Schwarz-Weiße Weihnacht von Maginisha ================================================================================ Kapitel 18: 18.Dezember ----------------------- Der weiche, samtige Teppich unter seinen nackten Füßen fühlte sich ungewohnt an. Er war so dick und flauschig, dass er darin keinerlei Fußspuren hinterließ. Nagi blieb stehen und versank für einen Augenblick in dem Gefühl (und dem Teppich). Es kam nicht oft vor, dass er um diese Zeit noch im Schlafanzug und obendrein barfuß unterwegs war. Für gewöhnlich stand er früh auf, noch bevor sich einer der anderen Schwarz erhob, und war bereits fertig und angezogen, wenn der erste von ihnen auf der Bildfläche erschien. Aber heute war alles anders. Heute stand er hier und hatte nichts am Körper außer seinem Pyjama. Das war ein eigenartiges und nicht unbedingt nur unangenehmes Gefühl. Der Aufzug war bequem und er konnte verstehen, dass es Leute gab, die es liebten, noch stundenlang in ihrer Nachtgarderobe herumzuwandern. Trotzdem konnte er sich eines leichten Unbehagens nicht erwehren, als er an die dicken Glasscheiben trat, die zuverlässig alle von draußen eindringenden Geräusche abfingen und ihn in einer friedlichen Stille zurückließen. Auf der anderen Seite der Scheibe hatte es erneut begonnen zu schneien. Durch das Schneetreiben konnte er die Weihnachtsbeleuchtung des Hauses gegenüber erkennen. Die bunten, blinkenden Lichter übten eine eigenartige Faszination auf ihn aus. Für eine Weile stand er einfach nur am Fenster und sah dem Farbenspiel zu. Er hatte ja auch nichts zu tun. Nicht, bevor die anderen - insbesondere Crawford - erwachten und ihm neue Anweisungen gaben. Bis dahin stand er hier in seinem Schlafanzug und sah den Schneeflocken zu.   Eine Bewegung in seinen Augenwinkeln ließ ihn herumfahren. Farfarello war vollkommen lautlos neben ihm erschienen und starrte mit seinem einen Auge ebenfalls hinaus. Der weißhaarige Mann trug nur eine lange Schlafanzughose, die ihm ein wenig zu lang war. Seine Füße verschwanden fast vollkommen darunter und nur die Zehenspitzen lugten unter dem hellgrauen Stoff hervor. Nagi wurde sich bewusst, dass er noch nie bemerkt hatte, was für kleine Füße Farfarello hatte. Durch die wuchtigen Stiefel, die er normalerweise trug, fiel das überhaupt nicht auf. Wobei die meisten Leute vermutlich auch nicht unbedingt auf die Füße ihres Gegenübers achteten, wenn dieses mit einem scharfen Gegenstand vor ihrem Gesicht herumhantierte oder eben jenen Gegenstand mit dem größten Vergnügen ableckte. Oder nur ein Auge hatte. Oder einen Körper, der dort, wo er nicht von Verbänden oder schwarzem Leder verdeckt wurde, über und über mit Narben bedeckt war. Mit einem leichten Schauern betrachtete Nagi die langen, weißen Linien, die auf Farfarellos Rücken zu sehen waren. Diese hatte er sich mit Sicherheit nicht selbst beigebracht. Außerdem schienen sie schon älteren Datums zu sein. Ein Überbleibsel aus seiner Kindheit? Jugend? Ein Souvenir seiner Zeit bei Rosenkreuz?   Farfarello, der Nagis Blick bemerkt hatte, entblößte die Zähne. Es dauerte einen Augenblick, bis Nagi verstand, dass er lächelte. „Schnee verwischt die Spuren“, sagte Farfarello, bevor er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, umdrehte und in die Richtung zurück schlurfte, aus der er gekommen war. Wenn er nicht der gewesen wäre, der er nun einmal war, hätte Nagi vermutet, dass er sich noch einmal ins Bett legte. Aber Farfarello schien manchmal noch weniger zu schlafen als Nagi selbst. Oft traf er ihn nachts noch im Wohnzimmer an, wo er...was auch immer tat. Nagi war es egal, auch wenn er zugeben musste, dass er den letzten Aktivitäten seines Teamkollegen vielleicht hätte ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. So wäre ihm vielleicht die unangenehme Überraschung erspart geblieben, die zu seiner derzeitigen Lage geführt hatte. Obwohl er fand, dass Schuldig durchaus ebenfalls...nun...Schuld daran hatte.   „Der Name ist eben Programm“, gähnte eben jener Schuldig, noch bevor er den Raum betrat, indem sich Nagi gerade aufhielt. Die orangerote Mähne stand wüst in alle Richtungen ab und unter seinen Augen waren dunkle Ringe zu sehen. Der Telepath marschierte, ohne Nagi weiter zu beachten, nur mit Boxershorts und einem T-Shirt bekleidet schnurstracks auf den Kühlschrank zu und öffnete diesen. Sein Kopf verschwand fast darin, während er im Inneren des Geräts herum räumte und missmutig vor sich hinmurmelte. Irgendwann entschied er sich für eine Flasche mit irgendeinem Saft, öffnete sie und ließ den Kronkorken einfach fallen. Nagi runzelte die Stirn. „Wage es nicht, mich anzusprechen“, knurrte Schuldig, als er neben Nagi trat. Er sah aus dem Fenster und nach oben. „Es schneit. Der Schnee wird die Spuren verwischen.“ Nagi öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ein Blick in Schuldigs Gesicht ließ ihn den Mund schnell wieder schließen. Wie es aussah, war der andere heute Morgen nicht zu Späßen aufgelegt. Ein leichter Brandgeruch umwehte ihn und stach in Nagis Nase. Es musste an den Haaren liegen. Er hatte einmal gelesen, dass die durch ihre große Oberfläche Aromen besonders lange speicherten. Schuldig würde sie wohl waschen müssen, um den Geruch wieder loszuwerden.   Ein Blick in die stechenden, blauen Augen seines Gegenübers verriet ihm, dass dieser seine Gedankengänge verfolgt hatte. Unwillkürlich rückte Nagi ein Stück von Schuldig ab. Der grinste nur und prostetet ihn mit dem Saft zu, bevor er sich auf eines des Sofas fallen ließ und seine nackten Beine auf den Couchtisch legte. Nagi vermied es, ihn anzusehen. Die ungezwungene Art war ihm unangenehm. Vor allem, weil er vermutete, dass sie nur Fassade war. Vermutlich war es besser, wenn er sich in nächster Zeit in Acht nahm. Schuldig konnte sehr grausam sein. Besonders wenn er sich an jemandem rächen wollte.   Nagi wollte sich gerade wieder dem farbigen und flockigen Schauspiel vor dem Fenster widmen, als sich die Tür erneut öffnete und Crawford eintrat. Nagi musste an sich halten, um ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. Der gebürtige Amerikaner hatte...nun ja...einen Pyjama an. Einen ganz normalen Pyjama mit einem geknöpften Oberteil und langen Hosen. Die Farbe könnte man wohl taubenblau nennen, womit er einige Nuancen heller war als Nagis eigener Schlafanzug. Das Eigenartige war aber auch nicht der Aufzug an sich, sondern die Tatsache, dass Nagi ihren Anführer noch nie in seinem Nachtgewand gesehen hatte. Crawford war, wenn er sein Zimmer verließ, immer korrekt gekleidet. Allenfalls sah man ihn noch ohne Jackett, aber ansonsten kannte Nagi ihn nur in Anzughosen und Hemd. Ihn jetzt mit bloßen Füßen im Schlafanzug durch das Zimmer gehen zu sehen, war seltsam. Es machte ihn irgendwie...menschlich. Eine Wirkung, die Nagi nicht gefiel. Menschen - normale Menschen - waren schwach, ihm unterlegen, unwichtig. Aber Crawford war keiner von ihnen. Bisher. Bis er jetzt auf einmal im Schlafanzug vor Nagi stand und ihm mit leicht frostiger Miene ansah, als wisse er, was in Nagis Kopf gerade vorging. Was vermutlich sogar stimmte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte Schuldig gepetzt. Nagi warf einen kurzen Blick auf den auf dem Sofa herumlümmelnden Telepathen, um seine Theorie bestätigt zu sehen. Wann genau hatten sie angefangen, ihre Kräfte gegeneinander einzusetzen?   „Oh, das kann ich dir genau sagen“, antwortete Schuldig mit einem gehässigen Tonfall auf seine lediglich gedachte Frage. „Als du beschlossen hast, das Haus abzufackeln.“ „Ich habe das Haus nicht abgefackelt“, begehrte Nagi auf. „Der dämliche Weihnachtsbaum, den Farfarello angeschleppt hat, hat Feuer gefangen, als er in deinen blöden Adventskranz gefallen ist.“ „Und wie kam das?“, fauchte Schuldig und kam mit unmenschlicher Geschwindigkeit auf die Füße. „Er wird die drei Meter wohl kaum von alleine geflogen sein.“ Nagi fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog und er zu schwitzen begann. „Das...das...das lag nur an dem halb verwesten Eichhörnchenkopf, der mir vor die Füße gefallen ist. Ich habe mich...erschreckt.“ „Erschreckt?“ Schuldig war jetzt voll in seinem Element. „Du bist ein gottverdammter Telekinet, Nagi. Du zerlegst Häuser mit nur einem Gedanken. Du hast mit unbewegter Miene dabei gestanden, wie Farfarelloe Dutzende Leute niedergemetzelt hat. Und du hast keinerlei Probleme damit, dass ich und Crawford Leute umbringen, damit du was zu essen hast. Aber du erschreckst dich vor einem toten Eichhörnchen? Willst du mich verarschen?“   „Schuldig.“ Crawford hatte weder besonders laut noch besonders energisch gesprochen. Es gab lediglich einen leicht warnenden Unterton, der jedoch ausreichte, um den aufgebrachten Telepathen wieder in seine Schranken zu weisen. Er knallte die Saftflasche auf den Glastisch des Hotelzimmers, in dem sie zeitweise untergekommen waren. „Ich gehe duschen. Und Haare waschen, falls es jemand interessiert. Also erwartet mich nicht vor zwei Stunden wieder aus dem Bad zurück. Wenn ihr was da drin wollt, verkneift es euch oder sucht euch ne Topfpflanze.“ Damit rauschte er aus dem Zimmer und vergaß auch nicht, mit der Tür zu knallen. Als er gegangen war, atmete Nagi hörbar auf. Sein Blick suchte Crawfords.   Der Amerikaner hatte sich ein Wasser aus der Minibar genommen und sah aus dem Fenster. „Es schneit. Der Schnee–“ „Wird die Spuren verwischen“, beendete Nagi den Satz leicht genervt. „Das haben die anderen beiden auch schon gesagt. Ich...es tut mir leid, okay? Ich hatte nicht geplant, Feuer zu legen, sodass alle unsere Sachen verbrennen und wir lediglich in Schlafanzügen hier in einem Hotelzimmer festsitzen. Warum hast du das eigentlich nicht kommen sehen?“   Für einen Augenblick befürchtete Nagi, dass er zu weit gegangen war. Er sah, wie sich Crawfords Hand fester um die Glasflasche schloss. Doch die erwartete Reaktion blieb aus. Crawford schüttelte leicht den Kopf und nahm noch einen Schluck Wasser. „Wie es scheint, sind Teenager noch unvorhersehbarer als Erdbeben. Du wirst lernen müssen, diese Ausbrüche besser zu kontrollieren. Ich kann zwar nicht sagen, dass ich nicht schon einmal das Bedürfnis verspürt habe, etwas nach Schuldig zu werfen, aber der Unterschied ist, dass ich es nicht getan habe. Verstehst du das, Nagi?“ Nagi ließ den Kopf hängen. „Vollkommen. Es wird nicht noch einmal vorkommen.“ „Gut.“ Crawford nickte und stellte die Flasche auf den Tisch neben die Saftspritzer, die Schuldigs Ausbruch hinterlassen hatte. „Ich werde jetzt einige Telefonate führen, damit wir diese missliche Sache so bald wie möglich hinter uns lassen können.   Er ging zur Tür und schien das Zimmer verlassen zu wollen, als er noch einmal stoppte und sich zu Nagi herum drehte. Auf seinem Gesicht lag ein eigenartiger Ausdruck. „Nagi?“ „Ja?“ „Steht nicht die ganze Zeit am Fenster und blase Trübsal. Mach dir den Fernseher an und lass dir vom Zimmerservice was zu essen kommen. Irgendwas mit viel Zucker. Es wird vermutlich der vorläufig letzte Pyjama-Tag in deinem Leben sein. Also genieße ihn wenigstens ein bisschen.“ Noch bevor Nagi antworten konnte, hatte sein Anführer den Raum bereits verlassen. Er starrte die Tür an, als würde jeden Augenblick ein volles Orchester mit Pauken und Trompeten dahinter hervor springen und „Versteckte Kamera!“ rufen. Irgendetwas in der Art musste gleich passieren. Oder die Welt würde untergehen. Denn das Crawford unnötige Ausgaben nicht nur erlaubte, sondern geradezu forcierte, kam eigentlich nie vor. Vielleicht hatte der Geist der Weihnacht nun endgültig auch von dem Orakel Besitz ergriffen. Und Nagi konnte nicht sagen, dass er darüber wirklich erfreut war.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)