Thin Lines von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 6: Meine Lust will, dass es uns ewig gibt ------------------------------------------------- Letzten Endes bissen alle an, auch wenn noch nicht sämtliche Details des Raubzugs geklärt waren. Dafür würden sie erst einmal die Casinos infiltrieren müssen, die sie ausrauben wollten, um ein Gefühl für Terminpläne, Zeitabfolgen und Räumlichkeiten zu bekommen. Sie diskutierten noch ein wenig die Gruppen aus, in denen sie in der nächsten Woche die Casinos auskundschaften würden, und machten weitere Treffen aus dann löste sich die Versammlung auf ein unausgesprochenes Zeichen hin nach und nach auf, als die meisten ihrer Wege gingen. Yuriy hielt durch, bis nur noch sie beide, Sina, Sergej, Ivan und Hiwatari im Penthouse waren. Für den Rest des Teams musste es aussehen, als ob er unbekümmert weiterlächelte. Aber Boris konnte ganz deutlich erkennen, wie sein Gesicht immer bleicher und der Ausdruck um seine Augen angespannter wurde. Am Liebsten hätte er Hiwatari hochkant hinausgeworfen, aber leider war das ja keine Option. Ihm die Nase brechen auch nicht. Dabei hatte seine Fresse etwas, das zum Reintreten geradezu einlud, ganz wie ein Winterstiefel. „Gehen wir noch was essen?“, fragte Sina aufgeräumt und war schon drauf und dran, ihre Stiefel zuzuschnüren. Boris wuschelte ihr über den Kopf und grinste, als er ihr ein empörtes Quieken entlockte. Die junge Frau war für ihn selbst wie eine kleine Schwester; nachdem er sich um sie gekümmert hatte, als man Yuriy eingesperrt hatte, fiel es ihm manchmal schwer, sie als erwachsenen Menschen zu sehen. Dabei war sie eigenwillig und ging ihren Weg, lebte ihr eigenes Leben und hatte ihre eigene Karriere. Er war so stolz über ihren ersten Diebstahl vor sechs Jahren gewesen, dass er sogar ein kleines Tränchen verdrückt hatte. Zu seinem Geburtstag stahl Sina ihm im Jahr darauf sogar eine ganze Schokoladentorte aus einer Nobelkonditorei. Nur Yuriy fehlte an dem Tag zu seinem Glück, aber man konnte nicht alles haben. „Ich muss noch etwas mit Yuriy besprechen“, sagte er ihr, „morgen dann?“ Sina rollte mit den Augen. „So nennt man das heute also?“ „Sinaida! Welch lasterhafte Gedanken in dies zartem Alter!“, rief Yuriy prompt aus und tat, als ob er dramatisch nach einer unsichtbaren Perlenkette griff. Wenn er dabei etwas zu ehrlich ächzte und einen Moment lang die Finger etwas zu fest ins Hemd grub, dann sahen es nur Boris‘ kundige Augen. Er blickte auf und bemerkte, dass Hiwataris Augen fest auf Yuriys Hände gerichtet waren, der Gesichtsausdruck des Polizisten undeutlich. Okay, vielleicht bemerkte es nicht nur Boris. Blöder Arsch. Sina rollte erneut mit den Augen, dann lief sie mit wehenden roten Haaren den Korridor hinunter und klopfte gegen eine Tür. „Vanja! Serjoscha! Ich will Pizza!“ Boris kam gerade dazu, Luft zu holen, da war Sina schon wieder neben ihnen und zupfte ausgerechnet an Hiwataris Jackett. „Hey, komm doch auch mit.“ Hiwatari blinzelte wie überfahren. Boris verkniff sich ein Grinsen. „Bitte?“ „Essen!“ Sie musterte ihn kritisch, dann machte sie einen auffordernden Ruck mit ihrem Kopf Richtung Tür. Im hinteren Bereich des Penthouses kamen Sergej und Ivan ergeben in ihren Lederjacken zu ihnen vor. „Na komm, ich kenne nen tollen Laden hier in der Nähe. Bist du ein Hawaii-Typ? Nein, du wirkst mir nicht wie der Hawaii-Typ. Salami?“ „Salami ist schon gut“, sagte Hiwatari schwach. „Ja, nicht wahr? Bisschen langweilig vielleicht. Wie heißt du nochmal? Kai? Kai war es, ja?“ „Äh, ja“, sagte Hiwatari schwach. Boris hüstelte einen Lacher in die Hand, als der Polizist fast hilflos zu Yuriy blickte. Yuriy wiederum verzog die Lippen zu einem wölfischen Grinsen und tätschelte Hiwatari die Schulter. Boris blickte weg, als seine Hand ein wenig zu lang auf Hiwataris Rücken verweilte, und er lächelte erst wieder, als Yuriy sachte eine rote Strähne hinter Sinas Ohr zurücksteckte. „Viel Spaß“, wünschte er dann jovial, „nehmt ihr Borja und mir auch was mit?“ „Klar. Diavolo für Boris-“ Sie zögerte einen Moment. „Magst du immer noch die Calzone?“ Etwas in Yuriys Augen wurde für den Bruchteil einer Sekunde sanft und traurig. Dann nickte er und drückte einen Schmatzer auf ihre Wange. „Wenn sie in den letzten zehn Jahren irgendwas Besseres rausgehauen haben, kannst du mich gerne damit überraschen.“ „Ich werde mal schauen, was uns über den Weg kriecht“, versprach sie lachend, packte den weiterhin vollkommen verdatterten Hiwatari und zog motiviert auf Sergej und Ivan einredend von dannen. Die Tür fiel ins Haus und ließ Stille zurück. Yuriy sackte fast augenblicklich gegen Boris. Boris fing ihn auf und verzog das Gesicht, als Yuriy einen gepeinigten Laut von sich gab. Er hielt ihn an den Schultern und strich ihm das Haar aus den Augen, während Yuriy tief, fast rasselnd Luft holte. Eine Weile verharrten sie so, dann klopfte Yuriy auf seinen Arm. „Bring mich bitte ins Zimmer“, murmelte er. Boris gab einen zustimmenden Laut von sich. Gemeinsam schafften sie es in das Schlafzimmer, das sie sich für die Dauer der Operation teilten, und Yuriy ließ sich schwerfällig auf die Bettkante fallen. „Salbe, bitte“, sagte er und Boris half ihm dabei, das Jackett abzustreifen, ehe er zur Theke ging und die Salbe holte, während Yuriy sich das Hemd aufknöpfte. Die Spur der Verwüstung, die Garlands hinterfotziger Anschlag auf Yuriys Körper hinterlassen hatte, war beim ersten Mal nicht ganz einfach anzusehen gewesen, aber mittlerweile hatte Boris sich daran gewöhnt. Wulstiges, dickes Brandnarbengeflecht, das zu spät und nicht ausreichend behandelt worden war, zog sich in Schlieren über seine Brust, Arme und einen großen Teil des Rückens. Schneewehen, die an ihren Rändern in morgensonnenrote Schluchten übergingen. Boris wartete, bis Yuriy aus dem Hemd heraus war und schwer atmend die besonders großen Narben über seiner Brust berührte. „Du solltest früher was sagen, Yura“, sagte er und schraubte den Salbentiegel auf, um die Fingerspitzen hineinzutauchen und die kühle Paste auf dem Narbengewebe zu verteilen. Yuriy schnaubte. „Das hier ist kein Kindergeburtstag. Ich kann mir das gerade nicht leisten, so überhaupt nicht.“ Boris verdrehte die Augen. „Nimm deine Schmerzmittel, alter Mann.“ „Wen nennst du hier alt, du seniler Greis? Du bist vier Monate älter als ich.“ „Im Gegensatz zu dir halte ich mich aber fit, mit regelmäßigem Sport und so.“ Yuriy grinste anzüglich, auch wenn der Ausdruck durch sein immer noch sehr bleiches Gesicht ein wenig an Aussagekraft verlor. „Ich kann mich auch mit regelmäßigem Sport fit halten. Du musst mir nur die Klimmstange halten.“ „Vielleicht willst du ja lieber Hiwataris Stange erklimmen“, rutschte es Boris heraus. Er vermied sorgfältig jeglichen Blick in Yuriys Gesicht und konzentrierte sich auf das Auftragen der Salbe. Yuriy war einen Moment lang bis auf seinen schweren Atem ruhig. „Eifersucht steht dir nicht, Borja.“ „Als würdest du es nicht genießen.“ „Du hattest nie ein Monopol auf mich, ich dachte, dass wir das klar ausgemacht haben.“ „Verdammte Scheiße, Yuriy.“ Mit einem Aufflammen jener heftigen Wut, die ihn seine ganze Jugend lang begleitet hatte, pfefferte Boris den Salbentiegel neben Yuriy aufs Bett. Der Rotschopf zuckte nicht mit der Wimper, sondern blickte ihn nur mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck an. Boris schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du warst verfickte zehn Jahre unerreichbar, ich habe trotzdem jeden Tag darauf gewartet, dass du wieder rauskommst, dass wir alle wieder zusammen sind, dass alles wieder - und du kommst mir hier mit ‚du hattest nie ein Monopol auf mich‘. Verfickte Scheiße, das weiß ich. Niemand hat ein Monopol auf dich. Dein letzter Liebhaber hat dich mit einem ganzen Gebäude in die Luft gejagt, weil er seine Karriere über dich gestellt hat. Aber hey, alles kein Ding, alles ganz locker!“ Er schnaubte. „Komm mir nicht mit ‚Eifersucht steht dir nicht‘, wenn‘s mir nicht gefällt, dass du einem verfickten Undercover-Cop hinterherhechelst wie eine läufige Hündin. Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Weiß er, dass du ihn schon seit Jahren beobachten lässt?“ Yuriy, der ihm schweigend und ohne zu blinzeln zugehört hatte, verzog die Lippen nun zu einem dünnen Lächeln. „Natürlich nicht.“ „Und was wirst du tun“, fragte Boris leise, „wenn er draufkommt, dass du verwickelter in den Mord an seinem Vater bist, als er annimmt?“ Jetzt wurde Yuriys Gesicht hart wie Granit. „Das werde ich schon handlen. Du hältst die Fresse.“ „Oh, du handlest ja immer alles so toll alleine“, sagte Boris höhnisch. „Du kennst meine Meinung dazu. Die ganze Sache mit Hiwatari kann dieses Boot ganz schnell zum Kentern bringen.“ „Und das hat auch überhaupt nichts mit irgendeiner Eifersucht zu tun.“ Yuriy rieb sich über das Gesicht. „Die ganze Sache mit Hiwatari kann diesem Boot auch einen Turboantrieb verpassen.“ „Du pokerst hier mit unseren Leben.“ „Und du lässt mich“, sagte Yuriy hart, „du hast mich immer gelassen. Ihr habt mich alle immer gelassen, ich habe immer die Verantwortung getragen und du weißt ganz genau, dass ich sie auch weiter tragen werde. Also komm‘ mir jetzt hier nicht mit erhobenem Finger.“ „Ein erhobener Finger würde dir manchmal vielleicht ganz gut tun, genauso wie man dir vielleicht öfter den Hintern versohlen sollte“, schnappte Boris. Sie maßen sich einen Moment lang schweigend mit Blicken. Yuriys blaue Augen sprühten wütende Funken und Boris konnte sehen, dass er sich nur mit Mühe zurückhielt. Dann jedoch schnaubte Yuriy plötzlich und deutlich amüsiert, und etwas von der Spannung im Raum löste sich in Wohlgefallen auf. „Das Hinternversohlen würde dir wohl so passen“, sagte er rau und streifte sich die Schuhe ab, ehe er den Gürtel öffnete. Boris grollte leicht, als auch der letzte Rest Wut sich angesichts von Yuriys zitternden Fingern verflüchtigte, dann ging er ihm zur Hand. Yuriy schloss die Finger fest um seinen Unterarm, als er ihm etwas mehr aufs Bett half, bis Yuriy bequem in die Kissen sinken konnte. Boris setzte sich neben ihn und hielt seine Hand. Als seine Finger sich um Yuriys schlossen, öffnete der die Augen. Erneut blickten sie sich an, aber es war ein anderer Blick als noch ein paar Momente zuvor - tief, vielleicht nicht verstehend, aber akzeptierend. Der Blick zweier Leute, die zu viel miteinander durchgemacht hatten, als dass etwas anderes als der Tod sie wirklich voneinander trennen konnte. Boris verstand Yuriy nicht. Manchmal bildete er sich ein, dass er es tat, aber oft stimmte es einfach nicht. Es spielte allerdings keine Rolle. Er musste Yuriy nur ansehen und wissen, dass es keine Rolle spielte. Yuriy drückte seine Hand, als ob er seine Gedanken erraten konnte. „Du weißt, dass niemand so für mich ist wie du.“ „Niemand ist so wie ich, ja“, sagte Boris. Dann seufzte er. „Yura. Ist es eine gute Idee, dieses Ding abzuziehen? Sag mir ganz ehrlich: packst du das?“ „Du unterschätzt die Macht von Schmerzmitteln.“ „Ich schlage dich gleich wirklich.“ „Oh, Boris, da werde ich gleich ganz rot!“ Yuriy grinste, dann wurde er ernst. „Wir ziehen das jetzt durch. Und wenn es das letzte ist, was ich in diesem gottverdammten Leben tue.“ Genau davor habe ich Angst, dachte Boris, aber er sprach es nicht aus. Er sagte auch nichts, als Yuriy nach den Tabletten und dem Wasserglas griff und die Pillen mit einigen Schlucken aus letzterem hinabspülte, ehe er die Augen schloss. „Was hast du für mich aufgegeben?“, fragte er dann. Boris zögerte. „Das ist nicht so wichtig.“ Yuriy öffnete ein Auge, dann schloss er es wieder. „Du musst nicht drüber reden. Ich weiß, dass ich viel verpasst habe.“ Boris rieb sich über das Gesicht und atmete tief durch. Er hatte das Bedürfnis nach einer Zigarette, aber Yuriy war erstaunlich pedantisch, was das Rauchen in Innenräumen anging, die kein Auto waren. „Da war ein Mädchen“, sagte er schließlich. „Clever. Warmherzig, auch wenn sie eine richtige Furie sein kann. Sie mischt sich in viel zu viele Dinge ein, aber sie meint es nur gut.“ Yuriy rührte sich nicht. Von seinem Gesichtsausdruck war nicht zu lesen, wie er empfand. „Wie heißt sie?“ „Hiromi.“ „Hiromi? Ist das japanisch?“ „Ja.“ „Du lässt dir echt jedes Wort aus der Nase ziehen“, stellte Yuriy fest und sah ihn nun doch wieder an. „Das heißt, dass es was Ernstes war.“ Boris sagte nichts. Yuriy starrte ihn einen Moment lang forschend an, dann neigte er ein wenig den Kopf. „Was ist passiert?“ „Sie ist ein anständiges Mädchen“, sagte Boris düster, „und ich bin ein Krimineller, Yura. Werde es immer sein. Die Katze lässt das Mausen nicht. Vielleicht hätte ich es für sie geschafft, aber … dann bist du rausgekommen und es war keine Frage.“ „Keine Frage?“ „Keine Frage, dass ich dir dabei helfe, das Schwein bluten zu lassen. Das ist keine Welt für ein Mädel wie sie.“ Yuriy schwieg einen langen Moment. Es war deutlich sichtbar, dass er müder und müder wurde, je mehr die Schmerzmittel ihre Wirkung entfalteten. Aber dann drückte er noch einmal Boris‘ Hand. „Ein letztes Ding“, sagte er leise, „und dann tust du mir einen Gefallen und machst endlich einmal das, was du wirklich willst - ohne auf mich zu achten, ohne das Gefühl zu haben, irgendwem was zu schulden. Du wirst mich immer haben. Ich werde immer da sein, egal was du tust.“ Ein Klumpen steckte in Boris‘ Kehle, sodass er nur stumm nicken konnte. Er blieb bei Yuriy, bis dessen schwere, ruhige Atemzüge verrieten, dass er eingeschlafen war. Dann ging er hinaus, schloss die Tür hinter sich und trat auf die Terrasse, um auf die Stadt zu blicken und zu rauchen, und ein wenig an ein Mädchen zu denken, das ihm eine Weile lang die Welt bedeutet hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)