Schwarz-Weiße Weihnacht von Maginisha ================================================================================ Kapitel 3: 3.Dezember --------------------- Um ihn herum war es dunkel. Still und dunkel. Niemand war mehr da. Alle hatten ihn verlassen. Er wusste es, weil all die kleinen Geräusche fehlten, die sie sonst machten. Das Reden, das Atmen, der Herzschlag. Kein Lebenszeichen bis auf seine eigenen störte mehr die vollkommene und undurchdringliche Stille. In gewisser Weise erinnerte ihn das an die Stunden, die er frierend und mit schmerzenden Knien auf dem harten Holz der Kirchenbänke zugebracht hatte. Betend. Andacht haltend. Im stillen Zwiegespräch mit Gott. Aber Gott war nicht mehr. Hatte es ihn je gegeben? Es musste so sein. Denn jetzt war wieder die Zeit im Jahr, an dem ein Teil der Menschheit seine Fleischwerdung feierte. Die Geburt seines Sohnes. Als wäre die Ankunft des Sohnes ein willkommenes Fest. Er fragte sich, ob Maria gefeiert hatte. Oder hatte sie Angst gehabt? Angst wie seine eigene Mutter Ruth, die sich von ihrem Sohn abgewandt hatte und ihn verleugnet hatte. Ein eigenartiger Zufall, dass sie, deren Namen in der Bibel ein Sinnbild für Treue war, sich so schändlich und treulos verhalten hatte. Er hatte sie dafür bestraft und jetzt war er allein. Ganz allein.   Farfarello lehnte sich kurz gegen die festen Bahnen aus weißem Stoff, die seinen Körper umgaben. Sorgfältig prüfte er jede Faser, jede Falte. Nein, es gab kein Entkommen. Schuldig war sorgfältig gewesen, als er ihn gebunden hatte. Sehr sorgfältig. Er hatte ihn sogar an der Decke aufgehängt. Ein Vergnügen, das er in letzter Zeit oft bekam, da er es andernfalls schon ein paar Mal geschafft hatte, sich aus dem weißen Gefängnis zu befreien. Es war erstaunlich, was sich mit einem Teelöffel so alles bewerkstelligen ließ, wenn man es geschickt anstellte. Was der rote Teufel nicht wusste, weil Farfarello es gut vor ihm verbarg, war die Tatsache, dass er diesen Zustand fast ein wenig genoss. Das in den Kopf strömende Blut machte das Denken einfacher und ließ seinen Kopf leicht und frei werden. Frei von dem Drang zu morden. Frei von dem Drang, den inneren Druck durch Schmerz, Blut und Tod zu besänftigen.   Er hielt inne, um zu lauschen. Immer noch regte sich nichts in dem leeren Apartment über seinem Kopf. Oder besser gesagt zu seinen Füßen. Diese oben zu unten Perspektive sorgte immer wieder für erheiternde Momente. Noch vor wenigen Stunden war dort oben alles voll emsiger Geschäftigkeit gewesen. Die Arbeiter eines Umzugsunternehmens hatten alles zusammen gepackt, was zusammenzupacken war, um es in Schwarz' neues Hauptquartier zu bringen, ein Haus am Stadtrand. In dieses würden die anderen drei Mitglieder seines Teams am Abend zurückkehren. Sie würden ein trautes Heim vorfinden. Vielleicht würde gedimmtes Licht brennen und ein gemeinsames Abendessen sie erwarten. Eine vertraute Runde, ein heiliges Dreigespann. Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.   Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, als ihm auffiel, dass die drei wohl auch als eine Art Abbild der Heiligen Familie durchgehen konnten. Obwohl Schuldig als Jungfrau Maria doch eine sehr...abwegige Vorstellung war. Und doch. Immer wieder waren es drei, nicht vier, die sich zusammenfanden. Vier stand für den Tod. Zumindest hier in Japan. Die Ortsansässigen mieden die Vier, wo sie nur konnten. Ja, sie schrieben sie nicht einmal an die Etagen ihrer Häuser, obwohl jedes Kind sie doch zählen konnte.   Schuldig war es gewesen, der ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Er hatte sich über Nagi lustig gemacht, der einen angebotenen Teller mit vier Lebensmitteln darauf abgelehnt hatte. Dabei kannte der Deutsche einen ähnlichen Brauch in Bezug auf die Zahl Dreizehn. Ob er wohl wusste, dass diese Furcht aus der Bibel stammte? Dass eben der Jesus, dessen Geburtstag sie jedes Jahr um diese Zeit mit Lichtern und Singen und großem Zinnober feierten, von dem letzten, dem dreizehnten, der an seine Tafel gekommen war, verraten wurde. Eine besondere Schwere bekam die Dreizehn, wenn man sie mit einem Freitag in Verbindung brachte. Dem Tag, an dem der Sohn Gottes hinabgestiegen war in das Reich der Toten. Farfarello fragte sich, ob die Engel an diesem Tag geweint hatten. Oder hatten sie geschwiegen? Geschwiegen im Angesicht der Grausamkeit, zu der die Menschheit fähig war? Den Sohn ihres höchst eigenen Gottes zu ermorden?   Er wusste es nicht, aber er hätte es gerne herausgefunden. Was wohl Maria gesagt hätte, wenn sie gewusst hätte, was den holden Knaben erwartete, den sie in der Nacht des 24. Dezembers in Windeln gewickelt in eine Krippe gelegt hatte? Für einen Augenblick ergötzte er sich an der Vorstellung, als Vierter in das Glück der trauten Drei zu platzen und ihnen die Wahrheit zu eröffnen. Das Leid im Gesicht der jungen Mutter zu sehen, wenn sie vom späteren Schicksal des heiligen Kindes erfuhr. Geboren um zu sterben. Der Herr gibt es und der Herr nimmt es wieder. Ein höchst befriedigender Gedanke. Ein Gedanke, der ihn wohl die Weihnachtszeit über begleiten würde.   Er hielt inne und lauschte wieder. Waren das Schritte, die dort zu hören waren? Schritte, die sich der Kellertür näherten, hinter der er verborgen war war. Schritte und ärgerliche Stimmen. Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht und das Licht flammte auf. Da stand sie, seine höchst eigene, heilige Familie. Gekommen, um ihr tödliches, viertes Mitglied zu holen. „Ich kann es einfach nicht glauben“, nörgelte Nagi, während er Farfarello mit seinen Kräften von der Decke holte. „Wie konntest du nur Farfarello vergessen?“ Schuldig hob abwehrend die Hände. „Ich habe ihn nicht vergessen. Ich habe ihn nur...verlegt.“ Crawford räusperte sich vernehmlich. „Man verlegt vielleicht eine Brille oder eine Waffe, Schuldig, aber doch kein Teammitglied.“ „Na was denn?“, echauffierte sich der rothaarige Telepath. „Ist Farfarello etwas keine Waffe? Ich meine, er sagt den lieben, langen Tag nicht viel, aber wenn´s an Töten geht, ist er unser Mann. Best Waffe ever, ne?“ „Hör auf, meine Muttersprache zu verunglimpfen“, wies Crawford ihn ruhig zurecht. „Und meine“, murrte Nagi, während er die Schnallen der Zwangsjacke löste. Er schnaubte und wischte sich die Haare aus der Stirn. „Schuldig ist zu dieser Zeit des Jahres noch unausstehlicher als sonst,“ murmelte er so leise, dass nur Farfarello ihn hören konnte. „Dieser deutsche...Frohsinn. Und dann die Gemütlichkeit, die er überall Einzug halten lassen will. Manchmal glaube ich, er ist das Kind von uns beiden.“ Farfarello drehte sich zu dem Jungen herum und musterte ihn mit seinem einzelnen, bernsteinfarbenen Auge. „Wusstest du, dass die heilige Jungfrau Maria immer in blau dargestellt wird?“, fragte er in beiläufigem Ton. Nagi sah ihn an, als wäre er nicht ganz bei Trost. „Allesamt verrückt geworden“, murrte er kopfschüttelnd, drehte sich um und verließ mit steifen Schritten den Raum. Farfarello sah der schmalen Gestalt in der blauen Schuluniform mit schief gelegtem Kopf nach und überlegte, ob er seine Aufstellung der Heiligen Familie vielleicht doch noch einmal neu überdenken sollte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)