Kristallschmetterling von Morgi (Sesshoumaru / Kagome) ================================================================================ Kapitel 1: Knochenbrunnen ------------------------- Kristallschmetterling - Knochenbrunnen - Autor: Beta: - Fandom: Inu Yasha Genres: Drama, Romantik (Hetero), Epik, Alternate Timeline Disclaimer: Inu Yasha ist Eigentum von Rumiko Takahashi, ich verdiene hiermit kein Geld. Vorwort (Februar 2020): Herzlich Willkommen zu einer Reise durch die Sengoku-jidai, die Kagome und Sesshoumaru von Anfang bis Ende in Atem halten wird. Freut euch auf neunundvierzig spannende Kapitel! Bitte beachtet, dass diese Geschichte zu einer Zeit entstand, als im Manga noch viele Kapitel vergehen würden, bis Bakusaiga zum ersten Mal auftauchte und Rin bei Kaede blieb. Aber wer weiß? Vielleicht lernt der mächtige Daiyoukai sogar ein Menschenmädchen außer seiner Ziehtochter in seiner Nähe zu dulden ... - - - - - - - Anfang März, Japan, Neuzeit 1 Ein Flüstern erklang neben ihrem Ohr und Kagome fuhr so erschrocken vom Schreibtisch auf, als ob sie eine Wespe gestochen hätte. Ihr Blick schoss nach links, dann nach rechts – doch nein, nichts. Ihr Zimmer war vollkommen verwaist, solange sie die Schultasche auf ihrem Bett und die Papierseiten unter ihren Fingerspitzen ignorierte. Nur der schmale Kreis der Lampe warf weiterhin seinen beruhigenden Lichtkegel auf den Stift in ihrer Hand. Hatte ... hatte sie sich das gerade eingebildet? Kagome wusste, dass sie bereits seit vier Stunden über ihren Prüfungsvorbereitungen brütete und längst ins Bett gehörte, aber das erklärte ihr nicht den erfrischend lieblichen Geruch im Zimmer. Der Duft erinnerte sie an Kirschblüten, nein, an Magnolien. Doch wie war das möglich? Draußen war es kühl, daher hielt sie die Fenster geschlossen. Nachdenklich drehte Kagome den Kugelschreiber um die eigene Achse, dann legte sie ihn achtlos beiseite und stand auf. Ihre Augenbrauen verkniffen sich argwöhnisch, während sie wie eine Fremde durch ihr eigenes Zimmer schlich und jede Ecke inspizierte. Manchmal hob sie etwas auf, dann wiederum verschob sie mit der Fußspitze ein dickes Buch. Nach frustrierenden anderthalb Minuten gab sie es auf. "Du hörst Gespenster", murmelte Kagome. Sie rieb sich mit den Handflächen über das Gesicht, um die innere Unruhe zu vertreiben. Wahrscheinlich war sie bloß hoffnungslos übermüdet und wünschte sich etwas Gesellschaft, das erklärte alles. Kagome. Sie zuckte zusammen, heftiger als zuvor – dann sah sie es. In einer Ecke des grüngestrichenen Fensterrahmens glühte eine Kugel und erzeugte Schatten, die im Mondlicht wie Geister aussahen. Es war das mit Abstand Beunruhigendste, das sie seit Monaten in ihrem Zimmer gesehen hatte, doch damit nicht genug: Vorwarnungslos zuckte das Wesen zusammen und eilte fort, als ob es sich ertappt – Moment. Das war absurd. Licht kann sich nicht ertappt fühlen, dachte Kagome. Aber was war es dann? Verwirrt sah sie dem Gebilde zu, das an der Scheibe auf- und absprang, nur um dann wieder weich zu landen und zweimal aufzublitzen. Anschließend sandte es ein Flimmern aus, das blaue Strahlen über das Holz tanzen ließ, und begann das Spiel von Neuem. Also wirklich! Allmählich wurde es ihr zu albern. "Kann ich helfen?", fragte sie verärgert und das kleine Licht bremste mitten in der Bewegung ab, bevor es sich wie toll gebärdete. Kagome zog prompt eine Grimasse. Hätte sie bloß nicht gefragt. Wer wusste schon, was das werden sollte? Das Ding schien sie allerdings nicht angreifen zu wollen, es war völlig vertieft. Seltsam. "Ich hoffe, du bist nicht verrückt", erklärte sie dem Wesen. "Ich habe weder Lust dich zu läutern, noch meine Aufgaben wegen einer Spielerei zu vernachlässigen. Ich habe nächste Woche den wichtigsten Termin meines Lebens vor mir, hörst du?" Nichts. Kein Flüstern, kein einziges Wort. Alles, was die Lichtkugel auf der Fensterbank tat, bestand darin, enge Kreise neben einem Bonsai-Bäumchen zu ziehen, dem die Blätter ausfielen. Hatte es überhaupt gesprochen? Kaum, dass Kagome nah genug heran war, blitzte es jäh auf – und zischte am Ärmel ihres weißen Hakui vorbei, hinab auf den von Notizzetteln übersäten Boden, bis hin zur Zimmertür. Dort angekommen, flimmerte es wieder, als ob es kein Wässerchen trüben könnte. Kagome zog ihre Lippen unheilvoll zusammen. "Findest du das etwa witzig?" Das Licht sprang fröhlich auf und ab, bevor es abermals einen wilden Kreis beschrieb. Unglaublich! Nicht nur, dass sie sich Stimmen einbildete, nein, sie hatte auch noch einen Gast, der sie offensichtlich zum Narren halten wollte. Sie sollte lernen, verflucht! Und das bitte, ohne sich fragen zu müssen, wie irgendjemand ihr verschlossenes Zimmer durch ein verriegeltes Fenster betreten konnte. Sogar das Schlüsselloch war zu klein, um die Kugel passieren zu lassen. Sollte das eine Schnitzeljagd sein? Wurde sie vielleicht vor lauter Vokabeln und Lerninhalten gerade verrückt? "Hmpf." Falls ja, dann hatte sie sich das eindeutig anders vorgestellt; und auch wenn sie es nicht gerne zugab: Ein bisschen nagte es doch an ihrer Neugierde. Es passierte nämlich nicht jede Nacht, dass sie von Lichtern überfallen wurde. Und warum sollte sich ein boshaftes Wesen erst die Mühe machen, sie zur Weißglut zu treiben? Sie war eine Miko und hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich nach ihren abendlichen Pflichten und dem Fegen umzuziehen! Dazu war der Schrein in unmittelbarer Nähe, das sprach doch für sich. Nun gut, entschied Kagome. "Du hast fünf Minuten, ehe ich an meinen Schreibtisch zurückkehre. Ich öffne die Tür und folge dir, aber ich werde nicht rennen! Einverstanden?" 2 Eifrig sprang das Licht auf den Rand des Knochenfressenden Brunnens, während Kagome mit geröteten Wangen durch die Eingangstür stolperte und endlich die Hände auf die Oberschenkel stützen konnte. Ihr Atem ging flach, schnell und brannte in ihrer Kehle. Vielleicht ... vielleicht war sie doch gerannt. Aber nur, weil ich nicht ewig in dieser Eiseskälte herumspazieren wollte, dachte sie trotzig. Schnaubend zog sich Kagome den Koshihimo über der Hüfte fester, bevor ihre dunkelbraunen Augen wieder nach ihrer Nemesis suchten. Als ihr Blick jedoch auf das Geländer traf, wurde ihr schlagartig bewusst, wohin man sie geführt hatte – und schneller, als sie die Lippen zusammen beißen konnte, überzog ihre Unterarme eine Gänsehaut. Oh nein! Nein, wiederholte sie stumm. Auf keinen Fall würde sie länger als einen Atemzug in der Nähe des Knochenfressenden Brunnens verweilen. Das Gestein war inzwischen von Moosen und Flechten überwuchert worden, aber deshalb mied sie diesen Ort nicht seit drei Jahren. Die Erinnerungen, die in ihr hochkochten, schnürten ihr die Kehle zu. Mühsam ballte Kagome die Finger zur Faust, während der Schemen in langen Bahnen über Wurzeln und düster wirkende Skelettknochen sprang. Die Kälte des Schreins, die sich in weißen Atemwölkchen vor dem Gesicht der Miko zeigte, überging die Lichtkugel völlig. Sie tanzte eifrig weiter, tauchte hinab in die Untiefen der Zisterne und sprang genauso schnell wieder hinaus. Jedoch, nichts geschah. Kagome trat weder einen erhofften Schritt näher, noch ging sie von dannen. Sie starrte auf die Rillen des Bodens und die Holztreppenstufen; völlig blind für den stärker werdenden Geruch der Magnolien oder den Schmutz, der auf ihren weißen Tabi lag. An anderen Tagen hätte sie darüber geschimpft, denn wenn ihre Söckchen während des Fegens Staub abbekamen, stand dahinter nur ihre eigene Unachtsamkeit. Als Priesterin des Higurashi-Schreins versuchte sie, diesen Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Das, was damals jedoch geschehen war ... Kagome atmete ein, aber es war zu spät, um die Erinnerungen weiter im Zaum zu halten. Sie spülten über sie hinweg und zogen sie zurück in die Vergangenheit, hin zu einem Ort, an dem ein einzelner Blitz die Nacht zerriss. Und dann war alles wieder da. Die Sengoku-jidai wurde wieder so lebendig, als ob sie nie fortgegangen wäre: Sie roch erneut den Regen, der kalt und dicht auf ihre Haut prasselte, und spürte den Schlamm unter ihren Nägeln, als sich die vertrauten Züge des Hanyous aus dem Nebel schälten. Inuyasha. Ihr lieber, teurer Freund. Nie hätte sie vermutet, dass er nur sieben Sätze benötigen würde, um sie zu erschüttern. Sieben kurze Sätze. Dieser Hund! Grimmig biss sich Kagome auf die Lippen, während sie die Augen im Diesseits öffnete und den weißhaarigen Halbdämon dafür verfluchte, dass weder er noch sie hatten ahnen können, wie Recht er mit seinen Worten behalten sollte. Er war fortgegangen – zu den Toten; aber das war nicht seine Entscheidung gewesen. Und ihre? Oh, als ob sie zu solch einer Tat fähig wäre! Sie hatte genug von diesem Ort und den Schrecken, die er mit sich brachte. Kagome wandte sich ab, doch ehe sie auch nur den ersten Schritt gesetzt hatte, um die Lichtkugel sich selbst zu überlassen, fuhr sie zusammen: Da! Da war es schon wieder! Direkt vor ihrer Nase, und ... unmöglich. Die Miko schluckte trocken, während sich feine, blaue Wellen im Innern des Schreins ausbreiteten, als ob jemand einen Stein auf eine Wasseroberfläche geworfen hätte. Die Erkenntnis nahm ihr allen Wind aus den Segeln, denn sie fühlte sich blind und fürchterlich naiv: Das war keine Lichtkugel, sondern ein Shikigami. Ein geisterhafter Bote, der sich vor ihren Augen als Schmetterling entpuppte! Warum hatte sie das nicht schon viel früher bemerkt? Es war doch eindeutig. "Wer hat dich geschickt?", fragte Kagome. "Und warum ausgerechnet jetzt? Es ist weit nach Mitternacht." Kagome. Die hauchdünnen Fühler, auf denen hunderte, winzige Härchen saßen, reckten sich neugierig in ihre Richtung, während die staubbedeckten Flügel so schnell auf- und abschlugen wie es kein irdischer Falter vermocht hätte. Dann tauchte der Schmetterling abermals in die Zisterne hinab – und Kagome verstand nur zu gut. "Oh nein", erklärte sie wütend. "Wenn du mich deshalb hierher gebracht hast, war das Zeitverschwendung. Dieser Hokuspokus findet ohne mich statt. Auf Wiedersehen!" Sollte sich der Falter doch eine andere Dumme suchen, die Brunnen liebte und durch die Zeiten sprang, um dort Dämonen gegenüberzustehen und Freunde zu verlieren. Bei ihr war mit einem solchen Vorhaben kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Zornig schritt Kagome aus, woraufhin der Shikigami enttäuscht seine Flügel hängen ließ, bevor er noch aufgeregter um sie herumflatterte. Das war doch nicht zufassen! Kagome versuchte einen Bogen um ihn zu schlagen, aber das Ergebnis blieb dasselbe. Der Schmetterling verlor weder den Eifer, noch war er zu verscheuchen: Sie schlug nach ihm, und er tauchte zwei Zentimeter später direkt vor ihren Wimpern auf. Sie ging drei Schritte und er flog ihr obendrein ins Gesicht, bis sie dank der verlorenen Staubsporen niesen musste. Zur Hölle nochmal! "Ich sagte nein", wiederholte Kagome gepresst. "Hör auf! Verschwinde endlich!" Eindringlich hob der Shikigami einen Fühler empor, doch die Miko lief verärgert eine Schleife, nur um ihn einen Herzschlag später wieder vor dem Gesicht zu haben. Langsam riss ihr der Geduldsfaden. Was war an einem simplen 'nein' so schwer zu verstehen, dass man sie nicht einfach ziehen ließ? Schlimm genug, dass sie wegen diesem Mist überhaupt aus ihrem gut geheizten Zimmer gegangen war! Der Shikigami ließ sich jedoch auch nicht von ihrem blutrünstigen Gesichtsausdruck einschüchtern. Ganz im Gegenteil. Emsig flatterte er ein Stück empor, bevor er auf- und abtanzend wieder in die andere Richtung deutete. Vielleicht war es ja wirklich wichtig? Nein, das ist es nicht, berichtigte sie sich prompt und schüttelte den Kopf. Soweit kam es noch, dass sie sich wegen eines Schmetterlings in das Mittelalter zurückbegab. Eher würde sie den Hof mit ihrer Zahnbürste säubern! 3 Eine Stunde. Eine verflixte Stunde hatte es gedauert, dann war ihre Laune an einem Tiefpunkt angelangt, der von Wut und Abscheu geprägt war. Kein Mensch ertrug dieses Geflattere länger, und obwohl es Kagome nicht schmeckte, hatte sie ihren Versuch aufgegeben, zehn weitere Zeilen unter die Prüfungsvorbereitungen zu setzen. Ihr war kein Mittel eingefallen, um das Summen und Surren zu bändigen. Und sich ein Kissen auf die Ohren zu drücken, während man in der anderen Hand den Kugelschreiber hielt, grenzte an Lächerlichkeit. Eisern fixierte Kagome nun zum zweiten Mal in dieser Nacht den Brunnenrand, um den der Shikigami aufgeregt herumflog, bevor er wieder und wieder abtauchte. Dieses Biest! Es wusste doch nicht, was es da von ihr verlangte! Andererseits würde sie ihn auch nicht mehr loswerden, denn dass der Falter genauso hartnäckig war wie sie, hatte er ausdrücklich unter Beweis gestellt. Zähneknirschend schloss sie ihre Augen und kämpfte gegen das flaue Gefühl in ihrem Magen an. Sie hatte ihrer Mutter einen Zettel geschrieben, der nun direkt neben dem Korb frischer, leuchtend roter Äpfel auf der Küchentheke lag. Seit Großvaters letzter, schwerer Erkältung, die ihn über Tage fiebernd und keuchend an den Futon gefesselt hatte, war ihre liebe Mama die Erste, die pünktlich zum Sonnenaufgang das Wasser für einen frisch gebrühten Tee aufsetzte und dabei unbekümmert eine Melodie summte: Kagome wollte nicht, dass sie das schwere Lacktablett erst bis in ihr Zimmer trug, dort über ihr verwaistes Bett stolperte und sich dann Sorgen machte. 'Ich bin bald zurück.' Der Satz erfüllte sie mit Zuversicht, denn dieses Versprechen würde sie halten. Sie war keine fünfzehn mehr, sodass sie sich mit ihrem Rucksack davonstahl und tagelang nichts von sich hören ließ, weil ihr die Abenteuer im Mittelalter und Inuyasha, ja, auch all ihre Freunde den Abschied erschwerten. Dieses Mal würde sie keinen einzigen Tag fortbleiben, schwor sie sich stumm. Dann sprang sie. 4 Mit einem verbissenen Schnaufen stemmte sich Kagome empor, nur um im nächsten Moment fast wieder den Halt zu verlieren. "Grundgütiger!" Der Geruch, der ihr entgegen schlug, war brackig, fast ekelerregend. Von der einst üppigen Wiese waren nur noch abgerupfte Halme übrig geblieben, aber das Unheimlichste war der dichte, modrige Dunst, der sich wie ein Teppich an den Erdboden schmiegte und Baumstümpfe umschmeichelte. Dank der fehlenden Wipfel konnte Kagome den Heiligen Baum erkennen, der viele Dutzend Meter entfernt in den Himmel ragte und als einziger unversehrte Konturen zeigte. Der Anblick wühlte sie auf. Hinter ihm zeichnete sich der nachtschwarze Horizont ab, über den Rauchwolken tanzten. Was war hier geschehen? Erschüttert sah sie zurück zum Shikigami, doch der war auf einmal wie vom Erdboden verschluckt. Ihr Kopf ruckte in die andere Richtung. Nichts. Hä? Verunsichert kniff sie die Brauen zusammen, bevor sie sich restlos über den Rand hievte und inmitten von Asche aufkam, die kurz emporstob, bevor sie erneut auf ihrem alten Platz landete. Auch wenn ihr eine innere Stimme dazu riet, so schnell es nur ging umzukehren: Sie konnte nicht verschwinden, ohne zu wissen, was sich hier abgespielt hatte. War ein Brand dafür verantwortlich? Ein Youkai? Wachsam schritt sie aus. Trotz des Rußes an den Pflanzenresten gab es keine Glut und auch keine Hitze, die sich in ihre Wangen fressen konnte, aber die Miko spürte, dass irgendetwas in der Luft lag, das nicht hierher gehörte. Eine solche Nacht hatte sie noch nie erlebt. Wo war dieser vermaledeite Schmetterling? Erst ein kurzes Keuchen am Rande ihrer Wahrnehmung lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zu den Nebelschwaden, die sich keine Handbreit von ihr entfernt anschlichen. Entsetzt wich sie zurück; lauerte darauf, dass der Dunst ihr erneut entgegenkroch. Als nichts dergleichen passierte, verwarf sie die Möglichkeit gerade einem besonders gerissenen Dämon auf den Leim zu gehen. Das fehlte ihr auch noch! Sie war unbewaffnet. Kagomes Herz klopfte schneller, während sie sich umso hartnäckiger auf ihre Instinkte konzentrierte. Es musste eine bessere Erklärung geben – einen Hinweis! Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich allein herumirrte? Das Dorf konnte nicht weit entfernt sein, obwohl die Silhouetten der mit Reisig bedeckten Hüttendächer fehlten. "Ist da jemand?“, rief Kagome und ein weiteres Knistern ihrer Schritte verschluckte fast die Stimme. Dann stieß sie gegen etwas Hartes, das mit einem leisen Poltern weiterkullerte und ein schmerzhafter Stich in ihrem Fuß mahnte die Miko, dass sie in Zukunft besser Acht gab, wohin sie trat. "H-hallo?“, klang es dünn zu ihr zurück und Kagome hielt abrupt inne sich zu verfluchen, während sich ihre Pupillen weiteten. "Sango!“, entfuhr es ihr heiser und wie zur Antwort konnte sie abermals ein flüchtiges Klirren hören, bevor sich der Nebel schlagartig auflöste. 5 Wie eingefroren starrte die Miko auf die Dämonenjägerin hinab, der ein Rinnsal Blut zwischen den Lippen hervorquoll. Der Anblick war so verstörend, so ungeheuer entsetzlich, dass sich ihr Herz ohne Vorwarnung zusammen zog. Wie ... wie hatte es so weit kommen können? Zitternd umklammerte Sango eine Schwertlanze, deren blattförmige Klinge sie knapp unterhalb des ersten Rippenbogens durchdrungen hatte. Noch immer flatterte ein gelbes Band im Wind und Kagome brauchte keine Fantasie, um zu wissen, dass die Einlagen am Heft, die mit Rochenhaut bespannt worden waren, von einem übermächtigen Gegner stammen mussten. Das Ächzen ihrer Freundin ging ihr durch Mark und Bein, als Sango alle Reserven aufbot, den Griff fester packte und sich Blut würgend auf den Ellenbogen stemmte. "Nicht", entfuhr es Kagome heftig. "Du machst es schlimmer, Sango! Nicht bewegen!" "Was?" Die Dämonenjägerin keuchte, dann fuhr sie sich mit dem verdreckten, bebenden Handrücken über den Mund. In ihrem Rücken knackten die Überreste einer verbeulten Rüstung, und es war ein dumpfer, unheimlicher Laut, als sie auf das Metall zurückfiel. Fieber glänzte in ihren Augen, während sie in ihren eigenen, schmutzverkrusteten Lederkleidung ausharrte und nach der Stimme suchte, die sich ihr bald als Schemen empfahl. Dann schwoll unübersehbar Zorn in ihrer Brust an. "W-wer hätte das gedacht?", zischte Sango dünn. "Kagome." 6 Das Blätterrauschen umspielte die dichten Wipfel der Zedern und des Fächerahorns, ehe ein Windstoß durch die Knospen fuhr und eine Handvoll Blüten mit sich riss. Erst an den feinen Haaren eines Schulterfells blieben sie haften. Unbewegt wankten sie hin und her, doch der Daiyoukai warf kaum einen Blick auf die Überreste, ehe er seine goldenen Augen zurück auf das Gesicht des Magnolienbaums richtete. Bokusenou war der älteste und weiseste Geist in diesen Gefilden, und wann immer er ihm die Aufwartung machte, schienen die Furchen noch tiefer unter seinen Augenhöhlen zu graben. "Es gibt Dinge, die liegen selbst für mich im Schatten, Sesshoumaru", knarzte Bokusenou. "Vielleicht –" Oh. Das Knacken eines Astes ließ den Baumgeist verstummen, und dieses Mal sah der Hundedämon genauer hin. Ahnungsvoll zog Sesshoumaru die Brauen zusammen, während sich ein dunkelhaariges Mädchen laut schniefend durch einen Haselnussbusch zwängte und auf ihn zulief, um keinen Meter entfernt stehen zu bleiben. Rin. Niemand sonst hätte es gewagt, sich ihm derart zu nähern. Ihr gelb-orange karierter Yukata hing so unglücklich an ihren Schultern herab, dass sie ihre Hände nicht mehr zu Fäusten pressen musste, damit er ihre Stimmung erriet. "Sesshoumaru-sama!", quengelte Rin. "Jaken sagt, wenn ich nicht bald ruhig bin, kommt ein Dämon und frisst mich! Dabei bin ich ganz leise! Das bin ich doch, oder?!“ Ihre großen Augen sahen ihn beschwörend an, als könnte seine Antwort jede Bedrohung in die Flucht schlagen und ihre Hoffnung erneuern. "Du solltest schlafen, Rin", erwiderte Sesshoumaru, aber das Mädchen schnappte nur empört nach Luft. "Ich kann doch nicht schlafen, wenn mich gleich ein Dämon frisst!", erklärte sie, bevor sie schmollend die Unterlippe vorschob. Der Herr der Hunde seufzte innerlich. Was für ein lächerlicher Einwand. Hatte es einen Sinn, ihr zu erklären, dass schwache Oni ihre Beute attackierten, sobald sie sich überlegen wähnten? Wach zu bleiben, sicherte nicht den nächsten Morgen. Dennoch verriet Sesshoumaru das Rauschen der Wipfel, dass zumindest einer der Anwesenden amüsiert schien. Vergnügt fuhr sich der Baumgeist mit einem langen Ast über die Rinde. "Dein Welpe scheint wie du nachtaktiv zu sein“, erklärte Bokusenou bedächtig. "Es sollte mich wundern, wenn –" "Seht nur, Sesshoumaru-sama!", rief Rin aufgeregt dazwischen und deutete auf eine tanzende Lichtkugel, die über dem Schulterfell des Hundeyoukais tanzte. "Ist das schön!" Sesshoumaru musterte mit einem Seitenblick das schillernde Wesen, das nun mit einem Ruck vor seiner Nase auf- und abflog, bevor es einen Kreis vor seinen schmal gewordenen Lippen beschrieb und hinab zu Rin huschte. „Ein Shikigami?“, mutmaßte Sesshoumaru gedämpft und das Ächzen Bokusenous gab ihm Recht. Doch bis auf dieses Geräusch war es urplötzlich still geworden im Heiligen Wald. "Seltsam", murmelte der Baum düster. "Sehr seltsam." Kichernd langte Rin nach dem leuchtenden Wesen, das einige Male vergnügt aufblitzte, bevor es innerhalb von Wimpernschlägen ihre Haare mit blauen Sporen benetzte, in die Luft stieg und dann trudelnd wie ein Ahornblatt auf ihrer Nase landete. "Ein Schmetterling", flüsterte Rin verzaubert und versuchte alle Einzelheiten des Shikigamis gleichzeitig einzufangen. Sie hob die Hände zu ihrem Gesicht, doch kurz bevor sie den Falter berühren konnte, schlug er abrupt mit den Flügeln und wirbelte in einer Spirale empor. Rin kicherte heiter. So ein herrliches Spiel aber auch! Hoffentlich blieb er noch, bis Jaken und Ah-Uhn ... huch? Zu ihrer Enttäuschung schien sich der Schmetterling lieber abseilen zu wollen, denn mit federnder Leichtigkeit glitt er zurück zum Daiyoukai. Ein beschwingter Kreis nur, dann schwebte der Bote vor Sesshoumarus Gesicht – musterte, forschte. Am Ende entschwand er unter einem fast überstürzten Flügelschlag Richtung Osten. Rin sah dem Wesen traurig nach. "Kommt er wieder, Sesshoumaru-sama?“, fragte sie sehnsüchtig, doch der Hundedämon strich sich mit den Klauen lediglich durch das weiße, aufgebauschte Schulterfell. "Kaum", meinte er und sah Rin dabei zu, wie sie die Stirn skeptisch in Falten zog. Das ist aber keine tolle Antwort, vermittelte sie stumm. "Schlaf", ordnete Sesshoumaru finster an. Die Neunjährige reckte protestierend das Kinn vor, doch als er unmissverständlich den Kopf neigte, trollte sie sich lieber. Kaum, dass die Kleine jedoch im Gewirr der wuchernden Farne und Büsche verschwunden war, spähte sie vorsichtig zurück zur Lichtung, wo der Baumgeist auf Sesshoumaru-sama einzureden schien. Bedauerlicherweise verstand sie kein Wort, obwohl sie nur zu gerne gewusst hätte, warum sich die Luft mit Groll auflud und weiße Blitze um ihren Meister zu tanzen begannen. Die Gräser unter ihren nackten Füßen erzitterten ohne jede Brise, bevor sie sich knisternd an den Grund schmiegten. Das Vorzeichen kannte sie; es stellte ihr bis heute die feinen Härchen im Nacken auf: Seine dämonischen Energien regten sich. Für sie war das ungefährlich, doch für andere ... hm! Abgelenkt huschten Rins Augen weiter: Sie musterte den schmalen Pfad, den der Shikigami genommen hatte. Während sie sich über die kribbelnden Unterarme rieb, reifte ein Gedanke heran. Ob es den beiden auffiel, wenn sie nur ganz kurz nachsah, ob der Schmetterling nicht doch noch in der Nähe geblieben war? Bestimmt nicht, oder? Natürlich waren die beiden Dämonen, welche ihre menschlichen Sinne in den Schatten stellten, doch Sesshoumaru-sama hatte ihr nicht verboten, ohne einen kleinen Umweg zu Ah-Uhn zurückzukehren. Außerdem würde sie der zweiköpfige Drache bald besorgt suchen kommen, sodass sie schneller wieder im Lager wäre und schliefe, als sie ein Blumenmuster in den Sand zeichnen könnte. Ja, das klang gut! Entschlossen bog das Mädchen in den Seitenpfad ein, der von dichten Wurzeln, Moosen und Pilzen überzogen war, als sie ein kurzes, blaues Blitzen über einem Eichenzweig bemerkte. Ha! Hatte sie es doch gewusst! - - - - - - - Wer wittert Probleme? Kapitel #2, "Weissagung", fördert einige unschöne Ereignisse zu Tage. Kapitel 2: Weissagung --------------------- Kristallschmetterling - Weissagung - Autor: Beta: - Fandom: Inu Yasha Genres: Drama, Romantik (Hetero), Epik, Alternate Timeline Disclaimer: Inu Yasha ist Eigentum von Rumiko Takahashi, ich verdiene hiermit kein Geld. - - - - - - - 7 "Verschwinde!", fauchte Sango und für einen Moment glühte in ihren braunen Augen das alte Feuer der Dämonenjägerin auf, bevor ihr der Schmerz die Sinne raubte. Ihr Oberkörper erzitterte, dann ein Gurgeln, ein Wimmern, ehe sie den Kopf zur Seite warf und einen Schwall blutiger Klumpen erbrach. Das Geräusch war so widerlich, dass sie das Gesicht verzog. Würgend rang sie nach Fassung. Die mit Speichel durchsetzten, seimigen Fäden hingen an ihrem Kinn fest, während sie stoßweise den Atem zwischen den Zähnen hervorpresste. "Komm ... komm nicht näher", warnte sie, während ihre Hand den Schwertlanzengriff weiter unten packte. Die Waffe stach aus ihrem Fleisch hervor, als wäre sie ein gebrochener Knochen und hätte mit ihrer Kurzatmigkeit nichts zu schaffen, doch sie wusste es besser. Ihr Bellen klang wie ein waidwundes Tier: "Was gibt es noch zu starren, Kagome? Ich sagte –" Sie riss die Augen auf, ehe statt der Drohung alles in ihr zu rebellieren begann und der Brustkorb wie eine Apfelsine zusammenschrumpfte. "Sango!" Kagome war binnen eines Herzschlags über ihr und versuchte, sie davon abzuhalten, den Oberkörper weiter zu krümmen und damit das Blatt der Lanze tiefer zu treiben, doch ihre Berührung an der Schulter setzte einen Zorn frei, als habe sie ihr die Glut einer Kohlenpfanne in das Gesicht gefegt. Jäh wich Kagome vor der um sich Schlagenden zurück, ehe sich die Dämonenjägerin wie ein Insekt am Boden wand. "Ich sagte, du sollst mich nicht anfassen!", heulte Sango auf. "Ich weiß genau, wofür du gekommen bist, du elende Heuchlerin!" "Wovon zur Hölle redest du? Du bist verletzt und brauchst einen Heiler! Was ist nur in dich gefahren?" Aufgebracht musterte Kagome das einst so vertraute Gesicht, auf dem sich Staub und Dreck abzeichneten. Das Fieber brachte deutlich sichtbare Schweißperlen auf der Oberlippe, aber das verächtliche Schnaufen nährte andere Befürchtungen: Diese Wut, die Unterstellungen; das war verrückt! Wie konnte es soweit gekommen sein? Sango lag keine Handbreit entfernt, aber zwischen ihnen schien eine unsichtbare Mauer aufzuragen. Wo steckten bloß ihre anderen Freunde: Miroku, der tapfere Mönch, und der kleine Fuchsdämon Shippou? Fahrig starrte Kagome über Sangos Kopf hinweg in den Nebel, der in dicken Schlieren vom Erdboden aufstieg. Außer der Silhouette des Goshinboku und einer davonfliegenden, gewaltigen Krähe konnte sie allerdings niemanden entdecken. Sie wollte nach den Pfotenabdrücken der gewaltigen Dämonenkatze Kirara suchen, aber der höhnische Laut aus Sangos Kehle polterte dazwischen. "Gib dir keine Mühe. Ich bin die Letzte", zischte sie. "Überrascht dich das? Miroku hat mich vor dir gewarnt. Ich wusste, dass du zurückkommen würdest ... immer und immer wieder, bis du es beendet hättest. Ich weiß über alles Bescheid, Kagome. Über alles." Ihr Lachen wirkte so kläglich wie das Husten eines Flohs und ließ Kagome hilflos zurück. Sie hatte sich während des Hinaufkletterns im Knochenbrunnen davor gefürchtet, einem ihrer alten Weggesellen erklären zu müssen, wieso sie drei Jahre wie vom Erdboden verschluckt worden war. Doch das stellte alle Ängste in den Schatten. Warum benahm sich Sango, als sei sie der Feind? Wo um alles in der Welt war sie hier gelandet? "Kagome!", jauchzte es da und noch ehe die Angesprochene zusammengefahren war, tauchte neben ihrer Schulter ein überglückliches Gesicht auf. Der Impuls es entsetzt anzuschreien, verpuffte in einem Geistesblitz. "Rin?", flüsterte Kagome ungläubig. "Ja", frohlockte das Mädche, bevor sie sich mit dem Handballen über die Wange rieb. Die dunkelbraunen, dicken Strähnen und der Zopf umrahmten Züge, in denen die Augen wie Kastanien leuchteten, dann gesellte sich auch schon das karierte Muster des Baumwollkimonos dazu, weil Rin leichtfüßig vorwärts sprang und sie umrundete. "Ich dachte, ich wäre ganz allein auf der Wiese!" Wiese? "Wovon redest du?", fragte Kagome. "Hier sind doch keine –" Sie stockte, unfähig zu glauben, was ihr der Blick zurück offenbarte. Dort, wo sie erwartete Asche zu sehen, war nichts weiter als duftendes, grünes Gras, das sich bis zum Horizont erstreckte, bis die Haselnussbüsche und Zedern die Waldlinie säumten. Keine Sango, kein Speer, nicht einmal ein Nebelfetzen war zurück geblieben. Sogar der Himmel über ihr war in ein malerisches Rot getaucht und sanfter, als sie ihn in Erinnerung hatte. Ging die Sonne gerade auf? Unter? Wo war die Zeit geblieben? Sie hatte ihr Zimmer kurz nach Mitternacht verlassen! "Ich glaube, ich werde verrückt", raunte Kagome wie betäubt, ehe sie hölzern auf die Beine kam. Ihre Unterschenkel zwiebelten unangenehm, während sich das Blut bis in ihre Zehenspitzen verteilte und das Gefühl vertrieb, auf Butter zu laufen. Doch das erklärte nicht die Übelkeit in ihrem Magen. Die Sorge grub sich durch ihre Eingeweide, während sie sich einmal um die eigene Achse drehte und nach der Dämonenjägerin suchte. Ihr Verstand biss sich an dem Erlebten die Zähne aus. Träumte sie gerade? War sie über ihren Notizen eingeschlafen? Aber warum hatte sie dann das Gefühl, als ob in ihrem Haar immer noch Asche klebte? Angespannt fuhr sich Kagome durch die Mähne, doch mehr als Rins Glucksen erntete sie dadurch nicht. "Du bist bestimmt nicht verrückt", behauptete Rin verschmitzt. "Jaken-sama verkündet auch ständig, dass er das bald wird, aber auf mich wirkt er noch ganz vernünftig. Und schau, der hübsche Schmetterling scheint mir zuzustimmen!" Schmetterling?! So rasch, als ob sie sich an dem Gedanken verbrannt hätte, fuhr Kagomes Kopf in die Richtung, in die Rin zeigte. Keine Sekunde später sah sie ihre bitterböse Vorahnung bestätigt. Da flatterte er, der Übeltäter! Hatte er ihr diese scheußliche Halluzination eingebrockt? Diesen Albtraum? Oh, dieses heuchlerische, elende –! "Kagome?", riss Rin sie erneut aus den Gedanken. "Ja?" Die Miko ließ von ihrem Einfall ab, dem Shikigami unter wüsten Beschimpfungen die Flügel auszureißen, bevor sie die Tränen der Erleichterung mit einem Schlucken vertrieb. Solange Sango nicht schwerverletzt war, bestand dazu nämlich kein Grund! Himmel, warum war sie überhaupt hierher gekommen? Sie hätte wissen müssen, dass es noch mehr in dieser Zeit gab, das ihr Angst und Bange werden ließ als der Gedanke an Inuyasha. Ihr lieber, halsstarriger Hanyou. Jetzt fehlte nur noch Rins Begleiter – Oh Gott. Prompt saß ihr ein Kloß im Hals und ihr Puls schnellte in die Höhe, während sie an aufgebauschtes Schulterfell und eine Eleganz dachte, die ihr ohne mit der Wimper zu zucken die Kehle öffnen konnte: War Sesshoumaru auch hier? Wusste er vom Tod seines Halbbruders? Dann erklang ein tiefes Grollen, welches Kagome mit einem umso jäheren Kieksen beantwortete. Beim Herumwirbeln begriff sie, dass ihre Fantasie mit ihr durchging: So klang kein Daiyoukai, so ... so klang ein hungriger Magen! "Entschuldige", brach es kleinlaut aus Rin hervor, die beide Hände hinter dem Rücken hielt und verlegen auf den Füßen wippte. "Ich wollte dich damit nicht überfallen, aber ich bin die halbe Nacht gelaufen und hatte außer einer Handvoll Beeren noch nichts." "Warum?", hakte Kagome ein. "Warum ich gelaufen bin?" "Nein", widersprach die Miko kopfschüttelnd. "Warum bist du allein unterwegs? Du bist doch allein, oder?" "Oh, das ... also ..." Rin runzelte die Stirn, bevor sie mit geschürzten Lippen zu einem Farnkraut sah, auf dem sich eine Schnecke entlang schob. Wie sollte sie das erklären? Sie hatte sich auf Ah-Uhns Talent verlassen, sie wieder aufzuspüren, nachdem sie dem Schmetterling hinterhergeeilt war. Unvorsichtig und gutgläubig wollte sie jedoch nicht klingen: "Ich ... also ... ich bin vorausgegangen!" "Wirklich?" Kagome hegte Zweifel, aber sie versuchte sich mit einem Lächeln zu retten. Die Anwesenheit des Falters stimmte sie unruhig genug, und bislang konnte sie sich keinen Reim daraus machen, warum ausgerechnet Rin seine Bekanntschaft geschlossen hatte. Das Mädchen war älter geworden, ja, bestimmt einen ganzen Kopf größer, aber sie schien sich trotzdem heimisch zu fühlen und tänzelte wie ein Reh von einem Fuß auf den anderen. Ob Rin ihr den Shikigami in die Neuzeit geschickt hatte? Doch wie sollte sie so etwas beschwören können? Brauchte sie bloß etwas Zeit, um einen Anfang zu finden? Nun, vielleicht taute sie bald auf. "Ich verstehe. Wir werden wohl besser etwas zu essen suchen, oder?" Rins Augen blitzten prompt. "Zusammen?" "Natürlich", bestätigte die Miko. Wenige Minuten später versank sie in dem Fragenspiel Rins, die abwechselnd auf Wurzeln und schimmernde Pilzkappen deutete. Beinahe wäre Kagome nicht aufgefallen, wie viel Abstand der Shikigami zwischen sich und ihnen wahrte: Manchmal schlüpfte er in die Baumkronen und hielt sich nahe der roten Ahornblätter, ein andermal duckte er sich hinter Farnkraut und wartete, bis sie fast völlig außer Sichtweite verschwanden. Seltsam ... 8 "Oh verschont mich, Sesshoumaru-sama! Ich schwöre Euch, sie kann nicht weit sein!", krächzte Jaken, während sein faltiges, grünes Gesicht der Länge nach im Staub klebte und er aussah, als ob er anwachsen wollte. Zitternd vor Angst hatte er beide Hände von sich gestreckt und eine Schweißperle rann über sein Gesicht. Wie hatte ihm das nur passieren können? War ihm sein Leben so gleichgültig geworden? Heftig schluckend sank Jakens Haupt noch etwas tiefer hinab, während er verzweifelt auf ein Wunder hoffte. Gnade! Aber der Herr der Hunde, sein Meister, hatte sich noch nie um seine Wünsche geschert. An all dem war nur die liederliche Göre Schuld. Und er selbst, verflucht! Wieso war ihm ihre Abwesenheit nicht früher ins Auge gestochen? Die Stille hätte ihn stutzig machen müssen, ihn vor Freude oder Panik zum Schreien bringen sollen, aber nein, stattdessen war er beim ersten Frühlicht aufgestanden, um sich ausgiebig zu strecken. Kein Meister in Sicht, kein zweiköpfiger Drache – nur er, der sich selbst die Blätterreste aus den Kleidern klopfte. Das anschließende Feuerholzsammeln hatte ihn glücklich gestimmt und bei seiner Rückkehr ein Liedchen trällern lassen, bevor ihn der Daiyoukai aus dem Nichts am Kragen gepackt und emporgehoben hatte. Und dessen Blick! Sesshoumaru-samas Augen hatte ihn durchbohrt und er, ein kleiner Kappa, war noch blasser als die hellste Seerosenblüte geworden! Warum mussten seine Glücksgötter ausgerechnet heute wie vom Erdboden verschluckt sein? "Jaken." "J-ja?" "Komm." Augenblicklich schnellte Jakens Kopf empor, dann nickte er hastig und sprang auf die kurzen Beine. Sein brauner Kariginu zeigte am Kragen noch die Spuren der Hundeklauen, aber daran verschwendete er kein erbostes Gebrabbel. Die gesammelten Holzreste zu seiner Linken interessierten ihn noch weniger! Ha, Feuer! Wer brauchte schon Feuer? Wollte er sich selbst wie eine Forelle von seinem Meister grillen lassen? Nein, natürlich nicht. Fieberhaft eilte er durch das Lager, um die Habseligkeiten an sich zu reißen und die Schlinge um seinen Hals nicht noch enger zu knüpfen. "Sesshoumaru-sama, Ihr seid zu gütig", behauptete er dabei untertänigst, "wartet nur noch einen Moment! Ich bin fast fertig, Sesshoumaru-sama!" Der Daiyoukai musterte taub für derlei Litanei die Umgebung, denn alle seine Sinne verrieten ihm, dass Rin offensichtlich nach Osten geschlichen war. Auf dem Weg von Bokusenou hierher – zur dichten, schattigen Lichtung – waren ihm ihre schmalen Fußabdrücke im Moosbett aufgefallen. Ihre Zehen hatten Staubsporen in den weichen Untergrund gedrückt, ehe der Abstand zwischen ihren Schritten anwuchs und aus dem sorglosen Schlendern eines Menschenkindes ein Hüpfen und Eilen formte. Danach hatte Jaken seinen Weg gekreuzt, unangenehmerweise ohne sein Mündel im Schlepptau. Nun, er hätte es wissen müssen. Die blauen, funkelnden Schuppen eines Shikigamiflügels, dazu unbändige Neugierde ... Rin fühlte sich von Blumenwiesen und Schmetterlingen wie die Motte vom Licht angezogen, und ihr mangelte es an der Weitsicht, dem Boten einer Miko keine Aufmerksamkeit zu schenken: Unschön. Vor allem für ihn, der dank des Baumgeists eigentlich andere Pläne ins Auge gefasst hatte. Aber was erwartete er von einem Kind? Seufzend verschwand der Daiyoukai in der nächsten Baumkrone und dachte daran, dass ihn seine hochverehrte Mutter während ihres letzten Besuches daran erinnert hatte, wie wenig er doch von den Bürden eines Fürsten und Vaters verstand. Tze. Weit konnte Rin ja nicht gekommen sein. 9 "Rin, bist du dir sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?", hakte Kagome nach. "Ich kann nicht glauben, dass er dich so weit vorausgeschickt hat." "Oh, das tut Sesshoumaru-sama oft. Warum auch nicht? Der Weg war kurz und es gibt keine Gefahr, der er mich nicht entreißen könnte!", ereiferte sich Rin, ehe sie munter den Kopf schüttelte. Ihre dunklen Haarsträhnen flogen von links nach rechts, aber Kagome ließ sich von ihrem aufsteigenden Unmut nicht so leicht abbringen. "Tatsächlich?" Während Rin einen Kieselstein aus dem Weg kickte, stieg sie bereits über einen quer liegenden Baumstamm, an dessen Wurzeln Höhlungen erkennbar wurden. Das Holz war morsch und modrig, doch Kagome achtete kaum mehr auf die schwammigen Pilze, die sich wie Treppen an der Seite entlang fraßen, als auf ihre eigenen, sicheren Griffe. Ihr Körper erinnerte sich auffallend mühelos an die Sengoku-jidai. Nur ihr Verstand war zu abgelenkt, um das Glitzern im ausgehöhlten Stamm zu bemerken. "Wenn ich es nicht besser wüsste", murrte Kagome weiter, "würde ich behaupten, du bist auf eigene Faust losmarschiert und wir laufen im Kreis." "Also ..." Kagome hob fragend eine Augenbraue, ehe sie den langen Zweig einer Weide aus dem Blickfeld schob, darunter hinweg tauchte und innerlich seufzte. Ein verschwundenes Kind, die Obhut eines Daiyoukai, sie ... na, das konnte ja noch heiter werden. "Bist du böse auf mich, Kagome?", erkundigte sich Rin, doch die Miko schnaufte nur. Böse wird jemand ganz anderes sein. "Bitte mach dir keine Sorgen. Wir können nicht weit von Jaken-sama und Ah-Uhn entfernt sein. Die schlafen nämlich da, wo der Bachlauf von Zedern und Farnen gesäumt wird. In der Nähe hatte ich einige Azaleen entdeckt – und Pilze! Natürlich! Wie konnte ich die vergessen? Wir könnten sie uns teilen", beschloss Rin zuversichtlich und deutete mit ihrem Finger in Richtung einer Baumgruppe. Kagome musste an die gebratenen Shiitake-Pilze ihrer Mutter denken, aber das verbat sie sich genauso schnell wieder. Wenn die wüsste, wo sie steckte, wäre ihr das Stirnrunzeln sicher! Herrje, da hatte sie sich etwas eingebrockt. Der erste Teil des Tages war längst vorbei, den sie sich selbst als Ziel gesetzt hatte. Also gut. Wohin hatte Rin gezeigt? Prüfend hob Kagome ihre Hand vor die Augen, um sich von dem einfallenden Sonnenlicht zu schützen, doch erkennen konnte sie beim besten Willen nichts. Es führte nicht einmal mehr ein Trampelpfad durch das Dickicht. Alles schien überwuchert und der Wald zeigte diffuse Schatten. Mit ihren Freunden an der Seite war ihr solch ein Anblick mit fünfzehn noch vertraut gewesen. Ihr Abenteuergeist, die unbekannte Welt – nein, danke. Jetzt suchte sie Verlässlichkeit und ein Anzeichen, dass Rin diesen Weg auch tatsächlich genommen hatte, ehe sie sich weiter ins Ungewisse begab. Sangos Anblick spukte durch ihre Erinnerung, aber sie versuchte sich einzureden, dass dahinter nichts steckte. Vielleicht war es auch der Anwesenheit des Shikigami geschuldet, eine Illusion, irgendein Naturphänomen. Ein grausames Naturphänomen, verbesserte ihr Verstand. Sie musste unbedingt Kaedes Dorf und ihre Freunde aufsuchen, sobald sie Rin zurückgebracht hatte. "Sind das dort drüben nicht Azaleen?", lenkte sie sich selbst ab. "Ah-Uh und Jaken kann ich allerdings nicht entdecken. Du?" "Ich ... na ja ... nein. Es könnte auch dort gewesen sein", murmelte Rin, bevor sie ihre Finger auf den Yukata zurücksinken ließ und eine Fratze zog. Gegen die anderen Himmelsrichtungen sprach genauso wenig, wenn sie ehrlich war. Ob sie das besser für sich behielt? "Rin?" "Entschuldige. Ich habe kaum auf die Umgebung geachtet. Es war bereits dunkel und ich wollte den Schmetterling nicht aus den Augen verlieren." Kagome bedachte Rin mit einem sprachlosen Blick, den das Mädchen mit einem eingeschüchterten Lächeln quittierte, ehe sie ein Rascheln aufhorchen ließ. Die Miko sah gerade noch, wie der Shikigami hinter dunkelroten Blättern verschwand, als sich in einem benachbarten Gebüsch die Pflanzen wie von Geisterhand zu regen begannen. Um Himmels Willen! Überstürzt hob sie einen Finger an die Lippen und bedeutete Rin leise zu sein. Dann horchte sie angestrengt in die Stille des Waldes. Das Vogelgezwitscher war fort und das Unterholz flimmerte leer und bedrohlich im Licht. Als Kagome das silberne Glitzern zwischen den Blättern erkannte, schob sie sich abrupt vor das Mädchen. Rin erschrak zwar, aber das lag mehr an der schnellen Geste. Jaken hätte sich zeternd bewegt, Ah-Uhn gemächlich und brummend, während Sesshoumaru-sama eisig wie der Tod vorwärts schritt. Dann begriff auch sie, wie ruhig es geworden war. Nervös linste sie hinter der Hüfte der jungen Frau hervor: Wenn sie eines gelernt hatte, dann, dass ihr fremde Instinkte einfach überlegen waren. Sie wusste, wie man in Bächen Fische fing, aber es gab kaum eine Gefahr in der Nähe eines Daiyoukais, die sie vor allen anderen bemerkte. Warum auch allzeit auf der Hut sein? Das ruhige Leben der letzten Wochen hatte Spuren in ihrer Aufmerksamkeit hinterlassen. "Bleib dicht hinter mir." Kagome versuchte, sie aufmunternd anzulächeln, aber es misslang gründlich. Solange nicht einmal ihr siebter Sinn anschlug, was Feinde betraf, konnte sie sich warm anziehen. Der süße Geruch, der in der Luft lag, ließ ihr Herz unnatürlich laut und schnell schlagen. Sie wollte auf ihre spirituellen Kräfte vertrauen, aber ohne einen Gegenstand zum Kanalisieren bräuchte sie nach dem langen Aufenthalt in ihrer Epoche Zeit – Zeit, die sie vermutlich nicht hatten. Sie konnte nur beten, dass sich dort drüben nicht genau das befand, was das frisch aufflammende Youki ihr vorgaukelte: Ein Dämon. 10 Zsssssch. Knisternd teilten sich die Blätter des Gebüschs, doch das Schuppentier gönnte sich erst einen langen Moment, um die gespaltene Zunge aus dem Maul fahren zu lassen. Kein Risiko eingehen, das war das Wichtigste in der Nähe des vermaledeiten Magnolienbaums und der mächtigen Energie, die dort vor Stunden aufgewallt war. Aber Futter, das war ein lohnenswerter Grund, um den Unterschlupf zu verlassen und die Luft zu prüfen. Die Brise auf seiner Zunge schmeckte wie erwartet: Verlockend und wohlig-süß, warm und sättigend – so wie das unberührte Menschenfleisch, das seine geschlitzten Augen entdeckten. Als sich der gewaltige, glänzende Leib der Kreatur in einer Schlangenlinie vom Erdboden abhob, zersplitterte sogar ein Weidenzweig. "Sssieh an." Rin rückte prompt noch näher an Kagome heran. Sesshoumaru-sama hatte sie vor vielen Jahren vor Oni gewarnt, aber ihr war nicht klar gewesen, dass Wurmyoukai so ... so riesig werden konnten. Das war doch einer, oder? War 'lächerlich' nicht seine Beschreibung für diese Art gewesen? Trocken schluckend verfolgte Rin, wie das Monster zurück ins Gras sank und in einem langsamen Halbkreis in ihre Richtung glitt. Nur Kagome hob verwirrt die Augenbrauen. Das ... das war nicht das Youki, das sie gespürt hatte. Es ähnelte ihm nicht einmal! Aber wie konnte das sein? War das eine Falle? Hastig versuche sie in den Blättern der Umgebung einen Anhaltspunkt zu entdecken, aber was auch immer sie gespürt hatte: Es war fort. "Sssieh an, mein Futter kommt von allein sssu mir", wisperte der Oni listig, ehe er abermals die warme Tagesluft sondierte und sich auf den Gräsern positionierte, sodass sich das Sonnenlicht auf seinem Schuppenkleid brach. Die Farben waren atemberaubend, sie flirrten und sirrten, wirbelten durcheinander und – "Sieh nicht hin, Rin!", mahnte Kagome scharf, dann ballte sie die Faust und trat einen weiteren Schritt vorwärts. "Ssspielverderberin", versetzte der Wurm. "Du kannst dir die Mühe sparen, niederer Dämon. Wir sind nicht deine nächste Mahlzeit, also verschwinde!" "Ssseeehr amüsssant, Menssschenkind. Aber ich bin sssu hungrig, um meine Ssseit zu vergeuden. Gib mir dasss Mädchen und ich lassse dich sssiehen", verlangte er lüstern. "Hast du mir nicht zugehört?", fauchte Kagome, bevor sie mit den Zähnen knirschte und sich wenigstens einen Talisman aus Papier herbeiwünschte. Vor einem heiligen Sutra wäre der Feind längst zurückgewichen. "Geh endlich!" Wer war sie denn, dass sie sich von einem Oni einschüchtern ließ? Dass er vor ihrer Kleidung nicht zurückschreckte, mochte zwar Eindruck schinden – vor drei Jahren hatten sich die meisten schwachen Dämonen lieber davongeschlichen –, aber deshalb würde sie nicht kneifen. Sie hatte vor dem Lernen den Hof gefegt, ohne in der Kälte zu jammern, also brauchte sie jetzt nicht damit zu beginnen! Nur weil sie weder ihren Bogen des Asuza-Berges, noch ihre Pfeile zur Verfügung hatte, hieß das noch lange nicht, dass man sie deswegen als Snack betrachten konnte. "Verschwinde oder es passiert etwas!" "Zsssch... Wasss sssoll mir denn passssieren?", hakte der Wurmyoukai vergnügt ein. "Willssst du mich mit Staub bewerfen, kleine Miko?" Lauernd legte der Oni seinen Kopf zur Seite, doch mehr als ein verächtliches Schnauben erntete er dadurch nicht. "Ich habe esss mir andersss überlegt. Ihr ssschmeckt bessstimmt beide vorsssüglisssch! Sterbt!" Wie im Fieber preschte der Wurm vorwärts und setzte eine Energie frei, welche die Grashalme in die Höhe spritzen ließ. Wenige Herzschläge später durchbrach ein Schrei die Stille des Waldes. - - - - - - - Wen es wohl erwischt hat? In Kapitel #3, "Erkenntnis", erfahrt ihr es. Kapitel 3: Erkenntnis --------------------- Kristallschmetterling - Erkenntnis - Autor: Beta: - Fandom: Inu Yasha Genres: Drama, Romantik (Hetero), Epik, Alternate Timeline Disclaimer: Inu Yasha ist Eigentum von Rumiko Takahashi, ich verdiene hiermit kein Geld. - - - - - - - 11 Gurgelnd stieß der Kopf in die Erde, während der restliche, schlangenhafte Körper aufbäumte und in einer Welle des Schmerzes von links nach rechts ausschlug. Kieselsteine wurden zerschmettert, Gräser von Schuppen zermalmt. Ein Aal hätte sich nicht verzweifelter gegen die Klauen behaupten können, welche in den Nacken wie in frisch geschöpfte Butter drangen, doch der Wurmdämon spie weitaus verzweifelter Seim und Blut. Frei kam er nicht. "Immer noch hungrig?", flüsterte der Herr der Hunde, bevor er sein Gewicht vorwärts verlagerte und seine stachelverzierte Schulterrüstung mordlüstern gegen die Scharniere des eigenen Brustpanzers schlug. Das Scheppern der Schwerter an seiner Hüfte klang schon gedämpfter, aber sie nahmen sich genauso gefährlich aus wie die Seide, die er trug. Auf den spiegelglatten Wurmschuppen schimmerte sie wie ein Todesgedicht. "Versuch dich doch an mir." Unerbittlich trieb er die Klauen vorwärts, bis ein schmatzendes Geräusch erklang. Der Oni hielt kreischend inne. Obwohl es ihm unmöglich war, zu dem Dämon aufzusehen, spürte er, dass sein Leben am seidenen Faden hing: Da saß kein unbedeutender Käfer, der flügelschlagend in die Morgensonne huschen wollte, sondern eine Macht, die seinen Angriff mit einem persönlichen Rachefeldzug vergalt. Wie sollte er entkommen? Betteln? Er hatte das erste, salbungsvolle Wort noch nicht ersonnen, als ein fremdes, wütendes Schnaufen die Anspannung brach. "Muss es ausarten?", warf Kagome ein. "Er sollte begriffen haben, dass er unterlegen ist. Lass ihn gehen!" Der Wurmyoukai war einen Moment zu sprachlos, dann versuchte er ihr zuzustimmen – wurde jedoch noch vor der zweiten Silbe erbarmungslos tiefer ins Gras gepresst. "Ich nehme keine Befehle von einem Menschenkind an", sagte Sesshoumaru, bevor er einen geringschätzigen Blick auf den Schlangenkopf unter sich warf. Er kannte diese Art: Der Körper glich seiner eigenen, wahren Gestalt in der Länge, aber damit nicht genug. Wenn diese Oni fressen wollten, hakten sie ihre Kiefer aus und verformten das Maul zu einem Vielfachen ihrer gewöhnlichen Größe. Ein wenig Mühe und er könnte ihn selbst verschlingen, obwohl er jetzt auf ihm kniete. Tze. Entlang seiner Krallen liefen blutige Bahnen über die Schuppen, aber der Feind war seines Atems nicht wert. "Sein Leben ist verwirkt." "Wie?" Kagome erbleichte, ehe sich ihre Gesichtszüge verdunkelten. "Ist das dein Ernst?!" Die Widerworte erinnerten sie schmerzhaft an Inuyasha, doch in einem unterschied sich Sesshoumaru gewaltig von ihm: Von Gnade hielt er gar nichts! Im Gegenteil, mit dem weißen Kimono und den Kirschblütenstickereien an den Ärmelschleppen, der Brustrüstung und den hellen Haaren sah er zeitlos und finster wie eh und je aus. "Was bringt es dir, einen Schwächeren zu töten?!" Wollte sie ihn reizen? "Offenbar hast du den dringenden Wunsch mit ihm die Plätze zu tauschen. Ansonsten wärst du dankbar darum, dass du nicht in seinem Magen gelandet bist", knurrte Sesshoumaru und seine goldenen Augen blitzten warnend auf. "Aber keine Sorge, dem –" "Oh, Sesshoumaru-sama! Seht doch, der Schmetterling ist wieder da!", platzte Rin dazwischen. Aufgeregt deutete sie auf die Lichtkugel, die plötzlich vor ihrem Gesicht aufgetaucht war und einen schwungvollen Halbkreis beschrieb. Nun, da der Herr der Hunde sie beschützte, hatte sie die Angst vor dem Oni fast vollständig verloren. Auch die halsbrecherischsten Kämpfe entschied ihr Meister für sich, und ob er dabei durch Jaken oder Kagome verärgert wurde, bedeutete ihr nichts. Er tat ja doch, was ihm in den Sinn kam. Der Oni indes erkannte in der Silhouette der Lichtkugel, wer hinter dem Shikigami steckte, und begann zu kichern, als hätte man ihm den Verstand geraubt. Seine Schuppen glitzerten und funkelten, bis sein Schlangenleib an einen bunten Fisch erinnerte. "Wasss für ein Gefährte! Wie blind ihr ssseid!" "Du kennst ihn?", hakte Sesshoumaru lauernd ein. "Oh jaaa. Dasss tue ich wohl, aber ich werde nichtsss –" "Verschwende nicht meine Zeit", unterbrach ihn der Hundedämon eisig. "Ich werde dich kein zweites Mal auffordern, Wurm." 12 Warum musste eigentlich immer ihm so etwas passieren? "Ah-Uhn! Steh sofort wieder auf!", keuchte Jaken herrisch. Energisch stemmte er sich mit den Füßen gegen die Flanke des braungefleckten Drachenleibes und zog mit aller Kraft an dem ledrigen Geschirr, ehe er den Einfall wieder verwarf und auf den Zehen herumwirbelte, um im Kies besseren Hals zu finden und die Zügel über seine Schulter zu spannen. "Hnnn!" Dachte hier irgendjemand an ihn? Natürlich nicht! Erst flüchtete die kleine Nervensäge Rin unbemerkt, dann verlor er die Spur seines Herrn im Dickicht, und nachdem er Ah-Uhn kreischend und fluchend von seinem Schlafplatz unweit des Lagers aufgescheucht hatte, um zwischen den federweißen Wolken aufzusteigen und Ausschau nach Sesshoumaru-sama zu halten, landete das Schuppentier einfach tausende Meter weiter, auf dem einzigen Findling weit und breit. Wollte der ihm weismachen, dass sich der mächtigste Dämon des Westens hier irgendwo versteckte? Als ob! Ausgerechnet zwischen den Ausläufern der Steine, Rohrbinsen, Klippen und des von Wassermassen gespeisten Sees, von wegen. Eine Unverschämtheit war das. Diesen Starrsinn hatte der zweiköpfige Drache auch erst für sich entdeckt, seit ihn Rin mit Grasbüscheln, Wildblumen und fröhlichem Singsang bedachte. "Beweg dich!", schimpfte er. "Ich habe dir nicht erlaubt, dich wie eine Schnecke einzurollen. Spür den Zorn eines Häuptlings, vor dem ein ganzer Teich erzitterte!" Schweißperlen traten Jaken auf die Stirn, während er die feinen, glattpolierten Steine mit den Füßen davontrat, zeterte und zerrte, bis er sein gesamtes, erbärmliches Gewicht in die Waagschale warf. Der Wasserfall hoch über ihren Köpfen gluckerte höhnisch und schob die eisigen Fluten mühelos über die Steinformationen. Dieser ... verdammte ...! Das war doch zum Verrücktwerden! Jappsend fiel Jaken auf die Knie, um neben den Zügeln auf seinen nutzlos herumliegenden Kopfstab zu starren. "Nun gut", beschwor er die Gnade seines ganzen Charakters, weil er es nicht wagte, mit dem Jintojo auf Ah-Uhn einzuschlagen, bevor der auf die Idee kam, ihn wie beim letzten Mal mit einer Bambusmatte zu verwechseln und das Nickerchen auf seinem Kreuz fortzusetzen. "Ich nehme auf deine Schwäche Rücksicht. Wir rasten!" "Ruuuurrr?" Pah. Dass der es auch noch wagte, kritisch ein Augenlid zu heben, bevor er sich der glitzernden, sprudelnden Gischt auf der anderen Seite zudrehte. Nun, wenigstens war es hier ungefährlich. Hoffte er. 13 "Zu schade." Mit einem dumpfen Knacken splitterte der Schädel unter Sesshoumaru, so dass die Lichter in den Augen des Oni noch vor der nächsten Schmähung einem trüben Grau anheim fielen. Kalt, leblos – gebrochen. Was für eine Verschwendung seiner Zeit. Der Hundeyoukai hatte sich kaum erhoben und die Klauen aus den Knochen und blutigen Häuten gezogen, als ein Windstoß durch das Unterholz und über den Körper des Wurms hinweg fegte. Schuppen lösten sich aus dem matten Kleid des Reptils, nur um in einer Aschewolke davon zu wirbeln. Zurück blieb ein nichtssagender Fleck inmitten platt gedrückter Grashalme. Das, und eine Menschenfrau, die ihn voller Missgunst anstarrte, während das Mädchen neben ihr Gefallen an etwas ganz anderem gefunden hatte. Rin beachtete lieber das Leben, statt den Tod. "Er ist wunderschön", flüsterte sie, während sie fasziniert auf die papierdünnen Flügel sah. Der Shikigami ließ sich auf ihren Händen nieder, ehe er vorsichtige, erste Schritte über die Kuppen setzte. "Ansichtssache", murmelte Kagome streitlustig, während sie auf das ungleiche Gespann sah. Wie konnte es sein, dass Rin nicht denselben, fahlen Geschmack auf der Zunge verspürte, sobald Sesshoumaru die Hand im Gras abwischte? Er wirkte wie jemand, der die Schwertklinge mit Nelkenöl auffrischte! Der Shikigami beruhigte sie auch nicht. Herrgott, warum konnte sie nicht einfach wieder jünger sein und wagemutig durch die Sengoku-jidai stürmen? Rin lächelte. "Ich glaube, er mag dich." "Mich?" Kagome rang sich ein heuchlerisches, keuchendes Glucksen ab. "Das bezweifle ich doch." Hätte dieser flügelschlagende Unruhestifter etwas für sie übrig, wäre sie von ihm nicht aus ihrem Zimmer gelockt worden! Irgendetwas ging an diesem Ort nicht mit rechten Dingen zu: Erst Sango, die sich wie eine Besessene aufführte und sie bedrohte, nur um kurz darauf vom Erdboden zu verschwinden, dann dieser Wurm ... oh, und nicht zu vergessen, der vollblütige Daiyoukai, der wehrlose Geschöpfe abschlachtete. Frostig glitt ihr Blick zu Sesshoumarus Gestalt zurück. Sein Youki war in der Luft verblasst, nachdem er sich wieder zu voller Größe aufgerichtet hatte. Er überragte sie um einen Kopf, doch es war die Art, mit der er gleichgültig die Augenbraue wölbte, die ihrem Selbstbewusstsein das Wasser abgrub. Einen weiteren Blick verschwendete er nicht auf das Menschenweib seines nichtsnutzigen Halbbruders. Sollte sie ihn anstarren, während ihr schwarzes Haar widerspenstig das Gesicht umrahmte und die Nägel in ihre Handballen stachen, als seien diese aus Ton. Was sie hier tat, war für ihn nicht von Belang. Hätte es ihn geschert, wäre ihm ihre Gegenwart bereits in den letzten Jahren wichtig genug gewesen, um sie in den Reisfeldern Musashis aufzutreiben. "Wir gehen, Rin." "Aber Sesshoumaru-sama!", begann das Mädchen augenblicklich zu protestieren, bevor sie die Schultern unter seiner prompt umschwenkenden Aufmerksamkeit unterwürfig rundete. "Wir können noch nicht gehen." Nun, nicht, dass er nicht an Rins Ideen gewöhnt war. Sie reiste seit etlichen Sommern mit ihm. Zu Beginn der wärmer werdenden Tage im Frühling, wenn der Schnee in den Gipfeln zu schmelzen begann und die Flüsse speiste, hatte ihr Dickkopf die besten Chancen, sein Gehör zu finden. Sie war die Einzige, die es wagen konnte, sich gegen ihn aufzulehnen. Duftende Blumen mit roten und gelbgefiederten Blütenblättern, die unbedingt gepflückt werden mussten, witterte er jedoch keine in der Nähe. Immerhin etwas. Dennoch seufzte er innerlich. Ihre Art, ihn mit einer Begründung warten zu lassen, erinnerte ihn zunehmend an seine verehrte Mutter. Wenn Rin es zu bunt trieb, würde er allein ausschreiten, bis sie sich endlich besann – ihm stand nicht der Sinn danach, sich länger dem Anblick dieser Miko auszusetzen. Menschen. Sie steckten voller Schwächen. Kagome schnalzte derweil mit der Zunge. "Warum kannst du nicht mit ihm gehen, Rin?" "Na, weil du sonst alleine zurück bleibst!" Die Miko stutzte einen Moment, bevor sie ihren Widerwillen in ein freundlicheres Gesicht eintauschte. "Aber das ist doch kein vernünftiger Grund, Rin." "Doch. Außer uns ist niemand in der Nähe." "Das macht mir nichts aus", behauptete Kagome. "Ich war bereits alleine unterwegs, bevor ich dich traf." "Und falls du wieder angegriffen wirst?" Prüfend legte Rin den Kopf schief. Auf ihren zur Schale gewölbten Händen stakste der Shikigami voran, aber statt ihr lauthals zuzustimmen, folgte er dem hartnäckigen Schweigen der Älteren. Ach, sollte er ruhig! Ein schweigsamer Geselle war ihr ganz recht. Sprechende Insekten waren nämlich unheimlich, aber nachdem der Bote sie zu Kagome geführt hatte und Sesshoumaru-sama ihm das Leben ließ, konnte sie ihn gut leiden. Erstaunlicherweise war das der Moment, in dem sich der Schmetterling besann und nach einem energischen Flügelschlag auf Kagomes gebürstetem Haar landete. Empört versuchte diese ihn zu verscheuchen, doch drei nutzlose, gewischte Handbewegungen später, thronte der Shikigami immer noch auf ihr. Oh, dieses ... dieses –! "Siehst du? Er will auch nicht, dass du alleine bleibst. Wenn wir etwas zu essen gefunden haben, kannst du immer noch weiter gehen", bekräftigte Rin, ehe sie heiter auflachte. Dann griff sie die weiße Ärmelschleppe von Kagomes Hakui, um sie mit sich zu ziehen. "Warte!", jappste Kagome überrascht von dem Schwung, der sie auf staubigen Tabi-Söckchen – und für ihren Geschmack viel zu ungelenk – an Sesshoumarus Fellen vorbeistolpern ließ. Dessen schmaler werdende, goldene Augen warnten sie davor, ihm auch nur einen Lehmklumpen zu schenken. Was er mit der zarten Haut ihres Halses anzustellen gedachte, sollte sie auf dieses Angebot eingehen, wollte sie gar nicht zu Ende denken. "Warte, Rin! Nicht so schnell. Ich kann nicht, eigentlich muss ich –" Ja, was? Heim? Das war mit Sicherheit die Wahrheit, denn es brannte ihr unter den Nägeln, der Epoche den Rücken zuzukehren und sich wieder in ihren Vokabeln zu verlieren. Aber der Gedanke an die letzte Stunde und an Sango, ließ sie mit bebenden Nasenflügeln nach Luft ringen und die Beschwerde herunterschlucken. Es half nichts. Ihr Verantwortungsgefühl verdarb den Gedanken an eine Flucht zum Knochenfressenden Brunnen. Sie musste sicher sein, dass es allen gut ging. Ein Blick, mehr nicht, doch den würde sie garantiert nicht in der Gesellschaft von Inuyashas Halbbruder wagen. "Ich wollte zu Kaede, bevor ich dich getroffen habe." "Kaede?" Kagome nickte, als sie an das faltig-runzlige Gesicht und die Augenklappe der alten Shinto-Priesterin dachte. "Sie lebt in einem Dorf, nicht weit von hier." "Oh. Ein Dorf voller Menschen?" Auf Rins Gesicht breitete sich ein unglücklicher Ausdruck aus, weil sie an ihre eigene Vergangenheit denken musste. Es war viele Monde her, seit sie ihr altes Leben hinter sich gelassen hatte, doch selbst jetzt konnte sie das geisterhafte Ziepen von Schlägen auf ihren Unterarmen und die schmerzenden Tritte im Magen spüren. Kagome lächelte sie jedoch so warm an, dass die Drohungen der Bewohner überraschend an Schrecken verloren: Wie ähnlich sie gerade dem freundlichen Gesicht ihrer Mutter war! Die feinen Fältchen unter den Wimpern, die Mundwinkel ... In ihrer Gruppe war sie oft die Einzige, die lachte. Jaken entpuppte sich von früh bis spät als launisch und Ah-Uhn war eben Ah-Uhn. Der zweiköpfige Drache verschlief brummend den halben Tag auf Steinen, welche die Sonne aufwärmte, und wenn man ihn unbehelligt ließ, auch gerne einmal den ganzen. Rin wollte das Dorf nicht betreten, aber Kagomes Ärmelschleppe auch nicht leichtfertig hergeben. Hoffnungsvoll sah sie zu Sesshoumaru, der lediglich einige klebrige Pollen in seinem Schulterfell musterte und dem Geplänkel weit weniger Aufmerksamkeit zollte. Eine Böe hatte die Spur der Glyzinien zu ihm getragen, an denen der Geruch von Menschen haftete – die Natur verschwendete nie Zeit im Frühjahr. Blüten brachen in allen Winkeln Musashis auf, auch in der entgegengesetzten Richtung, wo sein lästiger Halbbruder einen Teil seines Lebens verbracht hatte. "Können wir sie ein Stück des Weges begleiten, Sesshoumaru-sama?" "Nein", erwiderte er, während sich die feinen Härchen in der Unterwolle seines Schulterfells aufrichteten. Er hatte die Hoffnung genährt, dass sich Rin über die Schwäche eines herausgezögerten Abschieds erhaben zeigen würde, aber angesichts dieser Situation ... nun, sie war jung, obwohl sie schneller als jeder vollblütige Dämon heranwuchs. Er beabsichtigte jedoch nicht, sich um ihretwillen zu einer weiteren Miko zu begeben. Kaede. Die spirituellen Kräfte in dieser Gegend waren erbärmlich, selbst wenn sie sich wie Regenwürmer zusammenrotteten, aber er verabscheute deren Anwesenheit. Als Nächstes fiel ihr noch ein, dass sie im Großschrein von Ise wohnen wollte – einer heiligen Stätte der Menschen. Selbst er wäre nicht töricht genug, sich dieser geweihten Anlage und ihren Bannkreisen zu nähern. "Wir gehen." "Mach dir keinen Kopf, Rin. Ich finde auch allein den Weg", versuchte Kagome sie zu trösten, aber die Schnute des Kindes geriet noch breiter. "Sesshoumaru-sama, bitte. Nur dreihundert Schritt! Ich werde den ganzen Frühling und Sommer schweigen, wenn Ihr es erlaubt!" Während das Menschenmädchen den Blick des Daiyoukais bannte und alle Register der Bettelei zog, löste sich der Shikigami mit einem federleichten Flügelschlag aus Kagomes Haaren. Dann tanzte er unauffällig nach Osten, und sprang über schuppenförmige, grüne Blätter und Wurzelranken wie eine verträumte Seele. Sein Fehlen blieb vorerst unbemerkt. 14 "Mit welchem Recht bist du so entsetzlich stur?", schimpfte Jaken, während er seinen doppelköpfigen Stab in die Luft hob. Im Licht der Sonne beschrieb er mit der Spitze einen Kreis, als könne er der Gischt des Wasserfalls befehlen, auf den Schuppenleib des Drachens niederzufahren. "Ich bin der ehrenwerte Berater Sesshoumaru-samas und als solcher befehle ich dir, dich endlich wieder zu erheben!" Nichts. "Jetzt!" Wer sagte es denn?! Das Gefühl der Überlegenheit färbte seine grüne Haut noch kräftiger, als Bewegung in den Drachendämon kam. Bedächtig hob Ah-Uhn seine Köpfe von den glattgeschmirgelten, grauen Steinkanten, wackelte kurz mit den Spitzohren – und wälzte sich im nächsten Atemzug träge auf den Rücken, ehe er die kurzen, gebogenen Klauen wie Pfötchen an die Bauchseite zog. Dann wickelte er unaufgeregt den gewaltigen Drachenschwanz um den Kappa, den sofort die Weißglut übermannte. "Nennst du das Gehorsam?!" Fluchend und schimpfend streckte Jaken den Hals, um den Mund über der dicken, unverschämten Schlinge zu halten. "Hör sofort auf damit! Gegrillt werden sollst du für deine Frechheiten! Wie lange willst du noch hier bleiben?!" Empört glühten die gelben Froschdämonenaugen auf, während er weiter Kies und Sand trat. Unter anderen Umständen hätte er vielleicht resigniert, aber allein der Gedanke an die lange Rast und an seinen wiederkehrenden Herrn, der seine Diener nutzlos am Rande der Schlucht herumalbern sehen würde, bereitete ihm Panik. Nicht daran zu denken, was sein Meister mit unfähigen Lakaien anstellte! Und wessen Schuld würde das sein? Die des fetten, schläfrigen Drachen! Uuuh, wenn er nur gekonnt hätte, wie er wollte, er hätte ihn getreten, jawohl! Warum war er eigentlich der Einzige hier, dem sein Leben noch etwas bedeutete? Und wieso wurde ausgerechnet er immer zum Opfer der Umstände? Das war doch nun wirklich nicht fair! "Ich werde dich nicht vor seinem Zorn retten! Hörst du das?", verkündete Jaken biestig, doch mehr als ein friedfertiges Brummen seitens Ah-Uhns erntete er nicht. 15 "Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten, Menschenweib", raunte der Daiyoukai, der sich an dem urplötzlich verstummenden Wald nicht störte. Er war kein Schwächling, der beim ausbleibenden Geträller von Singvögeln nervös wurde und die Lippen benetzte, während Rindenstücke aus der Höhe hinabprasselten. Knisternd und krachend rumorten die Baumkronen über ihm. Kagome funkelte ihn prompt noch unversöhnlicher an. Wofür hielt er sich? Entschlossener denn je schlang sie die Arme um Rins Schultern, aber der seitlich gebundene Zopf des Mädchens nahm ihr die Sicht auf deren ahnungsloses, heillos überfordertes Gesicht. Im Gegenteil zu Rin gab sie eine Menge auf Sesshoumarus Versprechen, hungrig die Nacht zu begrüßen, wenn sie die Miko nicht endlich zurückließ – wie hätte sie ahnen sollen, dass der den kindlichen Trotz mit Vernunft brechen wollte, und dass es unter seiner Würde war, menschliches Essen anzurühren, um es in alle Winde zu verstreuen? Ihre Fantasie schmückte seine Worte aus, nicht ihre Erfahrung. "Tut mir leid, aber auf diesem Ohr bin ich taub!" Wütend blies Kagome die Wangen auf. Lieber würde sie sich mit einem Paar Essstäbchen an giftigen Kugelfischstückchen versuchen als Rins Schicksal zu ignorieren. "So kannst du mit ihr nicht reden!" "Du vergisst, vor wem du stehst." "Sie ist ein Kind! Es ist grausam, sie hungern zu lassen, nachdem sie bereits nachts durch das Unterholz gewandert ist und mich bat, mit ihr Beeren und Pilze zu suchen. Schimpft sich das Erziehung?" Sesshoumarus goldene Iriden verengten sich unmerklich, ehe seiner Kehle ein dunkles, lauerndes Knurren entwich. "Ein weiteres Wort und ich bläue dir Manieren ein." "Die hat der große Hundedämon wohl dreimal nötiger als ich!", schoss Kagome zurück, doch kaum dass sie die letzte Silbe ausgesprochen hatte, blieb ihr der nächste Satz buchstäblich im Halse stecken. Sein Youki sprang sie wie eine Feuersbrunst an, bis es hinauf in die Zedern fuhr und dort Nadeln mit der Gewalt einer Sense büschelweise abscherte. "Genug", flüsterte er. "Geh zu deinem Hanyou ins Totenreich, wenn du Nachsicht für deine Litaneien suchst. Rin vor niederem Gewürm zu verteidigen, macht dich nicht unsterblich." 16 Ei, ei, ei ... "Du hast Staub aufgewirbelt." Ächzend presste die Greisin die Hand auf die roten, robust verwebten Stoffe ihrer Beinkleider, bevor sie sich umständlich erhob. Ihre Schritte sahen auf den Tatamimatten klein und mühsam aus, doch sie bewegte sich in der Hütte hartnäckig vorwärts. Falls es den Shikigami betrübte, dass ihre Haut wie feingesponnene Seide über die Fingerknöchel spannte, an manchen Stellen dunkel wie ein Tuschefleck, verriet sein Flattern nichts davon. Die zwischen den Streben eingeflochtenen Leinenstreifen waren ebenso wie sie in die Jahre gekommen – und jedes Tongefäß, jedes Rollbild und die vielen, zerschrammten Lackkästchen in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes sangen vom Alter. Hier und da roch es stärker nach Kräutern, die abgebunden in Säckchen geschnürt waren oder noch zum Trocknen und Zerkleinern aufbereitet warteten. Beim gusseisernen Teekessel angekommen, der im Schatten auf einem Tablett stand, schnaufte die Frau erbärmlicher als ein Blasebalg. Ach, die Zeit kannte kein Erbarmen. Die letzten Jahre hatten ihre Schultern wie eine Papierlaterne zusammengedrückt, sodass sie sich erst sammeln musste, bis sie den Griff nahm und zur Glut weiter humpelte, die neue Holzscheite und Aufmerksamkeit einforderte. Der Ruß, der über ihrem Kopf kalt und starr an den Holzbalken klebte, schreckte sie genauso wenig. "Wir wollen gut vorbereitet sein, nicht wahr, mein kleiner Freund?" Ein unergründliches, warmes Lächeln trat auf ihre faltigen Züge und der Schmetterling antwortete ihr mit einem schwachen Flügelschlag, der wieder einige blaue Staubspuren zu Boden trudeln ließ. "Wir werden wohl besser mehr Wasser aufsetzen." - - - - - - - Ob sie wirklich zum Tee empfängt, erfahrt ihr in Kapitel #4, "Hütte". Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)