Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 34: ------------ Gancielle erreichte sein Ziel. An der Spitze seiner Begleiter brach er zwischen den letzten Schlingpflanzen und Büschen des Düstermarsch hervor, als die Sonne im Westen gerade den Horizont berührte und das Land mit einer Welle aus rotgoldenem Licht überflutete. Vor ihm erstreckte sich eine weite Ebene. Dichtes Gras bog sich auf sanft geschwungenen Hügeln im Wind und dahinter türmten sich die Wolkenberge auf. Das mächtige Gebirgsmassiv schien direkt in den Himmel zu wachsen. Die kahlen, gezackten Gipfel reiten sich wie die Zähne eines Sägeblatts aneinander und schienen mit ihren Spitzen die Wolken zu durchstoßen. Craig trat unmittelbar nach Gancielle zwischen den Bäumen hervor und war ziemlich stolz darauf, mit ihm Schritt gehalten zu haben, auch wenn er nun mit pfeifender Lunge und schweißnassem Rücken dafür bezahlte. Auch die anderen wirkten abgekämpft, doch obwohl die Düstermarsch ein tückischer und gefährlicher Ort war, waren sie alle unversehrt. Es hatte keine nennenswerten Zwischenfälle gegeben. Dennoch stand ihnen die Erschöpfung in die Gesichter geschrieben und sie waren froh, die Sumpfwälder endlich hinter sich zu lassen. Nur Vance wirkte so ausgeruht, als hätte er einen einfachen Spaziergang hinter sich gebracht. Ein wenig Dreck klebte an seiner Stirn und seine Hose war an einigen Stellen zerrissen, aber Craig erkannte nicht einmal den kleinsten Schweißtropfen auf seinem Gesicht. Er brachte die körperliche Verfassung eines wahren Dorashen mit, aber sein Geist hemmte seine Kraft. Craig seufzte leise. Wenn Vance sofort etwas gegen die Schmuggler unternommen hätte, wäre alles möglicherweise niemals so weit gekommen. Auf der anderen Seite konnte ihm Craig seine Zurückhaltung nicht verdenken. Vance hatte nicht ahnen können, welche Gefahr unter der Fassade des Schmuggels tatsächlich schlummerte, und zu dem Zeitpunkt, als die Banditen noch in voller Stärke in der Mine versammelt gewesen waren, hätte ein Sklavenaufstand nur geringe Chancen auf Erfolg gehabt und wäre mit vielen Toten auf Seiten der Gefangenen einhergegangen. So hatten nur die meisten Schmuggler ihr Leben verloren. Die Sklaven waren ohne Verluste aus der Höhle entkommen, bis auf einen bemitleidenswerten Dunkelelfen, den die Erschöpfung in der vergangenen Nacht dahingerafft hatte. Ratford und Lazana hatten sich zu Craigs Freude inzwischen an Knack gewöhnt und ihre anfängliche Skepsis abgelegt. Nun hatten sie an dem Knucker einen echten Narren gefressen und es tat ihrer Zuneigung auch keinen Abbruch, dass Knack fürchterlich stank, da er sich bei der erstbesten Gelegenheit in ein Schlammloch gestürzt hatte. „Ich muss zugeben, dass mir Craigs Begleiter sympathischer ist, als deiner, Vance!“, lachte Ratford und kraulte den Knucker am Kopf. „Ich meine, die beiden sind ähnlich gesprächig, aber ich bezweifle, dass Wuleen sich ebenfalls hauptsächlich von Bluthechten ernährt.“ Vance verzog gequält das Gesicht. Wuleen wich ihm zu keinem Zeitpunkt von der Seite. Schon ein paar Mal hatte er versucht, den schweigsamen Krieger davon zu überzeugen, dass er seine Schuld nicht wiedergutzumachen brauchte, aber Wuleen blieb unerbittlich und folgte ihm so stumm wie sein Schatten. Und irgendwann hatte Vance aufgegeben, auf seinen Begleiter einzureden. Lazana, der während der Durchquerung der Düstermarsch mehrmals schwindelig geworden war, sah an der frischen Luft direkt viel gesünder aus. Ihr blondes Haar klebte in schweißnassen Strähnen an ihrer Stirn, aber ihre Wangen hatten wieder etwas Farbe bekommen. Auf ihren Stock gestützt schloss sie zu Gancielle auf. „Wann rasten wir?“, fragte sie erschöpft. „Wir gehen weiter, bis es dunkel ist“, entschied Gancielle. „Vielleicht schaffen wir es noch bis zu den Ausläufern der Berge.“ Obwohl Lazanas Körper wirkte, als würde er nach einer Ruhepause schreien, gab sie keinen Klagelaut von sich, und auch Craig, der nicht minder erschöpft war, sah davon ab, sich zu beschweren. In der milden Abendluft fiel das Atmen sofort deutlich leichter. Die ungleiche Gemeinschaft kam schnell voran und durchquerte das Hügelland in kürzester Zeit. Craig hatte das Gefühl, dass eine Last von seinen Schultern genommen worden war, als er die Düstermarsch verlassen hatte. Nun genoss er das Gefühl der kühlen Grashalme, die um seine nackten Waden strichen. Als am Himmel schließlich der erste Stern erschien, erreichten sie eine kleine Anhöhe. Vor ihnen kreuzte der Maldocan ihren Weg. Craig blieb ehrfürchtig stehen, als er den breiten Strom erblickte, dessen Wassermassen sich träge nach Westen wälzten. Dagegen wirkte der kleine Fluss auf Notting wie ein winziges Rinnsal. Und auch der Anblick der Berge, deren Gipfel sich noch schwach vor dem dunklen Abendhimmel abzeichneten, raubten ihm den Atem. Adamas bot für ihn so viel Unbekanntes und mit jedem neuen Ort, den er entdeckte, kam ihm seine Heimatinsel immer kleiner und unbedeutender vor. „Hier rasten wir“, verkündete Gancielle. „Schlagt euer Lager auf. Ich suche in der Zwischenzeit nach Feuerholz.“ Lazana ließ sich erschöpft ins Gras sinken. Sie und Ratford hatten sich ihre Habseligkeiten von den Banditen zurückgeholt und waren wie Craig im Besitz von warmen Decken. Die anderen hatten sich einfach in der Wohnhöhle der Schmuggler bedient und einige Matten an sich genommen. Diese wurden in Windeseile in einer Kreisform auf dem Boden ausgerollt. Als Gancielle mit einem Stapel trockener Äste und Zweige zurückkehrte, schliefen Knack und Lazana bereits und Craig hatte schwer mit der Müdigkeit zu kämpfen. Gancielle entzündete im Handumdrehen ein prasselndes Lagerfeuer und teilte die Wachen für die Nacht ein. Wuleen sollte für die erste Schicht zuständig sein und nach ein paar Stunden Vance aufwecken. Die letzte Wache wollte Gancielle selbst übernehmen. Craig bekam noch mit, dass sich Ratford mit einem erleichterten Murmeln auf seiner Matte ausstreckte. Dann war auch er eingeschlafen. Er erwachte, weil sein Rücken fürchterlich kalt war. Stöhnend öffnete er die Augen und sah, dass das Feuer noch brannte. Sein Gesicht war den wärmenden Flammen zugewandt, doch sein Rücken war der feuchten Kälte der Nacht ausgesetzt. Fröstelnd schlang Craig die Decke enger um seinen Körper. Ein leises, gleichmäßiges Schaben durchdrang die Stille. Craig setzte sich bibbernd auf und entdeckte Wuleen, der mit dem Rücken zum Feuer saß und sein Schwert zu schleifen schien. Neben ihm lag Vance. Craig bemerkte, dass er ihn zum ersten Mal schlafen sah. Der Dorashen wälzte sich unruhig hin und her und murmelte leise vor sich hin. „Er träumt vom Töten“, sagte Wuleen, ohne sich umzudrehen. Der Schleifstein glitt über die Schwertklinge. Craig blinzelte verwirrt. „Woher weißt du das?“, flüsterte er. Bislang hatte er sich noch nicht mit Wuleen unterhalten. Der merkwürdige Kerl war ihm unheimlich. „Wuleen träumt auch davon. Es wird mit der Zeit einfacher. Irgendwann weißt du, dass sie dich töten, wenn du ihnen nicht zuvorkommst. Aber das erste Mal vergisst man nie.“ Craig musste schlucken und betrachtete Vance mitleidig. Sein schlechtes Gewissen verfolgte ihn sogar in den Schlaf und marterte ihn in seinen Träumen. Plötzlich verspürte Craig große Erleichterung darüber, dass es ihm in seinem Zorn nicht gelungen war, einen der Schmuggler zu töten, so sehr er es auch gewollt hatte. „Und von wem träumst du?“, hauchte Craig in die Nacht hinein. Das metallische Schleifen des Wetzsteins verklang. Wuleen sah ihn noch immer nicht an. „Von einem Fischer. Wuleen hatte Hunger und wollte einen Fisch stehlen. Der Fischer hat Wuleen bemerkt und festgehalten. Er war sehr wütend und wollte Wuleen totschlagen. Aber Wuleen war schneller.“ Craig erschauderte. Diese Geschichte erinnerte ihn sehr an das, was Vance ihm erzählt hatte. Der einzige Unterschied war, dass Vance kein Dieb war, sondern den Zorn seines späteren Opfers schlicht durch sein Blut auf sich gezogen hatte. „Wie alt warst du damals?“, fragte der Waisenjunge leise. Er bekam keine Antwort. Stattdessen meldete sich Craigs Magen zu Wort und grummelte hörbar. Verlegen presste er seine Hände auf den Bauch. Wuleen griff in eine Tasche, die er neben sich auf den Boden gelegt hatte, und warf ihm ein Stück Trockenfleisch zu. „Iss das und stell nicht so viele Fragen“, brummte er. Craig beäugte den unförmigen, braunen Fetzen in seiner Hand misstrauisch und biss zögerlich hinein. Das Fleisch war zäh und schmeckte salzig, aber es sättigte ihn fast augenblicklich. Ein brennendes Scheit brach und fiel funkensprühend in die Glut. Wuleen stand ruckartig auf und legte Feuerholz nach. Die flackernden Flammen beschienen sein stoppelbärtiges Gesicht und Craig bemerkte erstmals die beiden dünnen, blassen Narben. Die eine zog sich quer über den Nasenrücken, die andere befand sich senkrecht auf seiner linken Wange, wurde durch sein Auge unterbrochen und setzte über der Braue wieder an, bis sie im Ansatz seines buschigen Haars verschwand. Es sah aus, als sei sein Gesicht mit einem scharfen Messer fein säuberlich aufgeschnitten worden. Craig wagte nicht zu fragen, wie er diese Verletzungen davongetragen hatte. Wuleen bemerkte, dass der Waisenjunge ihn anstarrte. „Geh schlafen“, riet er ihm. „Wir werden morgen einen weiten Weg zurücklegen müssen.“ Craig ließ sich das nicht zweimal sagen. Er legte sich hin, drehte sich um, damit sein kalter Rücken von den Flammen aufgewärmt wurde, und schloss die Augen. Aber er konnte lange Zeit nicht einschlafen und so bekam er noch mit, wie Wuleen zu Vance ging, um ihn zu wecken und sich von ihm ablösen zu lassen. Gar nicht weit entfernt, jenseits des Maldocan, durchquerten die Banditen das Tal der Asche. Hätten sie sich umgedreht, hätten sie den Schein des Lagerfeuers ihrer Verfolger erkennen können, doch noch ahnte keiner von ihnen, dass man ihnen auf der Fährte war. Das Tal der Asche war ein trostloser Ort. Gesäumt von hohen Bergen war es der bequemste Zugang in die Wolkenberge. Grobkörniger Staub bedeckte den Boden und knirschte unter den Stiefeln der Banditen. Die einzigen Lebensformen, die im Tal der Asche zu überdauern schienen, waren holzige, mit Dornen besetzte ranken, die sich aus dem trockenen, rissigen Erdreich bohrten. Doch der Schein trog. In den Hängen nisteten Kolonien von Felsharpyien, die ihre nahen Verwandten von der Küste in Größe und Blutdurst um Längen übertrafen. Die Banditen wussten, dass der kleinste Laut die geflügelten Ungeheuer auf sie aufmerksam machen konnte. Deshalb sprach keiner von ihnen ein Wort. Die Öllampen waren gelöscht worden und so bewegte sich die gesamte Horde im Schutz der Dunkelheit durch die Senke. Fjedor ging zusammen mit Nironil am Rand der Gruppe. Er fühlte sich übergangen und betrogen und bezweifelte allmählich, dass Brynne seine Versprechen jemals wahr machen würde. Er spürte, dass sein Verbündeter kurz davor war, auch die Schmuggler auf seine Seite zu ziehen, so wie er es mit Veits Seeleuten getan hatte. Fjedor dachte bereits fieberhaft nach, wie er sich am besten von Brynne absetzen konnte, ohne auf das große Geld verzichten zu müssen. Ohne Nironil an seiner Seite hätte Fjedor jegliche Hoffnung verloren, doch im Beisein des schweigsamen Waldelfen fühlte er sich sicher. Er wusste, dass Nironils Loyalität weit über schnöde Bezahlung hinausging. Der einzige andere Schmuggler, der ihm so treu zur Seite stand, war Ratz, und den hatte er ärgerlicherweise in der Mine zurückgelassen. Wenn er wenigstens Mola mitgenommen hätte! Die alte Schreckschraube war zwar eine furchtbare Zeitgenossin, aber sie hatte genug Mumm und Selbstwertgefühl, um sich von Brynne nicht einfach unterbuttern zu lassen. Sie war vielleicht nicht unbedingt auf Fjedors Seite, denn sie hatte aus ihrer Abneigung ihm gegenüber noch nie einen Hehl gemacht, aber sie hielt auch ganz bestimmt nicht zu Brynne. Seine übrigen Untergebenen waren Fähnchen im Wind, die sich ebenso schnell von ihm abwenden würden, wie es die Matrosen bei Veit getan hatten. Aber im Gegensatz zu dem dickköpfigen Kapitän war Fjedor nicht so dumm, sich Brynne offen in den Weg zu stellen und sich umbringen zu lassen. Lieber gab er vorerst klein bei und wartete auf eine günstige Gelegenheit, das Ruder wieder herumzureißen. So hatte er es schon immer gehandhabt. Er war mit nichts außer seiner silbernen Zunge nach Adamas gekommen. Er hatte sich bei Banden verschiedenster Verbrecher eingeschmeichelt und im richtigen Augenblick die Führung übernommen. Und so war er zum berüchtigtsten Banditen der Halbinsel geworden, obwohl er in Sachen Kampfkunst ausgesprochen untalentiert war. Mit Nironil an seiner Seite war alles noch einfacher geworden. Der Waldelf verbreitete durch seine bloße Anwesenheit Ehrfurcht und Fjedor war davon überzeugt, dass selbst Brynne Respekt vor ihm hatte. Fjedor blickte sich verstohlen um. In der Dunkelheit erkannte er die gebeugte Gestalt von Viland, der das Schlusslicht bildete. Das war nicht besonders verwunderlich, denn in der vergleichsweise kurzen Zeit auf dem Schiff hatte er sich trotz Indras intensiver Pflege kaum von seinen schwerwiegenden Verletzungen können. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch gehen konnte. Fjedor war bei allem Selbstbewusstsein sicher, dass er die Folgen der verheerenden Messerstiche nicht überlebt hätte. Indra war an seiner Seite und versuchte immer wieder, den angeschlagenen Axtkämpfer zu stützten, doch Viland lehnte ihre Unterstützung jedes Mal barsch ab und schleppte sich ohne Hilfe weiter. Tapfer hielt er mit den übrigen Banditen mit. Brynne selbst ging ganz an der Spitze des Zuges, als hätte er bereits das Kommando über die Banditen übernommen. Fjedor senkte grimmig den Kopf. Viland würde mit Sicherheit bald schlapp machen, aber dadurch besserte sich seine Lage nicht, solange Brynne noch seine anderen Diener hatte. Gilroy und Tareglir waren keine großen Hindernisse. Der Dunkelelf war zwar ein kaltblütiger Mörder, aber in einem Kampf war er nicht zu gebrauchen. Und Tareglir war ein helles Köpfchen, doch in erster Linie ein nutzloser Wichtigtuer. Brothain dagegen war ein echtes Ärgernis, denn er war von ähnlichem Schlag wie Nironil. Es war nicht besonders ratsam, sich mit ihm anzulegen. Fjedor stellte sich gerade vor, wie er Brynne am nächsten Morgen ins Sonnenlicht stieß und dabei zusah, wie ihm die Haut von den Knochen schmolz, als Tareglir direkt auf eine der trockenen Ranken trat, die den Boden stellenweise überwucherten. Ein dicker, massiver Dorn bohrte sich durch seine Stiefelsohle und direkt in seinen Zehenballen. Der Waldelf jaulte vor Schmerz laut auf und hüpfte auf seinem unversehrten Bein fluchend auf und ab. „Halt die Klappe, du Idiot!“, zischte Fjedor warnend, doch es war zu spät. Von den Berghängen erschallte ein aggressives Kreischen. Im nächsten Moment war die Luft erfüllt vom rauschenden Flügelschlag zahlloser Schwingen. Wie eine dunkle Wolke schob sich ein ganzer Schwarm gefiederter Ungeheuer vor die Sterne. „Die Harpyien!“, schrie Fjedor entsetzt. Unter den Banditen brach blanke Panik aus. Sie drängten nach vorn, stießen ihre Kameraden zu Boden und stolperten wild durcheinander. Auch Fjedors erster Instinkt war eine kopflose Flucht, doch letztlich siegte seine Vernunft. „Bleibt zusammen, ihr Trottel!“, rief er und achtete darauf, in Nironils Nähe zu bleiben. „Wenn ihr euch verteilt, seid ihr leichte Beute!“ Doch die Banditen hörten nicht auf ihn. Entweder hatten sie endgültig ihren Respekt vor Fjedor verloren, oder es war einfach die Angst, die sie taub machte. Erneut durchschnitt ein markerschütterndes Kreischen die Luft und dann stießen die ersten Harpyien auf die fliehenden Schmuggler hinab. Das silberne Licht der Monde beschien ein grauenvolles Schauspiel. Klauen wie Fleischerhaken gruben sich tief in die Körper schreiender Dunkelelfen, die verzweifelt um sich schlugen. Federn und Haarbüschel flogen durch die Luft und das Schmerzgeheul der Verletzten vermischte sich mit dem Kreischen der Harpyien zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Viland hob grölend seine Axt, aber sein Kriegsschrei erstarb ihm auf den Lippen und er presste sich mit schmerzerfülltem Grunzen die Hand auf den Bauch. In Gilroys und Tareglirs Augen spiegelte sich nackte Angst, doch sie zogen ihre Waffen, ein Messer und ein Schwert, und wichen Brynne nicht von der Seite. Auch Brothain zückte seinen Dolch und machte mit der ersten Harpyie, die in seine Reichweite kam, kurzen Prozess. Aber es waren so viele, dass der Dunkelelf es sofort mit zwei weiteren zu tun bekam. Die riesigen Raubvögel waren mannshoch und in ihre gezahnten, abgerundeten Schnäbel passte problemlos ein Menschenkopf. Allein durch die Wucht ihres Sturzfluges rissen sie die Banditen von den Beinen und schlugen tiefe Wunden mit ihren fürchterlichen Krallen. Fjedor konnte sehen, wie eine Harpyie sich auf dem Rücken eines Dunkelelfen niederließ, ihre Klauen tief in seine Schultern grub und ihre Kiefer um den Hinterkopf ihres Opfers legte. Mit einem kräftigen Ruck brach sie dem unglückseligen Burschen das Genick. Während er leblos in sich zusammensackte, schwang sich die Harpyie wieder in die Luft und hielt mordlustig nach neuer Beute Ausschau. Fjedor zog zitternd seine Axt aus dem Gürtel. Vor den blutrünstigen Bestien gab es kein Entkommen. Ängstlich rückte er noch näher an Nironil heran. Der Waldelf behielt die Nerven. Er legte in aller Seelenruhe einen Pfeil an die Sehne, spannte den Bogen und schoss, nachdem er nur für einen Wimpernschlag gezielt hatte. Er traf eine Harpyie direkt in die magere Brust und das Ungeheuer fiel schreiend vom Himmel. Dann wirbelte Nironil herum und ließ in seiner Hand einen Flammenzauber auflodern. Er schleuderte den Feuerball auf eine weitere Harpyie und versengte ihr die Federn. Die Bestie konnte so heftig mit ihren brennenden Flügeln schlagen, wie sie wollte, sie konnte sich nicht mehr in der Luft halten und stürzte ab. Den anderen Banditen entging nicht, dass der Waldelf die Harpyien nach und nach dezimierte. Sie fassten neuen Mut und wehrten sich gegen die Raubvögel. Endlich folgten sie auch Fjedors Rat und bildeten kleine Gruppen. Rücken an Rücken standen sie da und schlugen mit ihren Waffen nach jeder Harpyie, die sich flügelschlagend in ihre Nähe wagte. Aber auch die Bestien bemerkten schnell, dass von Nironil eine besondere Gefahr ausging. Sie rotteten sich mit wütenden Schreien zusammen und gingen gemeinsam auf ihn los. Der Waldelf sah sich plötzlich einer Vielzahl von Angriffen aus allen Richtungen ausgesetzt. In schneller Abfolge feuerte er den herabstoßenden Harpyien Dutzende Pfeile entgegen und traf mit jedem Schuss ins Schwarze, doch er konnte nicht alle aufhalten. Eine gekrümmte Klaue streifte sein Gesicht und schor ihm eine blonde Strähne vom Kopf. Ein Kiefer mit nadelspitzen Zähnen schnappte nach seinem Hals und er konnte gerade noch rechtzeitig zurückweichen. Eine rasiermesserscharfe Kralle traf seinen Unterarm und schlitzte ihn der Länge nach auf. Nironil presste sich die klaffende Schnittwunde und stieß ein leises Grunzen aus. Fjedor wurde sofort hellhörig. Erst einmal hatte er gehört, wie der Waldelf einen Schmerzenslaut von sich gegeben hatte. Damals war er halbtot gewesen. Ängstlich drehte er sich zu seinem Leibwächter um. Von Nironils ruhiger Ausstrahlung war nichts mehr übriggeblieben. Nun kämpfte er mit verbissener Entschlossenheit. Er wirbelte herum und beschwor eine gewaltige Flammenwoge, die gleich drei Harpyien auf einmal traf. Dann zog er blitzschnell einen Pfeil aus seinem Köcher und stieß ihn einem weiteren Vogel direkt durch den Flügel. Das Ungeheuer verlor das Gleichgewicht, trudelte unbeholfen durch die Luft und landete schließlich in einem unförmigen Knäuel aus Federn und Klauen auf dem Boden. „Lasst ihn in Ruhe!“, schrie Fjedor und trieb der benommen mit den Flügeln flatternden Harpyie die Axt in den Schädel. Direkt neben stürzte sich eine weitere Harpyie auf einen Dunkelelfen, der von seiner Gruppe getrennt worden war. Das Ungeheuer schlitzte dem Unglücksraben mit solcher Gewalt die Kehle auf, dass sie ihm fast den Kopf vom Hals riss. Fjedor wich mit einem erstickten Schluchzen zurück, als er sah, wie dunkles Blut die ausgetrocknete Erde benetzte. „Die schlachten uns ab!“ Ein gellender Angstschrei übertönte das Getöse. Eine Harpyie hatte Tareglirs seidene Robe beim Kragen gepackt und hob den strampelnden Waldelfen mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Tareglir wehrte sich verzweifelt und schlug mit seinem Schwert blindlings nach den Klauen und Flügeln der Harpyie, doch das Ungeheuer stieg mit ihm immer höher und höher. Er baumelte in ihren Fängen bereits weit über dem Boden, als er die Harpyie mit einem schwungvollen Hieb am Bein erwischte. Der Vogel krächzte erzürnt und ließ den Waldelfen los, und bevor Tareglir begriff, was er getan hatte, war es bereits zu spät. Mit einem spitzen Schrei stürzte er in die Tiefe und schlug mit einem widerlichen Geräusch auf dem Boden auf. Da hatte Brynne genug. Fjedor sah noch, wie er energisch nach vorne trat und die weiten Ärmel seines Gewands zurückschlug, dann war die Luft erfüllt von einem unheilvollen Knistern. Brynne hob die Hände und aus jedem seiner Finger schoss ein gleißender Blitz. Fjedor stand er Mund offen. Er erwartete einen Donnerschlag, doch was folgte, waren lediglich die Todesschreie von zehn getroffenen Harpyien. Ihre Federn sträubten sich, dann durchlief ihre Körper ein krampfartiges Zucken und als sie mit offenen Schnäbeln und von sich gestreckten Flügeln im Staub lagen, bebten ihre Schwingen noch immer. Weitere Blitze folgten und fanden ihre Ziele mit todbringender Genauigkeit. Das angriffslustige Kreischen der Harpyien verwandelte sich in panisches Krächzen und innerhalb kürzester Zeit wurde ein Großteil der gefürchteten Harpyienkolonie im Tal der Asche ausgelöscht. Die wenigen Vögel, die den Blitzen entgingen, schwenkten ab und suchten ihr Heil in der Flucht. Brynne rümpfte die Nase und ließ seine Hände wieder in den Ärmeln seiner Kutte verschwinden. „Gilroy“, befahl er so ungerührt, als hätte er gerade lediglich einen Schwarm lästiger Schmeißfliegen vertrieben. „Verschaff dir einen Überblick über unsere Verluste.“ „Sehr wohl, mein Meister“, erwiderte Gilroy und hastete geschäftig davon. Nachdem der letzte Harpyienschrei verklungen war, wurde es totenstill im Tal der Asche. Die Banditen lagen entweder vor Schmerzen gekrümmt auf dem Boden oder standen ungläubig da und starrten Brynne ehrfurchtsvoll an. Nur Indra war nicht wie zu Stein erstarrt. Von ihrem Mitgefühl getrieben ging sie von einem Verletzten zum nächsten und besah sich ihre Wunden. Die meisten Verletzungen waren harmlose Kratzer, die Indra nicht weiter in Augenschein nahm, aber es gab auch einige Fleischwunden und sogar den ein oder anderen gebrochenen Knochen zu beklagen. Als sie bei Nironil stehenblieb und dessen blutüberströmten Arm bemerkte, runzelte sie sorgenvoll die Stirn. „Dieser Schnitt muss sofort behandelt werden, sonst verblutet ihr noch“, bemerkte sie. Nironil starrte die junge Dunkelelfe erstaunt an, doch als sie nach seinem Arm griff, um die Verletzung genauer zu untersuchen, ließ er es geschehen. Indra zog vorsichtig die ausgefransten Wundränder zusammen, kramte aus ihrem Apothekerbeutel einige große, bitter duftende Blätter und presste sie auf den langen, gekrümmten Schnitt. Dann legte sie dem Waldelfen einen Verband aus Leinen an. Nironil betrachtete die Bandagen verwundert. „Warum helft Ihr mir freiwillig?“, fragte er flüsternd. „Ihr seid doch eine Sklavin.“ „Und Ihr seid ein ganz fürchterlicher Waldelf“, schimpfte Indra gedämpft. „Aber ich bin in erster Linie Heilerin und man hat mir beigebracht, dass jedes Leben wertvoll ist, egal wie abstoßend und widerwärtig es auch sein mag. Ich wünschte, dass Ihr mörderisches Lumpenpack das auch endlich begreifen würdet. In meinem Beisein stirbt niemand, wenn ich es verhindern kann. Und jetzt entschuldigt mich. Es gibt noch weitere Verletzte, die meine Hilfe benötigen.“ Sie sammelte ihr Bündel ein und eilte davon. Nironil blickte ihr nachdenklich hinterher und sah zu, wie sie sich über einen jammernden Dunkelelfen beugte, der offenbar einen Finger eingebüßt hatte. „Wertvoll…“, murmelte er leise. In der Zwischenzeit kehrte Gilroy zu Brynne zurück und buckelte unterwürfig. „Herr, es gibt eine Menge Verletzte“, berichtete er. „Nur eine Handvoll Eurer Gefolgsleute hat nichts abbekommen. Die Verletzten werden es überstehen, aber sie sind nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte.“ „Können sie gehen?“, fragte Brynne ungeduldig und seine kalten Augen funkelten böse im Mondlicht. „Ja, die Verletzungen beschränken sich auf die Oberkörper, Köpfe und Arme“, antwortete Gilroy folgsam. „Sie alle werden den Weg aus eigener Kraft fortsetzen können.“ „Dann interessieren mich ihre Verletzungen nicht“, brummte Brynne. „Wie viele Tote?“ „Drei, Herr. Einer von ihnen ist Tareglir.“ „Geschieht ihm ganz recht“, knurrte Brynne und spuckte verächtlich aus. „Ich hätte ihn selbst umgebracht, wenn die Harpyien das nicht erledigt hätten. Dieser Trottel hat den ganzen Schwarm erst auf uns aufmerksam gemacht. Das hat wieder nur unnötige Zeit gekostet.“ Er knirschte verärgert mit den Zähnen. „Lass die Truppe antreten. Wir gehen weiter. Jeder, der nicht mithalten kann, wird zurückgelassen.“ „Wie Ihr wünscht, Herr“, erwiderte Gilroy und verbeugte sich schmeichlerisch tief. Dann drehte er sich zu den Banditen um und schwenkte drohend sein Messer. „Na los, hoch mit euch! Jetzt ist nicht die richtige Zeit, um eure Wunden zu lecken! Rasten könnt ihr wieder bei Sonnenaufgang! Und dann habt ihr einen ganzen Tag, um euch auszuruhen.“ Die ganze Meute setzte sich widerwillig, aber ohne zu murren, in Bewegung. Brynnes Machtdemonstration hatte ihnen gehörigen Respekt eingeflößt. Niemand wagte es, sich zu beschweren. Nur Fjedor blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen. „Das ist also die Magie des Wolkentempels“, hauchte er ehrfürchtig. Brynne musste seine Führung über die Banditen gar nicht offen fordern. Mit einer einzigen Zurschaustellung seiner geballten Kräfte hatte er sie durch pure Angst auf seine Seite gezogen. Die ganze Zeit hatte Fjedor geglaubt, dass Brynne seine Macht seinen beiden furchteinflößenden Leibwächtern zu verdanken hatte, aber nun war ihm klar, dass Viland und Brothain nur kleine Lichter im Schatten ihres Meisters waren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)