Noch einmal mit Gefühl von 4FIVE ([Itachi x Ino | Sasuke x Sakura | modern AU]) ================================================================================ Kapitel 2: Der zweite Sohn -------------------------- . .   ♣   —Tokio, Japan; 10 Jahre zuvor   Stur blieb Sasuke vor dem ovalen Holztisch stehen, die letzte Folie seiner zwanzigminütigen Präsentation noch gegen die Projektionsfläche geworfen. Sein Bruder studierte sie intensiv, sein Vater war in seinen PDA vertieft. Sasuke schob die Hände in die Hosentaschen. Seit Wochen trug er nun schon Anzüge und würde sich auch bis zum Rest seines Praktikums nächsten Monat wahrscheinlich nicht daran gewöhnen. »Was sagst du, Vater?«, fragte er. Sasuke hatte eine Einladung ausgeschickt, hatte den Besprechungsraum reserviert und in den letzten zwei Wochen diese Präsentation ausgearbeitet, um wenigstens diese halbe Stunde ernstgenommen zu werden. Das hier war ein offizieller Termin, und Fugaku hatte zweimal von seinen Mails aufgesehen. »Hm«, meinte Fugaku. Er steckte den PDA in seine Brusttasche. »Alles schön und gut, Sasuke, aber für deinen Vorschlag müssten wir tief in den Basiscode der Software eingreifen. Kunden würden entweder ihre Datenbank verlieren oder wir müssten jedes einzelne Datenpaket manuell konvertieren. Die Personalaufwände würden uns jahrelang lahmlegen. Diese Idee hat keine Zukunft.« »Es wäre ein ergänzendes Produkt«, beharrte Sasuke. Das Argument hatte er kommen sehen und bereits in seiner Präsentation entkräftet, während sein Vater ihm nicht zugehört hatte. »Wir fassen den Basiscode nicht an, arbeiten mit einem kleinen Team in einem komplett eigenen Branch, aber verwerten den bestehenden Basiscode.« »Bewerbermanagementsysteme gibt es wie Sand am Meer«, sagte Fugaku und schlug den Heftordner zu, den Sasuke zur Ansicht zusammengestellt hatte. Er hatte nicht einmal bis zur dritten Seite geblättert. »Außerdem machen wir unser Geld mit großen Krankenhäusern, für die wir von Anfang an hunderte Funktionen im Programm bräuchten.« »Aber –« »Sasuke«, unterbrach Itachi ruhig, »lass mich nochmal die vorletzte Folie sehen.« Sasuke schluckte seinen Protest, hart. Ohne es zu merken, hatte er unter der Provokation seines Vaters einen Schritt nach vorne gemacht, sodass er weit nach hinten reichen musste, um Itachis Bitte nachzukommen. Dieser lehnte sich im Sessel zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg. Nach einer langen Minute sagte er, »wir könnten es als Sparvariante für Start-ups konzeptionieren. Weg von der Bürokratie der großen Firmen. Nachdem uns das keinen Umsatz machen wird, gehen wir mit Dumpingpreisen rein, verdrängen die Konkurrenz vom Markt.« Zum ersten Mal in diesem gottverdammten Termin sah Fugaku tatsächlich auf die Präsentation. Nachdenklich strich er sich übers Kinn. »Das könnte Kanaba und diese Bastarde von LUB ruinieren.« »Ja«, stimmte Sasuke ein. Er kämpfte sich aus dem Hintergrund wieder nach vorne. Es war seine Idee. »Und wir haben kaum Kosten damit.« Fugaku schien noch nicht recht überzeugt, dennoch nahm er den Ordner in die Hand und erhob sich. »Gut, ihr bekommt eine Chance. Itachi, ich will bis Ende nächster Woche eine komplette Aufwandsschätzung mit Zeitplan. Nimm dir das Personal, das du dafür brauchst. Dann sehen wir weiter.« Ohne weitere Worte verließ er den Raum und ließ die Tür hinter sich zufallen. Die großen Glasfenster, die den Blick in den Gang freigaben, ließen Sasuke seine Haltung wahren für den Fall, dass sein Vater widererwartend zurücksah. In den ganzen zwanzig Stockwerken gab es nur wenige Räume, die nicht von allen Seiten deutlich einsehbar waren. Es war nervig, an Tagen wie heute besonders. »Gut gemacht, Sasuke.« Er zischte. Gut gemacht? Was davon hatte er bitte gut gemacht? Sein Vater hätte ihn abgeschmettert, wäre Itachi nicht auf seine Seite gesprungen. Wie jedes verdammte Mal. Und wie immer war in Fugakus Augen plötzlich Itachi der große Visionär, der Wundersohn, der das Unternehmen zu ungeahnten Größen führen würde. Erst wenn es schiefging, würde es wieder Sasukes Idee werden. »Klar«, sagte Sasuke schließlich nach einer viel zu langen Pause. Er konnte sich nicht davon abhalten, abfällig zu klingen. Itachi ignorierte es. »Ich organisiere die Schätzungen, die meisten habe ich längst in der Vorbereitung eingeholt. Keine Sorge, nächsten Monat bin ich wieder an der Uni und du kannst das Projekt gerne haben.« »Sasuke –« »Spar's dir.« ♣   —Tokio, Japan; Gegenwart   Ersticktes Geschrei plärrte gemeinsam mit Statik in Sasukes Ohr und weckte ihn gerade rechtzeitig aus einem unruhigen Schlaf, um seinen Wecker vor dem Alarm abzuschalten. Stöhnend presste er seine Hände gegen sein Gesicht in der Hoffnung, sein Kreislauf würde bald zum Leben erwachen. Es dauerte fast fünf Minuten, ehe er sich aus dem Bett und ins Badezimmer quälen konnte. »Guten Morgen«, sagte Sakura über die Theke und hielt ihre Wange hin, die er wie jeden Morgen flüchtig küsste, während er die letzten Knöpfe seines Hemds schloss. Sie hatte Tee gemacht, wie meistens. Die Angewohnheit hatte sie von seiner Mutter übernommen, nachdem diese ihr vorgeworfen hatte, Sasukes Vorlieben und Gewohnheiten nicht ausreichend zu kennen. Im Vorbeigehen nahm er den vorbereiteten Isolierbecher von der Theke. Sakura war vor fünf Jahren bei ihm eingezogen und hatte anfangs nur ein paar ausgewählte Plätze für ihren Kram beansprucht. Dann war er ein paar Monate in Kanada gewesen und war zu flauschigen Kissenbezügen, exotischen Topfpflanzen und rosafarbenen – pardon, pfirsichfarbenen Vorhängen zurückgekehrt. Es hatte gedauert, aber er hatte sich daran gewöhnt. Nicht, dass er viel zu Hause war. »Hat Sarada dich geweckt? Sie hat vorhin Sushi-chan fallen lassen. Du weißt ja, wie das ist.« »Braucht sie wirklich noch ein Babyphon? Sie wird bald vier. Ihre Lungen sind groß genug, damit wir sie durch die ganze Wohnung hören.« Er beugte sich zu seiner Tochter hinab, die von ihrem roten Kindersessel aus mit runden Augen zu ihm hochblinzelte. »Nicht wahr, Sarada?« Das Mädchen schürzte die Lippen, als verstünde sie, was er von ihr wollte. »Keine Ahnung. Ich kann ja mal deine Mutter fragen, wie das bei dir war. Da Sarada zu neun Zehntel nach dir kommt, dürfte das einen guten Anhaltspunkt liefern.« »Mach das«, antwortete Sasuke beiläufig. Das Vibrieren seines Smartphones lenkte ihn ab. »Ich muss los. Mein Vater hat den Statusreport zwei Stunden vorverlegt.« Er hatte bereits seine Jacke vom Haken genommen und seine Aktentasche aufgehoben. »Sasuke«, hielt Sakura ihn zurück, die Lippen leicht geschürzt, so wie Sarada. »Wann kommst du heute nach Hause? Wir sehen dich kaum noch.« »Ihr seht mich jetzt«, entgegnete er, während er seinen Schal um den Hals schlang und seine Aktentasche aufhob. Wo hatte er die verdammten Autoschlüssel gestern hingeworfen? »Ich kann nicht früher schlussmachen, solange wir die Auswertungen nicht fertighaben.« »Wir bedeutet, dass mehr Leute daran arbeiten. Du bist Projektleiter, kannst du nicht irgendwas davon delegieren?« Konnte er nicht. Würde er nicht. »Und Itachi die Früchte ernten lassen? Tut mir leid, Sakura.« Enttäuscht ließ sie die Hände an die Seiten fallen und verzog die Lippen. »Denk wenigstens daran, dass du Sarada heute zu ihrer Freundin bringen musst!«, rief sie ihm hinterher, als er bereits zur Tür raus war. Bis er bei der UCHIHA Corp. war, hatte er vergessen, was sie gesagt hatte. Da war ein schlechtes Gewissen, irgendwo in seinem Hinterkopf, weil er seine Familie vernachlässigte. Doch er konnte nichts dagegen tun. Dieses Projekt war seine Feuertaufe und sie hatten ausführlich besprochen, dass er diese Chance mit Leib und Seele ergreifen musste. Sakura hatte eingewilligt, für die kommenden Monate zurückzustecken. Sein schlechtes Gewissen war erloschen, sobald er sich an seinem Schreibtisch niederließ. Sasuke kannte sein Büro mittlerweile besser als sein Schlafzimmer. Zwanzig Quadratmeter im elften Stock, Glasfront mit Blick über den Yoyogi-Park im Rücken, lackierte Holzregale mit dekorativen Büchern, eine Alibipflanze und ein gemusterter Teppich. Das war sein Reich, in dem er beweisen würde, was er konnte. Die ersten Jahre in der Firma hatte er als besserer Praktikant in unterschiedlichen Abteilungen verbracht. Es war unangenehm gewesen, Abteilungsleitern Kaffee zu bringen und dabei Uchiha-sama genannt zu werden, aber er konnte verstehen, warum sein Vater ihn nicht sofort als vollwertigen Mitarbeiter einsetzte. Sakuras ungeplante Schwangerschaft hatten seinen Auslandsaufenthalt stark verkürzt, sodass er mit weniger Erfahrung und Expertise zurückgekommen war als vorgesehen. Der Kampf um sein erstes eigenes Projekt war hart gewesen, demütigend sogar an manchen Tagen. Dieses Projekt war sein Sprungbrett in die Managementebene, wo er als Uchiha hingehörte. Itachi war mit siebenundzwanzig COO geworden, daran war Sasuke vorbei. Trotzdem würde er seinen Wert beweisen. Und er würde das Statusmeeting heute dazu nutzen. synCOM war ein von langer Hand geplantes Projekt, in dessen Zentrum eine Datenbank stand, die einen wesentlichen Teil der Infrastruktur großer Unternehmen abdecken konnte – synCOM würde Anrufe aufzeichnen, Personalakte verwalten, Drittdaten integrieren und war modular erweiterbar für spezifische Anforderungen wie Verschreibungen oder Projektauswertungen. Die technischen Details waren kompliziert und Sasuke hatte Wirtschaft studiert, nicht Informationstechnologie. Seine Aufgabe war es, Entscheidungen zu treffen, das Budget zu überwachen und alle zwei Wochen einen Fortschrittsbericht an Geschäftsführung und Aufsichtsrat zu geben. Erst vorgestern hatte sein Chefprogrammierer ihm die Lösung des Performanceproblems mitgeteilt, das sie seit einem halben Jahr aufgrund der riesigen Datenbank im Hintergrund mitschleppten. Dieses Statusmeeting würde gut werden. Doch das wurde es nicht. Denn sie waren im Verzug, und die sieben Uchihas, denen er Rede und Antwort stehen musste, interessierten sich für nichts anderes. Der erste Prototyp hätte nächsten Monat an wohlgesonnene Kunden gehen sollen, um Feedback noch vor der Betaphase integrieren zu können. Sie waren kaum über dem Budget, der Zeitverzug war in Relation minimal, aber sieben Uchihas konnten heute einen beschissenen Button nicht anklicken und damit war alles andere irrelevant. »Bei Projekten dieser Größe sind Verzögerungen normal«, versuchte Sasuke sachlich zu erklären. »Auf den Entwicklungscomputern läuft das Setup bereits mit einer Dummy-Datenbank, die Funktionalität ist gewährleistet.« »Und trotzdem muss ich meinen beiden besten Kunden morgen beim Golfspielen erklären, warum sie ihren Prototypen nicht in der Hand halten«, wandte Fugaku ein. Unerbittlich und dabei so unglaublich prätentiös – so Uchiha, dass Sasuke nicht antworten konnte. Musste er auch nicht, es hätte nichts gebracht. Die fünf Aufsichtsräte stimmten ein, taten ihre Enttäuschung kund und verzogen sich so schnell sie gekommen waren. Fugaku blieb für ein kurzes Kopfschütteln zurück und, »nächstes Mal erwarte ich mehr, Sasuke«, dann folgte er ihnen. Nur Itachi war sitzengeblieben, vertieft in die letzten Seiten des Berichts. »Hast du auch etwas zu sagen?«, brummte Sasuke. »Wie lange weißt du schon, dass das Demo-Setup für heute nicht fertig wird?« Sasuke zögerte. »Mittwoch.« »Du wusstest, dass sie heute ein paar Klicks in synCOM machen wollten. Das ist alles, was sie interessiert.« »Ich kann nicht zaubern, Itachi«, sagte er betont beherrscht. »Was hätte ich machen sollen? Mich selbst hinhocken und mal eben so in zwei Tagen eine Datenbank programmieren, an der ein ganzes Entwicklungsteam seit Monaten hängt?« »Du hättest deinem Team am Mittwoch sagen können, dass sie sieben unserer leistungsstärksten Laptops mit der Dummy-Datenbank und der letzten funktionstüchtigen Version von synCOM aufsetzen sollen. Dann hättest du uns die Laptops gegeben, wir hätten ein wenig herumspielen können, Vater hätte wie immer am Design genörgelt, Inabi und Naka hätten sich über die Performance beschwert und Kaede hätte die Usability kritisiert, ohne zu wissen, was das ist, und niemand hätte sich weiter um ein paar kleine Verzögerungen gekümmert.« Sasuke sagte nichts, stand nur aufrecht da und verbat sich, auch nur eine Schulter sacken zu lassen. Bei Itachi klang es so einfach – natürlich tat es das. Als klar war, dass Itachi keine verbale Rückmeldung bekommen würde, klemmte er seine Aktenmappe unter den rechten Arm, drückte Sasukes Schulter mit der linken Hand und nickte ihm aufmunternd zu. Es war das einzige positive Feedback, das Sasuke bislang bekommen hatte. ♥   Die Wunde war desinfiziert, mit einem Pflaster zugeklebt und Sakura notierte die letzten Details der Behandlung in der elektronischen Akte ihres neuesten Patienten. Es war ein oberflächlicher Schnitt, den sich der Produktionsmitarbeiter im Warenlager an der scharfen Kante eines Regals zugezogen hatte. Er zog sich vom Handballen bis zum Ellenbogen und sah schlimmer aus als er war. »Alles klar, Mitarashi-san. Vor und nach der Schicht gut mit dem Mittel hier reinigen –« Über ihren aufgeräumten Schreibtisch schob sie ihm ein Antiseptikum hinüber. »– und nach dem Duschen das Pflaster wechseln, dann sollten Sie keine Probleme haben.« »Danke, Uchiha-sensei.« Er nickte ihr höflich zu und verließ ihre Ordination. Betriebsärztin in einem dreitausend Mann starken Unternehmen zu sein, war nicht das Langweiligste, das sie sich vorstellen konnte. Aber auch nicht das Spannendste. Vor allem nicht, wenn ihr Schwiegervater Geschäftsführer war. Blutende Schürfwunden und Ohnmachtsanfälle bekam sie regelmäßig zu Gesicht. Vor allem in den handwerklichen Abteilungen, wie der Hardwareentwicklung oder den Fertigungsstraßen, konnten Schlafprobleme und psychische Belastungen schnell ernsthaften Schaden anrichten. Als sie Sasuke überzeugt hatte, die UCHIHA Corp. um eine Ordination zu erweitern, hatte sie Zusatzausbildungen in Arbeitspsychologie und Gesprächsführung gemacht, um solche Unfälle im Unternehmen frühzeitig verhindern zu können. Die Gespräche waren freiwillig, kostenlos und anonym. Und wurden kaum in Anspruch genommen. Welch Wunder. Die Mitarbeiter mochten sie, trotzdem schienen sie ihr zuzutrauen, bei Uchiha Senior oder einem der Juniors zu petzen. Manchmal war es schwierig, mit Sasuke verheiratet zu sein. Sie schloss die elektronische Akte, stützte das Kinn auf die Handfläche und tippte mit dem Finger auf das kleine Logo am Bildschirmrand, das einmal so viel Hoffnung und Stolz in ihr ausgelöst hatte. Das Elektronische Verarbeitungssystem, kurz EVA, war Sasukes Praktikumsprojekt gewesen. Zehn Jahre war es her, dass er ihr ungewohnt aufgeregt von seiner Idee erzählt hatte. Damals war sie mitten im Medizinstudium gewesen und hatte hatte noch davon geträumt, wie sich seine Lippen auf ihren anfühlten, seine Hände an ihren Schenkeln, sein nackter Oberkörper gegen ihren gepresst – Mit kräftigem Kopfschütteln holte sie sich zurück in die triste Realität, in der EVA mittlerweile zu einer konstanten Bestätigung ihrer langweiligen Existenz geworden war. Ein Klopfen an der Tür kündigte einen neuen Patienten an. Vielleicht endlich jemand, der seinen Kummer nicht aus Angst vor einer Kündigung in sich hineinfraß. Doch es war nur ein Lieferant, der sie zwei Seiten unterschreiben ließ, ehe er ihr vier Kisten aushändigte. »Ah, endlich wieder Mullbinden!«, rief sie fröhlich und hasste sich dafür. Würde so der Rest ihres Lebens aussehen; der Höhepunkt ihrer Woche eine Lieferung banaler Medizinprodukte? Ein ständiges Warten darauf, dass etwas Spannendes passierte? Ihr Smartphone vibrierte in der Tasche ihres Kittels und noch einmal hasste sie sich über die jämmerliche Freude, die sie darüber empfand. Sie war erbärmlich. Der Name auf dem Display hob ihre Laune kaum. Sie ahnte, was kommen würde.  »Sasuke. Was ist los?« »Sakura, tut mir leid, aber ich kann Sarada heute nicht zu ihrer Freundin bringen.« »Was soll das heißen? Du weißt das seit einer Woche.« »Tut mir leid«, wiederholte er. »Mein Statusmeeting ist nicht gelaufen wie geplant und wir müssen hier noch ein paar offene Punkte diskutieren. Kannst du dich bitte um Sarada kümmern?« »Wie stellst du dir das vor? Ich hab Termine heut Nachmittag. Es ist sowieso schon schwer genug, die Leute hier zur psychologischen Beratung zu bekommen. Ich kann nicht auch noch anfangen, Gespräche abzusagen. Sasuke? Sasuke – hörst du mir zu?« Tat er nicht, das verriet das Tippen von Tasten auf seiner Seite des Anrufs. Er war längst in eine Mail oder einen Bericht vertieft. »Ich muss jetzt auflegen.« Und weg war er. Wie heute Morgen, wie jedes Mal. ♦   Du kannst nicht einfach jeden Auftrag ablehnen, hatte Mabuchi gesagt. Wie kann man nur so arrogant und eingebildet sein?, hatte Mabuchi geschimpft. Mach dieses Shooting, sonst bist du raus!, hatte Mabuchi gebrüllt. Zu ihrer Verteidigung, sie hatte mehr Geduld gehabt als Ino gewettet hatte. Wortwörtlich; eintausend Yen mit Mabuchis Assistenten. Nach drei abgelehnten Aufträgen allerdings war Mabuchis Maß voll und nun stand Ino hier, ungeschminkt bis auf einen mandarinfarbenen Lippenstift, zwischen hohen Nadelbäumen am Rand von Tokio und versuchte irgendwie, den übertriebenen Look aus Fellweste und Cowboystiefeln überzeugend rüberzubringen. Wie sie japanische Mode hasste. »Bitte einmal das Bein anwinkeln, Yamanaka-san, etwas höher, ja genau so«, wies der Fotograf sie an. So ging das seit einer Stunde. Ihr war eiskalt, das Kunstfell kratzte und die Stiefeln passten nicht ordentlich. Es war wie bei jedem Shooting. Bloß wurde ihr bei diesem jede kleinste Bewegung diktiert, und das war, was sie ihre Kiefer aufeinanderpressen ließ. »Etwas natürlicher lächeln, Yamanaka-san.« »Ich geb dir gleich natürlich …«, murmelte sie tonlos, breitete die Arme hoch über dem Kopf aus und streckte ein Bein zur Seite aus. Ein Cowgirl mit knalligem Lippenstift war doch nicht niedlich, so wie man sie hier hinstellen wollte, sondern lebensfroh und wild. Sie hielt die Pose eine Weile, ehe sie in etwa ähnlich Dynamisches wechselte. Ein paar Fotos hörte sie knipsten, dann sah der Fotograf über seine Kamera zu ihr. »Bitte halten Sie sich an die vorgegebenen Posen, Yamanaka-san.« Sie schnaufte hörbar, schüttelte den aufwallenden Ärger über eine unwirsche Bewegung ihrer Arme aus. Und tat, wie ihr geheißen. Für das halbtägige Shooting bekam sie achtzigtausend Yen, vor Steuern. Für so wenig Geld konnte der Fotograf froh sein, ein derart eigenständiges und kreatives Model zu haben. War er aber nicht. Wenigstens war das Essen gut gewesen. Ein Tropfen auf dem heißen Stein ihrer qualvollen Existenz, aber hey. Sie nahm, was sie bekam. Dreihundert Fotos später bedankte sich der Fotograf bei dem Team, Mabuchis Assistenz achtete darauf, dass Ino bei der Verabschiedung auch ja höflich war, und schob sie zurück ins Auto. Sobald sie saß, war sie zu müde, um sich zu beschweren. Bei wem auch? Der Assistent ihrer Agentin hätte nicht verstanden, was sie störte. Stattdessen kramte sie ihr Smartphone aus ihrem Rucksack, um zwei verpasste Anrufe vorzufinden. Beide waren von Sakura vor etwa einer halben Stunde. »Hey, Sakura«, begann sie ihren Rückruf. »Was kann ich tun für meine liebste Lieblingsfreundin?« »Ino, zum Glück!«, rief Sakura ihr entgegen, seltsam erleichtert. »Du musst Sarada vom Kindergarten abholen und nach Nakano bringen.« »Wie? Wen?« Verwirrt kramte Ino in ihrem Gedächtnis nach dem Namen. Ach ja. »Deine Tochter? Darf ich das überhaupt? Brauch ich dafür keinen Kinderführerschein oder einen Kurs oder so?« Sakura schnaubte. »Meine Tochter ist doch kein Kampfhund! Ich meine, sie beißt, wenn du deine Finger beim Füttern nicht schnell genug vom Keks wegnimmst, aber – das ist nicht der Punkt! Sasuke muss länger arbeiten und ich kann meine Termine nicht verschieben. Bitte, Ino.« Unsicher runzelte Ino die Stirn. Mit Kindern hatte sie es noch nie wirklich gehabt, schon gar nicht mit so kleinen. »Fein, wieso nicht. Aber du zahlst das Taxi.« Im Endeffekt fuhren Ino, Sarada und Sushi-chan mit dem Zug. Sarada war derart begeistert von öffentlichen Transportmitteln, dass sie erst zu plärren aufhörte, als Ino das Taxi wieder weggeschickt hatte. Die Karte kauften sie gemeinsam, mehr oder weniger, und das Mädchen brabbelte eine Millionen Fragen zu Zügen, die Ino nicht beantworten konnte – warum gibt es Züge war eine Frage, die niemand beantworten konnte! Außerdem wog Saradas Rucksack eine gefühlte Tonne und Nakano war verdammt weit weg. »Alle Gefallen, die du mir jemals getan hast, sind abgegolten«, schnaufte Ino ins Telefon, nachdem sie Kind, Plüschessen und Rucksack abgeliefert hatte und auf einer Parkbank zusammengebrochen war. »Alle, Sakura. Alle. Dieses Monster ist flink wie verflixtes Wiesel.« »Sie ist ein Kleinkind, Ino. Kommst du nicht mit einer Dreijährigen klar?« »Das ist – sie hat – ich schwör dir –« Raunend trat Ino in die Luft. Sie wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte. Sarada war ihr dreimal ausgebüchst, hatte zwei tote Vögel aufgehoben und Freundschaft mit einem streunenden Fuchs geschlossen – und das alles, bevor sie überhaupt noch im Zug gewesen waren. »Vergiss es. Das glaubst du mir sowieso nicht. Ich muss sie aber nicht wieder abholen, oder?« Sakura kicherte unverschämt amüsiert. »Nein, sie bleibt bis morgen dort. Danke, Ino. Du hast mich gerettet.« »Und Sasuke arbeitet?«, fragte Ino, plötzlich erfüllt von neuer Energie. »Mädchen, du weißt, was das bedeutet. Du. Ich. Zwei sexy Tops und ein Club mit so lauter Musik, dass wir morgen heiser sind.« »Ah, ich weiß nicht«, zauderte Sakura. Im Hintergrund war Rascheln und Schubladenschließen zu hören. »Sexy Tops hab ich seit Jahren nicht mehr und ich wollte heute noch Staubsaugen – okay, du hast recht. Ein Club soll es sein. Aber du musst mir was leihen.« Und wie Ino das tat. Sie war erst vor zwei Tagen in ihr neues Apartment eingezogen und hatte nichts ausgepackt außer ihre notwendigsten Schminksachen. Bis Sakura ankam, kramte sie den ganzen Rest aus ihrem Koffer. Gegen acht klingelte Sakura. Sie hatte ihr Auto vorsorglich zu Hause stehen lassen und trug Sneaker und Jeans. Es dauerte eine ganze Flasche Wein, pinken Lippenstift, eine Menge Mascara und noch viel mehr Gelächter, ehe sie bereit waren. Sakura war anzusehen, dass sie sich in dem aufregenden Trägertop nicht allzu wohl fühlte, aber zwei Schluck Rum übertünchten ihre Unsicherheit so weit, dass sie sich von Ino in ein Taxi schieben ließ. In den angesagten Club reinzukommen war nicht schwierig, wenn man aussah, wie sie aussahen. Hinzu kam, dass Männerüberschuss herrschte und sie sich an der Warteschlange vorbeigewinkt umhüllt von kühlen LED-Lichtern in dröhnenden Elektrobeats wiederfanden. Noch bevor Sakura sich orientieren konnte, hatte sie bereits den ersten Whiskey Sour in der Hand. Freie Sitzplätze gab es nicht, also drängten sie sich durch die Menschenmasse auf die Galerie, von wo sie freie Sicht auf die vibrierende Tanzfläche hatten. »Der DJ ist Kurayura«, schrie Ino und deutete auf das Mischpult am Kopf der Tanzfläche. Boxen und anderes Equipment zogen sich mehrere Meter über die Breite des Clubs, dahinter zeigte eine riesige Videowand abstrakte Visualisierungen der Musik. »Wer?«, rief Sakura zurück. Ino winkte ab. Sie hatte nicht erwartet, dass ihre brave Freundin, Ehefrau und Mutter, etwas von der Tokioter Clubszene wusste. Sie selbst hatte die Verbindung dazu über die Jahre in Übersee verloren und nur mehr sporadisch über Tweets erfahren, was wo los war. »Egal. Hey weißt du noch, als wir zum ersten Mal in Tokio weg waren?« »Oh ja!«, rief Sakura euphorisch und hob ihr leeres Glas. Gemeinsam kämpften sie sich zur kleineren Bar auf der Galerie, um Nachschub zu erbeuten. »Wie alt waren wir da?« »Neunzehn«, grinste Ino. »Ich hab dich nie wieder so besoffen gesehen.« »Das war … kurz nach Sasukes Unfall und nachdem ich die Nase voll hatte, ihm bei der Physio zu helfen, weil er mich immer angeschnauzt hat. Der Sack.« Ehe Ino antwortete, drehte sie sich um und bestellte zwei Shots. Alkohol hatte Sakura schon immer erbarmungslos ehrlich gemacht. Auch damals, als ihr die Aussichtslosigkeit ihrer einseitigen Liebe klargeworden war. An jenem Abend vor zehn Jahren war sie fast in den Armen eines hübschen Jurastudenten gelandet. Ein paar Wochen später hatte Sasuke es sich anders überlegt und sie waren ein Paar geworden. »Ich versteh ja immer noch nicht, warum du ihn geheiratet hast«, meinte Ino. Die Lautstärke der Musik zwang sie dazu, sich gegen ihre Freundin zu lehnen und ihr ins Ohr zu schreien. Womöglich war sie auch nicht mehr ganz standsicher. »Er war in der Schule schon so ein eingebildeter Arsch. Gutaussehend, aber ein Arsch.« Sakura machte einen vagen Laut und leerte ihr Glas in einem Zug. »Auf … alles außer Sasuke!« »Alles außer Sasuke!«, stimmte Ino ein. Gemeinsam brachen sie in fast schon hysterisches Gelächter aus. Viel mehr Getränke brauchte es nicht, um sie auf die Tanzfläche zu ziehen. Im bunten Trubel der feiernden Menge rissen sie die Arme in die Höhe, kreischten die leicht singbaren und auch weniger leicht singbaren Stellen bekannter Lyrics in das Tosen des Clubs. Pausen machten sie nur für einen Abstecher an die Bar und ein paar humorvolle Anekdoten aus ihrer Schulzeit oder den paar Monaten, die sie danach gemeinsam in Tokio gewohnt hatten. Es war der beste Abend seit langem, für sie beide. Den Preis würden sie morgen bezahlen. Aber morgen war noch ein paar Stunden hin, und bis dahin war alles gut. . . Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)