneller Seitenblick verriet ihm, das Ken ebenso überrascht dreinsah, wie er sich fühlte. Yoji hingegen lehnte sich siegessicher zurück. „Dann zeig mal, was du kannst, Aya. Ich denke, ich werde auch dein Rätsel lösen.“   Aya antwortete nicht. Stattdessen ging er zum Fenster und malte mit schnellen Bewegungen zwei aneinander liegende Halbkreise, die von einem kleinen Punkt gekrönt wurden. In die Einbuchtung zwischen den beiden Hügeln setzte er noch einen Punkt. Er dreht sich um und sah Yoji herausfordern an. Der Blonde betrachtete das Bild, dann Aya, dann wieder das Bild. Er legte den Kopf schief und die Stirn in Falten. Schließlich sagte er: „Das ist überhaupt nichts. Du hast gemogelt, Aya.“ Ayas Gesichtsausdruck zeigte eine Regung, die Omi noch nie bei ihm gesehen hatte. Sein linker Mundwinkel hob sich um mehrere Millimeter und Omi war sich sicher: Dies war die Aya-Variante eines süffisanten Lächelns. „Ich hatte gedacht, dass gerade du das erkennen solltest, Yoji“, sagte Aya, stieg über die langen Beine des Nikotinentzug-Opfers und ließ sich mit einer eleganten Bewegung wieder in seinen Sitz gleiten. Yoji musterte die Zeichnung erneut. Er schüttelte den Kopf. „Nein, keinen blassen Schimmer. Also, Aya, was ist das?“ Aya hob sein Buch und steckte die Nase zwischen die Seiten. Nach einer gefühlten Ewigkeit hob er den Blick erneut und amethystfarbene Augen warfen Yoji einen spöttischen Blick zu. „Das ist eine nackte Frau, die einen Floh betrachtet. Von oben gesehen.“ Damit vertiefte er sich wieder in seine Lektüre und war definitiv nicht mehr ansprechbar.   Den Rest der Zugfahrt, waren Omi und Ken damit beschäftigt, Yoji gut zuzureden, seine Hand zu halten und ihm einen kalten Waschlappen auf die Stirn zu legen. Der Zug hatte mittlerweile seinen Weg fortgesetzt, während Yoji immer wieder leise vor sich hin murmelte: „Brüste. Aya hat tatsächlich Brüste gemalt. Jetzt kann ich in Frieden sterben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)