Rebellious von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 2: ----------- „Ich bin wieder da!“ Die Antwort seines Bruders ließ einige Sekunden auf sich warten, vermutlich weil er, typisch für einen Musterschüler, in seine Hausaufgaben vertieft war. Ein kurzes „Hey“, danach schien er sich wieder ganz seinem Lernstoff zu widmen. „Ich hab Gordon dabei“, fügte Andy hinzu, bevor er Joes Zimmertür öffnete und auf der Schwelle des Türrahmens stehen blieb. „Ich denk mal, das macht dir nichts aus, oder?“ „Kann ich gleich wieder bei dir abschreiben?“, fragte Gordon mit Hundeblick zwischen ihm und dem Türrahmen zu Joe vorgebeugt, der wiederum über ein Heft und zwei aufgeschlagene Bücher gebeugt an seinem Schreibtisch saß. Den Blick musste er sich bei Pepper abgeschaut haben, wenn sie versuchte, ein Leckerchen von ihm zu ergattern. Trotzdem verfehlte er bei seinem Bruder offenbar seine Wirkung. „Wenn ich dich ständig nur abschreiben lasse, kannst du dich nicht verbessern. Das Thema hatten wir schon hundert Mal.“ „Du bist echt knallhart... Komm schon, Joe! Ich hab heute keinen Nerv auf Hausaufgaben.“ „Die Frage ist eher, wann du da überhaupt jemals Nerv drauf hattest“, gab Joe seufzend zurück, ließ sich dann aber scheinbar doch noch erweichen. „Von mir aus. Nach dem Essen. Aber versprich mir, dass du danach auch selbstständig noch lernst! Wenn du den Test morgen vergeigst, bist du selber dran schuld.“ Er machte einen Moment Pause, schaute wieder auf sein Heft und schielte schließlich noch einmal flüchtig zwischen ihnen beiden hin und her. „Und ihr kommt gut klar miteinander...?“ „Ja, voll gut!“, grinste Gordon bereits, bevor Andy auch nur über eine Antwort hätte nachdenken können. Auf dieses Ziehen in der Magengegend, das die Frage bei ihm ausgelöst hatte, war er nicht eingestellt gewesen. Fuck, lag das wirklich nur an diesem Ereignis im Park? Nur wegen einem harmlosen Kuss? Während Andy sich um ein möglichst normales und natürliches Lächeln bemühte, schien Joe schon von der guten Laune seines besten Freundes angesteckt worden zu sein – jedenfalls wirkte er sichtlich zufrieden mit der Situation. In seltenen Fällen war es fast von Vorteil, dachte Andy, einen Bruder zu haben, für den die Gedanken und Gefühle anderer Menschen so etwas wie ein Buch mit sieben Siegeln darstellten. So bekam er jetzt wenigstens keine unnötigen Fragen gestellt, die alles noch komplizierter machen würden. „Tja, also... Ich will dich dann auch nicht länger stören“, sagte er vage in Richtung Joe, und dann zu Gordon: „Willst du mit in mein Zimmer kommen? Wir könnten was zocken, wenn du Lust hast.“ Ein bestätigender Laut seitens Gordon nahm ihm glücklicherweise die Entscheidung ab, was sie stattdessen hätten tun sollen, hätte Gordon mit Videospielen nichts anfangen können. Sonderlich viel wäre ihm dazu wohl nicht eingefallen. Bevor sie Pepper zu Gordons Nachbarin gebracht hatten, die wirklich einen sehr liebevollen Eindruck gemacht hatte, waren sie noch kurz in dessen eigener Wohnung gewesen, die er sich anscheinend mit seiner Mutter teilte. Weitere Familienmitglieder hatte er zumindest nicht erwähnt, und gesehen hatte Andy auch niemanden. Die Gelegenheit hatten sie allerdings genutzt, um sich die Kleidung und Haare zu föhnen, die im Sonnenschein allein nicht ausreichend getrocknet waren. Gordons Frisur war zwar größtenteils von einer schwarzen Mütze bedeckt gewesen, die offenbar ein fester Bestandteil seines Kleidungsstils war, die Spitzen hatten aber dennoch nicht wenig Wasser abbekommen und er hatte ein paar Minuten gebraucht, um alles wieder in Form zu bringen. Es hatte gut getan, die Abkühlung durch das kalte Wasser und die anschließende warme Luft. In der Schule war er heute zwar nicht gewesen, dafür aber im Park, in der Wohnung eines flüchtigen Bekannten, dem er rapide nähergekommen war, bei dessen Nachbarin, und jetzt waren sie zusammen hier – und das alles in nicht mehr als anderthalb Stunden. Diesen Tag konnte man durchaus als außergewöhnlich bezeichnen. „Da wären wir“, verkündete er, mehr um seine eigene innere Anspannung etwas zu lockern, während er die Tür hinter sich leicht anlehnte. Sie zu schließen, würde die Anspannung wahrscheinlich bloß verstärken. „Ist etwas klein und nicht gerade aufgeräumt, aber fühl dich wie zu Hause. Deine Sachen kannst du abstellen, wo du willst!“ „Danke“, erwiderte Gordon, stand eine Weile unschlüssig vor der Tür herum und legte seinen Rucksack schließlich in die einzige freie Ecke des Raumes. Andy kramte unterdessen in einem Stapel durcheinandergeratener Spiel- und DVD-Hüllen, deren Anblick ihm wenigstens wieder ein vertrauteres Gefühl vermittelte und etwas Ablenkung verschaffte. Fragte sich, für wie lange. „Magst du Rennspiele?“ Gordon zuckte mit den Schultern, direkt gefolgt von einem Nicken. „Die mag doch jeder, oder?“ „Also, Mädels konnte ich damit noch nicht beeindrucken“, lachte er, was zwar auf Tatsachen beruhte – allerdings hatte er es auch noch nie versucht. Für gewöhnlich empfing er hier keinen Besuch, und das hatte Gründe. „Darf ich mich aufs Bett setzen?“, fragte Gordon mit plötzlicher Zurückhaltung, abwartend vor besagtem Bett stehend, auf dem er selbst sich bereits eingerichtet hatte, nachdem seine ausgewählte Disc in der Konsole gelandet war. Andy sah mit todernstem Blick zu ihm auf. „Nein. Ich hatte mir das selbstverständlich so vorgestellt, dass du 'ne Stunde lang da rumstehst, während ich es mir hier gemütlich mache.“ „Ich nehm an, das war jetzt ironisch gemeint...?“ „Frag doch nicht auch noch. Setz dich einfach.“ Ein weiteres Mal ließ er es sich nicht mehr sagen, nahm neben ihm Platz und schnappte sich dann den Controller, den Andy ihm schon seit einer Weile entgegenstreckte. Auf dem Bildschirm flimmerte längst das Einstellungsmenü, begleitet von einer gitarrenlastigen Musik, der er immer gern zuhörte, wenn er dieses Spiel spielte. „Welchen Schwierigkeitsgrad willst du? Einfach, Mittel, Schwer, Experte?“ „Such du das ruhig aus. Ich werd mich schon einspielen.“ „Dann machen wir mal 'Mittel', das ist für den Anfang schwierig genug“, entschied er, wählte ohne zu überlegen sein Fahrzeug inklusive Fahrer – den mit den langen Haaren und voll-tattoowierten Armen, der sah am wildesten aus – und wartete dann, bis Gordon die gesamte Auswahl eingehend begutachtet hatte. Tatsächlich gab es einen Fahrer, der ihm annähernd ähnlich sah. Nicht im Gesicht, aber der Style war in Etwa derselbe – ein weit geschnittenes Shirt; eine Mütze, unter der ein paar ungleichmäßige Strähnen hervorragten... „Bist du eigentlich ein Skater oder so?“ Gordon sah ihn scheinbar verwundert an, so als würde es ihn irritieren, woher diese Frage jetzt kam. „Du siehst'n bisschen aus wie einer“, ergänzte Andy deshalb, ein wenig über sich selbst lachend, weil er merkte, was für ein Klischee-Denken er da an den Tag legte. Wenigstens schien Gordon sich selbst nicht allzu ernstzunehmen. „Ich hatte mal ein Skateboard, hab's aber nach kurzer Zeit 'nem Kumpel geschenkt, weil mir das mit dem Gleichgewicht halten zu anstrengend war“, grinste er, offenbar in Erinnerungen schwelgend. „Solche Klamotten trag ich aber trotzdem gern. Ich glaub, das ist der einzige Style, der mir wirklich steht.“ „Ach Quatsch.“ Er wirkte wieder so glücklich. Ob er sich darüber freute, wenn jemand an seinem Leben interessiert war? Einen Moment lang sagte Gordon nichts mehr, schaute ihn nur an, als versuche er seine Gedanken zu lesen. „Und du?“, gab er doch irgendwann zurück. „Bist du wirklich ein Punk, oder siehst du nur so aus?“ „Hm“, machte Andy nachdenklich. „Gute Frage. Naja... Meine geschätzte Mom sagt jedenfalls immer, ich soll 'meine ätzenden Punk-Freunde von ihr fernhalten'. Die sind ähnlich drauf wie ich, manche'n bisschen krasser. Vielleicht bin ich dann auch einer.“ „Punk-Freunde... Woher kennst du die denn? In der Schule hab ich solche Typen noch nie gesehen.“ „Nee, die kenn ich auch nicht aus der Schule.“ Wär ja auch zu schön, wenn in der Schule noch etwas anderes als arrogante Lackaffen rumlaufen würde. „Eigentlich sind das auch gar nicht wirklich meine Freunde. Von den meisten weiß ich gar nicht viel. Wir hängen manchmal zusammen rum und reden. Kotzen uns über irgendwelchen Scheiß aus. Find ich aber besser, als alleine abzuhängen. Bei denen fühl ich mich wenigstens irgendwie... verstanden.“ Schon irgendwie traurig, dachte er plötzlich. Sich von oberflächlichen Bekanntschaften, die eigentlich nur dazu da waren, sich gegenseitig mit negativen Erfahrungen zu übertrumpfen, mehr verstanden zu fühlen als von der eigenen Familie. Sein Bruder... Ja, er mochte ihn wirklich, und er hörte ihm zu, wenn er ihm etwas erzählte. Aber die Auswahl an Themen, über die er wirklich mit ihm reden konnte, war begrenzt. Und seine Mutter? Ha. Das war ein schlechter Witz. Das Einzige, das für sie wichtig war, war ein guter Ruf – und in dieses Bild würde er solange nicht hineinpassen, bis er anfing, genauso zu sein wie Joe. Selbst dann wahrscheinlich nicht, weil ihre Meinung zu ihrem ältesten Sohn schon seit Jahren offenbar so abgrundtief schlecht war, dass sich daran wahrscheinlich auch nichts mehr ändern würde. Und Gordon? Fühlte er sich von Gordon verstanden? Konnte man das nach so kurzer Zeit überhaupt schon wissen? Er war sich nicht einmal sicher, ob er die Bedeutung dieses Wortes überhaupt noch kannte. Andy seufzte leise, streckte sich einmal kurz und begab sich in eine etwas bequemere Sitzposition. Es machte keinen Sinn, so viel über solche Dinge nachzudenken. Am Ende hatte niemand etwas davon, weder er noch irgendwer sonst. „Sollen wir dann anfangen zu spielen?“, fragte Gordon etwas zögerlich, ohne sich zu dem vorherigen Thema weiter zu äußern. Vermutlich wusste er dazu auch nichts mehr zu sagen und wollte lieber für Ablenkung sorgen. War vielleicht auch das Beste. „Klar. Wenn du bereit bist! Kennst du die Steuerung?“ „Werd ich schon rausfinden. Leg mal los.“ „Okay, wenn du meinst.“ Die erste Runde gestaltete sich als nicht ganz einfach, weil er hin und wieder eine Frage bezüglich der Tastenbelegung beantworten musste und ohnehin gefühlt die Hälfte der Zeit auf Gordons Fahrzeug schaute anstatt auf sein eigenes. Von zehn Plätzen hatte Gordon den siebten erreicht, was unter dem Umstand, dass er vorher nicht einmal die Anleitung gelesen hatte, gar nicht schlecht war. Die nächste Runde verlief für ihn selbst nicht wesentlich besser – Vorführeffekt –, dafür schien Gordon sich mit einer unmöglichen Schnelligkeit einzuspielen. Jetzt wo er wusste, welche Taste welche Aktion auslöste, konnte man ihn durchaus als ernstzunehmenden Gegner betrachten. In Runde Drei erreichte er, sage und schreibe, den zweiten Platz. Entweder war er ein Naturtalent... oder er selbst war gar nicht so gut, wie er immer gedacht hatte. „Beim nächsten Mal besiege ich dich!“ „Jaja, träum weiter.“ Wie automatisch ließ er sich von dem siegessicheren Grinsen seines neuen Mitspielers anstecken. Zum Glück war er, für den Fall der Fälle, kein schlechter Verlierer. „Gib's zu, du hast das Spiel selbst und machst nur einen auf Noob, damit ich doof dasteh!“ Gordon lachte und zupfte scheinbar verlegen an einer seiner Pony-Strähnen. „Ich glaub, ich hab's tatsächlich schon mal bei 'nem alten Kumpel gezockt...!“ „Wusst ich's doch! Cheater!“ „Hey, mir ist das ja selbst gerade erst wieder eingefallen!“ „Würd ich an deiner Stelle jetzt auch sagen.“ „Ehrlich!“, beteuerte Gordon, immer noch lachend, als habe er den größten Spaß seines Lebens. Nein, das zu sagen, war vielleicht übertrieben – aber es war ein so unverfälschtes Lachen, so überhaupt nicht aufgesetzt, wie er es bei genügend anderen Menschen täglich erlebte. Es war einfach echt, und irgendwie machte ihn diese Erkenntnis gleichzeitig glücklich und traurig. Als würde ihm in diesem Moment endgültig verdeutlicht, wie falsch ein Großteil der Leute, die ihn umgaben – genau genommen alle, bis auf Joe und ein paar wenige andere Ausnahmen – eigentlich wirklich war. Als seien er selbst und Gordon in dieser Masse aus Mistkerlen und verlogenen Arschkriechern die einzigen Individuen, die sich noch nicht von irgendwem oder irgendetwas hatten verbiegen lassen. Er musste verrückt sein, so etwas zu denken. Ein Klopfen an der Tür und das darauffolgende Eintreten seines Bruders, wie üblich ohne eine Antwort abzuwarten, brachte wieder etwas Normalität in die Situation. „Sorry, falls ich störe“, das sagte er jedes Mal – besonders ironisch, wenn er wirklich störte, „ich wollte nur fragen, ob ihr Lust habt, irgendwo essen zu gehen? Mit den Hausaufgaben bin ich fertig, und ich dachte, da wir noch nie was zu dritt gemacht haben...?“ Gordon zuckte die Schultern und nickte dann leicht, so wie er es auch auf die Frage hin, ob er Rennspiele mag, getan hatte. Andy verstand das als Zustimmung, zuckte selbst mit den Schultern und sagte: „MC Burger's?“ „Klar, können wir machen!“, gab Joe fröhlich zurück. Es war irgendwie schön zu sehen, wie begeistert er sich über die kleinsten Dinge freuen konnte. „Sollen wir dann direkt los? Oder seid ihr noch beschäftigt?“ „Im Moment gerade nicht, oder?“, fragte Gordon, Andy einen Bestätigung suchenden Seitenblick zuwerfend. Andy versuchte möglichst unauffällig sein Gesicht abzuwenden, als er merkte, wie heiß es sich augenblicklich anfühlte. „Nee... Im Moment nicht. Dann können wir ja gehen, oder?“ Ein passender Sitzplatz war schnell gefunden – nicht der Stammplatz, an den er sich mit Joe setzte, wenn sie zu zweit hierherkamen, sondern ein Vierertisch am Fenster, an den sie sich eher seltener gesetzt hatten, wenn Zane mit dabei gewesen war. Zane war sein zukünftiger Mitbewohner und eine dieser wenigen Ausnahmen von Menschen, die er kannte, die wirklich in Ordnung waren. Vermutlich war er für Andy ungefähr das, was Gordon für Joe sein musste, wenn zwischen ihnen auch die ein oder andere Differenz bestand. Aber es gab keinen Zweifel daran, dass es nur besser werden konnte, wenn er mit ihm zusammenzog. Sobald er achtzehn war und die Schule beendet hatte, würden sie sich eine gemeinsame Wohnung suchen, in die auch Joe bald mit einziehen würde, wenn er alt genug war. Woher Zane das Geld nahm, um das alles zu finanzieren, war ihm ein Rätsel. Aber das spielte auch keine Rolle, solange sie nur endlich anfangen konnten, ihr eigenes Leben zu leben. Joe kam nach kurzer Zeit mit einem Tablett und ihrem jeweiligen Mittagessen zurück, das er sorgfältig auspackte und, zumindest seinen Teil des Essens, auf seine eigene Art anrichtete. Was bedeutete, dass er seine vor ihm ausgebreiteten Pommes mit ein wenig Currysauce verzierte und das Fleisch in seinem Brötchen mit etwas Mayo bestrich. Andy sah ihm auch nach Jahren immer noch fasziniert dabei zu. „Schmeckt's?“, erkundigte sich Gordon, der als Einziger keinen Burger und nur vier Chicken Wings bestellt hatte, hörbar skeptisch. Joe nickte, während er einen Bissen seines Spezial-Joe-Burgers herunterschluckte. „Na klar! Aber bist du sicher, dass dir das reicht?“, entgegnete er, auf die Chicken Wings deutend. „Du kannst dir was von meinen Pommes nehmen, wenn du willst!“ „Danke, aber lass mal“, nuschelte Gordon, auf einem Stück Wing kauend. „Ich mag doch kein Curry. Außerdem hab ich eh nicht viel Hunger.“ „Echt nicht?“ Eine Weile lang sagte Joe nichts mehr, schien über irgendetwas nachzudenken und sah dann zu Andy, der ihm gegenübersaß. „Und, was habt ihr so gemacht bisher? Gezockt?“ Unter Anderem, dachte Andy. Eigentlich war ja gar nicht viel passiert. Sie hatten Spaß gehabt, als sie im Park gewesen waren. Vorher hatten sie gekifft. Naja, er selbst hatte nicht viel davon abbekommen, aber für Gordon schien das wohl irgendwie normal zu sein. Wenn er solche Sachen öfter tat, vielleicht war dann auch so ein Kuss für ihn nichts Besonderes. Vielleicht war das einfach ein spontaner Impuls gewesen, um zu testen, ob er wirklich auf Jungs stand. Vielleicht hatte er sich ja gar nichts weiter dabei gedacht. Und so langsam fragte er sich, warum er sich so viel dabei dachte. Wahrscheinlich war er bloß verwirrt und aufgewühlt, weil die Sache mit Christina noch nicht lange genug her war... „Ähm... Gezockt, ja“, hörte er Gordon für sich antworten und verfluchte sich dafür, wie schnell er sich aus dem Konzept bringen ließ. „Irgendso'n Game mit geilen Autos, bei dem ich deinen Bro voll abgezogen hab.“ „Warte, warte – du warst gut, aber du hast noch kein einziges Mal gegen mich gewonnen!“ „Kommt noch.“ „Pass auf, wenn mein Bruder sich einmal richtig reinsteigert, greift er zu allen Mitteln, um zu gewinnen!“ „Stimmt doch gar nicht! Ey, erst erzählst du gar nichts über mich, und jetzt verbreitest du eiskalt Lügen! Was bist du nur für ein Bruder?!“ „Der Beste, den du hast?“ Joe gab ihm über den Tisch hinweg einen Knuff, woraufhin sie beide lachten und sich dann, zum ersten Mal in dieser Konstellation, über die verschiedensten Dinge unterhielten. Über die Schule, ihre Lehrer und wer von diesem Haufen am schrecklichsten war, über Videospiele, Fernsehserien und ihre Lieblingsfilmfiguren. Es war ein tolles Gespräch, weil die Chemie zwischen ihnen Dreien, als Gruppe, so sehr stimmte, dass er innerlich beschloss, unbedingt öfter mit den beiden herumzuhängen, auch wenn seine so seltsam euphorischen Gefühle in Bezug auf Gordon sich wieder beruhigt und normalisiert hatten. Morgen oder spätestens in ein paar Tagen würde er darüber sicher schon wieder ganz anders denken. Pubertät eben. So war das nun mal. Eine ganze Weile redeten sie noch und vergaßen dabei hin und wider das Essen – bis Andy das Einrasten der Tür schräg hinter sich hörte, und dann zwei Stimmen, die ihm nur allzu bekannt vorkamen. Kein Zweifel. Das waren Gangster-Boy und Poser-Boy. „Du weißt schon“, hörte er einen der beiden – vermutlich Poser-Boy – in einem protzigen Tonfall sagen, nachdem sie vorne ihre Bestellung aufgegeben hatten und nun warteten. „Die Alte da, eine Klasse unter mir. Becky... oder Betty...“ „Heißt die nich' Belinda?“ „Ja, stimmt. Becky war die Eine vom letzten Monat. Jedenfalls, die hab ich gestern voll klargemacht.“ „Korreeeekt, Alter, Respekt!“, rief Gangster-Boy übertrieben in die Länge gezogen, woraufhin ein klatschendes Geräusch ertönte, wahrscheinlich weil sie eine 'Wir-sind-dermaßen-krasse-Checker-und-klatschen-uns-saucool-gegenseitig-ab'-Geste vollführten. Wie auch immer der Fachbegriff für ein solches Gehabe lauten mochte. Joe sah in Richtung der Stimmen, als sei dort ein Alien entlanggelaufen. Gordon starrte wie versteinert ins Leere, und Andy versuchte sich von außen nicht anmerken zu lassen, wie vergeblich er geistig versuchte, eine Antwort auf die Frage zu finden, was sie jetzt tun sollten. Wenn die Zwei sie hier sitzen sahen, würden sie Gordon und ihn definitiv wiedererkennen – sie waren nicht unbedingt unauffällige Erscheinungen, würde er behaupten –, und dass das Ganze nicht auf Ärger hinauslaufen würde, wagte er zu bezweifeln. „Ach du Scheiße! Das sind doch die Schwuchteln aus dem Park!“ Seine prophetischen Fähigkeiten waren wirklich unglaublich. „Krass, die sind das ja wirklich... Jetzt verfolgen die uns schon beim Essen!“ Abgesehen davon, dass wir zuerst hier waren, dachte Andy, sprach es aber nicht aus. Gordons Gesicht verriet, dass er mit sich kämpfen musste, um ein beachtliches Ausmaß an Hass unter Kontrolle zu behalten. „Kennt ihr die Spackos?“, fragte Joe, flüsternd über den Tisch zu ihm vorgebeugt. „Äähm“, war das Einzige, das er auf die Schnelle darauf herausbrachte, denn im nächsten Moment hörte er bereits näherkommende Schritte hinter sich. Über die Schulter hinweg warf er den beiden ein zynisches Lächeln zu und winkte, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Poser-Boy, der das spezifisch auf sich selbst zu beziehen schien, verzog angewidert das Gesicht. „Was grinst du so hässlich?“, zischte er neben seinem Kumpanen, der das Tablett mit beiden Händen festhielt. „Willst du mich anmachen?!“ Andy griff nach der Cola, die er zu seinem Burger bestellt hatte, ohne die beiden länger anzusehen. „Bevor ich so 'ne Hackfresse anmache, schmeiß ich mich lieber vor 'nen Zug“, sagte er, trank einen Schluck und zwang sich, nicht in nervöses Gelächter auszubrechen – was ihm nur noch schwerer fiel, als er einen Blick auf besagte Hackfresse riskierte, deren Mundwinkel unkoordiniert vor sich hinzuckten. „Was hast du gerade gesagt?“, presste der Kerl hervor, noch zischender als eben schon. Selbst sein angeblicher Kumpel schien ein Prusten zu unterdrücken. „Hast du schlechte Ohren?“, gab Andy wesentlich gefasster zurück, als es der Wahrheit entsprach, konnte die Spannung in der Luft nahezu spüren und zuckte leicht irritiert zurück, als der Poser seine Hand ausstreckte und ihm den Colabecher entriss. Noch bevor er sich fragen konnte, warum er das tat, oder sich darüber ärgern, dass er nicht geistesgegenwärtiger darauf reagiert hatte, hatte der Spinner schon den Deckel von dem Plastikbecher entfernt und ungefähr die Hälfte des Inhalts auf seinem Oberteil entleert. Andy wusste weder, ob er jetzt denjenigen, der für die Sauerei verantwortlich war, anstarren oder eher an seinem heute zum zweiten Mal durchnässten Shirt herunterschauen sollte, noch wusste er, was genau er in diesem Augenblick fühlte. Dafür schien Gordon es umso besser zu wissen – jedenfalls ließ die Art, wie er ruckartig von seinem Platz aufgestanden war, darauf schließen, dass ihm soeben irgendeine Sicherung durchgebrannt war. Joe rief irgendetwas und war ebenfalls von seinem Platz aufgesprungen, als Gordon lautstark auf den Schmierlappen zustapfte, der noch immer den halbvollen Colabecher festhielt, und sich aufrecht vor ihm positionierte. Poser-Boy musterte ihn durch zusammengekniffene Augen. „Was willst du?“ „Wenn du noch einmal sowas machst...“, knurrte Gordon, wobei seine Stimme zunehmend lauter wurde, „... und ich es mitbekomme... Ich schwöre, dann kannst du auf dem Weg nach Hause deine verdammten Einzelteile aufsammeln!“ Ein kurzer Moment der Stille – sowohl der Schmierlappen als auch sein kleiner Freund, der mit dem Tablett wie sein persönlicher Butler aussah, machten den Mund auf, als seien sie noch nicht ganz sicher, was sie darauf am besten zurückschießen sollten –, dann wurde diese sinnlose Auseinandersetzung endlich unterbrochen, weil eine der Mitarbeiterinnen dazwischentrat. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ein paar der anderen hier anwesenden Leute schon angefangen hatten sich die Mäuler zu zerreißen, was hier wohl los war. Viele waren es allerdings nicht, heute war in dem Laden ohnehin kaum Betrieb. „Was ist das hier für ein Theater?!“, schimpfte die Angestellte, keinen von ihnen im Speziellen ansehend. „Entweder ihr könnt euch benehmen und setzt euch in Ruhe an euren Tisch, oder ihr fliegt raus! Das hier ist keine Kneipe in irgendso'nem... was weiß ich, Western-Film!“ „Wenn das hier'n Western wär, würden hier auch nur richtige Männer sitzen und keine halben Weiber!“, kicherte Gangster-Boy plötzlich, mehr an seinen Kumpel/Rudelführer gerichtet als an irgendwen sonst. Die Angestellte hörte es trotzdem und warf ihm einen mörderischen Blick zu. „Noch ein Wort, mein Freund, und wir gucken mal, was deine Eltern zu deinem Macho-Verhalten sagen!“ „Das dürfen Sie gar nicht! Oder? Darf die das?“, wandte sich der Typ, plötzlich ganz aufgeregt, an seinen Kumpel, der wiederum wie die Ruhe in Person dastand und in die Gegend schaute, als würde ihn das alles nichts angehen. „Mir scheißegal. Ich geh mich verpissen.“ „Hä? Wo willst du denn jetzt-“ „Du kannst ja von mir aus hier bleiben. Aber ich hab kein' Bock mehr“, sagte Poser-Boy ohne weitere Erklärung, während er bereits ein paar Schritte Richtung Ausgang ging. Dann machte er noch einmal auf dem Absatz kehrt, mit den Worten „Hier, eure Cola!“, und schleuderte diesmal Gordon, wie zum Abschied, den Rest des Getränks entgegen, bevor er von der Bildfläche verschwand. Nicht nur die Mitarbeiterin sondern auch Gangster-Boy starrten ihm mit offenstehendem Mund hinterher. Heute war offenbar der Tag des ungläubigen Anstarrens. „... Mein lieber Scholli!“, stieß die Angestellte irgendwann aus, als auch der Zweite der beiden Vollpfosten den Laden verlassen hatte – das ganze Essen natürlich umständlich unter die Arme geklemmt. Auf Gordons weißem Shirt kam der Colafleck noch viel besser zur Geltung als auf seinem eigenen Schwarzen. Hätte er auch eins in Weiß angezogen, würden sie jetzt Partner-Look tragen. „Das tut uns wirklich leid“, sagte Joe, nachdem er sich anscheinend wieder gefasst hatte, zu der halb-schockiert halb-entnervt dreinschauenden Burger-Lady. „Wir wollten echt keinen Ärger machen... Die Typen sind einfach hier rübergekommen und-“ „Ist okay. Ihr braucht dazu nix mehr zu sagen“, schnitt sie ihm das Wort ab, schien aber nicht böse zu sein – vermutlich eher gestresst. „Ich muss dann auch wieder an die Arbeit“, fügte sie noch hinzu, schaute sich scheinbar unschlüssig um und ließ sie kurz darauf wider alleine. Joe und Gordon blieben einige Sekunden lang ebenso unschlüssig in der Gegend stehen, ehe sie sich wieder an den Tisch setzten. „Mann“, seufzte Gordon. „Solche Typen sind echt das Letzte... Sollen die doch einfach verrecken.“ „Wer waren die überhaupt? Das klang ja, als hättet ihr euch im Park schon gesehen“, bemerkte Joe mit hochgezogener Augenbraue. Auch wenn seine sozialen Kompetenzen nicht immer überragend waren – aufmerksam war er, selbst in den ungünstigsten Momenten, trotzdem. „Ja... also...“ Verdammt, was sollte er sagen? Die Wahrheit? Das würde Gordon bestimmt nicht wollen. Er war nicht sicher, ob er selbst das wollte. „Wir haben die im Park kurz gesehen, das stimmt. Gordon und ich haben halt so'n bisschen, naja...“ Lass dir was einfallen, du Trottel! „... Mit seinem Hund gespielt! Mit Pepper! Ja, und... wie das halt so ist, wenn so'n Hund um einen herumtobt und einen anspringt, sind wir irgendwie so aufeinander rumgestolpert... naja, und das haben die wohl falsch aufgefasst. Die Penner.“ Joe sah ihn an, als habe er Mühe damit, seiner Schilderung richtig zu folgen. Zu schauen, wie Gordon aussah, traute er sich nicht recht. „Also... Moment. Die haben also- Und ihr wart-“, versuchte er einen zusammenfassenden Satz zu formulieren, gab es aber mittendrin auf. Was Andy gut verstehen konnte. „Na, ist ja auch egal. Hauptsache, die sind wieder weg! Sollen wir dann einfach unser Zeug aufessen und nach Hause gehen?“ „Klar“, gab Gordon beleidigt zurück und zupfte an seinem nassen Shirt. „In dem Look wollte ich schon immer mal durch die Straßen stolzieren...!“ „Ich leih dir zu Hause was von meinen Sachen“, schlug Andy sofort vor. „Bis dahin könntest du dir ja irgendwas davorhalten... Joes kleine Umhängetasche vielleicht.“ „Hm... Und das würde auch nicht auffallen?“ Joe zuckte die Schultern. „Wenn du dich ansonsten nicht auffällig verhältst“, meinte er, abwesend an einer Curry-Fritte kauend. „Wird schon keiner bemerken.“ Damit waren die letzten Bedenken offenbar weggewischt. Sie aßen ihre mittlerweile schon stark abgekühlten Reste auf, ohne dabei noch einmal gestört zu werden, und machten sich dann wieder auf den Weg zu ihren eigenen vier Wänden, die wenigstens sicherer waren als irgendein Ort in der Öffentlichkeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)