Bandida von Palmira ================================================================================ Kapitel 1: Miss Ashes Gespür für Dynamit ---------------------------------------- Elizabeth Caledonia Ashe hatte den Teufel im Leib. Das sagte jeder: schon als sie drei Jahre alt war und die Trotzphase einfach nicht enden wollte. Vielleicht hatte man es auch schon bei ihrer Geburt gesagt, als man ihren Albinismus bemerkt hatte (es war zugegeben verstörend, wenn ein bleiches Baby die Augen öffnete und sie rot waren), aber das war zumindest nicht überliefert. Alles Weitere dagegen schon. Die kleine Lizzy verwandelte das Bett aus Rosen, auf das man sie wegen ihrer privilegierten Herkunft gebettet hatte, in ein Nest aus Dornen. Ihre Eltern bekamen davon zunächst wenig mit, weil sie sie in der Obhut von hochbezahlten Kindermädchen und Privatlehrern zurückließen. Je älter das Mädchen wurde, desto kürzer wurden deren Aufenthaltsspannen, bis dieses qualifizierte Personal verschlissen wurde wie Wunderkerzen. Die Analogie war leider passend, denn 'Lizzy' – sie brachte allen schon ziemlich bald bei, sie 'Miss Ashe' zu nennen – zündelte gern. Als ihre Eltern die fantastische Idee hatten, sie auf teure Internate zu schicken, um das Personalkarussell anzuhalten, stellte sie fest, dass sie auch gern kämpfte. Schon in ihrer ersten Woche hatte sie einem Jungen einen Zahn ausgeschlagen und einem anderen den Daumen ausgerenkt. Da war sie sechs. Man versuchte festzustellen, ob die Pigmentstörung vielleicht eine biologische (und weniger sozial prekäre) Erklärung für ihr Verhalten war, und man kam nach einer gründlichen Untersuchung von einigen Monaten Dauer dazu dass, nein, Miss Ashes Charakter hatte nichts mit ihren Genen zu tun. Sie hatte den Teufel im Leib und nichts weiter. Abgesehen von ihrer grässlichen Persönlichkeit – sie war jähzornig, aufbrausend, stolz, stur, egoistisch und unerträglich spitzzüngig – war sie unglücklicherweise sehr intelligent. Es ließ sich erkennen, dass sie mal eine Schönheit sein würde und nicht darüber stand, andere zu manipulieren. Sie lernte schnell, nur leider die falschen Dinge, und obwohl sie sich oft isolierte und absolut jeden in ihrer Umgebung für unwürdig zu befinden schien, hatte sie ein Auge für Menschen, ihr Wesen, ihre Stärken und Schwächen. Als Miss Ashe anfing, ihren Einfluss zur Geltung zu bringen, indem sie ihr Geld, ihren Einfluss und ihren ruchlosen Charakter in die Waagschale warf, nahmen ihre Eltern sie wieder aus der Öffentlichkeit und setzten sie in einem personell minimal besetzten Herrenhaus in Texas ab. Es war der am wenigsten peinliche, einfachste Weg und ließ hoffentlich die Hintertür offen, den Wildfang irgendwann wieder auf Kurs zu bringen, bevor die Pubertät begann. Immerhin war 'die kleine Lizzy' ein faszinierendes kleines Miststück. Um ihr den Wert menschlicher Gesellschaft durch deren Entzug zu verdeutlichen, ließ man sie mit einem Omnic allein, der völlig ausreichend war, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen und ihre Sicherheit zu gewährleisten. Außerdem war er ein sehr schlichtes Arbeitsmodell und nicht mit einem Sprachmodul ausgestattet. Seine Kommunikationsfähigkeit war allgemein sehr begrenzt, er war nur riesig und unhandlich, die klobige Fusion aus Butler und Bodyguard. Miss Ashe wusste nicht, ob sie bis dahin schon etwas in ihrem kurzen Leben geliebt hatte. Aber B.O.B. liebte sie. Später einmal würde sie Scherze machen, dass B.O.B. der perfekte Mann war: er hielt absolut immer die Klappe, befolgte jede ihrer Anweisungen ohne Protest und wenn er in Stücke gerissen wurde, setzte sie ihn einfach wieder zusammen und sie machten weiter. Es gab noch einen Mann, der fast so perfekt war, doch als es ihn in Stücke riss, ersetzte man Dinge an ihm, die danach anders waren. Ihrer Tochter einen Omnic-Butler zu übertragen war, auf lange Sicht, die schlimmste Fehlentscheidung von Mr. & Mrs. Ashe, aber kurzfristig schien es ein Wunderwerk. Das Kind wurde zahmer, wenn auch verschlossener, ihre Gewaltausbrüche seltener. Man konnte immer noch sehen, dass sie mit den Kiefern mahlte, sobald man sie 'Lizzy' oder 'Callie' nannte, und manchmal schlug sie noch einen Zahn aus, wenn jemand so dumm war anzudeuten, sie verstecke sich hinter ihrem stählernen Schatten. Mit dreizehn krachte die Pubertät über ihr zusammen, und man hörte auf, jugendliche Delinquenz nachsichtig zu behandeln. Aus 'Lizzy' wurde ein zorniges Bündel langer Gliedmaßen, das begann, seine roten Augen dick mit Kajal zu umranden, wodurch sie noch mehr hervorgehoben wurden, ihr geisterhaft weißes Haar wachsen zu lassen und ihre blassen Lippen in dem noch blasseren Gesicht scharlachrot zu färben. Es sah grässlich aus, aber was tat das in dem Alter nicht. Mit vierzehn kaufte sie ein riesiges, brüllendes Motorrad. Angestellte sagten aus, sie hätten auch Schüsse gehört, doch Miss Ashe duldete nur B.O.B. in ihrer Nähe... und der verlor nun mal kein Wort darüber. Mit fünfzehn war das Motorrad weg und das erste Tattoo auf der Schulter. Der rote Lippenstift und der dicke Lidstrich sahen deutlich weniger lächerlich aus. Verheiratete Männer drehten sich auf offener Straße nach dem Mädchen um, deren Beine in den hohen Lederstiefeln und engen Jeans immer länger zu werden schienen, je länger man sie ansah. Mit sechzehn entdeckte Elizabeth Caledonia 'Calamity' Ashe, dass es nur sehr wenige Dinge gab, die sie nicht haben konnte, wenn sie wollte. Sie hatte Geld, Verstand, Einfluss und Sexappeal. Sie hasste es, wie leicht es war. Mit siebzehn war das Motorrad wieder da. Es gehörte ihr nicht, sondern war gestohlen, und das fühlte sich irgendwie richtig an. Die Alarmanlage des Großindustriellen war angesprungen und die automatischen Geschütztürme (Texas, Bitch!) hatten B.O.B. zerlegt, sodass Miss Ashe seine zum Teil zentnerschweren Einzelteile in den Beiwagen hatte wuchten und zwei Mal hin und her fahren müssen, um ihn in ihre Werkstatt zu schaffen. Sie hatte sich dabei die Handflächen aufgerissen, zwei Sehnen gezerrt, Stacheldraht aus ihrer Wade gepult und letztlich war sie geschnappt worden, aber all das war bedeutungslos. Denn zum ersten Mal war sie zufrieden mit dem, was sie erreicht hatte. Es war nur B.O.B., der sie abholte, als man sie aus dem Jugendarrest entließ, nicht mal mehr Reporter, die Spaß an der Berichterstattung über eine gefallene Prinzessin hatten. Es war nicht länger Lizzy oder Miss Ashe, es war nur noch Ashe. Sie behielt allerdings den Namen 'Calamity' aus den Boulevardblättern, der gefiel ihr. Zwei Monate später stahl sie das Motorrad wieder, und diesmal blieb es verschwunden. B.O.B. erhielt erste Ansätze von Rapidfeuer-Kanonen in den Armen, die Ashe aus einem Bastion ausgebaut hatte. In der Nacht ihres achtzehnten Geburtstags schoss Ashe zum ersten Mal auf jemanden. Es war nicht ganz willkürlich und nicht ganz Notwehr, sondern etwas dazwischen. Der Typ in der Kneipe überlebte, aber er hatte eine Menge Freunde, Ashe war nicht nüchtern genug und es hätte brenzlig werden können, hätte nicht ein junger Kerl mit einem irrsinnig flinken Revolver die Lichter im Pub ausgeschossen und im Dunkeln das Autolock-System geknackt, um sich und Ashe rauszulassen. Er hieß Jesse McCree. Er sah auf den ersten Blick, dass Ashe den Teufel im Leib hatte, so wie er. Ihre Teufel waren nicht kompatibel (auch wenn es eine Zeit gegeben hatte, in der Ashe sich das mit trotziger Verlegenheit gewünscht hatte), doch er brachte ihr bei, wie er es nannte, richtig zu schießen. Ashe war intelligent und ruchlos. Sie wusste, dass sie mit B.O.B. und McCree alles hatte, um ihren Namen im amerikanischen Kontinent zu hinterlassen, und sie würde ihn mit Angst schreiben. Dann waren Dinge geschehen, und Blackwatch hatte die Party gesprengt. Aber man schlug vielleicht Deadlock... doch niemals Ashe.   „Hier entlang.“ Ashe strich sich ein paar Strähnen ihres schneeweißen Haars hinters Ohr und betrachtete das Hologramm des Canyons, ihre dunkelroten Augen folgte dem schwach blinkenden Pfad. „Sicher?“ Der Mann vor ihr schwitzte trotz der akzeptabel klimatisierten Luft im Hinterzimmer der Tankstelle, doch er hielt sich einigermaßen, sah ihr in die Augen und nicht auf den feucht schimmernden Ausschnitt heller Haut, wo Ashes Hemd offen stand. Arizona war vielleicht brütend heiß, aber Calamity Ashe hatte ihre Standards, was ihre Garderobe anging. Es gab keinen Fleck, den B.O.B. nicht herausbekam, keine Umstände, unter denen er ihr Ensemble aus stilvoller Abendkleidung und Schutzausrüstung nicht pflegen konnte. Nach der Rebellion mit zerrissenen Jeans und noch zerrisseneren Tanktops legte Ashe großen Wert auf Makellosigkeit – Deadlock war in jeder Hinsicht wieder auferstanden. „Ja, Ma'am.“ Der Mann schluckte und riskierte einen Blick auf den hinter Ashe aufragenden Omnic. „Absolut sicher.“ „Absolut sind hundert Prozent.“ Ashe lehnte sich vor, gewährte dabei sowohl eine Spur mehr Einblick in ihr Hemd als auch auf das Gewehr, das zwischen ihren Knien stand. Ihre lackierten Fingernägel glitten nachdenklich über die Ornamente an der Basküle ihrer Viper, und sie sah, wie ihr Informant dagegen ankämpfte, dorthin zu starren, abzuwarten, ob Ashe nach dem Abzug griff. Aber er schaute nach vorn. „Bist du hundert Prozent sicher, dass der Hovertrain Volskaya Industries beliefert und kritische Ersatzteile geladen hat, nicht nur Energiezellen und Lack?“ Ashes Südstaaten-Singsang wob sich schleichend um die Härte in ihren Worten. „Überleg' es dir gut, Mann. Du kennst die Regeln.“ Der Adamsapfel des Mannes hüpfte. Schweiß glitzerte auf seiner Oberlippe, Ashe hörte das klebrige Schmatzen seiner trockenen Zunge beim Sprechen. „Absolut sicher,“ wiederholte er. Wer den Boss anlog, wurde an den Füßen im Canyon aufgehängt und bekam eine Stange Dynamit in den Mund gestopft, und dann schoss Ashe die Lunte an. Traf sie, fing die Lunte Feuer und die Geier wurden gefüttert. Verfehlte sie, Glück gehabt, auch wenn man sich nicht sehr beeilte, den Delinquenten wieder abzuhängen. Ashe verfehlte nur, wenn sie verfehlen wollte. Doch wer die Wahrheit schwor... Ashe lehnte sich wieder in die knarrende Kunstleder-Garnitur zurück und stieß ihren Ellbogen gegen B.O.B.s Seite. „Geht in Ordnung. Fünf Riesen, wie vereinbart.“ Ihre Leute hatten ihr Vertrauen, solange sie ihre Leute waren. Deadlock machte keine halben Sachen; es gab nur den Vertrauensvorschuss oder den Strick im Canyon. B.O.B. zog die entsprechende Menge Credits aus einem Etui und reichte sie dem Mann, der sie mit einem verkrampften Nicken nahm. „Danke.“ Ashe war zufrieden, wenn die Jungs ihre Haltung bewahrten, aber sie war trotzdem gelangweilt. Ein Teil von ihr, der manchmal in den frühesten Morgenstunden hochkroch wie ein schleimiger Egel, ließ sie sich erinnern, dass sie McCree vermisste: seine spöttischen Widerworte, seine Unverwüstlichkeit, sein verdammtes Rückgrat. Ashe zertrampelte diesen Teil von sich dann unter dem hohen Absatz ihrer schwarzen Wildleder-Stiefel, und es passierte zunehmend selten. Der Informant erhob sich und ging; der Geruch von seinem Schweiß blieb noch einen Moment länger. Ashe schnaubte und fächelte sich mit ihrem Hut etwas Luft zu. „Bob, 'ne Soda. Und nicht wieder dieser Schnickschnack mit Zitronensaft.“ Er würde es trotzdem tun, irgendwo jubelte der verfluchte Omnic ihr immer Vitamin-Kram und Elektrolyte unter, als wäre sie noch sieben Jahre alt und würde nicht merken, wenn er Magnesiumpulver in ihren Kakao streute. Er würde es nicht mehr tun, wenn Ashe es ihm wirklich verbot. Sie wusste das. Weil sie es wusste, konnte sie es tolerieren. Ashe nahm ihren Taschenspiegel aus der Weste und klappte ihn auf, um ihren Lippenstift zu erneuern. Der Spiegel hatte der Gattin eines Großindustriellen gehört und war ein potthässlicher Platinklotz mit Rosen aus Rubinsplittern, aber Ashe mochte geraubten Besitz. Sie benutzte dieses Drecksding, weil er ihr nicht gehörte und wertvoll war und unrechtmäßig in ihren Besitz gelangt war. Sie hatte gerade ihren Lippenstift herausgeholt und aufgedreht, als sie am Rand des Spiegels ein violettes Flackern auffing. Ashe war nicht so weit gekommen, weil sie schreckhaft war. Stattdessen wurde sie sehr still und führte den Lippenstift nach oben, während ihr Blick einzig in den Spiegel selbst ging. Doch da war nichts. Und B.O.B. reagierte auch nicht. Er war zwar mittlerweile manchmal schwergängig, aber wenn es ernst wurde, hatte Ashe keine Zweifel an ihm. Der Omnic trottete nur heran und stellte ein Glas Soda auf eine Serviette. Kondenswasser rollte an dem kalten Glas herunter, während B.O.B. es zurechtrückte und einen Strohhalm platzierte. Wenn seine Sensoren irgendetwas auffingen, bewertete er es als unwichtig. Ashe ließ Spiegel und Lippenstift sinken und rieb sich das Nasenbein. Vielleicht war sie etwas überreizt... Das mit Volskaya war eine große Sache. Sie konnte sich nicht erlauben, selbst weniger als hundert Prozent zu geben. „Na schön“, brummte sei, als hätte B.O.B. irgendetwas gesagt – was er natürlich nicht hatte, aber schon als Kind hatte sie mit ihm gesprochen, als würde er antworten, „tu' in Gottes Namen deine Zitronenscheibe rein, du dumme Blechdose.“ Mochte sein, dass ihr nur Vitamine fehlten. Und wenn schon nicht die, hatte es schon immer ihr gereiztes Gemüt besänftigt, B.O.B. unmögliche Dinge aus seinem winzigen Bowler-Hut zaubern zu lassen. Auch diesmal enttäuschte er nicht, sondern nahm eine etwas schrumpelige Yuzu-Zitrone aus der Innentasche seines Jacketts und schabte mit einem äußerst scharfen Messer hauchdünne Scheiben in das Glas. Der Duft von angeschnittener Zitrone vertrieb den Dunst von Schweiß und jegliches Flackern am Rand von Ashes Blickfeld. Sie griff nach dem kalten Glas und drückte es einen Moment lang gegen ihre Kehle. „Dann wollen wir den Russen mal in die Eier treten.“ Sie prostete der leeren Luft zu und grinste. „Ich war schon immer gegen Kommunismus.“   Als Ashe noch ein Kind gewesen war, hatte sie mit B.O.B. lange Streifzüge durch die Wildnis unternommen; manchmal so lang, dass sie ihre eigenen Kräfte überschätzte und zu erschöpft war, um weiterzugehen. Dann hatte sie giftige Schlangen und Spinnen erfunden, die sie irgendwo zwischen den Steinen entdeckt hatte und die ihr einen Vorwand lieferten, auf B.O.B.s Schultern zu klettern und in der flimmernden Hitze auf gekohltem Stahl zu sitzen, während der Omnic sie nach Hause trug. Sie brauchte diesen Vorwand nicht – B.O.B. hatte ihr in jedem Fall zu gehorchen, und falls seine interne Datenbank Fauna und Flora umfasste, wusste er sowieso, dass es diese giftigen Tiere nicht gab. Aber etwas vor B.O.B. zu rechtfertigen, wenn sie sich sonst immer einfach alles nahm, war Ashes einziger Weg gewesen, ihm zu signalisieren, dass sie ihn gernhatte. Jetzt, mehr oder weniger dreißig Jahre später, stand Ashe auf der Plattform von B.O.B.s über den Kopf gestreckten Händen, während der Wind an ihr zerrte, und blickte mit einem Zielfernrohr in den Canyon, ohne auch nur zu schwanken. Die Metallarme der Hover-Schienen glitzerten hämisch vor ihrem Auge, bis sie das Gewehr senkte und wieder fallen ließ, zurück in die wartenden Hände eines ihrer Männer. Unvorhergesehenes. Kam vor. Ashe stieß die Ferse gegen B.O.B.s Daumen, damit er sie wieder absetzte, und hielt ihren Hut fest. „Sind Intervalle von 'ner halben Stunde, wenn sie das Tempo halten.“ Der dürre Puerto Ricaner, der seine Gewehr wieder aufgefangen hatte, ließ seinen künstlich verstärkten Kiefer kreisen und sah dann zu Ashe auf. „Einzelne Waggons, aber mit 'ner Art Lichtseil dazwischen, damit die sofort Bescheid wissen, wenn einer abgefangen wird.“ Eine Perlenkette aus Waggons statt eines kompakten Zugs. Das machte den ursprünglichen Plan kompliziert... Bedeutete allerdings auch, dass der Transport sich nicht annähernd so schnell bewegen konnte wie gedacht. Ashes technisches Wissen ging weit darüber hinaus, B.O.B. zu reparieren, doch Volskayas Ingenieure waren die Besten, seit Overwatch zerfallen war. Knapp zu kalkulieren war sehr gefährlich, vor allem da Ashe nicht noch mal den Fehler machen würde, sich nur auf die aktuelle Aktion zu konzentrieren. Was nützte ihr ein erfolgreicher Raub, wenn dadurch die Position ihrer Gang aufflog und man sie in die Zange nahm? Wie damals. Ashe schwieg ein paar Sekunden länger, dann schlug sie ihre Faust klatschend in die flache Hand ihres fingerlosen Handschuhs. „Was steht ihr hier noch rum?! Bringt zusätzliche Vibrationsmodule an den Schienen an, ich will, dass das ganze Ding zittert wie'n Hochseil! Frequenz runter auf Slicer-Level, falls die unerwartet sensible Mechs an Bord haben. Der traurige Rest...“ Ashe ließ ihren Blick über die Gruppen von Männern streichen wie einen Downburst. „Verteilt euch in den Tunneln. Ist nicht die Frage, ob das Gebiet mit Drohnen abgeflogen wird; die Frage ist, wo überlappen sich die Intervalle. Wer's zuerst rausfindet – und er sollte sich verdammt sicher sein – kriegt zusätzliche fünf Prozent von was auch immer wir aus dem Transport rausholen.“ Noch bevor sich Jubel erheben konnte, zog Ashe ihre Viper aus dem Holster und schwenkte den Lauf in einer ungeduldigen Geste, als überlegte sie, doch auf jemanden zu schießen. „Ich will den ganzen Canyon im Blick haben!“ donnerte sie und trat einen Schritt vor. „Ab mit euch, Gleise und Tunnel, seh' ich aus, als hätte ich den ganzen Tag Zeit?!“ Sie stoben auseinander, als hätte Ashe ein knisterndes Bündel Dynamit in ihre Mitte geworfen. Befriedigend und gleichzeitig enttäuschend. Sie drehte sich zu B.O.B. um. „Du gehst mit runter zu den Gleisen und prüfst die Schwingung, bevor irgendeiner dieser Idioten es verbockt.“ B.O.B. blinzelte sie aus runden Kunststoff-Augen an. Ashe fletschte die Zähne. „Mach schon!“ Es gab nur einen Umstand, unter dem B.O.B. zögerte, ihre Befehle auszuführen, und der trat ein, wenn Ashes Sicherheit nicht von ihm gewährleistet werden konnte. Die Entfernung war weniger das Problem – der Omnic war mittlerweile mit leistungsfähigen Schubdüsen ausgestattet, die ihn im Notfall auch vom Boden des Canyons zurück auf diesen Felsvorsprung katapultieren konnten. Doch wenn Ashe sich in die alten Fördertunnel begab, die den Sandstein durchzogen, seit hier vor Urzeiten verschiedene Rohstoffe gefördert wurden, war sie außerhalb seiner Reichweite. Die Tunnel waren so alt, dass sie nur für Menschen angelegt worden waren, nicht für massige Omnic-Butler/Bodyguards, B.O.B. war schlichtweg zu groß, um hineinzupassen. Seine Subroutinen sollten ihm eigentlich gar nicht erlauben, von Ashes Seite zu weichen, aber dazu war er durchaus in der Lage. Ashe wusste nicht genau, warum; doch sie zog es vor zu glauben, dass er mit mathematischer Sicherheit überzeugt war, dass sie allein klarkam. Weil das die Wahrheit war. Einen Moment lang schaute B.O.B. sie noch an, dann stapfte er unter leisem Knarren der Gelenke davon, um sich mit schwerem Werkzeug und Modulen zu beladen. Letztlich gehorchte er Ashes Regeln, so wie alle hier. Sie warf einen Blick auf den Stand der Sonne und hakte sich eins der schlanken Earpieces um die Ohrmuschel, das sie bei einem ihrer letzten Überfälle geraubt hatten – sie hatten das interne Netz erst korrumpieren müssen, was ein Schweinegeld gekostet hatte, doch es lohnte sich. Flüssige Kommunikation, selbst durch die meterdicken Steinwände und verbleibenden Metalladern des Canyons. Wenn einer der Jungs sie anfunkte, wusste sie sofort Bescheid... aber die Drohnen zu entdecken hatte Priorität, und wenn etwas richtig gemacht werden sollte, musste sie es eh selbst tun. Ashe packte die Viper fester und schwang sich die nur scheinbar brüchigen Baugerüste hinauf, um in einem der Tunnel zu verschwinden, die wie Löcher eines Termitenbaus im Stein verteilt waren. Sie hatte ein gutes Gedächtnis und konnte schnell genug eine Felsnase oberhalb erreichen, ohne sich dabei unter offenem Himmel und somit auf dem Radar von Drohnen zu bewegen – sie musste das nicht tun, aber sie wollte es. Sie hatte keine Angst. Diese Welt hatte es bisher noch nicht geschafft, ihr Angst zu machen. Dunkelheit und kühlere Luft hüllten sie ein, als sie zügig in einen der schmalen Tunnel eintauchte. Sie streckte nicht die Hände nach den Wänden aus – wenn irgendwo Skorpione und giftige Eidechsen die Hitze des Tages abwarteten, dann hier – sondern orientierte sich am Echo ihrer Schritte, manchmal klopfte sie mit ihrem Gewehr über den Stein, um sich zu vergewissern. Als die Finsternis so tief wurde, dass sie absolut nichts mehr sah, und der Boden anzusteigen begann, aktivierte sie die kleine Leuchtzelle am Hutband ihres Stetson. Das goldene Emblem (eine umgearbeitete Kühlerfigur aus Feingold an einer Luxuslimousine, die Ashe einfach nicht hatte dort lassen können) begann schwach zu strahlen, gerade so weit, dass Ashe sehen konnte, ein Schütze aber keinen klaren Schuss auf sie bekam. „Hola, bandida.“ Ashe reagierte wie ein Uhrwerk. Viper war nicht nur ein sehr verlässliches Selbstladegewehr, sondern auch eine ausgezeichnete Schlagwaffe. Der Schaft war nicht stumpf und dreieckig, wie bei einem normalen Gewehr, sondern zur Gewichtsersparnis und Multifunktionalität ein eckiger Haken, dessen abgerundete Kanten sich mitleidlos in Weichteile bohrten. Als Ashe die Viper hinter sich schwang und zustieß, spürte sie die Kollision, das Herauspressen von Atemluft, und drehte den Schaft wie einen Angelhaken in den Stoff, um gleichzeitig mit der anderen Hand zuzupacken- Sie griff ins Leere. Da war wieder dieses Flimmern von Violett. Auf so engem Raum fielen die meisten von Ashes bevorzugten Kampftechniken flach, und sie war nicht so paranoid, den Tunnel mit Sperrfeuer einzudecken; außerdem verlor die Viper an Präzision, wenn sie heiß wurde. Und B.O.B. war nicht da... doch deswegen war Ashe noch lange nicht hilflos. „Komm raus, du kleine Ratte...“ Ashe legte die Finger um den Griff ihrer Coach Gun und zog sie aus dem Gürtel. „Oder ich puste dich aus deinem Loch...“ Ihre Stimme war ruhig und fest; wenn man mit Männern arbeitete, ihren Respekt für reibungslose Abläufe benötigte, war ein schrilles Kreischen ein echter Tiefschlag; außerdem hatte Ashe den Männern die Illusion genommen, dass sie sie erschrecken konnten. Ihr antwortete ein leises Kichern. Das Echo des Tunnels verzerrte den Klang, und das gelbliche Dämmerlicht fing niemanden ein. „Wirklich, wirst du husten und prusten? Das ist so alt... Candida.“ Einst hatte Miss Ashe viele Sprachen gelernt, Spanisch bereits früh – aber selbst wenn nicht, hätte sie dieses Wort erkannt, das ein unangenehmes Prickeln in ihrer Magengrube verursachte, ein beginnendes Brodeln von Zorn. Candida war alles – naiv, unschuldig, weiß. Jesse hatte natürlich behauptet, es ginge nur um das Letzte, wegen Ashes Haar. Es war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur Zufall, dass die Frau sie nicht 'alma' oder 'blanca' nannte, wenn sie dieselbe bahnbrechende Beobachtung gemacht hatte. Ashe zischte leise. „Freut mich, Schätzchen... Denn du wirst nicht alt werden.“ Das Flackern war ganz am Rand ihres Blickfelds, und diesmal reagierte Ashe sofort. Sie feuerte ihre Coach Gun auf den Fleck und ließ sich vom Rückstoß zurückkatapultieren, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Die Leuchteinheit auf ihrem Hut strahlte heller, als der Gestank von Pulver und der Staub von Sandstein sich ausbreiteten... aber kein Blut. Ashe wich aus, aber nicht schnell genug. Der Schlag einer Handkante gegen ihre Luftröhre hätte sie vorübergehend lahmgelegt, doch nun traf er nur Ashes Schläfe und fegte ihren Stetson vom Kopf. Schmerz explodierte in der Seite ihres Schädels, allerdings war Ashe immer gut im Aushalten gewesen: sie ließ die Coach Gun fallen, zog den Schwung aus ihren gebeugten Beinen und rammte. Es hätte enorm schiefgehen und sie wie einen Stier in einem Cartoon vor die Wand klatschen lassen. Aber sie spürte ein Knistern wie von statischer Aufladung und stemmte sich mit aller Kraft dagegen, und in einem Schauer purpurner Funken presste sie die andere Frau gegen den Stein. Ashe pustete eine Haarsträhne von ihren bemalten Lippen und klemmte die andere – kleiner, zierlicher, schwächer – fest, ihre Hand packte deren Kehle und grub Daumen und Zeigefinger in die Drosselvenen. Die Frau hatte den ebenmäßig braunen Teint und die Züge einer Latina, und bei all dem Violett, das ihre Kleidung, ihr Haar und ihre absurd langen Nägel durchzog, begriff Ashe nicht, wie sie sich versteckt haben konnte, denn die Farbe leuchtete selbst im bestenfalls dürftigen Licht ihres weggeschleuderten Huts. Sie atmete schnell gegen Ashes Umklammerung, aber nicht panisch. Ihre dunklen Augen waren geweitet, hatten den Ernst der Situation erkannt... doch es quollen keine Tränen heraus. Ashe hasste Heulerei. „Ganz ruhig, leona... Ich will nur reden.“ Die Frau lächelte, und ihr dunkler Lidstrich verlieh dem Lächeln eine düstere, unheilverheißende Note, die Ashe von jedem Blick in den Spiegel kannte. Die gesuchte Verbrecherin in Ashe wollte zudrücken und das Leben aus der Göre herausquetschen, damit sie das Ärgernis los war. Die Geschäftsfrau wollte begreifen, wie es möglich war, dass die Kleine sich an sie herangeschlichen hatte, sodass selbst B.O.B. nicht misstrauisch geworden war. Die Geschäftsfrau gewann; wäre es anders, dann wäre Calamity Ashe nicht anders als jedes hirnlose Flintenweib, das bei mittelmäßigen Straßengangs mitlief und im Knast verrottete, bevor sie vierzig wurde. Jetzt, mit neununddreißig, kam Deadlock hungriger und zorniger zurück als je zuvor, und das nicht, weil Ashe ihren Kopf nur zum Huttragen hatte. Sie ließ ihre Hand an der Kehle der Latina und tastete sie mit der anderen nach Waffen ab; gründlich, das war eine ihrer ersten Lektionen gewesen. Und eine, die ihr nie so richtig peinlich gewesen war, bis sie festgestellt hatte, wie viele Männer insgeheim darüber empfanden, wenn Smokin' Ash die Hände an sie legte. Seitdem trug sie wenigstens fingerlose Handschuhe. Sie fand jedoch... nichts, und die Latina war tatsächlich so dreist, entwaffnend ihre Hände zu heben, bis Ashe ihre Kehle wieder zudrückte. „Ich bin so unschuldig... wie an dem Tag, an dem ich geboren wurde,“ raunte sie mit einem spöttischen Augenaufschlag, aber immerhin gepresst. „Können wir... jetzt reden?“ „Ich stelle die Fragen,“ erwiderte Ashe knapp. Was hatte sie übersehen? Man kam nicht bis zum Boss von Deadlock, wenn man nicht bewaffnet war. Selbst wenn die kleine Ratte auf ihre Gelegenheit gewartet, die Lage ausgekundschaftet hatte, sie konnte nicht immer... unsichtbar sein. Und dann brannte die Hütte. Ashe hatte ihren Leuten eingebläut, sie zu respektieren, doch das änderte rein gar nichts an der Attitüde zu Wesen ohne überlegene Testikel. Sie lockerte ihren Würgegriff etwas mehr. „Wer schickt dich?“ Es muckte immer wer auf. Gangstrukturen waren geprägt davon, permanent zu versuchen, den Thron zu erklimmen, und Ashe trat jedem dieser kümmerlichen Schwächlinge so oft mit ihrem ledernen Schaftstiefel ins Gesicht wie nötig. B.O.B. bekam das Blut ja raus. Doch es war ihr neu, dass sich jemand eine minimal besser ausgebildete Saboteurin leistete – woher auch? Wer hatte überhaupt die Ressourcen dazu, ganz zu schweigen vom Grips? Die CalientE Cowboys rekrutierten vor allem Latinos, allerdings war ihre Struktur miserabel... Hatte Ashe es hier mit einer Überläuferin zu tun? „Keiner.“ Die Kleine klimperte mit den Wimpern, deren Spitzen lila eingefärbt waren. „Ich schwör's.“ Ashe drückte wieder zu. „Letzte Chance, die Spielchen zu lassen.“ Die Latina schnappte erfolglos nach Luft, ihr Röcheln klang fast theatralisch. Dann legte sie die Hände flehend auf Ashes Unterarm, ein zaghaftes Tasten lächerlich langer, spitzer Fingernägel. „Bitte...“ Es war nicht mehr als ein Hauchen. Eher früher als später unterwarfen sie sich alle. Ashe stieß sich von der Frau ab und drückte ihr Vipers Lauf gegen den Bauch, ließ aber ihre Kehle los. Die Frau atmete zwar keuchend ein, doch sie sackte nicht in sich zusammen wie jemand, der tatsächlich gelitten hatte... Ashes Rücken kribbelte angespannt, und sie kippte den Lauf, sodass ein Schuss durch die Bauchdecke in die Lunge dringen würde. Unschöner Tod, das. Die Frau hatte den Kopf gesenkt, ihr langer Sidecut fiel über ihr Gesicht, und ihre Finger zitterten, als sie das Haar zurückstrich. „Du musstest ja nicht gleich so weit weggehen, bandida... Wow, ich liebe dein Parfüm.“ Sie hob unvermittelt wieder den Kopf und grinste Ashe respektlos an. „Ich dachte ja, du riechst nach Öl und Kaktuswasser, aber das ist der Hammer. Was ist das?“ Vorgetäuschte Schwäche. Wahrscheinlich nicht zu einem so großen Prozentsatz, wie die andere es ursprünglich beabsichtigt hatte, dennoch... hatte die Kleine eine Ahnung, wie nah Ashe daran gewesen war, sie einfach zu erschießen, weil sie ein weiteres dummes Luder war, das ihre Zeit vergeudete? „Zu wem gehörst du?“ Ashe stieß den Lauf fest ins Zwerchfell, sodass die Frau zumindest japste. „Zu – 'ner echt großen Gang, aber wegen denen bin ich nicht hier. Mein Name ist Sombra... und ich komme wegen meiner Freundin.“ „Mir kommen die Tränen,“ erwiderte Ashe abschätzig. „Welche Gang?“ Sombra rollte mit den Augen. „Talon.“ Ashe hatte von Talon gehört, sogar noch früher als die meisten anderen, und nachdem Deadlock wiederauferstanden war, hatte sie gelegentlich geschäftlich mit ihnen zu tun – militärische Schmuggelware, manchmal Munition, versiegelte Einzeltransporte. Nichts Großes. Ashe war lange im Geschäft, sie wusste, dass es ein langgezogenes, sorgfältiges Sondieren war, wie ein gedehntes Umwerben, an dessen Ende man sich erst entschied, ob man vögeln oder vernichten wollte. Ashe war sich selbst noch nicht sicher, wohin die Liaison mit Talon führen sollte, und seit Overwatch war sie mehr als misstrauisch gegen den Kontakt mit großen Organisationen. Allerdings gab es einen vorhandenen Kontaktkanal für Talon, und Sombra hätte ihn benutzen können, wenn ihr etwas daran lag, Ashe unter reduziertem Risiko zu sprechen. Hätte eine Menge Zeit und Aufwand gespart. Die Kleine war ein gerissenes Biest, solche ließ Bars meistens zu Ashe durch. Vielleicht sagte sie also die Wahrheit darüber, gerade unter dem Radar ihres Arbeitgebers zu bleiben. „Talon weiß, dass niemand einen Fuß auf die Route 66 setzt, wenn ich's nicht erlaube.“ Und Talon wusste es zudem auch besser, als Ashes Regeln zu ignorieren. Irgendwann würde man sich arrangieren müssen, aber noch nicht. „Wer weiß, dass du hier bist, Missy?“ Sombra lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Leute, die sich hier auskennen.“ Als ob – Ashe tötete Verräter ausnahmslos. Unvermittelt rammte sie Vipers Lauf in Sombras Solarplexus, und diesmal war da nichts Vorgetäuschtes in dem würgenden Husten, mit dem die Frau sich vorbeugte. „Das war's mit meiner Geduld,“ schnurrte Ashe. „Sag' Adieu, Schätzchen.“ „Okay!“ Sombra riss entwaffnend die Hände hoch, doch wieder spürte Ashe etwas Theatralisches, Ironisches daran, und es machte sie wütend. „Keine Spielchen mehr! Me rindo! Du gewinnst!“ Sombra atmete keuchend ein, immer noch vorgebeugt. Ashes Gewehr zielte auf ihren Kopf. „Ich hab' alte Berichte über die verdeckte Operation ausgegraben, bei der Deadlock damals hochgegangen ist... Ich musste sie quasi den Toten entlocken.“ An alte Overwatch-Dokumente zu gelangen war fast unmöglich – Ashe hatte es versucht und festgestellt, dass die UNO versessen darauf war, den Schandfleck zu verbergen. Keine Chance, herauszufinden, ob Jesse den Scheiterhaufen überlebt hatte; nicht dass Ashe das kümmerte. Sie drückte Vipers Lauf unter Sombras Kinn und zwang die andere, sie anzusehen. Sekundenlang musterte sie das dunkle, irritierend junge Gesicht; das Gesicht eines Tricksters, das nichts preisgab. Entweder eine gute Lügnerin oder eine exzellente Infiltratorin... Aber etwas an ihr war bemerkenswert. „Du bist wohl eine richtig treue Freundin,“ bemerkte Ashe mit ätzendem Spott. „Behandelt sie dich gut, dass du so weit gehst?“ Sombra hatte die Arme immer noch um ihren Unterleib geschlungen, doch das Zucken ihrer Mundwinkel war da, vielleicht sogar wirklich amüsiert. „Ich würd' nicht treu sagen, aber ich investiere immer... und deswegen will ich mit dir reden.“ Das Kräuseln der Mundwinkel wurde zu einem Grinsen. „Calamity Ashe.“ Ashe zögerte einen Moment, dann ließ sie das Gewehr sinken und trat einen Schritt zurück. „Wer ist die glückliche Lady?“ „Spielen wir immer noch das Frage-Antwort-Spiel? Oh, schön.“ Sombra seufzte und hob Ashes Hut auf, drehte ihn in den Fingern und hielt ihn ihr dann hin. „Katya Volskaya. Weißt du, sie möchte diese Sachen haben, auf die du es abgesehen hast.“ Ashe verengte die Augen und griff nach dem Stetson – doch Sombra zog ihn blitzschnell aus ihrer Reichweite und trällerte weiter. „Na ja, ich bin ein bescheidenes Mädchen, ich finde ja gar nicht, dass sie die ganze Lieferung haben muss; nur ein paar Kleinteile, von denen ich möchte, dass sie sie bekommt, und da kommst du ins Spiel, bandida.“ Sombra drehte den Hut auf einem ihrer verlängerten Finger und lächelte in Ashes eisige Verachtung. „Fünf Prozent von der Fracht, ja? Für den, der die Drohnen analysiert, und ich werd' nicht nur das tun, ich leg' sie dir auch lahm... Das ist doch mindestens zehn Prozent wert, oder?“ Da war sie also auch gewesen... Kleines Miststück. Ashe fuhr mit dem Zeigefinger zärtlich über Vipers Abzug und schenkte Sombra ein winziges, weiches Lächeln, das allgemein als Ashes berüchtigtes Klapperschlangen-Lächeln bekannt war. „Du hast eins vergessen, Missy. Das Angebot gilt für Deadlock... Für meine Crew. Nicht für jeden.“ Sombra grinste dreist. „Nicht mal für eine Freundin? Bitte?“ Sie strich über das weiche Leder des Hutes, und ein Streifen Papier tauchte zwischen ihren Fingern auf. „Lass uns Freundinnen sein... Ich wollte schon immer eine Freundin wie dich. Ich hab' dir sogar ein Geschenk mitgebracht.“ „Wie süß.“ Ashe schnaubte. „Was schenkst du 'nem Mädchen, das schon alles hat?“ Sombra zwinkerte ihr zu, ein Ausdruck von katzenhaftem Schalk in den Augen. „Was Klassisches, candida.“ Sie hielt den Hut erneut hin. Diesmal griff Ashe nicht unmittelbar danach. Das Foto, das jetzt im Hut lag, kannte sie; es war ihr jüngst abhanden gekommen, zusammen mit einem erstklassigen Hoverbike mit Vishkar-Design-Schubdüsen und Prallfeld-Absorption. Aber wenn Ashe ehrlich war, hatte das Foto mehr gebrannt. Sie warf nur einen kurzen Blick auf den vergilbten Aufdruck, auf ihr jüngeres Gesicht und Jesses Grinsen, aufgenommen nach dem elektrisierenden frühen Morgen auf dem abgewetzten Stuhl eines Tätowierers, der Ashe mit einem Rosengeflecht auf dem Schulterblatt und Jesse mit dem Deadlock-Emblem auf dem Unterarm zurückließ. Bis vor kurzem hatte es auf dem Tacho ihres Bikes gesteckt und sie jeden Tag an alte Fehler und nie eingelöste Versprechen erinnert. Ein Teil von ihr wollte es einfach verbrennen und Sombra sagen, dass sie sich verpissen konnte. Doch der Teil zählte nicht. Was zählte, waren Gelegenheiten und Stolz und all das, was Ashe wollte, und nicht das Echo von versengtem Waffenöl und rotem Staub und Jesses Zigarren, dem Abdruck seines Grinsens. Verdammt noch mal, Liz, du bist doch komplett irre. Aber es war nicht ohne Wärme, wenn er es sagte. Ashe nahm den Hut und steckte das Foto in die Innentasche ihrer Weste, ohne es noch mal anzusehen. „Netter Partytrick. Was kannst du noch so?“ Aus dem Nichts tauchte eine Maschinenpistole aus einem violetten Flimmern in Sombras Hand auf. Ashe wusste, dass sie die Waffe beim Abtasten unmöglich verfehlt hatte; sie wusste aber auch, dass es keinen Unterschied machte. Sombra und sie richteten die Waffen aufeinander, jeder hatte den Finger am Abzug und keine Skrupel, sofort abzudrücken. Die Latina lachte. „Mexican Standoff, amiga – wenn das kein Grund ist, dass wir uns später mit Tequila die Kante zu geben, weiß ich keinen besseren!“ Es gab nur wenige Menschen, denen noch nach Lachen zumute war, wenn sie in die dunkle Mündung einer Waffe blickten. Ashe war immer der Meinung gewesen, dass diese wenigen Individuen zu schade waren, um sie niederzumähen, doch selbst sie irrte manchmal. „Ich weiß nicht,“ sagte sie langsam, gedehnt. „Mit der Plörre kann man nicht mal 'nen Kratzer desinfizieren.“ Sombra verdrehte die Augen, ohne dabei den Blick wirklich von Ashe abzuwenden; hätte sie sich das erlaubt, hätte Ashe sie sofort erschossen. „Snob,“ brummte sie. „Ich hab' noch eine versiegelte Flasche 'Baby Blue' Bourbon, die älter ist als du.“ Ashes Finger, die den Hut hielten, bogen sich und schnippten ihn ohne hinzusehen zurück auf ihren Kopf, eine lässige Geste, die einem erschütternd viel Respekt unter schlichten Geistern sicherte. „Aber ich bin nicht überzeugt, ob du es wert bist, sie zu öffnen.“ Sombra schürzte die Lippen und strich sich über ihr aufwendig frisiertes Haar, um sich dann wie zufällig mit den Fingern über die Seite des Halses und die Brust zu fahren. Eine beiläufige und effektive Art, Aufmerksamkeit zu lenken, und eine, die Ashe nur zu gut bekannt war. Allerdings wandte das niemand auf sie an – wenn sie schon Frauen begegnete, wagten die es nicht, sie herauszufordern. „Was willst du denn noch, bandida?“ fragte Sombra in dem klagenden Tonfall von Fast-Schmollen, schob ihre Hüfte ein wenig heraus, während ihre Finger klickend gegen den Griff der Waffe trommelten. Wenn die Kleine wirklich an Overwatch-Interna herangekommen war, kannte sie zweifellos auch Ashes vollständigen Namen; er war nicht mal wirklich geheim. Und doch hatte sie ihn bei ihren inflationär gebrauchten spanischen Kosenamen nicht fallen gelassen, auch jetzt nicht, um eine vertraute Atmosphäre herzustellen. Ashes Regeln oder der Strick und das Dynamit. Sie schien zu begreifen. Ashe verspürte einen schon lange vergrabenen Funken von Anziehung. Sie ließ die Viper sinken und legte sie beiläufig über die Schulter, während sie einen Schritt näher schlenderte. „Hol' die Drohnen vom Himmel,“ sagte sie, als sie vor Sombra stehen blieb, „ich nenne dir Koordinaten, und genau dort gehen sie runter und keinen Meter daneben. Wenn dich irgendjemand dabei sieht, lass ich auf dich schießen wie auf 'ne Tontaube.“ Sie fuhr mit den Fingerspitzen über eins der rasierten Muster an Sombras Schädel, wo die Schatten zuckten. Die Maschinenpistole war noch immer auf Ashe gerichtet, doch sie wusste, wann der Abzugsfinger gespannt war... und wann nicht. Nicht so sicher war sie, ob die Panzerfaser ihres Mantels Kugeln auf diese Nähe genug dämpfen konnte, dass ein biotisches Feld sie noch rettete, aber sie war dieses Risiko schon lange nicht mehr eingegangen. Sie war ganz allein und alles hier hing an ihr und es war wundervoll. „Komm runter in den Canyon, wenn du deinen Krempel haben willst... Du weißt wo und du weißt wann, wenn du gut genug bist.“ Ashe lächelte träge und umfasste mit den Fingern Sombras Kinn. „Vielleicht habe ich Bob dann befohlen, passiv zu sein... Vielleicht nicht.“ „Oh, bitte nicht.“ Die Maschinenpistole verschwand wieder, als hätte es sie nie gegeben, und Sombra neigte den Kopf, drückte ihre weiche Wange gegen Ashes Finger. Ihre Augen glitzerten düster. „Wo bleibt denn der Spaß, wenn du die Krallen einfährst?“ „Zu meinen Freunden bin ich nett.“ Ashe war niemals nett. Aber manchmal war sie sanft. Manchmal wollte sie, dass andere ihr etwas verdankten. Sombras leises Lachen vibrierte in ihrer ganzen Hand und prickelte dumpf in ihrem Brustkorb, und für einen Moment musste Ashe sich zur Ordnung rufen, dass sie Arbeit zu erledigen hatte und ihr Lippenstift an seinem Platz bleiben musste: der Boss war nie weniger als perfekt. Doch es war unerwartet schwer, an ihrer Professionalität festzuhalten, als Sombra sich vorlehnte, ihr glattes, geschwungenes Haar streichelte Ashes tätowierten Unterarm, ihre bläulich-violetten Augen schienen von innen heraus zu glühen. „Lass uns bald Freundinnen werden, bandida.“ Es klang, als gefiele ihr der Klang des Wortes; er gefiel Ashe auch. Womöglich würde sie ihn Sombra öfter gestatten. Unvermittelt neigte Sombra den Kopf und küsste den Totenschädel auf Ashes Haut, die noch so flüchtige Berührung elektrisierte Ashes Arm in jedes Haar, so sehr, dass sie fast überhörte, wie Sombra nur wenige Zentimeter entfernt gegen ihre Handfläche murmelte: „Und zieh' die Krawatte mit den schwarzen Rosen an, die ist so heiß.“ Als hätte es sie nie gegeben, verschwand sie in einem Blitzen aus Violett und Blau und ließ Ashe brodelnd vor Zorn zurück, dass es jemand gewagt hatte, in ihren Kleidern herumzuwühlen! Stattdessen atmete sie tief durch und legte einen Moment lang die Finger auf die Brusttasche, spürte das hämische Knistern des Papiers, armselig und doch so tröstlich. Ach was, sie brauchte keinen Trost. Sie würde sich nehmen, was sie wollte, und dann noch etwas mehr. So wie immer. Aber vielleicht auf andere Art als sonst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)