Schwarz-Weiße Weihnacht von Maginisha ================================================================================ Kapitel 12: 12.Dezember ----------------------- Schuldig hatte die Augen geschlossen und schien geistig abwesend. Ein Zustand, an den sich seine Teamkollegen schon gewöhnt hatten. Der Telepath verbrachte manchmal Stunden damit, den Gedanken fremder Leute zuzuhören. Er sagte, es amüsiere ihn, sie mit all ihren kleinen Problemen belastet zu sehen. Etwa so, wie ein kleiner Junge vor einer Ameisenfarm saß. Ab und an nahm er ein Brennglas zur Hand und vernichtete eine von ihnen. Nur weil er es konnte. Aber dieses Mal war die gleichmütige Maske nur gespielt. In Wahrheit lauerte er darauf, dass Crawford sein Arbeitszimmer verließ. Dieses schloss das Orakel seit Neuestem ab und Schuldig wollte endlich wissen, warum das so war. Sie hatten sonst keine Geheimnisse voreinander und diese Abweichung von Crawfords Routine hatte ihn stutzig werden lassen.   Der gebürtige Amerikaner liebte es, Dinge immer auf die gleiche Weise zu tun. Er war geradezu besessen davon. Möglicherweise ein Nebeneffekt seiner Gabe. So wie Schuldig selbst immer ein wenig die Neigung dazu hatte, zu übertreiben. Allen und jedem zu zeigen, dass er da war, er selbst war, anders war. Als Telepath verlor er sich manchmal einfach zu sehr in den Gedanken seiner Mitmenschen. Man selbst zu sein, war wichtig. Extrem wichtig. Aber nicht so wichtig, wie herauszufinden, was Crawford vor ihm verbarg. Denn dass es hinter der Tür ein Geheimnis gab, dessen war Schuldig sich sicher. Vielleicht wurde es uninteressant, sobald er es herausgefunden hatte, aber bis dahin brachte ihn seine Neugier fast um.   Natürlich stand es außer Frage, Crawford danach zu fragen. Oder gar die Informationen einfach aus seinem Kopf zu holen. Es gab da diesen ungeschriebenen Codex, dass sie ihre Fähigkeiten nicht gegeneinander einsetzen. Obwohl...wenn er es recht bedachte, schien er der Einzige zu sein, der sich tatsächlich daran hielt. Nagi warf oft genug mit irgendwelchen Sachen (Kaffeemaschinen!) nach ihm, Farfarello war ein denkbar ungeeigneter Sparringpartner im Training, weil er einfach nie aufgab, selbst wenn man ihn mit mehreren Kugeln durchlöchert hatte, und wenn Crawford nicht ab und zu mal seine Zukunftsvision dazu nutze, um Schuldig einen Strich durch die Rechnung zu machen, dann wollte er ab heute Hans Christian Andersen heißen. Was also hielt ihn davon ab, einfach mal in Crawfords Gedanken nach der Lösung seines Problems zu suchen?   Schuldig verzog den Mund zu einem freudlosen Grinsen. Er wusste warum. Weil, wenn Crawford ihn bemerkte, er die nächsten drei Tage mit höchst unangenehmen Kopfschmerzen verbringen würde. Ungefiltert die Visionen eines Hellsehers abzubekommen, war alles anderes als angenehm. Schuldig hatte es ein paar Mal ausprobiert und für den Rest seines Lebens genug davon. Außerdem wusste Crawford immer, wenn er in seine Gedanken eindrang. Es blieb also nur die altmodische Art, die geschickte Planung und eine Haarnadel beinhaltete. Und nein, Schuldig würde niemandem verraten, warum er eine solche besaß.   Nach einer erfühlten Ewigkeit erbarmte sich Crawford endlich, die heiligen Hallen zu verlassen, die er sein Büro nannte. „Ich habe noch einen Termin mit einem Kunden. Bin in drei Stunden zurück.“ „So vage heute, Orakel?“, stichelte Schuldig. „Sind es nicht viel eher zwei Stunden, 48 Minuten und 12 Sekunden?“ „Du warst auch schon mal witziger, Schuldig“, gab Crawford trocken zurück. „Kümmere dich um Farfarello und sieh zu, dass Nagi etwas zu Abend isst. Er vergisst das neuerdings.“ „Weil er im Internet nach Pornos sucht“, gab Schuldig zurück. „Der Kleine wird erwachsen.“ „Schuldig...“ Der Telepath erhob sich halb und lugte über die Sofalehne. „Jaja, ich kümmere mich. Jetzt geh los und verdien' Geld. Mama will eine neue Diamanthalskette zu Weihnachten.“   Der letzte Satz hatte eigentlich nur ein weiterer schlechter Witz sein sollen, aber der Ruck, der dabei durch Crawfords Miene gegangen war, war Schuldig nicht entgangen. Aha, das war interessant. Hatte er da etwa eine Schwachstelle gefunden? Einen winzigen Riss in der ach so makellosen Fassade ihres Anführers? Mhm... Leider ließ sich aus der kleinen Reaktion nicht allzu viel ablesen. Es hätte weiterer Nachforschungen bedurft, daher beschloss Schuldig, das Problem auf später zu verschieben. Erst einmal galt es, eine verschlossene Tür zu öffnen.   Er wartete noch, bis die Haustür hinter Crawford ins Schloss gefallen war, dann sprang er vom Sofa und eilte über den Flur zu der besagten Tür, die sich ihm so auffordernd in den Weg stellte. Er legte die Hand an das Holz und strich langsam darüber. „Na meine Schöne, was für Geheimnis verbirgst du? Was liegt hinter deiner Unnahbarkeit? Was willst, aber kannst du mir nicht erzählen?“ Er grinste breit und hob die Haarnadel. „Wollen wir doch mal sehen, ob wir dich nicht zum Singen bringen können. Also schön: Sesam öffne dich!“     Es dauerte nicht lange, da schwang die Tür nach innen auf und gab den Blick auf Crawfords Arbeitsplatz frei. Der Schreibtisch war – wie sollte es anders sein – penibel aufgeräumt. Nichts lag herum, alles war beschriftet, katalogisiert und abgelegt. Schuldig strich mit den Fingerspitzen über das dunkle Holz des Tisches, während er um ihn herumging. Aus irgendeinem Grund war er sich sicher, dass das, was Crawford versteckte, sich hier verbarg. Crawford hatte einfach nicht genug Fantasie, um sich ein anderes Versteck auszudenken wie beispielsweise die antike Vase, die da plötzlich in seinem Blickfeld auftauchte.   Augenblicke später zog Schuldig seinen Arm wieder aus der Vase. „Ich hab´s ja gewusst. Pedantischer Bastard. Da ist nicht mal Staub drin!“ Mit einem halben Seufzen ließ er sich auf den Schreibtischstuhl sinken. Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum, bis er schließlich einfach mal versuchte, die Schublade zu öffnen, die sich darunter befand. Ganz entgegen seiner Vermutung ließ sie sich leicht öffnen. Schuldig zog sie heraus und schaute hinein.   Selbst hier drinnen herrschte eine genaue Ordnung. Die meisten Dinge, die sich darin befanden, waren Büromaterial. Stifte, leere Blätter, Notizblöcke, Klebezettel, Kugelschreiber. Aber ganz hinten in der Lade befand sich etwas, das nicht in das Bild passte. Es war eine kleine Schachtel und sie war, wie Schuldig verblüfft feststellte, in Geschenkpapier verpackt. Cremefarben mit grünen Tannenzweigen und lustig durch die Gegend hüpfenden Rentieren.   Schuldigs Augenbrauen näherten sich einander. Das sah Crawford gar nicht ähnlich. War das ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk eines Kunden? Oder hatte es Crawford für einen solchen besorgt? Wie von selbst griffen seine langen Finger nach dem Schächtelchen und zogen es hervor. Es war nicht sehr schwer und ein wenig länglich. Schuldig schüttelte es und es klapperte ganz leicht. Was also konnte darin sein? Und für wen? Er drehte das Kästchen herum und wurde der Karte gewahr, die an der Unterseite klebte. Mit einem zufriedenen Lächeln öffnete er sie, nur um kurz darauf überrascht aufzukeuchen. Denn dort stand in Crawfords höchst eigener Handschrift sein Name: Schuldig.   Wie hypnotisiert starrte er auf die acht Buchstaben. Ja, es bestand kein Zweifel. Crawford hatte anscheinend tatsächlich ein Geschenk für ihn. FÜR IHN! Schuldig blinzelte und konnte es immer noch nicht glauben. Ebenfalls nicht glauben konnte er das Gefühl, das sich in seinem Bauch ausbreitete. War das etwa ein Kribbeln? War er etwa aufgeregt deswegen? Schnell steckte er die Schachtel wieder zurück in die Schublade und schloss sie mit einem lauten Knall. Die anschließende Stille ließ ihn nur umso lauter seinen eigenen Herzschlag hören. Ja, es bestand kein Zweifel. Er war aufgeregt. Angenehm aufgeregt. Und was war eigentlich mit seinem Gesicht los? Das fühlte sich so seltsam an. Er hob die Hand und merkte, dass seine Wange ungewöhnlich warm war. War er etwa...das war unmöglich! Er erhob sich eilig und schoss mit übermenschlicher Geschwindigkeit ins Badezimmer. Dort sah er, was er bereits befürchtet hatte. Seine Wangen zierte ein zarter Rotschimmer, der einer Jungfrau in der Hochzeitsnacht sicherlich gut gestanden hätte. Aber doch nicht ihm. Nicht Schuldig!   Er drehte den Wasserhahn auf und schüttete sich kaltes Wassers ins Gesicht, bis er das Gefühl hatte, diese höchst peinliche Gesichtsfärbung endlich loszusein. Danach verließ er hoch erhobenen Hauptes das Badezimmer und begab sich in die Küche, um Nagi etwas zum Abendessen zu machen und nicht mehr darüber nachzudenken, dass Crawford ein Geschenk für ihn hatte. Crawford! Für ihn!! Ha!!!       Als der Besitzer des Büros an diesem Abend nach Hause kam, wunderte er sich über die geöffnete Tür. Hatte er etwa vergessen abzuschließen? Sollte es tatsächlich... Er schüttelte den Kopf, als er den zurückgeschobenen Schreibtischstuhl sah. Seufzend schloss er die Tür. Also war es doch passiert. Schuldig hatte das Geschenk gefunden. Dabei würde Nagi doch erst in drei Tagen mit dem Aufsatz über Weihnachtstraditionen aus anderen Ländern nach Hause kommen. Farfarello würde ihn lesen und so begeistert von der Idee des Wichtelns, Juklapp oder Secret Santa sein, dass er alle dazu zwang, diese Tradition als Ausgleich für die bisherigen Weihnachts-Fiaskos mitzumachen. Crawford würde Schuldigs Namen ziehen und ihm somit ein Geschenk machen müssen. Es handelte sich um eine Armbanduhr, da er wusste, dass der Deutsche seine eigene irgendwann in nächster Zukunft verlieren würde. Aber natürlich hatte Schuldig nicht abwarten können. Er war wie eine Katze eben immer auf der falschen Seite der Tür. Schloss man diese ab, konnte man sicher sein, dass er hindurch wollte, koste es, was es wolle. Immerhin hatte er sich selbst nicht die Überraschung verdorben und das Geschenk geöffnet. Crawford selbst wusste natürlich schon, dass er eine Krawatte von Nagi bekommen würde. Wichteln war einfach so öde, wenn man die Zukunft voraussehen konnte.       Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)