Die Federn der Krähe von KarliHempel ================================================================================ Kapitel 1: Eins --------------- (Die Geschichte, sowie Namen und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen ist rein zufällig. Bitte beachtet das Copy-Right. Ich habe mir Arbeit mit der Geschichte gemacht. Bitte respektiert das und kopiert nichts ohne vorherige Anfrage. Danke!) Eins Das schrille Weckerklingeln riss ihn aus seinem viel zu kurzen Schlaf. Mürrisch tastete er sich über den harten Untergrund und hob schließlich den Kopf. »Wo...?«, nuschelte er und tastete weiter, bis seine Finger die Fassung seiner Brille berührten. Er zog sie zu sich, setzte sie auf seine Nase und sah sich schnell um. Einmal mehr war er auf seinem Schreibtisch eingeschlafen und der Wecker stand, wie immer, auf dem Nachtschrank. »Ach Oliver«, flüsterte er sich selbst mahnend zu, erhob sich und schaltete den Wecker aus, ehe er sich ausgiebig streckte und den, vom Sitzen verspannten, Rücken massierend entlangstrich. »Heute Abend werde ich mir einen Wecker stellen, um ins Bett zu gehen«, bestimmte er kopfschüttelnd und ging ins Bad. Er musste aus seinen alten Sachen raus und wollte den letzten Schlaf von sich waschen. Mit einem Gähnen knöpfte er sich sein Hemd auf und warf dann einen Blick in den Spiegel. Warum sah er morgens einem verrückten Professor eigentlich immer ähnlicher als sich selbst? Das braune Haar zerzaust und mit deutlichen Naturwellen, die Brille mit den runden Gläsern saß etwas zu tief und die Augenringe sprachen eindeutig für sich. Oliver schob die Brille auf der Nase hoch und betrachtete seinen Oberkörper, strich sich über die flache Brust. Er müsste dringend etwas für sich tun, wenn er irgendwann mal wieder einen Mann auf sich aufmerksam machen wollte. So, wie er jetzt war, fiel er doch niemandem wirklich auf. Zwar war er auf keinen Fall mager, aber die körperliche Fitness hatte definitiv noch Luft nach oben. Lag vielleicht auch an dem Job im Büro. Den ganzen Tag sitzen und danach war er tatsächlich einfach zu müde, um noch in ein Fitnessstudio zu gehen. Okay, er fühlte sich zwischen den ganzen muskelbepacken Jungs Marke Bodybuilder auch einfach völlig fehl am Platz. Und seinem letzten Freund hatte er ja auch gefallen. Zumindest, bis der Personal Trainer kam und sein Freund plötzlich sein Exfreund wurde. Mit geschlossenen Augen schüttelte er den Gedanken ab, legte die Brille auf den Rand vom Waschbecken und trat unter die Dusche, wusch und rasierte sich und war nach nur wenigen Minuten wieder vorzeigbar. Anschließend zog er sich im Schlafzimmer, in dem auch sein Schreibtisch stand, um und ging dann in die Küche, um sich sein Kaffee und Essen für die Arbeit zu machen. Frühstück war noch nie seins gewesen, er kam auch sehr gut ohne aus. Noch einmal gähnte er herzhaft, trank dann seinen Kaffee, sammelte seine Unterlagen ein und machte sich mit dem Rad auf den Weg zur Arbeit. Denn mit dem Auto bereits am frühen Morgen im Stau zu stehen und deswegen dann noch eine Stunde eher loszumüssen, wollte er auch nicht. So fuhr er nur knapp 40 Minuten und fühlte sich auch endlich wirklich wach. »Guten Morgen«, grüßte er den Wachmann am Empfang des Wolkenkratzers und der freundlich dreinblickende, etwas untersetzte Mann mit Schnauzbart grüßte zurück, ließ ihn samt Fahrrad durch die Mitarbeiterschranke. Während Oliver auf den Fahrstuhl wartete, zog er bereits seine Schlüsselkarte aus der Tasche, denn ohne sie würde er sein Stockwerk nicht erreichen. Die ganze 39. Etage gehörte der Finanzabteilung dieses Pharmaunternehmens, das zweitgrößte des Landes, und Oliver war einer der Mitarbeiter dieser Abteilung. Das typische Geräusch des Fahrstuhls ließ ihn aufsehen und mit wenigen aber geübten Handgriffen stieg er ein, drehte das Fahrrad, zog die Keycard durch den Scanner und betätigte die Taste für sein Stockwerk. Auf der Fahrt summte er die Fahrstuhlmusik leise mit und grüßte beim Aussteigen seine Kollegen, die an der Kaffeemaschine gegenüber dem Fahrstuhl standen. Sein Rad stellte er neben eine der wenigen Grünpflanzen und schlenderte zu seinem Schreibtisch, der von drei, mit weißem Stoff kaschierten, Plastewänden von den anderen Arbeitsplätzen getrennt war. Ein klassisches Großraumbüro. Nichts, was er sich nach dem abgebrochenen Informatikstudium vorgestellt hatte, aber das Leben war eben kein Wunschkonzert, wie sein Vater immer zu sagen pflegte. Hier hatte er geregelte Arbeitszeiten, ein Gehalt, mit dem er gut über die Runden kam und nebenbei noch etwas sparen konnte. Auch die Anzahl der Urlaubstage konnten sich sehen lassen. Alles in allem, war Oliver recht zufrieden mit seinem Arbeitsplatz. Durchschnittstyp mit Durchschnittsjob. »Guten Morgen, Nerd«, hörte er und neigte schmunzelnd den Kopf, als er aufsah und Philipp erkannte. Er arbeitete in der Buchhaltung, eine Etage über ihm und sie kannten sich seit seinem ersten Tag hier. Auch wenn Oliver sich selbst insgeheim als Nerd bezeichnen würde, durfte es sonst keiner, außer eben Philipp. Er war ein hübscher Mann, einer mit warmem Blick und kleinen Grübchen in den Wangen, wenn er lachte. »Und du?«, meinte Oliver und hob kurz das Kinn. »Schönst du die Bücher?« Es war ein Scherz und Philipp begann auch sofort zu grinsen, ging darauf ein und flachste selbst noch etwas, ehe sein Blick auf die Uhr fiel. »Wir sehen uns beim Mittag.« Damit war er weg und Oliver blieb nichts anders übrig, als dem hübschen Mann mit den kleinen Grübchen nachzusehen. Innerlich seufzte er. Philipp wäre eine gute Partie, nur leider war er absolut hetero und auf dem besten Weg in den Hafen der Ehe. Schade, dachte Oliver für sich und wandte sich seiner Arbeit zu. Ganz sicher würde er irgendwann auch den Richtigen für sich finden. Er musste nur geduldig sein und dann würde ihm sein Traummann sicher eines Tages über den Weg laufen, wie in den Filmen, die sonntagabends auf den öffentlich-rechtlichen liefen. »Wers glaubt ...«, brummte er und schob seine Brille zurecht, ehe er die Finger an die Tasten nahm und zu arbeiten begann. Zum Mittag traf er sich zum Essen mit Philipp. Dieser erzählte ihm von den Plänen seiner bevorstehenden Hochzeit. Oliver hörte interessiert zu, konnte jedoch kaum bei einem Problem wie der Wahl des Kleides und der Diskussion darüber, ob er, als der Verlobte, mitgehen durfte, um das Kleid auszusuchen oder nicht, helfen. »Sag mal, habt ihr grade irgendwelche Probleme bei euch?«, wechselte er deshalb das Thema und ahnte bereits das genervte Augenrollen, als Philipp tief Luft holte. »Frag nicht! Da ist ein Azubi.« Er schüttelte vielsagend den Kopf. »Glaub mir, der bleibt nicht lange. Warum?« »Weil bei uns gehäuft seltsame Daten ankommen. Das raubt uns echt Zeit«, erklärte Oliver und knüllte die Alufolie zusammen, in der sein Mittag verpackt war. Wenn Philipp von einem Azubi sprach, würde er wohl nicht nur heute Überstunden machen müssen. »Wie geht’s eigentlich deiner St. Clara?«, wurde er gefragt. »Schwimmt sie schon in der Flasche?« Missmutig schüttelte Oliver den Kopf. »Sie heißt St. Anna und nein. Sie ziert sich noch«, gab er bekannt und dachte dabei an den Miniatur-Dreimaster, den er gerade in einer Flasche zusammenbaute. »Na gut. Dann lass uns mal weiter machen, sonst endet der Tag gar nicht mehr und wir müssen wieder Überstunden schrubben«, seufzte Philipp und schob den Stuhl geräuschvoll zurück. Dann stand er auf und brachte sein Tablett zurück. »Müssen wir das nicht sowieso? Grade ist in diesem Laden der Wurm drin. Ich kann es dir nicht erklären, aber irgendwas ist immer. Erst das Problem mit den Telefonen«, begann Oliver, als er mit Philipp aus der Cafeteria ging. Dieser nickte nur leidlich. »Dann diese seltsamen Daten, erst von der Personalabteilung, dann von euch. Ich glaube, mein Überstundenkonto braucht nicht mehr viel, bevor es ein eigenes Gravitationsfeld erzeugt.« Oliver schüttelte den Kopf, beim Gedanken daran. Sein Freund lachte herzlich. »Lass es dir auszahlen und mach nen Monat Urlaub auf einer heißen Insel. Vielleicht angelst du dir da auch ne hübsche Braut.« Philipp zwinkerte ihm zu und hob sarkastisch lächelnd, den Kopf. Na aber sicher doch! »Auf gar keinen Fall!«, bestimmte er und verabschiedete Philipp, als der Fahrstuhl in der 39. Etage hielt. Mit einem Blick auf die Uhr setzte er sich an seinen Platz. Nur noch vier Stunden. Mit wenigen Handgriffen loggte er sich in seinen Account ein und schob den Cursor auf die neuste Datei, als der Bildschirm zu flackern anfing. »Scheiße«, brummte er und tastete nach dem Monitorkabel. Hoffentlich war es nur das. Kurz rüttelte er an dem Stecker und sofort beruhigte sich das Flackern. Ein Glück! Einen kaputten Bildschirm konnte er nun wirklich nicht gebrauchen. Jetzt wollte er sich seiner Arbeit widmen. Vier Stunden später sah Oliver sehnsüchtig auf die Uhr, dann missmutig auf den digitalen Papierstapel. Er hatte es prophezeit. Es würde in die Überstunden gehen und er musste jetzt damit beginnen, sonst würde er später noch ganz allein in diesem riesigen Büro sitzen. Keine Vorstellung, die ihm angenehm war. Kalte Schauer liefen ihm dabei über den Rücken und er entschied, sich schnell noch einen Kaffee zu holen. So stand Oliver auf, ging zu der Kaffeemaschine vor und machte sich einen extrastarken großen Kaffee. Mit der Kollegin, die neben ihm stand, wechselte er kein Wort. Sie war eine unangenehme Person, die alles, was sie mitbekam, gleich mit anderen auswerten musste. Und da wollte Oliver ihr keinen Gesprächsstoff liefern. Sofort, als sein Kaffee fertig war, begab er sich an seinen Platz zurück und stöhnte entnervt auf. Schon wieder flackerte der Bildschirm. »Verflucht noch mal!«, knurrte er und stellte seine Tasse ab, drehte den Bildschirm und überprüfte alle Kabel. Aber es war alles fest. Warum zum Teufel, flackerte der Bildschirm dann so? Sicher. Er hätte sich die Zeit nehmen und das Gerät selbst genauer überprüfen können, doch das hier war nicht sein privater PC und er wollte keine Rechenschaft ablegen müssen, wenn dabei doch etwas kaputt ging. Flüche murmelnd, ging er zu seinem Vorgesetzten und der sah sich das Problem nur ganz kurz selbst an, eher er Oliver seinen PC für die Arbeit zur Verfügung stellte. Er selbst war auf dem Weg außer Haus gewesen. Gleichzeitig versprach er, dass gleich morgen ein Techniker sich das Problem genauer ansah. Oliver nickte das ab und setzte sich an den breiten Tisch. Nur kurz sah er sich um. In diesem abgeschlossenen Raum war es viel ruhiger und auf dem Schreibtisch war viel Platz. Für einen Moment wollte der Neid nach ihm greifen, dann besann er sich auf seine Arbeit und loggte sich über diesen PC ein. Kaum hatte er das getan und die erste Datei angeklickt, seufzte er. Das war doch schon wieder eine falsche Datei. Diesmal vom Forschungslabor. » Hamster reagiert gut. Maus und Ratte verstorben. Spatz hat terminales Stadium erreicht – Tod wird unmittelbar erwartet. Weiterhin keine Reaktion bei Hase und Fuchs. Weitere Test werden stattfinden müssen. « »Was für ein Quatsch.« Oliver schüttelte den Kopf, schloss die Datei und holte eine Festplatte aus seiner Tasche. Bei dem Chaos, das hier gerade herrschte, war es ihm lieber, er sicherte die falschgeleiteten Dateien auf der privaten Festplatte. Dann, so hoffte er, gingen sie nicht verloren, wenn er sie jetzt zurückschickte. Nach dem Speichervorgang zog er die Festplatte wieder ab und schickte die Datei, mit dem Vermerk: falsch zugestellt, zurück an den Absender. Gegen 21:30 Uhr kam er endlich zu Hause an, ließ die Tasche noch an der Tür von der Schulter gleiten und setzte seine Brille ab, ehe er sich über die müden Augen strich. Eigentlich war er bereits zu müde, um jetzt noch etwas zu kochen, doch er musste etwas Essen. Sein Magen hing ihm in den Kniekehlen. »Also muss Anna noch länger warten«, flüsterte er, setzte die Brille wieder auf und stellte sich in die Küche, um sich sein Abendessen zu zubereiten. Mit dem Teller setzte er sich an seinen PC, steckte die Festplatte an und sortierte die fehlgeleiteten Daten. Auf gar keinen Fall wollte er damit durcheinander kommen. Gleichzeitig überlegte er, ob er die älteren Dateien dann löschen sollte. Einige waren älter als ein halbes Jahr. Nachdenklich klickte er eine davon an. » Schwan verstorben. Krähe bisher ohne Reaktion – weitere Tests werden empfohlen. Bengal und Dogge zeigen erste Symptome. « »Wer schreibt nur so einen Blödsinn?«, nuschelte Oliver zwischen zwei Bissen. Seit wann bitte, forschte man an Schwänen, Hamstern und Krähen? Vielleicht war das auch einfach ein Insidergag, den die Leute in der Forschungsabteilung sich herrumschickten. Dann waren das hier wohl keine wirklich wichtigen Daten ... »Sicher ist sicher«, ermahnte er sich selbst und beließe die Daten, wo sie waren. Sicher verschlüsselt auf seiner Festplatte. Dann zog er das Gerät vom PC, aß auf und machte sich bettfertig. Es war einmal mehr fast Mitternacht, als er endlich ins Bett kam. »Sorry, Anna«, murmelte er, legte die Brille auf den Nachttisch und deckte sich bis zu den Ohren zu, ehe er die Augen schloss und sich dem Schlaf hingab. ~ * ~ Als Oliver am nächsten Tag wieder an seinem gewohnten Tisch saß und auf den Bildschirm sah, wusste er, er würde heute wirklich allein in diesem Großraumbüro sitzen. Bereits jetzt lauerte die Gänsehaut mit kalten Fingern am Nackenansatz, bereit, mit ihren tausenden kleinen, kalten Beinchen über seinen Rücken zu kriechen. Aber nein! Oliver verbat sich das Schaudern. Er war immerhin ein erwachsener Mann und mit 28 Jahren fürchtete man sich einfach nicht mehr vor dunklen Räumen. Fertig! Mit diesem Entschluss setzte er sich an seine Arbeit. Knappe zehn Stunden später sah das mit dem Entschluss allerdings ganz anders aus. Der Großteil des Lichtes war gelöscht und er saß als einziger noch an seinem Schreibtisch. Selbst das Reinigungsteam war bereits wieder verschwunden. Nur die typischen Geräusche, die jedes Haus von sich gab, waren zu hören. Da knarzte ein Stuhl, dort gluckerte der Wasserspender und ab und an klopfte die Heizung. Nichts Ungewöhnliches, doch für Oliver war jedes dieser harmlosen Geräusche ein Trigger, er ihm neue Schauer über die Arme trieb. Ja, man! Er war die Sorte: ›schlotternde Knie‹, die Sorte: ›stahlharte Nerven‹ war aber leider aus, als er geboren wurde. »Ruhig Blut«, riet er sich selbst, stand auf und entschied, für heute einfach Feierabend zu machen. Er war einfach zu nervös, um weiter zu arbeiten. Während der PC runterfuhr, räumte Oliver die Unterlagen auf, griff sich seine Tasche und stand auf. Auf dem Weg zu seinem Fahrrad sah er in die Tasche hinein. Immerhin wollte er nichts vergessen. Mit einem gezielten Griff in die Tasche stutzte er. Sein Schlüssel war nicht da und sofort fiel ihm ein, dass er ihn noch auf dem Schreibtisch liegen hatte. Deutlich genervt ging Oliver wieder zu seinem Arbeitsplatz zurück und stockte. Da lag ein Zettel auf seiner Schreibunterlage. Unter Garantie hatte er alle Papiere aufgeräumt. Wie kam dann dieser Zettel hierhin? Nervös sah er sich suchend um. Er war doch allein hier, oder? Wo kam dieser Zettel her? War er so sehr übermüdet? »Hallo«, rief er fragend und sah auch unter den Tisch. Doch hier war niemand. Wo sollte diese Person auch herkommen? Unsicher nahm er sich den Zettel und faltete ihn vorsichtig auf. I know you Mehr stand nicht auf dem Zettel. Unten, rechts in der Ecke, die piktografische Darstellung eines Vogels. Was sollte das? »Das ist nicht witzig!«, rief er und sah sich nach dem Witzbold um, der ihm hier eins auswischen wollte. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass ein eisiger Schauer durch sein Rückrad kroch und ihn schaudern ließ. »So einen Blödsinn könnt ihr in der Buchhaltung abziehn! Mich kümmert das nicht.« Hoffentlich hörte sich seine Stimme nicht so zittrig an, wie es für ihn klang. Damit warf er den Zettel in den Papierkorb, nahm den Schlüssel und ging. Als er das Gebäude verlassen hatte, schien auch dieses kalte, leicht beklemmende Gefühl von ihm abzulassen. Tief atmete er durch und gab sich einen Moment, in der er sich schüttelte, auf das Fahrrad stieg und nach Hause fuhr. Hier fühlte er sich endlich nicht mehr so beobachtet. Er wusste, dass dieser Gedanke vollkommen absurd war. Wer bitte sollte ihn die ganze Zeit über beobachten können. Er schüttelte den Kopf und damit den Gedanken ab. Jetzt wollte er duschen. Oliver war vollkommen durchgeschwitzt und sein Herz raste noch immer, als wäre er ein Kaninchen, das vor der Schlange saß. Aber hier war, verdammt noch mal, keine Schlange. Hier war gar nichts, außer diesem bescheuerten Zettel und seiner irrationalen Angst. »Reiß dich zusammen!«, befahl er sich und zog sich die klebrige Kleidung vom Körper, stieg in die Dusche und drehte das Wasser auf. Eiskalt prasselte es auf ihn hinab. Sein Atem stockte, sein Herz schien aus dem Takt zu geraten. Aber es gab seinem panischem Körper einen anderen Reiz. Je wärmer das Wasser wurde, desto entspannter wurde auch er. Seine Muskeln lockerten sich und sein Kopf begann zu schwirren, als er endlich wieder tiefer atmen konnte und der Sauerstoff wieder alle Zellen erreichte. Ganz bewusst lehnte er seine Stirn an die kalten Fliesen, wollte den Schwindel nicht gewinnen lassen. Warum nur reagierte er so? Er war doch kein kleines Kind. Seit wann hatte er denn bitte wieder Angst vor der Dunkelheit? »Das ist doch lächerlich«, schimpfte er mit sich, drehte das Wasser ab, stieg aus und trocknete sich. Nackt und ohne Brille trat er ins Schlafzimmer und schauderte. Verschwommen sah er, dass seine Vorhänge sich bewegten. Jetzt hatte er doch tatsächlich auch das Fenster den ganzen Tag offengelassen. Zum Glück war niemand in die Wohnung eingestiegen ... Oliver stockte, war sich sicher, dass er das Fenster am Morgen gar nicht geöffnet hatte. Zittrig griff er nach seiner Zweitbrille auf seinem Schreibtisch und sah sich im Schlafzimmer um. Als sein Blick auf den Schreibtisch fiel, war er sich sicher, dass er jeden Moment in Ohnmacht fiel. Da lag der Zettel. Dieser Zettel aus dem Büro. Die Knitter waren leicht herausgestrichen worden. Das war zu viel! I know you Unter panischen Geräuschen griff Oliver sich seine Kleidung, zog sich notdürftig an, griff den Schlüssel und rannte aus der Wohnung und um sein Leben. Oliver war es völlig egal, wo er langlief, Hauptsache weg! Aber bereits mach wenigen Minuten musste er innehalten. Sein Atem kam stoßweise, seine Lungen brannten und in seinem Körper schrie jeder Muskel nach Erbarmen. Also ließ er sich am nächsten Baum auf den Boden sinken, zog die Beine etwas an und stützte die Ellen darauf. Seinen Hinterkopf lehnte er an den rauen Stamm und mit geschlossenen Augen versuchte er, sich zu beruhigen. Das gab es doch alles nicht, dachte er und versuchte, sich zu überzeugen, dass er sich diesen Zettel nur eingeredet hatte. Immerhin hatte er ihn im Büro weggeworfen, oder? Nein! Dann wäre das Papierstück ja nicht in seiner Wohnung gelandet. Tief atmete er durch. Ganz sicher hatte er den Zettel mitgenommen und erinnerte sich jetzt nur nicht mehr daran. Natürlich, dachte er wenig überzeugt und ließ den Kopf nach vorn fallen. Als ob er sich nicht erinnern würde, so einen gruseligen Zettel mitgenommen zu haben. Das Klimpern von Geld ließ ihn aufsehen. Die Frau, die vorbeigegangen war, sah ihn noch mitleidig an. Oliver sah zwischen seine Füße. Sie hatte ihm tatsächlich ein paar Münzen hingeworfen. »Oh Gott«, stöhnte er und versteckte beschämt sein Gesicht in beiden Händen. Wie schlecht musste er aussehen, wenn man ihn für obdachlos hielt? Oliver wollte es sich gar nicht vorstellen. Schwerfällig stand er auf, nahm das Geld und suchte den Weg nach Hause. An einer Gasse, in der Nähe seiner Wohnung, stockte er. Da saß eine zusammengesunkene Gestalt und Oliver trat mutig näher. Sie schien eine Art Umgang zu tragen und die Kapuze verdeckte den Großteil seines Gesichts. In einer Hand drehte sie etwas, das wie eine Feder aussah. Überhaupt wirkte die Gestalt in Gedanken versunken. »Hier«, begann er und der Kopf der Gestalt ruckte hoch. Oliver erkannte nicht viel, aber was er erkannte, war eindeutig männlich. »Ich glaube, Sie brauchen das hier dringender als ich«, fuhr er fort und reichte dem Mann das Geld der Frau. »Es ist nicht viel, aber es sollte für etwas zu Essen reichen.« Ein Lächeln zuckte über seine Lippen und der Mann am Boden streckte die Hand aus, in die Oliver das Geld fallen ließ. Dann lächelte er noch einmal, verkniff sich jedoch jeden gut gemeinten Wunsch, immerhin wusste er nichts über den Mann und warum er auf dieser Straße saß, und ging nach Hause. Mit noch immer etwas zittrigen Fingern schloss er die Wohnungstür auf und schob den Kopf in die Wohnung. »Hallo?«, rief er und schallte sich sofort. Welcher Dieb würde darauf schon antworten? Vorsichtig trat er ein, ließ vorsorglich die Tür etwas offen. Die Wohnung schien leer zu sein. Olivers Weg führte ihn ins Schlafzimmer. Auf dem Schreibtisch lag noch immer der Zettel, doch dieses merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, war abgeklungen. Tief atmete er durch, bevor er zum Fenster ging und es schloss. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Zettel. Ganz sicher hatte er ihn irgendwann eingesteckt und mitgenommen. Etwas anderes war gar nicht möglich. »Und ich stell mich hier so an«, murmelte er und machte sich dann bettfertig. Bestimmt war er einfach nur ein wenig müde und bildete sich deswegen diesen Blödsinn ein. Mantraartig machte er sich diese Tatsache immer wieder bewusst und schlief doch recht schnell ein. Lange hocke er in der Gasse, sah er die Fassade entlang, beobachtete, wie das Licht gelöscht wurde. Seine Finger umgriffen die wenigen Münzen in der Hand fest, fühlte sich in seiner Wahl bestätigt. Dieser Mann war der Richtige für seinen Plan. Nachdenklich drehte er die Feder in den Fingern, die ihm vor einigen Stunden vor die Füße gefallen war. Eine Feder eines Rabenvogels. Wie passend, dachte er und sah noch einmal zu der Wohnung hinauf, in der er gerade noch gewesen war. Ein Lächeln huschte über seine Züge, ehe er sich weiter in der Dunkelheit verbarg und sich langsam entfernte. »Bis bald, Oliver«, raunte er dabei, eher zu sich selbst. Am nächsten Morgen bereitete Oliver sich schon auf den Spott vor, der ihn nach diesem Streich ereilen würde, doch es kam keiner, als er sich, wie gewohnt, an seinen Schreibtisch setzte. Dafür stellte er überrascht fest, dass er einen neuen Bildschirm hatte. Dann war der Techniker also schon da gewesen. Oliver war erleichtert und hoffte, heute einen störungsfreien Tag zu haben. Seine Hoffnungen wurden noch übertroffen. Die ganze restliche Woche, konnte er ohne eine Störung oder falsch geleitete Mails arbeiten. Und am Wochenende wurde auch die St. Anna in ihrer Flasche fertig. Höchstzufrieden betrachtete Oliver das Miniaturschiff im verschlossenen Glas, dann stellte er sie zu den anderen Flaschen ins Regal. Sein fünftes Schiff in einer Flasche. Er war stolz auf sich. »Papa wäre stolz«, murmelte er und suchte mit den Augen das Bild seiner Eltern. Es war schon lange her, doch es gab Momente, in denen vermisste er die beiden schmerzlich. Diesen Monat wurden es zehn Jahre. Oliver versank in alten Erinnerungen und wurde erst durch das Klingeln seines Handys wieder in die Realität zurückgeholt. »Ja?«, fragte er und hörte Philipps Gruß. Der Mann am anderen Ende erzählte, dass sie mit ihren Hochzeitseinkäufen fertig waren und er und seine ›Süße‹ jetzt Essengehen wollten. Warum Philipp Frances immer nur ›Süße‹ nannte, war ihm ein Rätsel. »Willst du uns nicht Gesellschaft leisten? Wie ich dich kenne, hockst du wieder über einer deiner Flaschen.« Verstohlen sah Oliver auf das Regal und sagte dann zu. Mit einem kurzen Gruß verabschiedeten sie sich und er machte sich auf den Weg in die Innenstadt, wo er Frances und Philipp treffen würde. Als er sein Rad anschloss, überkam ihn einmal mehr das Gefühl, beobachtet zu werden. Unsicher sah er sich um, konnte aber niemanden erkennen, der gesteigertes Interesse an ihm zeigte. Was dachte er da nur wieder? Sich besinnend, schloss er sein Rad an und ging in das kleine Lokal, suchte sich seinen Platz am Tisch seines Freundes und verschob alle Grübeleien auf einen späteren Zeitpunkt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)