A Message from my Past-Self von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 1: Chapter 1 - 1 ------------------------ Rot. Dunkles Rot, das über geschminkte, sonnengebräunte Haut läuft. Im schwachen Licht der etwa drei Meter entfernten Straßenlaterne wirkt es fast schwarz, wie Öl oder Dreck… Aber er weiß, dass es das nicht ist.   Die Bilder verblassten von einer Sekunde auf die andere. Wichen Dunkelheit, die alles zu verschlingen schien, und gleichzeitig war es als wäre der Boden mit einem Mal verschwunden, einem finsteren Nichts gewichen in dem es nirgends Halt gab, nichts, das einen vom Fallen abhalten konnte… Mit einem Stöhnen richtete Victor sich auf. Strich sich mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht und blickte sich dabei um, noch immer benommen von dem Schlaf, aus dem er soeben so plötzlich aufgeschreckt war. Irgendetwas stimmte hier nicht. Um ihn herum war es finster; nicht bloß dunkel, nein, da war nichts als vollkommene Schwärze auszumachen. Nicht einmal eine Spur von Licht, keine Silhouetten, die sich vom Hintergrund abhoben, einfach…nichts. Wie erblindet tastete er neben sich über den Boden, und an seinen Fingern spürte er etwas kaltes, feuchtes… gleichzeitig registrierte er den Geruch, der in der stickigen Luft lag, und als diese beiden Eindrücke sich zu einem passenden Bild zusammenfügten, merkte er, wie ein Gefühl von Panik durch seinen Körper schoss. Es roch nach Erde. Er saß auf matschigen Boden, schien bis eben hier geschlafen zu haben, und als er weiter tastete, bis er auf beiden Seiten seines Körpers gegen eine Wand stieß, fühlte diese sich ganz genauso an. Unter ihm Erde. Neben ihm Erde. Über ihm… Er hob den Kopf, doch noch immer war da keine Spur von Licht, und so blieb ihm nicht wirklich etwas anderes übrig als sich langsam weiter aufzurichten, sich an einer der Erdwände weiter nach oben zu tasten. Es dauerte lediglich wenige Augenblicke, bis er mit den Fingerspitzen gegen etwas Hartes stieß. Es war ebenfalls kalt und leicht feucht, doch als Victor vorsichtig darüber kratzte gab es kein bisschen nach, zu fest war diese Oberfläche… Victor spürte, wie sein Herz immer und immer schneller schlug. Wo auch immer er hier sein mochte, er musste hier raus, denn wenn er hier blieb, an diesem unbekannten Ort, der so schmal war, dass er noch nicht einmal seine Arme vollständig hatte ausstrecken können, und so niedrig, dass er auf den Knien hocken musste um sich nicht den Kopf an der Decke anzustoßen, dann würde er wahrscheinlich in Panik verfallen, und das wäre wohl das Schlechteste, was passieren konnte… Bereits jetzt hatte er den Eindruck, dass die Luft um ihn herum verbraucht war, dass sie kaum noch Sauerstoff enthielt, und dafür umso mehr Kohlendioxid. Er wusste nicht wie er hier hergekommen war, und wie lange er bereits hier gelegen und anscheinend geschlafen hatte, doch darum konnte er sich später Gedanken machen; erst einmal musste er sich darauf konzentrieren, ruhig zu bleiben, nicht zu hyperventilieren und womöglich bewusstlos zu werden. Darum bemüht, Ruhe zu bewahre, legte er seine Handflächen auf die kühlte, glatte Fläche über sich. Atmete einmal tief durch und spannte sich dann an, drückte mit all seiner Kraft gegen das, was, dem Gefühl nach zu urteilen, eine Steinplatte war, hinter der sich hoffentlich frische Luft und ein Ausweg aus diesem Gefängnis verbarg… Es bewegte sich keinen Millimeter. Leise und frustriert schrie Victor auf, ein Laut, der klang wie das Wimmern eines verwundeten Tieres. Ein weiteres Mal drückte er gegen die vermeintliche Platte, und dieses Mal rieselte ein wenig Erde an den Wänden herab, doch das war das Einzige, was passierte. Verzweifelt ließ Victor die Spannung aus seinem Körper weichen. Er fühlte sich benommen, hatte den Eindruck, dass die Lust um ihn herum noch um einiges stickiger gewesen war, und obgleich dies wohl auch seiner aufkeimenden Panik zu verschreiben war hatte er das Gefühl, kaum noch richtig atmen zu können… Gleichzeitig tauchten vor seinem inneren Auge Bilder auf, Bilder, wie er sie immer vor sich gesehen hatte wenn er Geschichten über Leute aus vergangenen Jahrhunderten gehört hatte, die fälschlicherweise für tot erklärt und lebendig begraben worden waren. Die in ihren Särgen wieder aufgewacht waren, bereits mehrere Fuß tief in der Erde, und die bei den verzweifelten Versuchen, sich zu befreien, die Totengräber in Angst und Schrecken versetzt hatten. Die man, hatte man einmal einen solchen Sarg geöffnet um dem vermeintlichen Untoten mit einem Pflock durch Herz zur ewigen Ruhe zu verhelfen, mit abgeschürften Fingerkuppen in mit Kratzern übersäten Särgen vorgefunden hatte… Derartige Gedanken waren alles andere als förderlich dafür, die Ruhe zu bewahren, doch konnte Victor nicht anders, als daran zu denken, und am liebsten hätte er geschrien und wie von Sinnen gegen diese verdammte Platte über sich geschlagen, bis seine Hände schmerzten und bluteten, in der Hoffnung, dass irgendjemand ihn hören, ihm helfen würde. War es das, was mit ihm passiert war? War er lebendig begraben worden? Nein, das konnte nicht sein. Er lebte nicht im achtzehnten Jahrhundert, heute passierten solche Dinge nicht mehr, schon gar nicht in einem Land wie Amerika. „Ist egal!“, zischte er, und der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn beinahe. „Wenn ich hier nicht rauskomme, bin ich auf jeden Fall nicht mehr lebendig begraben!“ Dann verstummte er. Seine eigenen Worte zu hören mochte ihnen Nachdruck verleihen, doch zu Reden verbrauchte auch Energie, und Luft. Er konnte es sich nicht leisten etwas davon zu verschwenden… Noch einmal richtete er sich auf. Nahm all seine Kraft zusammen und stemmte sich gegen die Decke, und dieses Mal ertönte ein leises Knirschen und weitere Erdbrocken rieselten neben ihm zu Boden. Doch das war alles was passierte. Da war keine wahrnehmbare Bewegung der Platte, kein Licht, das durch einen Spalt fiel, kein Hauch von frischer Luft. Bloß diese vollkommene, undurchdringliche Dunkelheit. Eine Welle der Resignation überkam Victor. Er ließ sich zurückfallen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, atmete tief ein, in der Hoffnung, den aufkommenden Schwindel in sich ein wenig abschwächen zu können, doch obgleich er absolut nichts erkennen konnte hatte er dennoch das Gefühl, dass alles um ihn herum anfing, zu schwanken. „Ich werde bewusstlos“, schoss es ihm durch den Kopf, und ein Schauer lief ihm über den Rücken und ließ ihn heftig erzittern. „Ich wird hier drinnen ohnmächtig, und dann ersticke ich im Schlaf… und ich weiß nicht mal, warum ich hier bin!“ Ein weiterer Atemzug. Dieses Mal fühlte es sich an, als würden seine Lungenflügel sich zusammenziehen, sich weigern, den wenigen Sauerstoff, der noch übrig war, aufzunehmen. Reflexartig schnappte Victor nach Luft, doch schien dort keine zu sein; sie war nicht bloß abgestanden sondern scheinbar vollends verschwunden. Als befände er sich in einem Vakuum, oder tief unter Wasser, bloß ohne Wasser, das in seine Lunge eindrang. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Brustkorb, doch Victor spürte ihn kaum. Eine Schwere hatte von ihm Besitz ergriffen die ihn betäubte, während das Gefühl von Schwindel intensiver wurde, und seine Gedanken immer und immer langsamer durch die Windungen seines Gehirns flossen… Jede noch so kleine Bewegung war unendlich mühsam, jeder Teil seines Körpers fühlte sich schwer an wie Blei, als wäre die Gravitation auf einmal um einiges stärker als gewöhnlich. In einem letzten, verzweifelten Versuch, doch noch irgendwie einen Ausweg zu schaffen, streckte Victor einen Arm aus, aber es gelang ihm noch nicht einmal, mit den Fingerspitzen die Steinplatte zu berühren, bevor ihn das Gefühl übermannte in eine unendliche Tiefe hinabgerissen zu werden.   Das Rot tropft auf die Straße. Bildet kleine Pfützen, vermischt sich mit dem Dreck auf dem Asphalt. Sie wimmert. Versucht, ihre Augen so öffnen, doch scheint es ihr Schmerzen zu bereiten; ihr Körper verkrampft sich und sie presst die Lippen aufeinander. Ihre Stimme ist leise, heiser, sie scheint zu versuchen, Worte zu formen, aber die Laute, die sie hervorbringt, haben kaum etwas Menschliches an sich.   Ein Lufthauch strich über Victors Gesicht. Plötzlich und unvermutet, eigentlich kaum spürbar, doch in dieser tödlich-stickigen Luft in diesem finsteren Gefängnis trotzdem deutlich wahrnehmbar. Reflexartig atmete Victor tief ein, sog das kleine bisschen Sauerstoff in seine Lunge, dabei versuchend, seine Augen zu öffnen, um sehen zu können was der Grund für diese sanfte Briese war, die ihm wahrscheinlich zumindest vorerst das Leben gerettet hatte. Doch seine Lider fühlten sich noch immer schwer an, so wie der Rest seines Köpers, und so konnte er nichts weiter tun als still dazusitzen und wie blind zu verharren, darauf wartend dass ein weiterer Lufthauch zu ihm hindurchdringen würde, mehr kostbarer Sauerstoff. Einige Augenblicke lang geschah nichts dergleichen. Wieder spürte Victor den Schwindel in sich aufsteigen, und wieder begannen sich vor seinem inneren Auge Bilder zu manifestieren die ihm irgendwie seltsam bekannt vorkamen, auch wenn er nicht hätte sagen können, weshalb. Schemen einer Gestalt, die vor ihm auf dem Boden lag, aber nicht in irgendeinem Loch in der Erde oder wo auch immer er sich grade befinden mochte, sondern draußen, unter freiem Himmel, auf einer Straße. Diese Bilder; das, was er jetzt sah, was er eben gesehen hatte als er beinahe bewusstlos geworden war, und jene, die in dem Traum vorgekommen waren aus dem er an diesem Ort erwacht war – sie alle schienen irgendwie zusammenzugehören. Und sie schienen wichtig zu sein. „Da kannst du später drüber nachdenken!“, fuhr er sich in Gedanken selbst an, dabei einen weiteren Versuch unternehmend, die Augen zu öffnen. Erneut ohne Erfolg. Eine Welle von Erschöpfung überkam ihn, gab ihm das Gefühl einer weiteren Ohnmacht nicht mehr entkommen zu können. Das Hier und Jetzt schien vollkommen endgültig, absolut ausweglos, er war gefangen und viel zu schwach um irgendetwas zu tun… Dann ertönte ein knirschendes Geräusch. Es kam von oben, und es wurde lauter. Wandelte sich zu einem Schleifen, gemischt mit einem unangenehmen Quietschen, und während dieses Geräusch immer weiter an Intensität zunahm wurde der stickige beengte Raum um Victor herum mit kalter, frischer Luft durchflutet. Wieder atmete er tief ein. Der Sauerstoff füllte seine Lungen und ließ den Schwindel zurückweichen, diesmal war es mehr als bloß ein Hauch, nun war alles voll mit Luft, die man wirklich atmen konnte, die sich nicht mehr stickig und verbraucht anfühlte, was es Victor nun auch endlich ermöglichte sich zu bewegen und seine Augen zu öffnen. Im ersten Augenblick schien die Umgebung nicht anders auszusehen wie zuvor, da war noch immer einfach bloß Dunkelheit. Es dauerte einige Sekunden lang, bis Victors Augen sich ein wenig an die Finsternis gewöhnt hatten, doch dann konnte er etwas erkennen, denn mattes silbriges Licht fiel auf die Erdwände um ihn herum und ließen ihn die genaue Form eben dieser nun zumindest visuell erahnen. Dann hob er den Kopf. Der Mond, der voll am Himmel stand und einen weißlichen Schimmer über die Umgebung warf, war im Vergleich zu der vorher herrschenden vollkommenen Finsternis derart grell, dass er Victor blendete. Reflexartig kniff er die Augen zusammen und hob eine Hand, um das Licht ein wenig abzumildern – es war verrückt; der Mond erschien ihm so hell, als handele es sich dabei um die Sonne statt um einen Erdtrabanten, der lediglich von dieser beleuchtet wurde. „Wirklich sehr poetisch“, murmelte er leise zu sich selbst, und der Spott in seiner Stimme war wohl lediglich seiner immer stärker werdenden Verwirrung und Unsicherheit geschuldet. Ein wenig schwankend richtete er sich auf. Seine Beine fühlten sich taub an, schnell stützte er sich mit beiden Händen gegen eine der Wände, aus Angst, sofort wieder zusammenzubrechen, wobei sein Blick weiterhin nach oben gerichtet war. Hoch zu dem viel zu grellen Mond. Oben, wo die Freiheit wartete. Kapitel 2: Chapter 1 - 2 ------------------------ Er brauchte etwas, bis er so weit war, dass er über den Rand seines Gefängnisses hinwegblicken konnte. Das erste, was er sah, war eine große, schwer aussehende Platte aus dunklem Stein – also war seine Vermutung richtig gewesen; es war eine Steinplatte gewesen die ihm zuvor den Ausweg versperrt hatte, und jetzt, wo er sie sah, wunderte es ihn kein Stück mehr, dass er es nicht geschafft hatte, sie zu bewegen. Aber wer hatte sie dann… Er schob den Gedanken beiseite, vorerst zumindest, konzentrierte sich darauf bei dem Versuch, aus dem Loch in dem er sich befand, hinauszuklettern nicht abzurutschen. Es fiel ihm erstaunlich schwer, und als er es schließlich geschafft hatte, auf allen Vieren auf einer mondbeschienenen Grasfläche kauerte, fühlte er sich, als sei er grade hunderte Meter weit gesprintet. Kurz schloss er die Augen, atmete einige Male tief ein. Wirre Gedanken rasten durch seinen Kopf, Fragen, auf die er keine Antworten hatte – wo bin ich, warum bin ich hier, wie bin ich hier hergekommen - ; Versuche, diese zumindest ein wenig zu ordnen, blieben vergeblich. Die Finsternis, die durch seine geschlossenen Lider entstand, schien dieses Chaos in seinem Kopf bloß schlimmer zu machen, sodass Victor die Augen wieder öffnete, sekundenlang einfach bloß nach unten auf seine Hände und das Gras starrte. Nun erst fiel ihm auf, dass er seine Handschuhe nicht trug. Das war ungewöhnlich, denn er trug eigentlich immer Handschuhe, unabhängig davon wie warm oder kalt es auch sein mochte; es gab zu viele Dinge deren Berührung ihm unangenehm war als dass er darauf hätte verzichten können, sobald er aus dem Haus ging. Wieso war ihm das nicht bereits dort unten aufgefallen, als er die Erde berührt hatte? Zwar gehörte Erde nicht zu den Objekten, deren Gefühl auf der Haut ihn anwiderte, aber trotzdem…er hätte es bemerken müssen. „Na ja, ich hatte auch andere Probleme“, murmelte er, setzte sich dabei auf und betrachtete erneut seine Umgebung. Seine Hoffnung, dass die Frage, wo er sich befand, so beantwortet werden könnte, schwand sofort. Vor ihm lagen einige Meter Grasfläche, die weiter hinten begrenzt wurde von dornigem Gestrüpp und hoch in den Nachthimmel aufragenden Bäumen. Die Pflanzen trugen keine Blätter, waren vollkommen kahl, abgesehen von einigen dunklen runden Gebilden hoch oben im Geäst, bei denen es sich vermutlich um Misteln handelte. Unwillkürlich musste Victor frösteln. Dieser Anblick legte die Vermutung nahe, dass es Winter oder zumindest später Herbst sein mochte. Konnte das sein? …Wie war es überhaupt möglich, dass er sich nicht einmal daran erinnerte, welche Jahreszeit aktuell herrschte? Was, zur Hölle, war mit ihm passiert, dass er derart wenig wusste. Erneut war Panik im Begriff, sich in ihm auszubreiten, schnell umfasste Victor sein Handgelenk und umklammerte es mit festem Griff. Das Gefühl half ihm ein wenig dabei, nicht abzudriften, sich in einem wirren Anfall von Angst zu verlieren in dem er keinen klaren Gedanken mehr würde fassen können, und als er schließlich anfing, zu sprechen, klang seine Stimme fester als er erwartet hätte: „Ok, ruhig. Nicht alles auf einmal. Was weiß ich denn?“ Eine hervorragende Frage, für deren Beantwortung er in der Tat ein wenig Zeit brauchte. Alles in seinem Kopf schien einfach so verdammt wirr zu sein, verdreht und durcheinander, teils so surreal und undeutlich dass er keine Ahnung hatte, ob er dem, was er zu wissen glaubte, wirklich Glauben schenken konnte. Als er weitersprach hatten seine Worte einiges von ihrer Sicherheit verloren, seine Antworten klangen eher, als handele es sich dabei um weitere Fragen. „Ich heiße Victor Cormins… bin… sechzehn Jahre alt… wohne in Seborga…“ Das war ein Anfang, besser als nichts. Wenn es denn stimmte. Aber irgendwie war das auch alles, bei dem er sich zumindest einigermaßen sicher war, alles andere könnte ebenso gut Einbildung sein, wirkte kaum realer als der Traum aus dem er zuvor erwacht war… Der Traum. Irgendetwas war mit diesem Traum. Etwas…Wichtiges… Wie er auf diese Idee kam, wusste er nicht. Er wusste überhaupt nichts, und je stärker er versuchte sich zu erinnern, an irgendetwas, was ihm dabei helfen könnte seine Verwirrung zu verringern, desto weiter schienen mögliche Erinnerungen und Antworten zurückzuweichen, zu verschwimmen, zu verblassen. Als würde Licht auf einen unentwickelten Film fallen und die Bilder darauf zerstören. Ein wenig genervt verdrehte Victor die Augen, ein weiterer Ausdruck seiner unterschwelligen Nervosität. „Wird ja immer schlimmer mit diesen poetischen Vergleichen! Aber vielleicht sollte ich mich besser erst mal drauf konzentrieren, rauszukriegen, wo…“ Er schaffte es nicht, seinen Satz zu beenden. Im Reden hatte er sich ein Stück aufgerichtet, nach links und rechts geblickt und sich schließlich langsam umgedreht, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, was für ein Ort das hier war, an dem er unerklärlicherweise aufgewacht war. Doch was er erblickt hatte, an dem Punkt der zuvor direkt hinter ihm gelegen hatte, hatte seine Stimme abbrechen und seinen Atem stocken lassen. Hinter der schmalen Grube, aus der er zuvor herausgekrochen war und die von hier oben kaum weniger unheimlich anmutete als es dort drin der Fall gewesen war, ragte ein glatter, beinah menschengroßer Stein zur Silhouette des Mondes hinauf. Seine Form war ungewöhnlich kantig, es bestand kein Zweifel daran dass er nicht von Natur aus zu geformt gewesen war, sondern dass dies wahrscheinlich durch Menschenhand geschehen war. Doch diese Dinge allein, die gemeinsam bereits ein beunruhigend horrorfilmartiges Bild ergaben, waren es nicht gewesen, die Victor derart erschreckt hatten. Nein, was ihn verstummen lassen und ihm den Atem geraubt hatte, war die Schrift, die in großen, geschwungenen Lettern in den Stein gemeißelt worden waren. Dabei konnte er im ersten Augenblick lediglich die obersten drei Buchstaben ausmachen, die ungefähr doppelt so groß geschrieben worden waren wie der Rest: „R. I. P.“ Es war seltsam, skurril. Aber seine erste Reaktion, nachdem er den ersten Schock überwunden und zumindest ansatzweise seine Stimme wiedergefunden hatte, war es, ein unnatürlich schrilles Lachen auszustoßen. Der Klang hallte durch die Stille der Nacht, wurde von irgendwo zurückgeworfen und dabei seltsam verzerrt. Es klang unheimlich, nahezu grauenerregend, jedoch hatte Victor keine Zeit, sich darauf zu konzentrieren, war er doch bereits dabei, die Zeilen unter den obersten Buchstaben zu entziffern. Und was er dort las, sorgte nicht grade dafür, dass er sich wohler fühlte. „Покойся с миром“, stand dort, und Victor brauchte in der Tat einen Augenblick, bis er begriff dass es sich dabei um kyrillische Buchstaben handelte. „Pokoysya s mirom“. „Ruhe in Frieden“. Am liebsten hätte er wieder gelacht, einfach, um seiner absoluten Überforderung Ausdruck zu verleihen, aber wahrscheinlich hätte der Klang seiner Stimme, mit Sicherheit schrill und verängstigt klingend, bloß noch weiter in die Panik getrieben. Außerdem galt seine Aufmerksamkeit weiterhin dem, was ganz offensichtlich ein Grabstein war; ein Grabstein auf einem offenen Grab, in dem er vor wenigen Minuten noch gefangen gewesen war. Die Inschrift ging noch weiter, bedeckte beinahe den ganzen Stein. Und mit jeder Zeile schien sie immer und immer kryptischer zu werden. „Hier liegt Victor Cormins. Ruhe in Frieden ist eine Lüge. Die Chance ist vertan. Die Entscheidung wurde getroffen, und alles hat Konsequenzen. Auch wenn die eigene Unkenntnis Wissen unterdrückt. Was geschehen ist, ist hier. Es muss bloß gefunden werden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)