Das Karussell der Verlorenen von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Brief an einen Fremden --------------------------------- Ich bin verrückt, Fremder. So viel dazu. Ich bin jetzt nicht die Art von verwirrter Irrer, der in dreckiger Unterwäsche in der U-Bahn sitzt und drei kaputte Paar Kopfhörer trägt, sondern eher der dezente Wahnsinnige mit den sauber polierten Lackschuhen und dem 1000-Dollar-Lächeln. Ich sitze hier, in diesem schäbigen Imbiss und verliere immer weiter meinen Verstand. Immer ein bisschen mehr. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Ich habe mir meinen Namen auf den Unterarm geschrieben, wasserfest, weil ich Angst habe morgen aufzuwachen und nicht mehr zu wissen, wer ich bin. Es gibt niemanden, der mich daran erinnern könnte. All meine Freunde sind weg. Verschwunden. Wobei ICH es bin, der verschwunden ist. Ich wurde aus der verdammten Realität geschnitten, wie das F***- Wort aus dem amerikanischen Fernsehen. Scheiße, da schau sich doch mal einer diesen geschriebenen Schwachsinn an. Ich bin auf dem besten Weg unter die Räder zu kommen. Der Gehängte hat mich vor so etwas gewarnt. Wobei, der Idiot hat eigentlich keine Ahnung von nichts. Es war immerhin seine saudumme Idee gewesen, dass ich zum Stern gehen soll. Totaler Reinfall. Diese miese Schlampe hat mich sauber über das Ohr gehauen und jetzt weiß ich noch weniger als zuvor. Der Narr klebt mir zudem immer noch am Arsch und ich schwöre, der Kerl hat eine ungesunde Beziehung zu seinem Hund. Er teilt sich gerade einen Kaffee mit dem Vieh. Aus der gleichen Tasse. Ich hacke diesem stinkenden Köter seine Eier ab, wenn er noch EINMAL mein rechtes Bein für eine läufige Hündin hält. Ich ertrage diesen Irrsinn nicht mehr. Ich will mein Leben zurück. Mein altes ICH. Meine letzte Hoffnung ist die Sonne. Ich muss sie finden. Bald. SEHR BALD. Wer auch immer du bist, sei gewarnt. Halte dich von dem Karussell fern. Mit dem Rad des Schicksals spielt man nicht. Halt dich davon fern. Halt dich - fern. (Zerknitterter Zettel mit undefinierbaren Flecken) Kapitel 2: Die Müdigkeit des Vladislav Kermin --------------------------------------------- Das Rad des Schicksals: Tarotkarte, die für den stetigen Wandel und alle Veränderungen im Hier und Jetzt steht. (Kernaussage: Ende einer Lebenssituation, Neubeginn, Instabilität.)   ------ Vlad verabscheute skeptische Menschen. Skeptiker unterschrieben, wenn überhaupt, erst nach gefühlt hundert Anläufen, lasen das Kleingedruckte gleich mehrmals mit der Lupe durch und hinterfragten alles, was Vlad von sich gab. Jedes Wort wurde auf die Goldwaage gelegt und jedes angebotene Versicherungspaket wie radioaktive Scheiße begutachtet. Nun, zugegeben. Die meisten dieser überteuerten Pakete waren Beschiss. Wenn man die Leistungen mit den Wahrscheinlichkeiten und den Kosten verglich, kam man als normal intelligenter Mensch rasch zu der Erkenntnis, dass der angebotene Vollzeitschutz vor Meteoriteneinschläge nicht gerade die sinnvollste Investition aller Zeiten war. Zudem schloss die Versicherung ohnehin den direkten Ersatz sämtlicher beschädigter Gegenstände aus und zahlte, wenn denn tatsächlich ein galaktischer Gesteinsbrocken durch das Hausdach krachen sollte, nur dem Grundbesitzer Geld. Und das auch nur, wenn der Meteorit den Anstand hatte und während des helllichten Tages einschlug – und nicht in der Nacht. Nachtklausel war das Zauberwort. Vlad liebte Zauberwörter. «Ich verstehe das nicht.» Frau Barsukowa warf ihrem Mann einen irritierten Blick zu. «Wieso müssen wir einen so hohen Selbstanteil zahlen? Zusätzlich zu den Beiträgen?» «Nun, lassen Sie es mich so erklären -», setzte Vlad charmant an, wurde jedoch harsch vom Ehemann unterbrochen. «Der Scheiß beweist, dass diese Versicherung für den Arsch ist. Ich habe es dir gesagt, Schatz. Wir brauchen so einen Quatsch nicht.» Frau Barsukowa schnaubte. Sie war eine dünne und blasse Frau und hatte einen Faible für ausgefallene Mode. Sie trug einen gelben Pullover zu einem grünen Rock und glaubte scheinbar, dass Zöpfe auch noch bei Frauen über dreißig attraktiv waren. Um ihren dünnen Hals hing eine bunte Kette aus Federn und Perlen. Frau Barsukowa sah aus, als wäre sie die letzte Überlebende einer Explosion in einem Dritte-Welt-Laden. «Deine Mutter lässt ständig den Gasherd an», fuhr sie ihrem Mann über den Mund. «Sie raucht im Wohnzimmer. Heute morgen musste ich das Wasser im Bad abdrehen, nachdem sie geduscht hat. Sie ist alt und vergesslich und wenn du nicht willst, dass wir bei einem von ihr verursachten Brand oder Wasserschaden alles verlieren, kümmern wir uns um eine verdammte Versicherung.» «Von mir aus, aber sicher nicht so einen Abzocker-Mist. Diese ganze Nummer ist eine einzige Verarsche. Mein Freund Jurij zahlt nicht mal halb so viel, wie uns dieser Hund hier abknöpfen will.» «Jurij wohnt ja auch noch bei seiner Mutter in Nowodwinsk. Nicht in einem Neubau in der Stadt.» «Ich wollte ja eh nicht in die Stadt», knurrte Herr Barsukow. «Aber nein, du wolltest ja unbedingt nach Moskau.» «Bitte? Wir haben diese Entscheidung gemeinsam getroffen!» «Pah. Du hast mich zwei Wochen lang beleidigt angeschwiegen, als ich dir ehrlich gesagt habe, was ich von Moskau halte.» «Deine Mutter ist bei uns eingezogen!» Frau Barsukowa warf die Hände in die Luft. «Deine garstige und senile Mutter! Was willst du eigentlich noch von mir, du übergroßes Müttersöhnchen?» Vlad wusste, wann er verloren hatte. Er suchte rasch seine Unterlagen zusammen, welche auf dem Küchentisch verteilt lagen, und war quasi schon in seinem Mantel und zur Tür raus, als der Ehestreit richtig in Schwung kam. Geschirr klirrte irgendwo hinter Vlad und er machte, dass er zum Fahrstuhl kam. Das Teil war neu, so wie alles in dem recht schmucken Hochhaus. Nicht viele Menschen konnten sich einen solchen Standard in dieser Stadt leisten. Selbst Vlad, der sieben Tage die Woche gefühlt Rund um die Uhr arbeitete und einen netten Zuschlag an jeder abgeschlossenen Versicherung verdiente, lebte in einem Schuhkarton mit Ausblick auf die gegenüberliegende Häuserwand. Der Fahrstuhl kam und Vlad schlüpfte hinein, gerade in dem Moment, als ein äußerst zorniger Herr Barsukow an der immer noch offenen Wohnungstür auftauchte. «Sie verdammter -» Die Türen des Fahrstuhls schlossen sich, noch ehe der zornige Mann irgendeine Dummheit tun konnte. Vlad lehnte sich frustriert zurück, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte. Das war’s wohl mit seiner Provision. Unzufrieden trat Vlad nach draußen. Auf der Straße herrschte das übliche Chaos aus zu vielen Autos, zu vielen Menschen und zu wenig Platz. Vlad verabscheute Moskau, dennoch war es der Ort, zu dem alle krochen, ächzend und gierig ihre Hände ausstreckten, wenn es um den großen Aufstieg ging. In Moskau macht man Karriere. Soweit der Irrglaube. In Wahrheit war diese Stadt nichts anderes als das gigantische Netz einer Spinne, die von all den naiven Fliegen bereits fett und träge war, aber nicht aufhören konnte sie auszusaugen. Vlad war vor knapp vier Jahren in diese Stadt gekommen und wie alle Neulinge verdammt tief gefallen. Er war von Sofa zu Sofa gezogen, von Gefallen zu Gefallen, bis er endlich eine eigene Wohnung gefunden hatte. Er hatte zu viel getrunken, zu viel Geld verprasst und allein in seinem ersten Jahr in Moskau mit mehr Frauen geschlafen, als sein gesamtes Leben in Yablonovyy Ovrag. Nun, gut. Das war nicht sonderlich schwer, immerhin lebten in Moskau allein auf einer Etage mehr Frauen, als in Vlads verdammten Heimatdorf. Inzwischen hatten aber selbst die Frauen ihren Charme verloren. Viele Damen in dieser Stadt waren kaltherzig, gar rachsüchtig. Manche einsam und daher verbittert. Andere hingegen tanzten auf vier Festen gleichzeitig, auf der verzweifelten Suche nach einem Partner, der ihren hohen Ansprüchen gerecht wurde. Ein paar wenige, ja, gar besondere Damen hatte Vlad auf Grund seiner forschen Art vergrault. Generell war sein Sexleben öde geworden. Seine Nächte einsam, da selbst Dating-Apps einen Hauch von Eigeninitiative verlangten. Vlad hatte den Punkt erreicht, wo selbst der letzte Glamour verblasst war und Moskau und die Menschen ihr wahres Gesicht zeigten. Nichts in oder an Moskau war schön. Alles war ein Fake. Die Häuser. Die Menschen. Sein verdammtes Leben war eine Fälschung. Vlad sah kurz auf seine Armbanduhr und fluchte. Er hatte fast zwei Stunden mit diesen Barsukow-Idioten vergeudet und für was? Für einen Vertrag ohne Unterschrift. Vlad beschleunigte seine Schritte, als könnte er dadurch die verlorene Zeit irgendwie ausgleichen, und stürmte auf die nächste U-Bahnstation zu. Auf dem Platz davor herrschte die übliche Masse aus Menschen, die zur U-Bahn wollten und Leuten, die gerade aus der Station kamen. Wobei das Meer aus Köpfen heute um etwas herumströmte. Wie Wasser um einen hohen Stein. Eine runde Schneise bildete sich inmitten der Menschen, nur um wieder zu einem Strom zusammenzufließen. Ein Karussell. Es war wahrhaftig ein Karussell und es stand einfach so auf dem Vorplatz der U-Bahn, als wäre es sein verdammtes Recht. Es war ein altes Retro-Ding mit bunten Figuren und goldenen Stangen. Es drehte sich im Kreis, langsam und gemütlich und genau richtig für besorgte Eltern. Gelangweilte Kinder saßen auf den bunten Pferden, immer und immer wieder im Kreis rum, während ihre Mütter und Väter eifrig Bilder mit ihren Smartphones machten. Die Fahrt kostete nichts, was Vlad überraschte. In Moskau gab es niemals etwas umsonst. «Eine Runde, der Herr?» Vlad zuckte zusammen, als die fremde Stimme direkt neben ihm erklang. Der Sprecher schien zu dem Karussell zu gehören, denn er trug einen albernen Hut, einen eingedrückten Zylinder, und eine alberne Fliege. Es war ein fülliger Mann mit schlechten Zähnen. Er widerte Vlad an. Ohne ein Wort setzte sich Vlad wieder in Bewegung. Der lächerliche Mann blieb hartnäckig. «Kostet nichts», sagte er und hob seinen Hut in Richtung eines Polizisten, der das Treiben beim Karussell missmutig im Auge behielt. Scheinbar hatte der Verrückte für diesen Unsinn eine Lizenz, den Moskaus Polizei hielt nicht viel von spontanen Aktionen. Selbst Straßenkünstler und Flohmärkte wurden hier mit Gewalt geräumt, wenn es keine Erlaubnis gab. «Sie wollen es.» Der Mann setzte sich den blöden Hut wieder auf. «Ich kann es spüren. Na los, kommen Sie. Kommen Sie nur. Einmal herum im Kreis – und Tada! Die Sorgen werden vergessen sein.» Vlad ignorierte den Mann und verschwand im Inneren der U-Bahnstation. Er hatte weder die Nerven, noch die Zeit, um sich mit aufdringlichen Spinnern zu beschäftigen. Wenn es eine Sache gab, die er hier in Moskau gelernt hatte, dann war es durch andere Menschen hindurchzusehen. Niemand beachtete einen in Moskau. Fremde anzusprechen war in etwa so fruchtbar wie eine Partie Schach gegen eine Backsteinmauer. Man wurde ignoriert. Und so sollte es Vlads Meinung nach auch sein. Er wollte ignoriert werden. Seine Ruhe haben. Er wollte in der Menge verschwinden.   ------ Vlad stürmte in das zugestellte Großraumbüro, als wäre er ein Mann auf einer Mission. Eiligen Schrittes eilte er durch die Schneise der dicht an dicht gedrängten Schreibtische, den Blick starr auf sein Smartphone gerichtet und tat so, als würde er im Laufschritt eine superwichtige Mail an einen superwichtigen Kunden tippen. Dabei spielte er lediglich Candy Crush und musste dringend kacken. Diesen «Wichtiger Termin! Keine Zeit! Muss weg!»- Trick hatte er sich von seinem alten Vorgesetzten abgeschaut, der es Leid gewesen war, ständig auf dem Weg zu seiner Kaffeepause abgefangen und belagert zu werden - und sich aus Prinzip nur noch mit Lichtgeschwindigkeit durch das Büro bewegt hatte. Ein Jammer, dass sich der alte Mulochow zu Tode gesoffen hatte. Vlad hatte viel von ihm gelernt. Niemand hielt ihn auf dem Weg zur Toilette auf. Vlad sperrte sich in eine der kleinen Kabinen ein und atmete tief durch. Ihm war schlecht. Ihm war heiß. Er fühlte sich trotz der sinkenden Temperaturen verschwitzt, als wäre er im stickigen Hochsommer mehrere Kilometer gerannt. Sein Deo hatte längst versagt und er fluchte, als er nach einem kurzen Durchwühlen seiner Aktentasche kein Deospray finden konnte. Blieb nur zu hoffen, dass sein schweres Männerparfüm die Tatsache überdeckte, dass Vlad heute Morgen nicht geduscht hatte. Er hatte verschlafen, wie immer, wenn er in der Nacht zuvor zu viel getrunken hatte und beim Weckerklingeln seinen müden Körper nicht aus dem Bett bekommen hatte. Rasiert hatte er sich auch nicht, jedoch hatte er ohnehin keinen besonders starken Bartwuchs. Der leichte Schatten war verzeihbar. Seine Kleidung war sauber und das Haar frisch auf wenige Millimeter abrasiert. Er verstieß gegen keine Kleiderordnung. Selbst wenn, sollten sie ruhig alle auf ihn zeigen und ihre Witze reißen. Seine männlichen Kollegen hielten ihn ohnehin für einen Wichser, seine weiblichen Kollegen lästerten gerne darüber, dass er irgendwann wie der alte und versoffene Mulochow enden würde. Niemand mochte ihn. Ganz egal, ob er nüchtern auftauchte - oder noch ordentlich Restalkohol im Blut hatte. Immerhin hatte er an seinen Flachmann gedacht. Es half, wenn man den Pegel über den Tag hielt. Sobald der Körper den Alkohol abbaute, wurde es ätzend. Vlad hatte keine Nerven für lästige Kopfschmerzen. Nicht heute. Er versuchte schon seit einer Weile die Finger von dem Zeug zu lassen, ehrlich wahr, aber manchmal ging es einfach nicht. Vlads Mutter, die gerne vor ihren viel zu neugierigen Freunden so tat, als wäre ihr Sohn in Moskau furchtbar erfolgreich, rief inzwischen nur noch an, um ihm Vorwürfe zu machen. Du bist wie dein verdammter Vater, jammerte sie immer. Wobei Vlads Vater kaum etwas getrunken hatte, sondern komplett nüchtern für jeden Scheiß ausgerastet war. Er war ein echter Choleriker gewesen, durch und durch. Sein Sohn stand ihm da um nichts nach, wenn er seine Wut und Aggression nicht gerade betäubte. Alkohol machte Vlad überraschend ruhig. Suche dir endlich eine Frau, Vladja. Höre mit dieser einsamen Trinkerei auf. Ich höre doch, dass du schon wieder getrunken hast. Er wusste, dass er ein Problem hatte. Es gab einen Unterschied, ob man in der Runde auf Glück und Freundschaft anstieß - oder zu Hause alleine Wodka wie Fruchtsaft soff, während man sich einen Porno anschaute und nicht mal die Energie dazu fand, sich lieblos einen runterzuholen. «KERMIN!» Eine Tür knallte und Vlad erstarrte. Er war gerade dabei sich die Hose zu öffnen. «Kermin, verdammt! Sind Sie hier?» Vlads neuer Chef war Deutscher. Deutsch-Russe, um genau zu sein. Trotz seiner russischen Wurzeln war Eugen Iljins Russisch recht albern, zwar grammatikalisch korrekt, aber tonlos und abgehackt. Er hatte seine Jugend in Berlin verbracht, war für die Karriere nach Moskau gezogen und klang immer unzufrieden, selbst wenn er Lob aussprach. «Ja», sagte Vlad, sich langsam auf die Kloschüssel setzend. «Ich bin in einer Minute bei Ihnen.» Herr Iljin atmete tief durch. «Eine Minute», sagte er. «In mein Büro.» Dann marschierte er davon. Erneut knallte eine Tür. Vlad hasste diesen Kerl. Er nahm noch einen Schluck aus seinem Flachmann, ehe er sich die Hände wusch und sich auf den Weg zu seinem Chef machte. Das Gespräch mit Iljin verlief genau so, wie es Vlad befürchtet hatte. Der Wichser schrie ihn wegen der Sache mit den Barsukows an, die sich offiziell bei der Firma beschwert und im Netz eine schlechte Rezession wegen Betrug geschrieben hatten, und dann wurde das Arschloch wie immer ausfallend und persönlich. Er warf Vlad vor, dass er kein Teamplayer war, auf was auch nur ein Depp wie Iljin kommen konnte. Niemand hier war ein Teamspieler. Man spornte seine Mitarbeiter nicht mit Prämien an, damit sie friedlich an einem Strang zogen - sondern sich wie die Hyänen zerfleischten. Wer nicht kämpfte, ging unter. So einfach war das. So heftig sich Iljin auch aufregte, so schnell war das Donnerwetter auch wieder vorbei. Die Sache war geklärt und damit hatte es sich. Zumindest vorerst. Vlad wusste, dass er blind Motorrad auf einem Drahtseil fuhr. Er lieferte seit Monaten kaum Ergebnisse. Seine Kunden sprangen ab und Verträge liefen ins Leere. Es war, als würde auf dem einst mal erfolgreichen Versicherungsvertreter ein Fluch lasten. Er würde diese Nummer nicht ewig durchziehen können - irgendwann würde er stürzen und sich das Genick brechen. Den Rest des Tages verbrachte Vlad an seinem Computer, ignorierte jeden seiner gehässigen Kollegen und nahm das Telefon nur ab, wenn es eine externe Nummer war - oder Iljin. Eine giftige E-Mail eines Kunden, der ihn bereits mehrmals versucht hatte per Mail zu erreichen, wurde prompt unbeantwortet gelöscht. Sollte der Kerl anrufen, wenn es so wichtig war. Wieso telefonierte heutzutage eigentlich niemand mehr? Nach einem kurzen Blick auf seine jüngeren Kollegen kam sich Vlad direkt noch ein wenig älter vor. Klar, einunddreißig war kein Alter, aber die wenigsten Männer in seiner Familie waren älter als fünfzig geworden. Angeborene Herzfehler, cholerische Idiotie oder zu nervöse Abzugsfinger und schwere Depressionen dezimierten schon seit Generationen die männlichen Kermins. Vlad hatte, zumindest nach familiärem Standard, schon fast 3/4 seines Lebens hinter sich. Eine ernüchternde Bilanz, wenn auch reine Schwarzmalerei. Darin war er gut. Es schadete nie, mit dem Schlimmsten zu rechnen und dann beim Eintreten des Elends gelangweilt so zu tun, als wäre es Teil des großen Plans. Gegen Abend packte Vlad zusammen, verließ das Büro und machte sich auf den Weg nach Hause, wobei er in einem Spirituosengeschäft noch schnell etwas für den nächsten Tag besorgte. Er hatte morgen einen Kundentermin. Nüchtern verlor er zu schnell die Beherrschung, daher war Vorsicht besser als Nachsicht. Iljin hatte ihn immerhin auf der Abschussliste und ein Ausraster vor einem Kunden wäre der ultimative Todesstoß. In seiner kleinen Wohnung angekommen zog Vlad die Schuhe aus, ließ sich auf sein Sofa fallen und schaltete den Fernseher an. Er schaute einen Actionfilm, den er eigentlich ziemlich mies fand, bis fast zum Schluss fertig, weil er zu faul war nach der plötzlich verschwundenen Fernbedienung zu suchen. Wie tief konnten Sofaritzen eigentlich sein? Vlad war sich ziemlich sicher, dass in den Ritzen seiner Couch Wurmlöcher existierten, durch die sämtliche Feuerzeuge und Fernbedienungen verschwanden. Die letzten und vorhersehbaren zehn Minuten des Films schenkte er sich, ließ den Fernseher einfach laufen und ging duschen. Frustriert darüber, dass er die billige Kopie von Geilheit verspürte, jedoch keine richtige Lust auf seine eigene Hand hatte, kroch er ins Bett. Vier Stunden später ging sein Wecker. Vlad lag wach.   ------ Das Karussell war immer noch da. Diese Tatsache erstaunte Vlad, denn er hatte irgendwie damit gerechnet, dass es am nächsten Morgen verschwunden sein würde. Dass sich die Menschen den ohnehin schon zu knappen und überfüllte Platz zurückerobert hätten, keine Lust mehr darauf, sich um ein so albernes Hindernis herumzubewegen. Doch das Karussell war keine einmalige Sache, sondern drehte seine langsamen Runden. Die Kinder, die in dicke Jacken eingepackt auf den bunten Pferden saßen, wirkten wie ihre Leidensgenossen am Tag zuvor wenig angetan von der öden Fahrt. Vlad fühlte mit ihnen. «Na, wenn das nicht der Herr von gestern ist? Heute eine Runde gefällig?» Vlad biss die Zähne zusammen, als die ätzende Stimme neben ihm erklang. Genau wie gestern trug der Besitzer einen albernen Zylinder und eine alberne Fliege und grinste Vlad mit seinen schlechten Zähnen an. Es gefiel Vlad nicht, dass sich dieser ungepflegte Spinner an ihn erinnern konnte. Wobei, vielleicht war es nur eine Masche? Vielleicht sprach dieser Trottel jeden Erwachsenen am zweiten Tag an, als wären sie alte Bekannte. «Kommen Sie schon. Sie wollen es.» Der Mann tippte sich gegen die Nase. «Ich habe ein Gespür für Verlorene, hehe.» Sein Lachen war so schmierig wie die Strähnen fettigen Haares, die unter seinem zerdrückten Zylinder hervorlugten. Der Mann stank, was Vlad etwas zurückweichen ließ. Prompt krachte jemand gegen ihn. «Pass doch auf, Wichser!» Es war ein Mann in Vlads Alter, der sich ein teures Smartphone an sein linkes Ohr hielt und wenig von dem Zusammenprall angetan war. «Aber, aber», mischte sich der stinkende Spinner ein und zog seinen Zylinder vom Kopf. Er verneigte sich albern. «Mein Freund hier hat Sie nicht gesehen, guter Mann. Verzeihen Sie.» Der Mann mit dem Smartphone musterte den Spinner skeptisch, dann zuckte sein Blick zu Vlad. «Lutscht euch gegenseitig die Schwänze, ey.» Dann eilte er davon, laut in sein Smartphone prahlend, wie hart er es gestern irgendeiner Schlampe besorgt hatte. «Angeber ohne Anstand», sagte der Spinner, während er seinen Zylinder wieder auf seinen fettigen Kopf setzte. Er klopfte dem größeren Vlad auf den Rücken, als wären sie tatsächlich alte Freunde. «Eine Krone dem, der eine Krone verdient. Was ist jetzt, huh? Wollen Sie es nicht doch wagen?» «Warum?» Vlad wich gereizt vor der Hand zurück. «Wieso haben Sie diesem Idioten keine Fahrt angeboten? Sie scheinen ja kein Problem damit zu haben eine dicke Lippe zu riskieren.» Der Spinner lachte. «Warum?», echote er amüsiert. «Er will keine Fahrt. Im Gegensatz zu Ihnen.» Vlad setzte sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung. Es war dumm gewesen, auf den Spinner einzugehen. Er hätte einfach weitergehen sollen, nicht nach links oder nach rechts schauen, sondern einfach gehen, gehen, gehen. Ein Fuß vor den anderen. Kein Blick zurück. «Wir sehen uns morgen!», rief ihm der Spinner nach, dann lachte er sein ätzendes Lachen. He-He-He. Es klang wie eine Drohung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)