Thin Lines von Mitternachtsblick ================================================================================ Prolog: Ten Thousand Hours -------------------------- „Du wirst dich fragen, warum er so strengen Auflagen unterliegt und die ersten drei Jahre in Einzelhaft gesessen ist“, sagte Takao zu Kai, als sie das Gefängnis betraten und durch die Sicherheitsschleuse traten. „Er hat ein Temperament, aber ansonsten deutet nichts darauf hin, dass er für Volkov einige der schwersten Verbrechen der letzten fünfzig Jahre in der Stadtgeschichte begangen hat. Diebstahl, Schmuggel, Erpressung, Mord - da war alles dabei.“ „Er wurde wegen Mordes nie angeklagt“, merkte Kai an und sammelte seine Dienstmarke und die Waffe wieder ein. „Nur weil wir nichts beweisen konnten.“ Takao seufzte. Es war offensichtlich, dass er von ihrem Vorhaben nicht begeistert war, aber man hatte lang und breit besprochen, was die beste Herangehensweise war und entschieden, dass es diese war - trotz ihrer potenziellen Risiken. Kai waren diese Risiken egal. Für ihn zählte nur eines: Nach zehn Jahren hatten sie endlich wieder eine Spur zu Volkov und er würde alles tun, um ihn endlich hinter Gitter zu bringen. Egal, wie hoch der Preis war. Leider wusste das auch Takao. So wurde Kai ernst von der Seite her gemustert, als sie ihren Weg zu dem Einzelraum suchten, in dem sie in Verhandlung treten würden. „Wir machen das genau so, wie wir es besprochen haben. Wenn er ablehnt, versuchen wir es eben auf die altmodische Art. Und wenn er zusagt-“ „Ich weiß“, knurrte Kai, der die ganzen Diskussionen satt hatte. Er hatte die Diskussionen satt und das Geflüster, das ihm nur wegen seines Nachnamens immer noch auf den Gängen des Dezernats folgte wie ein Gespenst, und das permanente Misstrauen, ob er tatsächlich seinen Job machte. Takao seufzte nur ein weiteres Mal. „Ich bin auf deiner Seite.“ Kai sparte sich eine Antwort. Stattdessen betrat er mit gestrafften Schultern und gerader Haltung den Raum, zog einen der Stühle vor dem Tisch heran und begann, die mitgebrachten Unterlagen auf der Platte vor sich zu sortieren, während Takao eine Runde durch den Raum machte - Gewohnheit, seit dem einen Mal, wo ein Verhör ihn beinahe getötet hatte - und sich dann neben ihm niederließ. Kai bekam aus dem Augenwinkel mit, wie er sich streckte, aber sein Blick war auf die Akte vor ihm fokussiert, genauer gesagt auf das Foto, das herausgefallen war. Das Gesicht darauf war tödlich blass und trug die Spuren von Wut und Frustration. Brennende blaue Augen. Kaltrote Haare. Von den Spuren der Verletzungen, die zu seiner Aufgreifung geführt hatten, sah man auf dem Foto aufgrund des schwarzen Rollkragenpullovers nicht viel. Er blickte auf, als das Geräusch der Türe den Gefangenen ankündigte, auf den sie gewartet hatten. Der Mann, der in Handschellen von zwei Sicherheitsleuten hereingeführt und an den Stuhl auf der anderen Seite des Tischs gekettet wurde, war eindeutig älter als sein Foto in Kais Hand. Sein Haar war länger geworden und die Gefängniskleidung zeigte deutlich, dass er wenn überhaupt in Haft nur noch sehniger geworden war. Und auch Wut und Frustration lagen nun nicht auf seinem Gesicht. Stattdessen war da ein ironisches Lächeln, mit dem er Kai und Takao musterte. „Captain Kinomiya“, sagte Yuriy Iwanov, ehemalige rechte Hand von Vladimir Volkov, und breitete das Lächeln dabei ein wenig mehr. „Was führt Sie zu mir?“ „Guten Morgen, Mr. Iwanov“, sagte Takao freundlich, als ob er mit einem alten Bekannten plauderte. Aber Kai war schon lange genug sein Partner, um seine Körpersprache mühelos lesen zu können. Takao war angespannt und fokussiert. Die Sache war ernst. „Wie geht‘s?“ „Ich kann den Umständen entsprechend nicht klagen“, erwiderte Iwanov. Seine Augen glitten fast desinteressiert über Kai, bis auf die einzige Sekunde, an denen sie etwas zu lange auf seinem Gesicht verweilten. Aber Kai wusste, dass diese Sekunden manchmal alles waren, worauf es ankam. „Sind Sie den ganzen Weg hierher nur gekommen, um mich nach meinem Wohlbefinden zu fragen?“ Takao grinste fast verlegen und schüttelte den Kopf, während Kai mit finsterem Blick die Arme verschränkte. Er wusste, wann Takao die Guter-Cop-Böser-Cop-Nummer abziehen wollte und hatte kein Problem mit seiner zugewiesenen Rolle. Auch wenn Iwanov ihn überhaupt nicht beachtete, sondern den Blick weiterhin auf Takao behielt. „Natürlich nicht. Aber ich nehme an, Sie haben es bereits in den Nachrichten gehört.“ „Dass es morgen wolkig werden soll? Ja, durchaus. Schade, aber was soll man machen, nicht wahr?“ „Ich spreche von dem Casino.“ „Ah“, sagte Iwanov nach einer kurzen Pause mit einem wölfischen Lächeln. „Das neue Casino. Ich habe flüchtig davon gehört, ja.“ „Stellen Sie sich nicht dumm“, sagte Kai scharf, „wir wissen, dass es nicht an Ihnen vorbeigegangen wäre, dass Garland Siebald wieder aufgetaucht ist.“ Das war das erste Mal, dass Yuriy Iwanov ihn direkt ansah. Er lächelte nicht mehr. Stattdessen musterte er seine Haare, dann seine Gesichtszüge und schließlich seine Augen, bis er schnaubte und sich dann, einfach so, von ihm ab- und Takao zuwandte. „Ich nehme an, Sie bezwecken etwas damit, mir den Hiwatari-Spross vor die Nase zu halten und nach Siebald zu fragen.“ Kai starrte ihn an. Iwanov erwiderte seinen Blick ohne zu blinzeln, dann fragte er spöttisch: „Was - dachten Sie, ich kenne Sie nicht? Ich? Man hat mir schon von dem Hiwatari-Enkel erzählt, der zur Polizei übergelaufen ist, nachdem man seinen Großvater eingebuchtet hat. Einem anonymen Informanten zufolge noch dazu. Und Ihre Augen - sie verraten Ihr Hiwatari-Blut.“ Kai öffnete den Mund zu einer harschen Erwiderung, aber Takao kam ihm zuvor und hob beschwichtigend eine Hand. „Schauen Sie, Mr. Iwanov, ich will gleich zum Punkt kommen. Wir sind hier, um Ihnen einen Deal vorzuschlagen.“ Iwanov verengte die Augen. „Sprechen Sie.“ „Siebald ist weit oben in der Hierarchie von Volkovs Kartell“, sagte Takao, „da erzähle ich Ihnen nichts Neues. Ohne ihn wären Sie immerhin nicht hier. Er hat einen neuen Namen angenommen, aber den Nachnamen nicht geändert, so sind wir ihm auf die Schliche gekommen. Vor ein paar Monaten hat ein gewisser Brooklyn Masefield die Geschäftsführung der CEGA-Casinos übernommen.“ „Masefield“, murmelte Iwanov. Er wirkte nun konzentriert auf das, was Takao ihm berichtete. Der nickte und schob ihm die zweite Akte hin, die sie mitgebracht hatten. Die angeketteten Handschellen klirrten, als Iwanov die Akte zu sich zog und aufschlug. Fotos der drei Casinos, die die lokalen Auswüchse der Casino Entertainment Global Association waren, Fotos von Garland Siebald mit seinen kurzen, dunkel gefärbten Haaren und Brooklyn Masefield mit seiner umso auffälligeren Aufmachung. „Wir glauben, dass es sich bei diesem Namen ebenfalls um einen Decknamen handelt“, sprach Takao weiter, während Iwanov die Fotos studierte und bei denen von Siebald besonders lange verweilte. „Wir glauben weiterhin, dass Siebald - und vermutlich auch Masefield - immer noch für Volkov arbeiten. Das ist die erste Spur seit Jahren, die sich ergeben hat. Wir denken, dass Volkov das nächste große Ding plant und wir damit eine Möglichkeit haben, an ihn ranzukommen.“ Als Iwanov schließlich aufblickte, war sein Gesicht steinern. „Sprechen Sie Klartext.“ „Wir wollen Ihre Hilfe“, brachte Takao es auf den Punkt. „Nichts in unserem Intel deutet darauf hin, dass sich etwas an der Tatsache verändert hat, dass Siebald Volkovs neue rechte Hand geworden ist.“ Kai konnte sehen, wie Iwanov unwillkürlich eine Hand zu einer Faust ballte und dann wieder entspannte, als er sich des Impulses bewusst wurde. „Im Gegenteil, es war uns möglich, einen Agenten in seine Umgebung zu schleusen, womit uns die Information erbracht wurde, dass Siebald Volkovs Buchhalter ist. Irgendwo in diesen Casinos liegt der Schlüssel zu Volkovs Imperium. Wenn wir an den rankommen könnten, könnten wir sein Kartell endgültig stürzen.“ „Nicht irgendwo“, sagte Iwanov. „Ich weiß ganz genau, wo.“ „Wie bitte?“, sagte Kai in die Stille hinein, die seine Worte ausgelöst hatten. Iwanov lächelte grimmig. „Lassen Sie uns verhandeln, meine Herren. Was springt für mich dabei raus?“„Wir wissen, dass Sie ein persönliches Interesse daran haben, Siebald und Volkov ihrer gerechten Strafe zuzuführen“, sagte Takao, ohne sich lange bitten zu lassen. „Wenn Ihnen das nicht reicht, legen wir die Aufhebung der noch zu verbüßenden Haftstrafe von sechs Jahren obendrauf.“ Iwanov sagte einen Moment lang nichts. Dann: „Ich willige ein, unter der Bedingung, dass mir während der Sache sämtliche Freiheiten gegeben werden, die Sache mit meinem Team und meinen Profis abzuziehen. Selbstverständlich unter der Auflage, dass keine kriminellen Aktivitäten außerhalb der vereinbarten Herangehensweise durchgeführt werden, die wiederum natürlich ohne Blutvergießen, Gewalt oder sonstige Einwirkungen vonstatten geht.“ Takao und Kai wechselten einen Blick. Dann sagte Takao: „Nur, wenn Sie zustimmen, dass Hiwatari Sie undercover begleitet und sicher geht, dass die Auflagen eingehalten werden.“ Iwanov musterte Kai so lange, dass er sicher war, dass der Deal doch noch platzen würde. Dann jedoch lächelte er, langsam und wölfisch mit funkelnden Augen, und eine Moment lang hatte Kai das Gefühl, dass er einen Fehler gemacht hatte. „Einverstanden“, sagte Iwanov. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)