Verlorene Sonne von Noxxyde ================================================================================ 6 - Kapitel 6 Blaulicht durchbrach die Abenddämmerung, während in Uniform gekleidete Polizisten über den Gehsteig wuselten. Tom fand sich hingegen zum dritten Mal an diesem Tag in einem dieser vermaledeiten Franchisecafés, eine Tasse flüssigen Herzinfarkt in den Händen. Er fixierte Mr. Magick, der ihm gegenüber saß. „So. Spuck’s aus.“ Nach der letzten halben Stunde, die für seinen Geschmack eindeutig zu viel Mord und Totschlag (okay, beinahe-Mord und beinahe-Totschlag) enthalten hatte, schien ihm das ‚Du‘ angebracht. „Was zur Hölle ist hier los?“ Mr. Magick starrte auf seinen Tee, ohne daraus zu trinken. „Es gibt nicht viel zu erzählen. Lou war meine Freundin. Ich dachte, ich könnte ihr vertrauen.“ „Ich würde mal sagen, dass das eine ziemliche Fehleinschätzung war“, warf Marlene – hilfreich wie immer – ein. Sichtlich getroffen schloss Mr. Magick die Augen. „Ja, das war es wohl.“ „Wusstest du von den Männern, die sie entführt hat?“ Tom hörte nur halb zu, er glaubte, die Antwort auf diese Frage bereits zu kennen. Sollte Mr. Magick sein Entsetzen beim Anblick der aufgebahrten Männer im Hinterzimmer gespielt haben, war Hollywood der brillanteste Schauspieler aller Zeiten entgangen. Aber selbst wenn nicht, schwirrten Toms Gedanken gerade in ganz anderen Sphären. Immer wieder kehrte er zurück zu dem Moment, in dem sich kalter Stahl gegen seine Haut presste. Sein Nacken prickelte, seine Ohren warteten auf das Klicken des Triggers. Warteten auf den Schuss. Er zwang sich, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Dort schüttelte Mr. Magick gerade den Kopf. „Ich wusste nichts.“ Er schluckte. „Natürlich wusste ich nichts.“ „Dann erzähl uns, was du weißt.“ Marlene beugte sich vor. „Fang am besten damit an, warum du nicht gesagt hast, dass meine Schwester noch lebt.“ „Weil ich nicht weiß, ob das so ist!“ Mr. Magicks Lautstärke garantierte ihnen mehr als ein paar neugieriger Blicke. Das schien auch ihm aufzufallen. Wut, Furcht, Bedauern und noch einige Emotionen mehr huschten über seine Züge, doch am Ende sahen sich Marlene und Tom einmal mehr mit der gleichgültigen Maske konfrontiert, die Toms Nackenhaare schon bei ihrer ersten Begegnung aufgestellt hatte. „Ihr habt mein Gespräch mit Lou belauscht.“ Keine Frage, eine Feststellung. „Dann wisst ihr auch, dass es eine Menge anderer Erklärungen gibt, weshalb ich Sunnys Echo nicht höre.“ Tonlos fügte er hinzu: „Ich wollte euch keine falschen Hoffnungen machen.“ Auf der anderen Straßenseite schoben Sanitäter eine weitere Trage zu einem der wartenden Krankenwägen. Tom erhaschte einen kurzen Blick auf Sam; leichenblass und regungslos. „Ein wenig Hoffnung fände ich gerade ganz schön.“ Mr. Magick schüttelte den Kopf. „Ich kann euch nichts versprechen. Vielleicht bekomme ich keinen Kontakt mit Sunnys Echo, weil sie noch lebt.“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Aber wenn Lou da mitdrinsteckt, dann ist es wahrscheinlicher, dass sie Spuren für Sunnys Mörder verwischt hat.“ Mörder. Tom hatte sich immer als Realist betrachtet, war überzeugt gewesen, das Leben hätte ihm jeden Hang zum Optimismus frühzeitig ausgetrieben. Doch nun dieses Wort zu hören, die Gewissheit in Mr. Magicks Stimme … Tom dachte an Sunny. Seine beste Freundin. Lebensfroh, warmherzig, voller Pläne für die Zukunft. Wütend blinzelte er gegen die Tränen in seinen Augen an. „Was machen wir jetzt? Sagen wir’s der Polizei?“ Marlene schnaubte. „Wozu? Die werden uns genauso abwimmeln wie beim letzten Mal. Ist ja nicht so, als hätten wir plötzlich mehr Beweise.“ „Ach nein? Und wie nennst du das?“ Unwirsch nickte Tom zum Laden, aus dem gerade ein weiterer regloser Körper geborgen wurde. „Einbruch und schwere Körperverletzung“, erwiderte Marlene trocken. „Wir beide hatten absolut nichts in diesem Lagerraum zu suchen und Mr. Magick hier hat einer Frau fast den Schädel eingeschlagen.“ „Julius“, murmelte Mr. Magick. „Was?“, fragten Marlene und Tom. „Mein Name ist Julius.“ „Schön für dich.“ Marlene richtete ihren Blick erneut auf Tom. „Verstehst du, was ich dir sagen will? Die Polizei wollte uns davor schon nicht helfen, und sie werden es auch jetzt nicht tun. Vielleicht sind sie einfach nur faule Arschlöcher, die sich einen Dreck für Menschen wie Sunny interessieren. Vielleicht zahlt ihnen jemand ein hübsches Schweigegeld. So oder so, wenn wir jetzt zu ihnen gehen, dann können sie uns gewaltig in die Scheiße reiten, während die wahren Schuldigen in aller Ruhe ihre sieben Sachen packen und sich absetzen.“ Tom wollte widersprechen, konnte es aber nicht. Marlene hatte recht. Die Verbindung zwischen Sunnys Verschwinden und den entführten Männern im Lagerraum schien so dünn, dass selbst er Schwierigkeiten hatte sie zu sehen. Die Polizei überzeugten sie so jedenfalls ganz sicher nicht. „Was schlägst du vor?“ Es war Mr. Magick – Julius – der antwortete. „Ihr beide geht nach Hause. Ab hier übernehme ich.“ Marlenes ‚Das kannst du ja mal voll vergessen!‘ überschnitt sich mit Toms ‚Willst du mich verarschen?‘ und ein weiteres Mal war ihnen die Aufmerksamkeit der anderen Gäste sicher. Marlene verschränkte die Arme vor der Brust. „Glaubst du wirklich, wir vertrauen dir, das zu regeln? Du hast uns belogen und bist schnurstracks zu einer Frau gerannt, die nach allem was wir wissen am Verschwinden meiner Schwester beteiligt ist.“ „Und ganz nebenbei ein paar Freunde von mir in ihrem Hinterzimmer lagert“, merkte Tom an. „Denkt ihr, das weiß ich nicht?“ Julius schloss den Mund, bevor sich ihnen dank seiner Lautstärke noch mehr Köpfe zuwandten. Stattdessen holte er etwas aus seiner Manteltasche hervor. „Das hier habe ich in Lous Büro gefunden, während ihr mit der Polizei telefoniert habt.“ Er schob einen schlichten Terminkalender über den Tisch. Marlene blätterte ihn durch, während Tom über ihre Schulter spähte. Einer der letzten Einträge ließ sie beide nach Luft schnappen. Tom strich über die Tinte, als wollte er sich von ihrer Echtheit überzeugen. „Ich wusste es“, murmelte Marlene, doch da lag nichts Triumphierendes in ihrer Stimme Vor zwei Tagen hatte sich Julius‘ Bekannte mit Pfahlhammer getroffen. Name, Adresse und Uhrzeit waren fein säuberlich in ihrem Kalender notiert. „Ich glaube, Lou hat ihn mit Menschen versorgt“, murmelte Julius. „Deshalb wollte sie auch, dass ich euren Fall an sie abtrete. Vermutlich hätte sie eine falsche Séance aufgezogen, euch davon überzeugt, dass Sunny bei einem Unfall ums Leben gekommen aber glücklich ist, und danach alles unter den Tisch gekehrt.“ Leiser fügte er hinzu: „Oder euch Pfahlhammer auf einem Silbertablett serviert.“ Marlene starrte noch immer auf den Namen im Kalender. „Das bedeutet, Sunny war vermutlich weder das erste noch das letzte Opfer.“ Julius nickte grimmig. „Ich muss Pfahlhammer aufhalten.“ Er hob die Hand, um Marlenes und Toms Proteste abzuwürgen. „Lou war meine Freundin. Ich habe ihr vertraut und genau deshalb muss ich nun auch für ihre Sünden einstehen.“ Nur mit Mühe verkniff sich Tom ein Augenrollen. „Geht’s vielleicht ein bisschen weniger dramatisch? Ihr Scheiß ist ihre Verantwortung, nicht deine.“ „So einfach ist das nicht.“ Julius Hände ballten sich zu Fäusten. „Lou hat diese Männer gefangen, betäubt und in ihrem Lager weggesperrt. Und das nicht erst seit gestern. Ich muss unzählige Male bei ihr gewesen sein, ohne etwas davon zu ahnen. Schlimmer, ich habe euch direkt zu ihr geführt. Wenn ich nicht zurückgekommen wäre, wärt ihr jetzt tot!“ „Was mich zu meiner nächsten Frage bringt“, sagte Marlene unbeeindruckt. „Warum bist du überhaupt zurückgekommen?“ Tom blinzelte. Bisher war er viel zu erleichtert gewesen, um Julius‘ plötzliches Auftauchen zu hinterfragen, doch nun zog sich eine verräterische Röte über dessen Wangen. „Das ist … schwer zu erklären.“ „Versuch’s.“ Julius seufzte. „Ich nehme Dinge wahr, die andere übersehen. Deshalb kann ich das Echo von Verstorbenen hören–“ „Wie einen Geist?“, unterbrach Tom. Julius schüttelte den Kopf. „Eher wie“, er suchte nach dem richtigen Wort, „Erinnerungen. Ein Abdruck, den der Verstorbene in der Welt hinterlässt.“ „Das heißt aber, du kannst nicht wirklich mit ihnen kommunizieren? Nur, äh, zuhören?“ „So ungefähr, ja.“ Zum ersten Mal führte Julius seine Tasse zum Mund, ohne sie gleich wieder abzusetzen. Er nippte vorsichtig. „Ich kann nicht ausschließen, dass es Menschen gibt, die mehr als das können, aber bisher ist mir keiner begegnet, der sich nicht im Nachhinein als Schwindler entpuppt hätte.“ Marlene schnippte ungeduldig mit den Fingern. „So interessant ich euren kleinen Plausch auch finde, könnten wir uns wohl auf die eigentliche Frage konzentrieren? Warum bist du zurückgekommen?“ „Ah, ja. Entschuldigung.“ Betreten rührte Julius in seiner Tasse um. „Verstorbene hinterlassen ein Echo, aber auch Lebende versenden Signale. Wenn sie stark genug sind, kann ich sie aufschnappen.“ „Du bist also zurückgekommen, weil du gespürt hast, dass deine Freundin gerade jemanden mit einer Waffe bedroht?“, fragte Tom skeptisch. Julius‘ Wangen färbten sich Scharlach. „Nein, ich … Ich habe deine Angst gespürt.“ „Meine Angst?“ Jetzt war es an Tom, rot anzulaufen. „Ich hatte keine Angst. Also, nicht wirklich. Sicher nicht so stark, dass man sie spüren könnte.“ „Ich, äh, nehme dich stärker wahr als andere Menschen“, gestand Julius. Er hob die Hände, als wollte er einen Angriff abwehren. „Das bedeutet nicht, dass ich dich irgendwie überwachen kann. Es sind nur Fetzen, die manchmal durchkommen. Ich habe ja auch nicht bemerkt, dass ihr mich beschattet. Es braucht schon extreme Emotionen, damit ich sie über so eine Distanz wahrnehme.“ „Todesangst gehört wohl dazu“, bemerkte Marlene trocken. Tom wollte protestieren, doch Julius kam ihm zuvor. „Ich hatte nicht vor, Lou niederzuschlagen. Ich wollte mit ihr sprechen. Herausfinden, was los ist. Aber sie hatte ihre Barrikaden runtergefahren und was ich gespürt habe, war …“ Er schüttelte den Kopf, ohne seinen Satz zu beenden. Auch Tom schwieg. Er schaffte es nicht einmal Julius in die Augen zu sehen, obwohl dieser stumm darum zu bitten schien. Das war einfach zu viel. Das alles war zu viel. Abrupt stand er auf. „Wir sollten gehen.“ Marlene nickte. Er musste ihr nicht sagen, wohin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)