Thin Lines von Mitternachtsblick ================================================================================ Prolog: Ten Thousand Hours -------------------------- „Du wirst dich fragen, warum er so strengen Auflagen unterliegt und die ersten drei Jahre in Einzelhaft gesessen ist“, sagte Takao zu Kai, als sie das Gefängnis betraten und durch die Sicherheitsschleuse traten. „Er hat ein Temperament, aber ansonsten deutet nichts darauf hin, dass er für Volkov einige der schwersten Verbrechen der letzten fünfzig Jahre in der Stadtgeschichte begangen hat. Diebstahl, Schmuggel, Erpressung, Mord - da war alles dabei.“ „Er wurde wegen Mordes nie angeklagt“, merkte Kai an und sammelte seine Dienstmarke und die Waffe wieder ein. „Nur weil wir nichts beweisen konnten.“ Takao seufzte. Es war offensichtlich, dass er von ihrem Vorhaben nicht begeistert war, aber man hatte lang und breit besprochen, was die beste Herangehensweise war und entschieden, dass es diese war - trotz ihrer potenziellen Risiken. Kai waren diese Risiken egal. Für ihn zählte nur eines: Nach zehn Jahren hatten sie endlich wieder eine Spur zu Volkov und er würde alles tun, um ihn endlich hinter Gitter zu bringen. Egal, wie hoch der Preis war. Leider wusste das auch Takao. So wurde Kai ernst von der Seite her gemustert, als sie ihren Weg zu dem Einzelraum suchten, in dem sie in Verhandlung treten würden. „Wir machen das genau so, wie wir es besprochen haben. Wenn er ablehnt, versuchen wir es eben auf die altmodische Art. Und wenn er zusagt-“ „Ich weiß“, knurrte Kai, der die ganzen Diskussionen satt hatte. Er hatte die Diskussionen satt und das Geflüster, das ihm nur wegen seines Nachnamens immer noch auf den Gängen des Dezernats folgte wie ein Gespenst, und das permanente Misstrauen, ob er tatsächlich seinen Job machte. Takao seufzte nur ein weiteres Mal. „Ich bin auf deiner Seite.“ Kai sparte sich eine Antwort. Stattdessen betrat er mit gestrafften Schultern und gerader Haltung den Raum, zog einen der Stühle vor dem Tisch heran und begann, die mitgebrachten Unterlagen auf der Platte vor sich zu sortieren, während Takao eine Runde durch den Raum machte - Gewohnheit, seit dem einen Mal, wo ein Verhör ihn beinahe getötet hatte - und sich dann neben ihm niederließ. Kai bekam aus dem Augenwinkel mit, wie er sich streckte, aber sein Blick war auf die Akte vor ihm fokussiert, genauer gesagt auf das Foto, das herausgefallen war. Das Gesicht darauf war tödlich blass und trug die Spuren von Wut und Frustration. Brennende blaue Augen. Kaltrote Haare. Von den Spuren der Verletzungen, die zu seiner Aufgreifung geführt hatten, sah man auf dem Foto aufgrund des schwarzen Rollkragenpullovers nicht viel. Er blickte auf, als das Geräusch der Türe den Gefangenen ankündigte, auf den sie gewartet hatten. Der Mann, der in Handschellen von zwei Sicherheitsleuten hereingeführt und an den Stuhl auf der anderen Seite des Tischs gekettet wurde, war eindeutig älter als sein Foto in Kais Hand. Sein Haar war länger geworden und die Gefängniskleidung zeigte deutlich, dass er wenn überhaupt in Haft nur noch sehniger geworden war. Und auch Wut und Frustration lagen nun nicht auf seinem Gesicht. Stattdessen war da ein ironisches Lächeln, mit dem er Kai und Takao musterte. „Captain Kinomiya“, sagte Yuriy Iwanov, ehemalige rechte Hand von Vladimir Volkov, und breitete das Lächeln dabei ein wenig mehr. „Was führt Sie zu mir?“ „Guten Morgen, Mr. Iwanov“, sagte Takao freundlich, als ob er mit einem alten Bekannten plauderte. Aber Kai war schon lange genug sein Partner, um seine Körpersprache mühelos lesen zu können. Takao war angespannt und fokussiert. Die Sache war ernst. „Wie geht‘s?“ „Ich kann den Umständen entsprechend nicht klagen“, erwiderte Iwanov. Seine Augen glitten fast desinteressiert über Kai, bis auf die einzige Sekunde, an denen sie etwas zu lange auf seinem Gesicht verweilten. Aber Kai wusste, dass diese Sekunden manchmal alles waren, worauf es ankam. „Sind Sie den ganzen Weg hierher nur gekommen, um mich nach meinem Wohlbefinden zu fragen?“ Takao grinste fast verlegen und schüttelte den Kopf, während Kai mit finsterem Blick die Arme verschränkte. Er wusste, wann Takao die Guter-Cop-Böser-Cop-Nummer abziehen wollte und hatte kein Problem mit seiner zugewiesenen Rolle. Auch wenn Iwanov ihn überhaupt nicht beachtete, sondern den Blick weiterhin auf Takao behielt. „Natürlich nicht. Aber ich nehme an, Sie haben es bereits in den Nachrichten gehört.“ „Dass es morgen wolkig werden soll? Ja, durchaus. Schade, aber was soll man machen, nicht wahr?“ „Ich spreche von dem Casino.“ „Ah“, sagte Iwanov nach einer kurzen Pause mit einem wölfischen Lächeln. „Das neue Casino. Ich habe flüchtig davon gehört, ja.“ „Stellen Sie sich nicht dumm“, sagte Kai scharf, „wir wissen, dass es nicht an Ihnen vorbeigegangen wäre, dass Garland Siebald wieder aufgetaucht ist.“ Das war das erste Mal, dass Yuriy Iwanov ihn direkt ansah. Er lächelte nicht mehr. Stattdessen musterte er seine Haare, dann seine Gesichtszüge und schließlich seine Augen, bis er schnaubte und sich dann, einfach so, von ihm ab- und Takao zuwandte. „Ich nehme an, Sie bezwecken etwas damit, mir den Hiwatari-Spross vor die Nase zu halten und nach Siebald zu fragen.“ Kai starrte ihn an. Iwanov erwiderte seinen Blick ohne zu blinzeln, dann fragte er spöttisch: „Was - dachten Sie, ich kenne Sie nicht? Ich? Man hat mir schon von dem Hiwatari-Enkel erzählt, der zur Polizei übergelaufen ist, nachdem man seinen Großvater eingebuchtet hat. Einem anonymen Informanten zufolge noch dazu. Und Ihre Augen - sie verraten Ihr Hiwatari-Blut.“ Kai öffnete den Mund zu einer harschen Erwiderung, aber Takao kam ihm zuvor und hob beschwichtigend eine Hand. „Schauen Sie, Mr. Iwanov, ich will gleich zum Punkt kommen. Wir sind hier, um Ihnen einen Deal vorzuschlagen.“ Iwanov verengte die Augen. „Sprechen Sie.“ „Siebald ist weit oben in der Hierarchie von Volkovs Kartell“, sagte Takao, „da erzähle ich Ihnen nichts Neues. Ohne ihn wären Sie immerhin nicht hier. Er hat einen neuen Namen angenommen, aber den Nachnamen nicht geändert, so sind wir ihm auf die Schliche gekommen. Vor ein paar Monaten hat ein gewisser Brooklyn Masefield die Geschäftsführung der CEGA-Casinos übernommen.“ „Masefield“, murmelte Iwanov. Er wirkte nun konzentriert auf das, was Takao ihm berichtete. Der nickte und schob ihm die zweite Akte hin, die sie mitgebracht hatten. Die angeketteten Handschellen klirrten, als Iwanov die Akte zu sich zog und aufschlug. Fotos der drei Casinos, die die lokalen Auswüchse der Casino Entertainment Global Association waren, Fotos von Garland Siebald mit seinen kurzen, dunkel gefärbten Haaren und Brooklyn Masefield mit seiner umso auffälligeren Aufmachung. „Wir glauben, dass es sich bei diesem Namen ebenfalls um einen Decknamen handelt“, sprach Takao weiter, während Iwanov die Fotos studierte und bei denen von Siebald besonders lange verweilte. „Wir glauben weiterhin, dass Siebald - und vermutlich auch Masefield - immer noch für Volkov arbeiten. Das ist die erste Spur seit Jahren, die sich ergeben hat. Wir denken, dass Volkov das nächste große Ding plant und wir damit eine Möglichkeit haben, an ihn ranzukommen.“ Als Iwanov schließlich aufblickte, war sein Gesicht steinern. „Sprechen Sie Klartext.“ „Wir wollen Ihre Hilfe“, brachte Takao es auf den Punkt. „Nichts in unserem Intel deutet darauf hin, dass sich etwas an der Tatsache verändert hat, dass Siebald Volkovs neue rechte Hand geworden ist.“ Kai konnte sehen, wie Iwanov unwillkürlich eine Hand zu einer Faust ballte und dann wieder entspannte, als er sich des Impulses bewusst wurde. „Im Gegenteil, es war uns möglich, einen Agenten in seine Umgebung zu schleusen, womit uns die Information erbracht wurde, dass Siebald Volkovs Buchhalter ist. Irgendwo in diesen Casinos liegt der Schlüssel zu Volkovs Imperium. Wenn wir an den rankommen könnten, könnten wir sein Kartell endgültig stürzen.“ „Nicht irgendwo“, sagte Iwanov. „Ich weiß ganz genau, wo.“ „Wie bitte?“, sagte Kai in die Stille hinein, die seine Worte ausgelöst hatten. Iwanov lächelte grimmig. „Lassen Sie uns verhandeln, meine Herren. Was springt für mich dabei raus?“„Wir wissen, dass Sie ein persönliches Interesse daran haben, Siebald und Volkov ihrer gerechten Strafe zuzuführen“, sagte Takao, ohne sich lange bitten zu lassen. „Wenn Ihnen das nicht reicht, legen wir die Aufhebung der noch zu verbüßenden Haftstrafe von sechs Jahren obendrauf.“ Iwanov sagte einen Moment lang nichts. Dann: „Ich willige ein, unter der Bedingung, dass mir während der Sache sämtliche Freiheiten gegeben werden, die Sache mit meinem Team und meinen Profis abzuziehen. Selbstverständlich unter der Auflage, dass keine kriminellen Aktivitäten außerhalb der vereinbarten Herangehensweise durchgeführt werden, die wiederum natürlich ohne Blutvergießen, Gewalt oder sonstige Einwirkungen vonstatten geht.“ Takao und Kai wechselten einen Blick. Dann sagte Takao: „Nur, wenn Sie zustimmen, dass Hiwatari Sie undercover begleitet und sicher geht, dass die Auflagen eingehalten werden.“ Iwanov musterte Kai so lange, dass er sicher war, dass der Deal doch noch platzen würde. Dann jedoch lächelte er, langsam und wölfisch mit funkelnden Augen, und eine Moment lang hatte Kai das Gefühl, dass er einen Fehler gemacht hatte. „Einverstanden“, sagte Iwanov. Kapitel 1: Everybody Wants To Rule The World -------------------------------------------- „Liebling“, sagte Yuriy in gespielt hohem Singsang in den Hörer, „ich komme heim.“ Ein kurzes, bellendes Lachen war die Antwort. „Sie lassen dich raus? Wie zum Teufel hast du das geschafft? Ich dachte, der Antrag auf frühzeitige Entlassung aufgrund von guter Führung ging nicht durch.“ Yuriy summte und war sich des aufmerksamen Blicks des Sicherheitsbeamten nur allzu bewusst. Er hatte nur fünf Minuten Zeit für diesen Anruf, aber mehr brauchte er auch nicht. „Ich war eben ein besonders braver Junge.“ Erneutes Lachen. „Haben sie also endlich die Krallen stutzen und den Dachschaden beheben können?“ „Sie haben zumindest ihr Bestes getan.“ Er ließ einen Moment verstreichen, dann sagte er sehr pointiert: „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen und meine Sachen in Ordnung zu bringen.” Kurzes Schweigen. Dann: „Wann kommst du raus?“ „Am Samstag, gegen Mittag. Fahr die Kutsche vor.“ „Sehr wohl, Prinzessin. Euer ergebener Diener wird an Ort und Stelle auf Euch warten.“ * Es war ein strahlend schöner Tag, als Yuriy Iwanov nach zehn Jahren wieder an ungesiebte Luft kam. Er trug nicht die Kleidung, in der man ihn verhaftet hatte - dafür war nicht mehr genug davon übrig gewesen. Aber er trug den Anzug, den er während der Verhandlungen getragen hatte, an die er sich nur noch schemenhaft erinnerte. Im Endeffekt waren sie ein Witz gewesen. Er war zu benommen von den Schmerzmitteln, die ihn bei halbwegs klarem Verstand hielten, und so hatte er nur wenig gesagt, während sein Anwalt von schwerer Traumatisierung seit Jugendjahren sprach, um sein Strafmaß zu mildern. Die Beweise waren zahlreich. Volkov hatte ihn den Wölfen vorgeworfen, um den Rest seines Unternehmens zu retten, einfach so, und dann auch noch die Frechheit besessen, zu versuchen, ihn im Gefängnis um die Ecke zu bringen. Als ob er so leicht ersetzt werden konnte. Als ob er so leicht aus dem Verkehr gezogen werden konnte. Yuriy hielt sein Gesicht in die Sonne und machte einen tiefen Atemzug. „Na los, Iwanov”, sagte einer der wohlmeinenden Wächter, der heute am Außentor Dienst und von Yuriys Drogengeschäften im Gefängnis immer gut gelebt hatte, „hau’ schon ab.” „Versuch’ mich nicht zu sehr zu vermissen, milij”, sagte Yuriy leichthin, woraufhin der Wächter lachte und hinter ihm das Tor schloss. Yuriy steckte die Hände in die Hosentaschen und ließ sich Zeit damit, das Gefängnis hinter sich zu lassen und den Parkplatz zu erreichen. Kinomiya hatte ihn verkabelt, nachdem sie die ersten Schritte mit ihm besprochen hatten, aber das war nicht das erste Mal, dass Yuriy unter den Augen der Polizei operierte. Boris wartete bereits auf ihn, rauchend mit dem Rücken an ein Auto gelehnt, das Yuriy mit Befremden musterte, wovon es aber auch nicht schöner wurde. Zehn Jahre lang keine Möglichkeit, einander zu besuchen, weil es Yuriys Auflagen verbaten, aber es reichte ein Blick, um die alte Vertrautheit wiederherzustellen. In seiner Abwesenheit war der Umfang von Boris’ Brust- und Schultermuskeln nur noch beeindruckender geworden. Seine schwarze Jeans wurde von einem Gürtel mit protziger, goldener Schnalle zusammengehalten. Die ersten drei Knöpfe seines weinroten Hemds waren geöffnet und erlaubten einen Blick auf das goldene Kreuz um seinen Hals, die Ärmel bis zu den Ellbogen nach oben gekrempelt, sodass man die Tätowierungen auf seinen Unterarmen sehen konnte: Ein stilisierter Falke und ein Wolf im gleichen, kantenhaften Stil, die sich anzublicken schienen. „Nach all dieser Zeit?”, fragte Yuriy auf Russisch mit einem Nicken auf die Tätowierungen amüsiert und trat an ihn heran. „Immer”, sagte Boris ebenfalls auf Russisch mit seiner besten Alan-Rickman-Imitation und streckte ihm die Zigarettenschachtel hin. „Hab’ deine Lieblingsmarke mitgebracht. Willkommen zurück im Leben.” „Oh, Liebling, das wäre doch nicht nötig gewesen.” Trotz des winzigen Knopfs in seinem Jackettknopf, der ihn permanent daran erinnerte, dass diese Freiheit noch keine endgültige war, schmeckte die erste Zigarette außerhalb der Gefängnismauern seit zehn Jahren wie etwas Besonderes. Boris reichte ihm eine Sonnenbrille, die er sogleich aufsetzte, um sich neben ihn zu stellen. Eine Weile rauchten sie schweigend und nebeneinander stehend. Dann hob Yuriy die freie Hand und kratzte sich sehr bewusst dreimal an der linken Wange. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Boris ihn verstanden hatte und sich im Klaren war, dass sie abgehört wurden. „Hast du schon mein Bett vorbereitet?”, fragte Yuriy schließlich. „Das war nicht besonders schwer”, erwiderte Boris mit einem Grinsen und fuhr sich durch die kurzen, silbergrau gefärbten Haare. Yuriy nickte darauf. „Sind wir vom Flieder weggekommen oder was?” „Ich bin jetzt Mitte Dreißig und muss respektabel aussehen, Yura.” Yuriy lachte ihn schamlos aus und trat den übriggebliebenen Stummel seiner Zigarette aus, dann öffnete er die Tür zum Beifahrersitz und ließ sich hineinfallen. Er stellte fest, dass die Kiste tiefergelegt worden war und warf Boris einen vielsagenden Blick zu. Der, inzwischen auf der Fahrerseite eingestiegen und immer noch mit Zigarette im Mundwinkel, zuckte nur mit den Achseln. „Was, darf ein respektabler Mann keine Hobbys mehr haben?” Da konnte einer offensichtlich nicht die Finger von illegalen Straßenrennen lassen. Yuriy wollte gar nicht wissen, wieviel PS dieses Auto wirklich rausholen konnte, aber er war sich sehr sicher, dass es bis zum Anschlag frisiert war. Er grinste nur und fuhr sich durch die Haare, während Boris den Motor startete und losfuhr. Dann streckte Boris die Hand zur Anlage aus und drehte den Drum’n’Bass so laut, dass nur durch ein Wunder nicht die Autoscheiben aus ihrer Halterung sprangen. Wer auch immer am anderen Ende des Jackettknopfs saß - man hatte ihm mitgeteilt, dass es Kinomiya selbst war, aber den Bullen konnte man nicht vertrauen -, hatte jetzt hoffentlich einen ordentlichen Gehörsturz erlitten. Yuriy blieb nicht untätig. Er rechnete mit einem begrenzten Zeitfenster, bevor er einen Befehl erhalten würde, dafür zu sorgen, dass die Lärmbeschallung aufhörte. Rasch holte er einen winzig zusammengefalteten Zettel aus dem Haargummi, das seine Haare zusammenhielt, dann steckte er ihn Boris zu. Der faltete, einhändig steuernd, den Zettel auf, überflog die Zeilen in Yuriys winziger, dicht gedrängter Handschrift und nickte dann, um ihn zurückzureichen. Yuriy angelte das Feuerzeug aus der Konsole zwischen ihnen und zündete das Papier an, um es brennend aus dem Fenster zu werfen. „In der Dusche dann”, sagte Boris leise. Yuriy nickte, dann beschwerte er sich laut: „Verdammte Scheiße, Boris, ich hör mein eigenes Wort nicht mehr! Wie kann dein Musikgeschmack immer noch so grausam sein?” Boris lachte und drehte die Lautstärke herunter. „Wie kann deiner immer noch so beschissen sein? Haben sie dir im Gefängnis nichts beigebracht?” „Fresse.“ „Zu Befehl, Durchlaucht.“ Yuriy schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück an den Sitz. Es war warm und das Atmen fiel ihm schwer. Er presste eine Hand gegen seine Brust, ein Reflex, der erfahrungsgemäß wenig Linderung brachte. In seiner Jacketttasche befand sich eine Dose mit zwanzig Pillen und eine Verschreibung des Gefängnisarzts für mehr. Das würde ihn durch die nächsten zwei bis drei Wochen tragen, und dann würde er weitersehen. Zu Sicherheit holte er jetzt schon eine der Pillen heraus und schluckte sie trocken, ehe er die Dose wieder einsteckte. Boris‘ Seitenblick ignorierte er gekonnt. Boris wohnte in einer der heruntergekommeneren Viertel der Stadt, auch wenn das Gebäude, in dem seine Wohnung lag, erst kürzlich renoviert worden zu sein schien, zumindest von außen. Außerdem hatte er sein Revier vermutlich schon angesteckt, denn er wagte es, sein Auto direkt vor der Haustür zu parken. Sie stiegen aus; Yuriy konnte inzwischen wieder leichter atmen und folgte Boris in den Appartementkomplex hinein. Ihre Schritte hallten im bereits schon wieder mit schwarzen Trittstreifen und dem einen oder anderen Graffiti dekorierten Stiegenhaus wieder, als sie in den vierten Stock stiegen. Vor der Türnummer 16 machen sie Halt. Yuriy musterte Boris‘ Rücken, während der aufsperrte und dann beiseite trat, um eine ironische Verbeugung anzudeuten. „Bitte einzutreten in mein bescheidenes Domizil“, sagte er. Die Wohnung war tatsächlich größentechnisch auf eine Person zugeschnitten, aber er und Boris waren gemeinsam schon auf weniger Platz ausgekommen und nach seiner Zelle kam ihm das Appartement immer noch groß vor. Es war nichts Spezielles - ein Wohnzimmer mit Küchenzeile, ein Badezimmer, ein Schlafzimmer. Seine Augen wanderten dennoch über Fotos und Einrichtungsgegenstände, die ihm unbekannt waren. Zehn Jahre waren vergangen, in denen Boris sich eine Identität ohne ihn aufgebaut hatte, nachdem sie seit frühen Kinderjahren immer nur im Doppelpack zu haben gewesen waren. Zehn Jahre, die man Yuriy gestohlen hatte. „Na?“, fragte Boris auffordernd. Yuriy schluckte gewaltsam den Klumpen in seiner Kehle herunter. „Nicht schlecht“, sagte er. Dann packte er Boris am Hemd und zog ihn an sich heran, um die Lippen gegen seine krachen zu lassen. Boris kannte den Plan, deswegen fackelte er nicht lange und zog ihn mit sich ins Badezimmer, ohne sich von ihm zu lösen. Das änderte nichts an der Tatsache, dass Erregung, echte Erregung, wie ein Blitz durch Yuriys Adern schoss und sich in Boris‘ sturmumwölkten Augen widerspiegelte. „Zehn verfickte Jahre“, stieß Boris hervor und es war keine Aussage, bei der er ihre unsichtbaren Zuhörer sonderlich beachtete. Er zerrte das Haargummi aus Yuriys Haaren, bis der ihn angrollte und ihm das Hemd so gewaltsam öffnete, dass es beinahe alle Knöpfe wegsprengte. Boris fluchte herzhaft gegen seine Lippen, vergrub die Finger in Yuriys Haaren und drängte ihn rücklings gegen die Wand, nur um innezuhalten, als dieser schmerzerfüllt aufkeuchte. „Vorsicht“, raunte Yuriy, „dieses Original hier ist beim Transport ein wenig beschädigt worden.“ Boris sah ihn an. Sein Atem war schwer, aber seine Augen blitzten. „Zeig‘s mir.“ Yuriy musterte ihn. Dann ließ er das Jackett auf den Boden fallen und knöpfte sich mit raschen Bewegungen das Hemd auf. Er beobachtete, wie Boris‘ Blick über seinen Oberkörper glitt und sein Gesicht sich immer mehr verfinsterte, während er den Schaden anstarrte, den Garland vor zehn Jahren verursacht hatte. Yuriy hatte akzeptiert, dass er nie wieder so aussehen würde wie vor diesem einschneidenden Ereignis, und dass er auch nie wieder volle Mobilität und Atemfreiheit haben würde, aber es war etwas anderes, jetzt Boris‘ Augen auf sich liegen zu haben. Ein paar Herzschläge, in denen Boris kein Wort von sich gab, wartete Yuriy ab. Dann fragte er: „Ficken wir jetzt noch oder ist es dir vergangen?“ Boris fluchte so laut und herzhaft, dass der übersetzenden Person am anderen Ende des Jackettknopfs hoffentlich die Ohren glühten. „Halt die Fresse, Yura, halt einfach die Fresse“, sagte er rau und zerrte ihm das Hemd endgültig von den Schultern. „Als ob das von Bedeutung wäre.“ Sie küssten sich erneut. Yuriy hatte seine Schwierigkeiten damit, Boris‘ Gürtel zu öffnen, dann fiel er zu Boden. Boris, der immerhin volle Bewegungsfreiheit in seinen Händen hatte, war schneller damit, ihn aus seinen Kleidern zu schälen und Yuriy biss ihm keuchend in die Schulter, als Boris‘ kräftige Hände seine Hüften umfassten und fester gegen die lindernd kühle Kachelwand des Badezimmers drückten. „Dusche“, wisperte er gegen seine Haut und Boris gehorchte. Er zog ihn mit sich, bis sie in der Dusche standen, dann verschwendeten sie einige Momente Zeit damit, das Wasser auf eine erträgliche Temperatur einzustellen. Sie waren beide vokaler als sonst, oder zumindest als Yuriy es in Erinnerung hatte, was zusammen mit dem prasselnden Wasser zu der nötigen Geräuschkulisse beitrug, die Yuriy brauchte. „Du willst das Apollon überfallen?“, wisperte Boris gegen seine Haut, „Und das Zeus? Damit hab ich gerechnet, sobald Siebalds Name wieder am Radar war. Aber wie passen die Bullen da rein?“ „Finger mich“, verlangte Yuriy lautstark, dann ächzte er, als Boris ihn mit einem Ruck umdrehte und seine Wange gegen die Wand drückte. Boris neigte sich nah genug zu ihm, dass er wispern konnte: „Sie wollen Volkov. Erinnerst du dich an den Diamanten, in dem er die Codes für seine ganzen Schließfächer, Schattenfirmen und so weiter versteckt hat?“ Boris nickte und ließ einen Finger ihn in gleiten. Yuriy fluchte herzhaft, weil er dabei nicht gerade sanft war, dann fuhr er genauso leise fort: „Sie haben mir Fotos von Siebalds Nummer Zwei gezeigt - ich habe ihn gleich erkannt. Er trägt ihn als Ring. Den werden wir stehlen, dann buchten sie Volkov vielleicht tatsächlich endlich ein und ich kann den Plan durchführen, den er bei mir abziehen wollte. Meine Kontakte innerhalb der Gefängnisse dieses Landes sind mittlerweile nicht mehr von schlechten Eltern. Was die Bullen allerdings nicht wissen …“ „Damit ist es bezüglich Siebald nicht getan für dich“, schlussfolgerte Boris und ließ noch einen zweiten Finger in ihn gleiten. Yuriy fluchte erneut und schlug mit der Faust gegen die Wand. Dann flüsterte er harsch zurück: „Natürlich nicht. Ich will ihn brennen sehen. Ich will ihn vor mir im Staub knien sehen, bettelnd wie ein Wurm, damit ich ihn treten kann. Er soll alles verlieren, was er sich jemals ergaunert hat, dieser talentlose, fantasielose Wichser. Und die Bullen liefern mir nur eine Möglichkeit, das unter ihrem Deckmantel an ihren Augen vorbei zu tun.“ „Was ist der Plan?“, fragte Boris nur und stieß noch tiefer in ihn. Yuriy gab einen rauen Laut von sich. Dann sagte er es ihm. Kapitel 2: Mister Undercover ---------------------------- „Was für ein Wichser“, sagte Kai und ließ sich auf die Couch fallen, um sich durch die Haare zu fahren. „Der ist unzuverlässig. Wir sollten ihn wieder einbuchten.“ Takao lachte. Seine Wangen waren gerötet und er hatte das Empfängergerät des Mikrofons, das sie an Iwanov befestigt hatten, etwas leiser gedreht, als er und Kuznetsov im Badezimmer begonnen hatten, sich die Klamotten vom Leib zu reißen. „Der Mann war zehn Jahre lang im Gefängnis. Ich denke, wir können ausnahmsweise mal Milde walten lassen.“ Kai schnaubte und sparte sich die Antwort, die ihm auf der Zunge lag - nämlich, dass ein Mann wie Iwanov im Gefängnis vermutlich nicht lange auf dem Trockenen gesessen war, großflächige Verletzungen hin oder her. Stattdessen vertiefte er sich in die Akte, die aufgeschlagen vor ihm am Couchtisch lag. Sie befanden sich in der Wohnung, die für die nächsten Wochen ganz gemäß der Rolle, die Iwanov ihm in seinem Theaterstück zugewiesen hatte, sein Domizil sein würde: Ein Penthouse im besten Viertel der Stadt, das mit Terrasse und Stadtblick daherkam und darüber hinaus Zugang zu einem Pool und Fitnesscenter beinhaltete. Hätte er einige andere Entscheidungen in seinem Leben getroffen, hätte ein solches Leben dauerhaft seines sein können. Kai beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und fragte stattdessen: „Was wissen wir über Kuznetsov? Warum sitzt der noch nicht?“ „Du hast die Akte von ihm und Iwanov genauso gelesen wie ich.“ Takao stach mit den Essstäbchen tiefer in die Takeout-Schachtel und holte ein verlorenes Stückchen Huhn hervor, um es in seinem Mund verschwinden zu lassen. Kauend fuhr er fort: „Iwanov hat damals weder ihn noch einen der anderen in seinem engeren Kreis belastet und die ganze Schuld bezüglich der Anklagepunkte allein auf sich selbst genommen. Dass wir Kuznetsovs Namen überhaupt kennen, kommt durch Jugendstrafen wegen Körperverletzung und Intel, das uns damals zugespielt worden ist. Hat sich aber nie was beweisen lassen. Das Rudel um Iwanov hat immer unter Decknamen operiert - der Falke, der Blauwal und die Schlange. Sicher gabs starke Indizien, wer dahintersteckt, aber Iwanov hat trotz Aussicht auf Strafmilderung beinhart den Mund gehalten.“ Kai grummelte. Seine Augenbraue zuckte irritiert nach oben, als durch den Empfänger ein kehliger Schrei zu hören war. „Er ist doch die ersten drei Jahre nach dem Prozess noch beobachtet worden. Wie kann es sein, dass sich da nichts ergeben hat?“ Takao zuckte mit den Achseln. „Musst du Hiromi fragen, die hat da mehr Durchblick.“ Die Fickerei hatte endlich aufgehört und nun unterhielten Iwanov und Kuznetsov sich leise, für das Mikrofon aber immer noch verständlich. Kai zündete sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster, während Takao lauter drehte. „Und?“, fragte er, „Hält er sich an die Abmachung?“ Kai, der fließend Russisch sprach und verstand, hörte dem Gespräch zu und nickte. „Er erzählt ihm von den Auftrag wie abgemacht.“ Sein Name fiel. Einen Moment lang war Stille, dann schnaubte Kuznetsov ungläubig und sagte etwas in rapidem Russisch. Als Takao Kai fragend ansah, lächelte der grimmig und übersetzte: „Er will wissen, ob Iwanov irre ist und wie er sich vorstellt, dass man mich in den Plan integrieren soll.“ „Er kennt deinen Nachnamen auch“, schlussfolgerte Takao. „Na gut, war zu erwarten, wenn er wirklich Teil des Rudels war.“ Kai biss die Zähne zusammen. Sein Großvater hatte einige Deals mit Volkov abgewickelt. Es war kein Zufall, dass der vor seiner Verhaftung das gesamte Hiwatari-Anwesen niedergebrannt und sämtliche Schließfächer hatte räumen lassen. „Und?“ Bei Iwanovs knapper Antwort zog Kai tief an seiner Zigarette. Dann sagte er: „Er weiß, dass ich zumindest noch Anteile an der Firma habe und der Rest von meiner Mutter geleitet wird.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Er meint, dass nicht weithin bekannt ist, dass ich bei der Polizei gelandet bin. Und er hat mich als Geldgeber des Unternehmens angeführt und als Interessensgrund meinen Vater angegeben.“ Takao schwieg. Er musste aber auch nichts sagen, denn er wusste, was mit Kais Vater passiert war - eines Tages war er leblos an die Küste der Stadt geschwemmt worden, nur eine Woche nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Kais Großvater Soichiro, der damals noch sehr tief in illegalen Machenschaften verstrickt gewesen war. Es war nie zweifelsfrei bewiesen worden, wer dahinter steckte, aber Kai hatte seine Vermutungen. Und er würde nicht ruhen, bis er die Antwort aus Volkov herausgeprügelt hatte. Das musste Takao allerdings nicht unbedingt aus seinem Mund hören. Stattdessen hörte er weiter zu und sagte dann: „Er gibt ihm gerade den Treffpunkt für morgen durch. Also das hier.“ Takao klopfte ihm auf die Schulter. „Na siehst du. Wird schon nicht so schlimm werden, der Mann hat selbst auch Interesse daran, sechs Jahre weniger zu sitzen.“ Kai grunzte nur zur Antwort. Als am anderen Ende des Empfängers wieder damit begonnen wurde, geräuschvoll herumzumachen, drückte er seine Zigarette in dem bereitstehenden Aschenbecher aus und stand auf. „Ich geh‘ pennen und löse dich um sechs wieder ab.“ „Alles klar.“ Takao lächelte ihn aufmunternd an. „Erhol‘ dich ein bisschen. Du wirst deine Kräfte morgen brauchen.“ Takao behielt Recht. Es stellte sich nämlich von Anfang an heraus, dass Iwanov und Kuznetsov es nicht darauf angelegt hatten, Kais Leben so einfach wie möglich zu machen. Sie walzten um Punkt acht Uhr abends in das Apartment hinein, das Takao nur wenige Minuten vor ihnen verlassen hatte. Iwanov trug einen schwarzen Rollkragenpullover, schwarze Hosen und fingerlose schwarze Handschuhe, das rote Haar war in einen Pferdeschwanz gebändigt worden. Kuznetsov folgte ihm auf dem Fuße - in weißer Hose mit protzigem Gucci-Gürtel, Goldkette mit Goldkreuz um den Hals und weit offenstehendem Hemd in Schlangenhautoptik. Er trug eine Thermoskanne mit sich und starrte Kai wenig beeindruckt durch eine hell getönte Sonnenbrille an. „Das ist Posh Spice?“, fragte er an Iwanov gewandt, ohne den Blick von Kai zu nehmen. „Bisschen mickriger, als ich dachte.“ „Tee“, sagte Iwanov nur, woraufhin Kuznetsov ihm mit einer fließenden Bewegung die Kappe der Thermoskanne voll mit etwas füllte, das aussah wie sehr schwarzer Schwarztee. Er nahm einen Schluck davon, dann atmete er tief durch und sagte: „Er wird‘s schon tun. Bereit?“ Letzteres war an Kai gerichtet. Der starrte den unmöglichen Mann vor sich einfach nur wortlos an, dann sagte er: „Posh Spice.“ Iwanov zuckte nicht mit der Wimper. Stattdessen neigte er seinen Kopf nur eine Fraktion nach links, woraufhin Kuznetsov ebenfalls ungerührt erklärte: „Wir bringen die Spice Girls zurück ins Geschäft, Victoria. Ich bin Sporty Spice, das ist Ginger Spice und du bist Posh Spice.“ „Oh mein Gott“, stellte Kai zunehmend alarmiert fest, „ihr seid Wahnsinnige. Das hier ist zum Scheitern verurteilt.“ „Mach dich locker“, sagte Kuznetsov mit einem Grinsen, das Kai ihm am Liebsten von den Lippen schlagen wollte. Der Mann hatte einfach sowas an sich. „Du kannst so nicht gehen“, stellte Iwanov fest und gestikulierte auf alles, was Kai darstellte. „Du sollst reich aussehen, habe ich gesagt. Ich kann so nicht arbeiten.“ „Ist das dein Ernst?“ Iwanov hob eine Augenbraue. „Wie soll ich dich als rachegetriebenen Investor verkaufen, wenn du in einem T-Shirt herumläufst, das wirkt, als ob du farbenblind wärst?“ Er hielt inne. „Du bist nicht farbenblind, oder? Lassen die Bullen überhaupt Farbenblinde zu?“ „Denke nicht“, sagte Kuznetsov hilfreich. Er schien die Sache parallel zu Iwanovs Frage auf seinem Handy zu googeln. „Da hast du es“, sagte Iwanov an Kai. „Zieh dich um. Sie werden dir ja hoffentlich einen Anzug gegeben haben.“ „Camouflage und so“, sagte Kuznetsov. „Angesichts deiner fragwürdigen Farbwahl muss ich es vielleicht nochmal betonen, auch wenn ich im Gegensatz zu dir nicht mit dem Silberlöffel im Mund geboren wurde“, sagte Iwanov, „stilvoll, Hiwatari. Nicht mehr als zwei Farben, für alles andere bist du eindeutig noch nicht bereit. Vielleicht am Ende dieses Abenteuers.“ „Sagt der Mann, der früher Orange mit Weiß kombiniert und behauptet hat, dass sich das überhaupt nicht mit seinen Haaren beißt“, sagte Kuznetsov. „Fresse. Krümel-“ Iwanov deutete auf Kuznetsov, „Kuchen.“ Er deutete auf sich selbst und fuhr dann wieder an Kai gewandt fort: „Nachdem ich schon vermutet habe, dass du es nicht besonders weit bringen wirst, habe ich die Accessoires mitgebracht. Oh, und bitte kein Rosa, das sticht neben mir.“ Einen Moment lang dachte Kai darüber nach, einfach beide über den Haufen zu knallen und es wie einen Unfall aussehen zu lassen, auch wenn er so verkabelt war, dass die Argumentation eines solchen Unfalls nicht einfach werden würde. Dann jedoch entschied er sich, einfach nur seinen Job zu machen, auf dem Absatz umzudrehen und in das Schlafzimmer des Penthouses zu stürmen, wo man ihm für seine Undercover-Arbeit tatsächlich einiges an Kleidung zur Verfügung gestellt hatte - unter anderem von dem aufstrebenden Modedesigner Olivier Boulanger, der nur allzu erfreut gewesen war, seine Kreationen für eine solch ‚spannende Geschichte‘, wie er es ausdrückte, bereitzustellen. Kai nahm sich einen Moment lang Zeit, Iwanov stumm zu verfluchen, dann schälte er sich aus seiner bisherigen Aufmachung und wählte einen der schwarzen Anzüge aus, dann ein Shirt. Blau, dachte er. Was konnte mit Blau schiefgehen? Er kam wieder heraus und breitete herausfordernd die Arme aus. „Na?“ „Hm“, sagte Iwanov. Er wechselte einen Blick mit Kuznetsov, der nickte und an Kai herantrat. In rascher Abfolge holte er mehrere Dinge aus den scheinbar unerschöpflichen Tiefen seiner Hosentaschen heraus: Eine Krawatte, deren Farbton er kritisch mit dem des Anzugs verglich, ehe er sie Kai umband. Eine goldene Rolex, von der Kai nicht sagen konnte, ob sie echt war oder nicht. Einen goldenen Siegelring mit schwarzem Stein, in den ein stilisierter Phönix eingelassen war. Auf diesen Ring starrte Kai besonders lang. Dann blickte er auf. „Was zum Fick?“ „Wir brauchen alle unsere Erkennungsmerkmale, Posh.“ „Ich drehe ihm den Hals um“, sagte Kai an Iwanov gewandt und deutete dabei auf Kuznetsov. „Ist das Diebesgut?“ „Entspann dich“, sagte Kuznetsov, „alles voll legal geerbt. Auf meine Ehre.“ „Ich glaube, deine Ehre ist nicht annähernd so ausgeprägt wie der Wahnsinn.“ „Der Wahnsinn hat Methode“, sagte Iwanov und drehte auf den Absätzen um, ehe er huldvoll winkend eine Hand hob. „Na los, kommt schon. Die warten auch nicht auf uns.“ „Wer steht als erstes auf der Liste?“, erkundigte Kai sich und stellte sicher, dass er erstens wirklich unsichtbar verkabelt war und zweitens alle nötigen Habseligkeiten bei sich hatte, ehe er den beiden Wahnsinnigen notgedrungen hinaus folgte. „Ich dachte, das liegt auf der Hand“, sagte Iwanov. „Zuerst holen wir die anderen Spice Girls. Dann kümmern wir uns um den Rest der Avengers.“ „Bitte, hör‘ einfach auf zu reden“, murmelte Kai. Er wusste, er fühlte, dass Takao am anderen Ende der Überwachungssysteme saß und ihn auslachte. In was zum Teufel hatte er sich da hineinmanövriert? Kapitel 3: Backstreet's Back ---------------------------- Baby Spice „Sergeant“, sagte Cynthia vom Türrahmen aus, „da sind noch zwei andere Leute für dich.“ Sergei fluchte kräftig und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. „Die Bude ist dicht, wenn ich mit dem Kunden hier fertig bin.“ Das schien Cynthia nicht besonders zu beeindrucken, denn sie zog nur gelangweilt eine grün gefärbte Augenbraue hoch und ließ eine Kaugummiblase platzen, obwohl Sergei ihr schon tausendmal gesagt hatte, dass er es hasste, wenn sie das machte. „Die sehen nicht so aus, als würden sie weggehen. Was soll ich denen sagen?“ „Äh, dass Ladenschluss ist? Sorry, Thomas“, sagte er an den Mann gewandt, dem er gerade ein Auto auf die Schulter tätowierte, „geht gleich weiter. Es sind noch etwa zehn Minuten.“ „Das wissen die“, sagte Cynthia ohne Rücksicht auf seine Nerven, „sie sagen, das ist ihnen egal und sie sind nicht für ein Tattoo hier.“ „Dann sag ihnen, sie sollen sich f-“ „Sie haben auch gesagt, dass ich sagen soll, dass es an der Zeit ist heimzugehen.“ Cynthia neigte ein wenig den Kopf, als Sergei erstarrte. „Sagt dir das was?“ Sergei antwortete erst nicht. Dann fragte er: „Wie sehen die Typen aus?“ „’N langer Rothaariger, ‘n schriller Silberhaariger und so ein reicher Fatzke.“ „Sag ihnen, dass ich in einer Viertelstunde fertig bin und führ' sie nach hinten.“ Das brachte Cynthias Augen zum Glitzern. „Kennst du die etwa? Sind die Mafia? Musst du sie jetzt verprügeln? Gott, zahlen wir irgendwem Schutzgeld und ich hab‘ es bisher einfach nicht mitgekriegt?“ „Cynthia, bitte“, beschwor Sergei sie geradezu verzweifelt, „geh‘ einfach.“ Seine Assistentin verdrehte die Augen und verließ endlich den Raum. Sergei investierte seine letzte Konzentration in die Autoreifen, dann schickte er Thomas heim. Er gönnte sich einen Moment lang Ruhe, um tief durchzuatmen. Dann fuhr er sich durch die kurz geschorenen Haare und ging nach hin. An der Tür zu seinem Büro lehnte Cynthia und starrte voller Faszination auf die drei Gestalten, die sich in seinem Büro eingefunden hatten: ein reicher Fatzke, den Sergei noch nie gesehen hatte auf der Couch, die Sergei manchmal als Bett benutzte. Boris, mit Goldkette und getönter Arschlochsonnenbrille auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch. Und mit dem Rücken gegen den Schreibtisch gelehnt, mit verschränkten Armen und einem blitzenden Lächeln - „Okay, Cynthia, Zeit für den Feierabend“, sagte Sergei laut vernehmlich. Seine Assistentin rührte sich nicht. „Bist du sicher, dass die keine Mafia sind, Sergeant?“ „Sergeant“, formten Boris‘ Lippen lautlos. Sergei seufzte tief. „Nein. Das sind nur Arschlöcher. Wir, äh, kennen uns aus der Schule.“ „Heh“, sagte Boris, „hast du das gehört, Yura?“ „Schön war‘s in der Schule“, sagte Yura ohne mit der Wimper zu zucken. „Richtig viel gelernt. War in allen Fächern spaßig, außer Musik.“ „Wieso ausgerechnet Musik?“, fragte Cynthia fasziniert. „Oh, naja“, sagte Yuriy trocken, „von uns hat keiner jemals gesungen.“ „Danke, Cyn, bis morgen“, sagte Sergei mit erhobener Stimme, um Boris‘ Gejohle zu übertönen. Der reiche Fatzke sah aus, als ob er nicht wusste, ob er weinen oder Boris ermorden wollte (was Sergei sehr nachvollziehbar fand). Cynthia hingegen musste er erst durch die Türe bis hinaus schieben, um dann die Ladentür abzuschließen und nach hinten zu gehen. Dann schloss er die Bürotür hinter sich und atmete tief durch. „Ich wusste nicht, dass du raus bist“, sagte Sergei schließlich an Yuriy. „Ich wusste nicht, dass du jetzt unter die Wikinger gegangen bist“, sagte Yuriy mit einem Nicken auf seinen Bart. „Naja, da siehst du mal, wie lang ich warten musste, bis du rauskommst“, sagte Sergei, dann überwand er die Distanz zwischen ihnen und drückte Yuriy an sich, bis der schmerzerfüllt ächzte. Aber seine Hände drückten sich ebenfalls an Sergeis Schultern und hielten ihn fest, als der erschrocken fortspringen wollte. „Ich dachte, du hast noch sechs Jahre.“ „Tja“, sagte Yuriy gegen seine Haut, dann löste er sich doch von ihm. Sergei sah zu, wie er in einer scheinbar unbewussten Bewegung seine Brust rieb und tief durchatmete. „Wir sind natürlich nicht umsonst hier“, sagte Boris. „Natürlich tut ihr das nicht.“ Sergei seufzte, umrundete den Tisch und öffnete ein Kabinett dahinter, um eine Minibar zu enthüllen, aus der er vier Gläser und eine Wodkaflasche herauszog. Während er alles davon auf dem Tisch abstellte, fragte er mit einem Nicken auf den reichen Fatzke: „Und wer ist das?“ „Kai“, sagte Yuriy, „unser Geldgeber.“ Sergei blinzelte. Dann besah er sich den Fatzke genauer. „Was zum - ist das der Enkel von Hiwatari? Was zum Teufel hast du vor, Yura?“ „Lass es mich dir erklären, Baby Spice“, sagte Yuriy mit einem gewinnenden Lächeln. „Ich will-“ „Sekunde“, unterbrach Kai ihn ungläubig, „der ist Baby Spice? Der? Sollte der nicht eher Scary Spice sein?“ „Ich sehe, du stellst schon die richtigen Fragen“, stellte Boris fest, dann an Yuriy gewandt: „Vielleicht doch nicht so hoffnungslos.“ „Ich sehe, er hat den Kleinen noch nicht kennengelernt“, sagte Sergei. Yuriy tätschelte bewichtigend Kais Schulter, dann setzte er sich auf die Schreibtischecke und zwinkerte Sergei gewinnend an. „Das wird er noch, keine Sorge. Zuerst aber bist du dran - und ich sage mal so, entweder du bist dabei oder nicht, aber du musst dich jetzt entscheiden.“ „Ich weiß noch nicht mal, was du vorhast?“ „Das hier ist eine Loyalitätsfrage.“ Yuriys Blick bohrte sich in ihn. „Bist du dabei oder nicht? Vertraust du mir, oder nicht?“ Es gab eigentlich nur eine Antwort darauf. Egal, wie gut sein Laden lief, egal, wie sehr er sich geschworen hatte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und das Beste aus der Sache zu machen. Ein Teil davon war sicher Schuldgefühl - Yuriy hatte nicht ein einziges Wort über ihre Involvierung gesagt und war für sie alle einsitzen gegangen. Der größte Teil von ihm aber war der Junge, der seine lang vermisste Familie endlich wieder zusammenkommen sah. Er musste nicht einmal wirklich darüber nachdenken. Es war schon klar gewesen, dass er bei was auch immer Yuriy jetzt schon wieder ausheckte dabei sein würde, auch wenn es vielleicht Konsequenzen haben mochte. Und ehrlich, waren die Konsequenzen es nicht manchmal wirklich wert? Sergei seufzte und hob sein Shotglas. „Scheiße Yura, okay, ich bin dabei. Dann leg mal los.“ Yuriy grinste siegessicher und begann zu erzählen. Scary Spice Als es an der Tür seines Appartements klopfte, atmete Ivan tief durch. Vielleicht, sogar höchstwahrscheinlich, war es ohnehin nur die Vermieterin oder einer der nervigen Nachbarn, der sich über die laute Technomusik beschwerte, die er gerne laufen ließ, während er arbeitete. Er tat nie irgendetwas von daheim aus, das ihn belangen konnte, oder wenn, dann wechselte er permanent die VPN-Adresse und verhüllte sich im Web so gut, dass es kaum möglich war, ihn zu tracken. Dennoch. Vor zwei Jahren hatte die Polizei einmal vor seiner Tür gestanden, weil man seine Aussage zum Mord einer Nachbarin haben wollte, mit der er kaum Kontakt gehabt hatte. Es war nichts passiert, man hatte ihn nicht weiter behelligt, aber Ivan hatte dennoch einen gewissen Schrecken davongetragen. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Das hatte Yuriy ihm beigebracht - ausgerechnet Yuriy, der die Zeichen der Gefahr nicht erkannt hatte, bis es zu spät gewesen war. Es klingelte erneut. Ivan stählte sich innerlich. Dann griff er so leise wie möglich nach dem Buttermesser neben sich, verbarg es in seinem Ärmel und stand auf. Mit einem kleinen Fluch löste er eine Haarsträhne aus dem einzelnen, silbernen Ring in seinem Ohr und schob sie zurück in den unordentlichen Pferdeschwanz, den er sich gebunden hatte, dann griff er nach dem Schlüsselbund und öffnete die Tür, ohne die Kette zu lösen. Durch den Spalt hindurch grinste Boris ihn an. „Hallo, Vanja.“ „Borja“, sagte Ivan perplex. Boris hatte sich seit Monaten nicht mehr bei ihm gemeldet, genau wie Sergei. Nach Yuriys Verurteilung und Volkovs Untertauchen hatten sie sich bemüht, einander so viel zur Seite zu stehen wie möglich. Lange Zeit war es ihnen auch gelungen. Nur in den letzten zwei Jahren hatte es begonnen, zu bröckeln, als sie langsam auseinander gedriftet waren. Mehr als einmal hatte Ivan mit dem Gedanken gespielt, einfach die Stadt zu verlassen. Was hielt ihn eigentlich noch in dieser gottverlassenen Stadt? Gute Hacker hatten es anderswo genauso einfach, vielleicht sollte er nach Spanien abhauen und es sich dort eine Weile gut gehen lassen. Er hatte gehört, dass Barcelona besonders nett um diese Jahreszeit war. Aber nun grinste Boris ihn an. „Hey, Kurzer, lange nicht mehr gesehen. Können wir reinkommen?“ „Wir?“, wiederholte Ivan skeptisch, dann alarmiert: „Oh nein, Boris, wenn das wieder eine von deinen angeschickerten Weibern ist, die ein kleines Problem mit einem Ex auf Facebook hat …“ „Nichts dergleichen. Du wirst das hier lieben.“ Boris trat beiseite. Yuriy blinzelte Ivan mit seinen blauen Augen an, wie er es vor zehn Jahren schon getan hatte, wenn er irgendetwas besonders Wahnwitziges vorhatte. „Hi, Vanja. Hast du mich vermisst?“ „Ach du Scheiße“, sagte Ivan und schlug die Tür zu. Es dauerte einen Augenblick, bis es wieder klopfte. Ivan starrte die geschlossene Tür an, dann fluchte er leise und schob die Sicherungskette zurück. Der Anblick vor ihm änderte sich nicht signifikant: Da standen immer noch die gleichen grinsenden Arschlöcher in ihren hässlichen Hemden, nur dass er diesmal auch die dritte Person bemerkte, die halb hinter Yuriys langem Rücken und Boris‘ breiten Schultern verborgen war. „Ich wusste nicht, dass du raus bist“, sagte er nach einer langen Pause. Yuriy legte die Stirn in Falten. „Bin früher raus wegen guter Führung. Ganz ehrlich, Vanja, erst Serjoscha, dann du - ihr gebt mir hier nicht gerade den warmen Empfang, den ich mir erwartet habe. Was muss ein Mann tun, um ein bisschen Liebe von alten Freunden zu bekommen? Ich hätte zusehen sollen, dass Garland zumindest ein Ohr von mir bekommt oder so.“ „Idiot“, sagte Ivan, packte ihn am Hemd und zog den Lauch herunter, um ihn so fest zu umarmen, dass er ihn ächzen hörte. „Ich bin so scheißfroh, dich zu sehen.“ Yuriy tätschelte erstaunlich sachte seine Schulter, dann ließ er ihn los. „Das kann ich nur zurückgeben. Gibt‘s ne Chance, dass wir reinkommen können?“ „Wer ist die Pfeife denn?“, fragte er mit einem Nicken auf den Dritten im Bunde. Sah auch aus wie ein Arschloch, nur in reich. Yuriy und Boris wechselten einen amüsierten Blick, während reiches Arschloch einen tiefen Seufzer ausstieß und sagte: „Ich bin Kai. Können wir es dabei erstmal belassen? Wir stehen verfickt nochmal mitten am Gang.“ „Ist ja gut, Rambo, wir gehen ja schon“, sagte Boris amüsiert und schob sich einfach an Ivan vorbei in die Wohnung. Die beiden anderen folgten ihm. Ivan warf einen Blick durch den leeren Korridor, dann schloss er die Tür hinter ihnen und drehte sich um. Alle Drei hielten sich vom Fenster fern und hatten sich stattdessen um den Tisch versammelt. Ivan musterte sie - den grinsenden Boris und Yuriy mit seinem enigmatischen Lächeln - und fühlte sich um Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Das einzig wirklich Neue war Kai, der mit verschränkten Armen und undeutbarem Blick hinter Yuriy stand. Aber auch das war nicht absolut ungewohnt, denn bei größeren Jobs hatten sie oft auf Hilfe außerhalb des harten Kerns zurückgegriffen. „Ein Tässchen Kaffee wäre eigentlich nett”, stellte Boris fest. „Ich könnte Kaffee vertragen, wie sieht es mit euch aus?” „Schwarztee oder Tod”, sagte Yuriy. Kai beäugte ihn wie ein besonders interessantes Juwel und schüttelte dann den Kopf. „Bei Kaffee sage ich nicht nein.” Ivan sah demonstrativ an sich herunter, dann in der abgelebten Wohnung herum. „Sieht das hier aus wie ein gottverdammtes Kaffeehaus? Wenn ihr Kaffee wollt, dann geht zu einem Starbucks.” „Wir unterstützen lieber die kleinen Betriebe”, sagte Boris grinsend. Ivan rollte mit den Augen. „Du warst auch schon mal witziger. Ihr Wichser seid doch nicht wegen meinem Kaffee hier, ihr plant doch was. Ist der Große schon bei dem Ding dabei?” Als Yuriy und Boris erschreckend synchron nickten, seufzte er. „Natürlich ist er das. Was ist es denn?” Yuriy und Boris sahen sich an, während Kai auf eine undeutbare Weise die Lippen schürzte. Dann neigte Yuriy sich zu Ivan und wisperte direkt in sein Ohr. „Scheiße”, sagte Ivan, als er geendet und sich wieder aufgerichtet hatte, „du verarschst mich doch. Hast du im Kittchen ein paarmal zu oft was auf die Mütze bekommen? Das wird doch nie funktionieren.” „Es wird funktionieren”, sagte Yuriy lächelnd, „die Frage ist nur, ob mit oder ohne dir.” Ivan starrte ihn an, dann Boris, ehe er seufzte. „Da braucht ihr doch noch mehr Leute”, sagte er, „habt ihr die schon?” Yuriy schüttelte den Kopf. „Wir brauchen so einige, deswegen wollten wir die Rekrutierung auf uns vier aufteilen. Zeit ist Geld.” „Schön”, sagte Ivan, woraufhin Yuriy und Boris sich einen triumphierenden Blick zuwarfen, „und an wen habt ihr da so gedacht?” Kapitel 4: Avengers - Assemble! ------------------------------- Pegasus „Natürlich können Sie Ihren Verlobungsring auch bei Cartier kaufen“, sagte Julia mit einer wegwerfenden Geste ihrer Hand, an der Diamanten glitzerten, „aber einen wirklich einzigartigen Stein werden Sie nur hier finden. Wir arbeiten mit spanischen Goldschmieden zusammen, die aus den Steinen das meiste herausholen. Sie sehen es ja selbst.“ Der Kunde vor ihr, ein älterer Mann mit prominentem Schnurrbart, machte ein zustimmendes Geräusch, als er sich wieder über die Vitrine lehnte. „Nun gut, wenn sie dann endlich Ja sagt …“ Julia wollte kotzen. Stattdessen lächelte sie strahlend und nickte. „Bei diesem Ring kann keine Frau Nein sagen, glauben Sie mir.“ Der Kunde zahlte bar. Sie zählte zufrieden die Scheine, dann blickte sie auf, als die dezent bimmelnde Türklingel einen neuen Klienten oder eine neue Klientin ankündigte. Ein Mann war hereingetreten, smart gekleidet in ein weißes Hemd mit hohem Kragen, schwarzer Anzughose und passendem Jackett, dunkel getönten Sonnenbrillen, blutroter Krawatte und einem schwarzen Hut mit blutrotem Hutband. Er ließ die Tür sachte hinter sich ins Schloss fallen und schnitt damit den Straßenlärm ab. Etwas an der Art und Weise, wie er sich durch den Laden bewegte, bis er vor der Verkaufstheke stehenblieb, war seltsam vertraut. Julia runzelte einen Moment lang die Stirn, zauberte dann aber rasch und geübt das Dienstleistungslächeln auf ihre Lippen. „Herzlich willkommen bei Dynasty, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ „Ich habe da schon eine Idee.“ Der Mann nahm die Sonnenbrille ab. „Fick mich“, stieß Julia unwillkürlich hervor, als sie mit einem Paar sehr bekannter, eisblauer Augen konfrontiert wurde. Yuriy Iwanov, der Rote Wolf, grinste amüsiert und schenkte ihr dann einen koketten Schlafzimmerblick. „Na, wenn du schon so motiviert fragst … ich habe immer ein Kondom dabei.“ „Ich erinnere mich.“ Julia schüttelte den Kopf, erstaunt und erfreut zugleich, dann kam sie hinter der Theke hervor und tätschelte seine Wange. „Gib mir einen Moment.“ Sie ging zur Eingangstür, sperrte ab und drehte das Schild auf „Mittagspause“, dann kam sie zu ihm zurück und zog ihn am Ärmel mit sich in das Hinterzimmer, das ihr Büro war. Er konnte gerade noch einen Blick auf die einzelnen kleinen Plastikbeutel mit schimmernden Steinen in allen Größen und Farben auf dem Tisch werfen, dann hatte sie die Arme um seinen Hals geschlungen und zog ihn zu sich herab, bis ihre Lippen über seine kühle, glatt rasierte Wange gleiten konnten. Himmel, er roch noch immer so gut, wie sie es in Erinnerung hatte. Und seine Hände hatten immer noch jenen festen, bestimmten Griff, als sie durch ihre Haare fuhren und dann in ihrem Nacken ruhten, ehe er die Nase gegen ihre Schläfe drückte und tief einatmete. Einer der wenigen Männer, für die sie in ihrem Leben sowohl Lust als auch Zuneigung empfunden hatte, und sie wurde schlagartig wieder an die Gründe dafür erinnert. „Ich hätte nicht gedacht, dass man dich so bald wieder gehen lässt, corazón“, sagte sie rau und sah ihm in die Augen. „Was soll ich sagen, die Welt kann nicht genug von mir bekommen.“ „Wir beide wissen, dass es genau umgekehrt ist.“ Sie lächelte und drückte noch einen Kuss auf seine Schläfe, ehe sie sich von ihm löste und zu dem Regal hinter ihrem Schreibtisch schritt. „Wir wissen beide, dass du nicht genug von der Welt bekommen kannst.“ „Dafür liebst du mich doch.“ Er lächelte und ließ sich in dem bequemen Ledersessel vor ihrem Schreibtisch nieder, während Julia ihnen beiden schwungvoll zwei Gläser Whiskey einschenkte. Eines davon schob sie ihm über den Tisch hinweg zu. Mit dem anderen kam sie zu ihm, lehnte sich gegen den Tisch und sah ihm tief in die Augen, als sie miteinander anstießen. „Salud, amor y pesetas“, murmelte Julia dabei. „Sa schisn“, sagte Yuriy und zwinkerte ihr zu. Sie tranken schweigend. Julia saugte seinen Anblick in sich auf. Oh, er hatte ihr nie wirklich gehört und sie nicht ihm. Sie hatten ein paar gute Nächte gehabt, in denen der Sex jedes Mal bombastisch gewesen war - aber wirklich gut, wirklich lohnenswert waren immer die Aufträge gewesen. Himmel, nichs und niemand zauberte sie zurück auf die Trapeze ihrer Kindheit wie Yuriy Iwanovs gefährliche, brillante Pläne. Sie trank noch einen Schluck, leckte sich einen Tropfen Whiskey von den Lippen, verzog diese zu einem Lächeln, als sie merkte, dass Yuriys Blick der Bewegung genau folgte. „Also, hast du mich einfach nur vermisst oder gibt es etwas anderes, wegen dem du mich in meinem bescheidenen Laden aufsuchst?“ „Hmm.“ Yuriy nippte an seinem Glas. Seine Augen wanderten von Julias Mund zu Julias Steinen, die in ihren Plastiktüten auf dem Tisch lagen. Sie hielt ihn nicht auf, als er den Whiskey abstellte und zu einer der Tüten griff, um sechs glitzernde Steinchen auf seine Handfläche zu schütteln. „Du machst immer noch die schönsten Steine, milaja. Wenn man sie so ansieht, muss man sich schon wirklich, wirklich gut auskennen, um zu wissen, dass sie wertloser Zirkon sind.“ „Die Menschen sehen immer nur, was sie wollen.“ Sie musterte ihn. „Was siehst du?“ Yuriy lächelte und neigte seinen Kopf auf eine Weise, die etwas in ihrer Magengegend zum Prickeln brachte. „Was sagst du, wenn ich unter Umständen einen Job habe, den ich ohne dich nicht durchziehen kann?“ „Ich würde sagen, dass du mir dann besser etwas bieten solltest, damit sich die Sache für mich lohnt.“ Yuriys Lächeln wurde scharf und wölfisch. Sie fühlte einen wohligen Schauer über ihren Rücken wandern, als er sagte: „Oh, glaub mir, das habe ich.“ „Schieß los“, sagte Julia. Megalodon Ivan wusste nicht, was er erwartet hatte, aber als Mariam ihm die Tür öffnete, sah sie wesentlich abgefuckter aus als erwartet. Ihre Haare waren in einem halb auseinanderfallenen Pferdeschwanz mit etwas zusammengebunden, das wie das Gummiband zur Verschnürung von bestelltem Essen aussah. Unter ihren jadegrünen Augen lagen Ringe, die so schwarz waren, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie keine VIP-Tickets zum Gothic Wave Festival hatten. Reste von Mascara klebten an ihren Wimpern und ihren Wangen, und ihre Unterlippe war rissig genug, dass sie vor nicht allzu langer Zeit geblutet zu haben schien. Sie trug ein ausgeblichenes The-Cure-Shirt, das ihr mindestens drei Nummern zu groß war, einen gepunkteten Slip und sonst nichts. In der Hand, mit der sie nicht die Tür hielt, brannte eine Zigarette. „Fick mich“, sagte Ivan prompt, „du siehst ja echt beschissen aus, meine Fresse.“ „Na sieh mal einer an“, sagte Mariam genauso prompt, „der laufende Meter aus dem Rudel des Roten Wolfs. Wobei du ja sogar ein bisschen gewachsen bist, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe - darfst du jetzt endlich mit der Achterbahn fahren?“ „Ja, schon. He, wir können gemeinsam fahren gehen, wenn du dich zurück auf den Weg zur Geisterbahn machst, die vermissen da ihr Schreckgespenst.“ „Gern, ich geh‘ dorthin zurück, nachdem ich dich dich bei der Schneewittchen-Attraktion abgeliefert habe. Die ist einfach nicht das gleiche ohne Grumpy.“ Ivan grinste und hielt ihr die Faust hin. „Schön zu sehen, dass du noch am Leben bist, du klapprige alte Schachtel.“ Mariam nahm einen Zug von ihrer Zigarette und gab ihm dann einen Fistbump, ehe sie die Tür ein wenig weiter öffnete und ihn hineinließ. „Hätte dir so gepasst, dass ich das Zeitliche segne, bevor ich deine Beerdigung ruinieren kann.“ „Aww. So viel Mühe nur für mich.“ Mariams deprimierend dunkle Schuhschachtel von einem Apartment sah nicht unbedingt besser aus als sie selbst. Ivan unterdrückte das Bedürfnis, die Armee an Pizzakartons zu einem einzigen großen Turm zu stapeln, der dem Turm zu Pisa Konkurrenz gemacht hätte. Stattdessen hüpfte er auf den zweiten Barhocker in Mariams Küchenzeile und ignorierte ihr Grinsen, als seine Füße nicht einmal ansatzweise den Boden berührten. Selbst in ihrem desolaten Zustand war Mariam immer noch eine der schönsten Frauen, die Ivan jemals gesehen hatte. Leider wusste sie es auch. „Bist du nur hergekommen, um meine Beine anzustarren?“, fragte sie. „Um fair zu sein, du bestehst gerade fast nur aus Bein. Sehr nacktem Bein.“ Mariam lachte rau und zog an ihrer Zigarette. Der süße Geruch von Menthol entströmte ihren Lippen, als sie den Rauch in die andere Richtung ausatmete. „Ich hatte nicht mit Besuch gerechnet.“ „Stattdessen hast du - was? Pizza gegessen und Horizon Zero Dawn gezockt?“ „Bloodborne. Und nach einem Job gesucht.“ „Und? Fündig geworden?“ Mariam grunzte und drückte den Rest der Zigarette auf dem Plastikdeckel einer Gyozaverpackung aus. „Nichts, was gut genug zahlt, um die Langeweile dabei zu rechtfertigen.“ „Tja. Dann bin ich wohl die Erhörung deiner Gebete, Baby.“ Mariam zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn. „Das glaube ich erst, wenn ich es höre.“ „Du brauchst Geld“, brachte Ivan es auf den Punkt. „Wir wissen, dass Yusuf und Ozuma sitzen.“ Mariam verzog wütend das Gesicht, aber Ivan fuhr fort, bevor sie ihm ins Wort fallen konnte. „Was ist, wenn wir dir ein Angebot machen können, bei dem du auf deine Kosten als Sprengstoff- und Tresorspezialistin kommst und trotzdem genug verdienst, um nicht nur Oz und deinen Bruder aus dem Kittchen zu holen, sondern dann auch gleich eine lange, komfortable Reise zu machen?“ Mariam verengte die Augen. „Wer ist wir?“ Ivan holte eine Karte aus seiner Tasche, die auf den ersten Blick blank wirkte, und schob sie ihr zu. „Erfährst du, wenn du vorbeischaust.“ „Werde ich umgelegt, wenn ich dann Nein sage?“ „Nö. Aber du wirst dir kräftig in den Arsch beißen, wenn du Nein sagst.“ Mariam musterte ihn einen langen Moment, dann rollte sie mit den Augen und spielte mit der Visitenkarte. „Schön. Wenn ich an dem Tag nichts Besseres zu tun habe, komme ich vorbei.“ Hedgehog Er kam auf Mathilda zu, als sie gerade ihren Gewinn einlöste und am Schalter auf die Auszahlung wartete. Unmöglich, ihn zu übersehen: Er war größer als die meisten anderen Leute im Apollon, hatte einen Hut tief ins Gesicht gezogen und trug zu seinem Hemd mit aufgerollten Ärmeln und der dunklen Hose einen sorgfältig gestutzten, blonden Vollbart mit Zöpfchen darin wie ein ins 21. Jahrhundert katapultierter Wikinger. Auf seinen kräftigen Unterarmen war links das Schwarz-Weiß-Tattoo eines Kraken und rechts das Schwarz-Weiß-Tattoo eines Pottwals zu sehen. Mathilda war dennoch geneigt, ihn als Fuckboy abzustempeln, ehe sich ihre Blicke trafen und er ihr ein Lächeln schenkte, das so sanft und warm wirkte, dass sie einen Moment lang fast verstört davon war. Er bewies Manieren, indem er sie erst ansprach, als sie ihre Auszahlung entgegen genommen und sorgfältig in der Innenseite ihrer dunkelblauen Lederjacke verstaut hatte. Dann jedoch war er sehr unvermittelt neben ihr und sie wurde sich bewusst, wie groß er eigentlich war - mindestens zwei Meter. Sie musste den Kopf ein Stück in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Ms. Aster?“, fragte er. Seine Stimme war tief und ruhig, geprägt von der Gelassenheit eines Mannes, der nichts zu beweisen hatte. Mathilda stellte fest, dass sie weder Furcht noch Unwohlsein verspürte. Dennoch gab sie ihre Deckung nicht ganz auf. Man konnte in ihrem Fach nie wissen. „Das kommt ganz darauf an, wer fragt.“ Er lächelte erneut. „Ein gemeinsamer Bekannter von uns.“ Als er einen kleinen, runden Gegenstand aus der Hosentasche holte und ihr zuwarf, fing sie ihn automatisch aus. Es war ein Pokerchip mit einem großen, goldenen B darauf - das Zeichen von Barthez, dem Casino, in dem sie Spielen gelernt hatte. Dem Casino, wo sie beinahe gestorben wäre. Auf dem Pokerchip klebte etwas, das Flecken von Farbe oder von Blut sein konnte. Sie würde niemals vergessen, wer ihr und den anderen aus Jean-Pauls manipulativen Fängen geholfen hatte. Mathilda blickte auf. „Ich dachte, er sitzt.“ „Der Wolf hat seine Wege.“ Der Wikinger lächelte. „Und jetzt möchte er seinen Gefallen einfordern.“ „Was hat er vor?“ „Rache.“ Der Wikinger musterte sie nachdenklich, dann fügte er hinzu: „Was nicht bedeutet, dass für uns nichts dabei rausspringt. Aber ich glaube nicht, dass man dir die Sache mit Geld schmackhaft machen kann.“ Mathilda musste lächeln. „Ich kenne dich“, sagte sie dann, „du bist Kaschalót, der Wal, nicht wahr? Teil des Rudels.“ „Vielleicht.“ „Ich erinnere mich an dich.“ Sie erinnerte sich tatsächlich noch, je länger sie sein Gesicht betrachtete. Jemand hatte ihr damals herausgeholfen aus den rauchenden Ruinen von Barthez‘ einstigem Imperium, das er auf ihren Rücken aufgebaut hatte. Es war ihm recht geschehen. Gott, er hatte alles verdient, was er bekommen hatte. Und Yuriy, rechte Hand von Jean-Pauls Förderer, hätte ihnen nicht helfen müssen, als sie ihn darum gebeten hatte. Hätte ihnen sogar Schlimmeres antun können als zuvor. Es war ein Spiel gewesen, bei dem Mathilda hoch gepokert und alles gewonnen hatte. Sie wusste gleich, dass es keine andere Antwort als Ja gab, egal, worum Yuriy sie bitten wollte. Also machte sie einen tiefen Atemzug und fragte: „Was braucht er?“ „Die beste Profispielerin im Apollon, gerüchteweise sogar im ganzen Land“, sagte Kaschalót und gestikulierte mit einem vagen Lächeln auf ihre ganze Form, „und wenn sie jemanden kennt, auch eine Kontaktperson im Zeus, der Interesse an einer nicht wirklich legalen, dafür spannenden und lukrativen Herausforderung hat.“ Sie dachte an Salima, die bis zum Hals in Schulden steckte, und nickte. „Ich kenne jemanden.“ „Ausgezeichnet.“ Der Wikinger holte eine Karte aus seiner Hosentasche, die auf den ersten Blick blank aussah, und reichte sie ihr. „Hier. Kommt vorbei, dann wird alles erklärt, was ihr wissen müsst. Und dann habt ihr immer noch die Chance, auszusteigen, wenn es euch zu heiß ist, versprochen.“ Mathilda schüttelte den Kopf. „Die Partie hat schon begonnen“, sagte sie, „ich gehe mit dem Einsatz mit.“ Der Nachtfuchs „Und dieser Nachtfuchs“, fragte Yuriy zum wiederholten Mal, „ist wirklich der beste Dieb in der Stadt?“ „Im ganzen Land“, sagte Boris und nahm ihm die Zigarette ab, um selbst einen Zug zu machen. Sie standen auf dem Dach von Kais Penthouse, Hände in den Hosentaschen, und starrten hinaus in die Nacht. Yuriys Silhouette neben ihm war nur ein Schatten von vielen, aber er hätte ihn überall erkannt. Nun schüttelte der Rotschopf den Kopf. „Sagt mir wirklich überhaupt nichts. Der kann ja erst groß geworden sein, als ich im Knast war. Kann so ein Greenhorn wirklich so einen guten Ruf haben?“ Boris nahm einen tiefen Zug und reichte die Zigarette dann zurück an Yuriy. „Warum gehst du sexistisches Arschloch eigentlich automatisch davon aus, dass es nur ein Kerl sein kann?“ Yuriy blinzelte, drehte den Kopf einen Moment lang in seine Richtung und nahm schließlich die Zigarette an, führte sie aber noch nicht an die Lippen. „Ist es nicht?“ „Würde ich es sonst extra sagen?“ „Um ehrlich zu sein würde ich es dir zutrauen.“ Boris schubste ihn nicht, obwohl er wollte. Es war, weil er mittlerweile schon Zeuge davon geworden war, dass Yuriy echte Schwierigkeiten hatte, sich flüssig zu bewegen, wenn er nicht auf Schmerzmitteln war, und weil er wusste, dass Yuriy sich fürchterlich aufregen würde, wenn er das Gefühl bekam, dass Boris ihn bemitleidete. Boris bemitleidete ihn nicht. Aber Yuriy hatte den Unterschied zwischen Mitleid und Rücksicht nie so richtig verstanden. „Kann ich dich bei Gelegenheit gegen das Geländer da ficken?“, fragte er stattdessen. Yuriy musterte besagtes Geländer und zog nun doch an der Zigarette. „Damit du dabei die Skyline betrachten kannst? Selbstverliebtes Arschloch. Das Scheißgeländer ist sicher total unangenehm, wenn dann ficke ich dich dagegen.“ Er blickte auf die Uhr und seufzte schwer. „Besonders pünktlich ist der Nachtfuchs ja nicht. Da hätt ich inzwischen schon dreimal Hiwatari auf die dunkle Seite der Macht ziehen können.“ „Ein weiser Mann hat einmal gesagt, die coolen Leute kommen immer ein bisschen zu spät auf Partys.“ Boris beobachtete genau Yuriys Reaktion, als sein Gehirn registrierte, dass er die weibliche Stimme erkannte, die hinter ihnen erklungen war. Langsam drehte er sich um, während Boris sich entspannt mit dem Rücken gegen das Geländer lehnte und dem Neuzugang zuwinkte. Der Nachtfuchs trug eine stilisierte Maske in Form eines Silberfuchses, die die obere Hälfte des Gesichtes bedeckte und nur dunkle Augen freiließ. Darunter: Schwarz geschminkte Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen. Der Nachtfuchs war in der Tat eine Frau, die ohne Eile vollkommen lautlos auf sie zukam: Schwarze Schnürstiefel, schwarze Jeans, ein schwarzes Gilet über dem regenbogengestreiften Hemd, darüber eine Lederjacke mit Regenbogenapplikationen. Als sie ins Licht der Penthouse-Außenbeleuchtung trat, glänzte ihr fedrig geschnittenes, schulterlanges Haar im gleichen Rotton wie Yuriys. „Hallo, Brüderchen“, sagte Sinaida und grinste, als sie die Maske in einer sicherlich tausendmal einstudierten, fließenden Bewegung herunterzog, „ich habe gehört, ihr braucht einen Meisterdieb für euren Job.“ „Sina?“, sagte Yuriy nach einer langen Pause ungläubig, „was - wieso zum Fick bist du schon so groß? Du warst zwölf, als ich verhaftet wurde!“ „Die Zeit ist halt nicht stehengeblieben.“ „Du hast mit Barbies gespielt!“, sagte Yuriy anklagend. „Ich hab‘ dir die neuesten Modelle von Mattel geklaut!“ „Tja, und jetzt klaue ich die neuesten Modelle von Cartier.“ Sie grinste weiterhin. Yuriy hingegen wirkte wie überfahren. Er starrte seine Schwester an, dann zu Boris, der nur die Schultern hob und ihm die Zigarette aus den Fingern wand, von der sowieso nicht mehr viel übrig war. Seufzend drückte er sie am Geländer aus und warf sie darüber. Die Geschwister rührten sich nicht von der Stelle. Auf beiden Gesichtern stand eine seltsame Befangenheit, die Boris nicht unbedingt vorausgesehen hatte. Yuriy wirkte, als ob er etwas sagen wollte und doch sprachlos bleiben musste. Mehrmals fuhr er sich über das Gesicht, setzte zum Sprechen an, gab dann auf. „Gott, Sina“, sagte er schließlich rau und machte einen Schritt vorwärts, „ich hab‘ so viel an dich gedacht.“ Sein Schritt war alles, was Sinaida zu benötigen schien, um die Distanz zwischen zu ihnen zu überwinden. Sie flog an seine Brust, nur um erschrocken zurück zu treten, als er ein schmerzhaftes Zischen von sich gab. „Lass mich sehen.“ „Sicher nicht“, sagte Yuriy. Aber er hatte ihre Schultern umfasst und studierte ihr Gesicht, als ob er sich nicht daran sattsehen konnte. „Ich kann nicht glauben, wie groß du geworden bist. Zehn Jahre … ich habe so viel verpasst.“ „Ich werde ihn bluten lassen“, schwor Sina. In ihren dunklen Augen brannte das gleiche Feuer, das in Yuriys stand, wenn er über Garland Siebald sprach. „Aber vorher ruinieren wir ihn. Ich klaue dir alles, was du willst.“ „Das ist meine kleine Schwester“, sagte Yuriy stolz und zog sie an sich, um einen Kuss auf ihren Scheitel zu drücken. „Es wird ziemlich schwierig. Du wirst einem Kerl den Ring vom Leib klauen müssen. Traust du dir das zu?“ Sina lächelte und drückte ihm seine eigene Armbanduhr in die Hand. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie von seinem Handgelenk verschwunden war. „Ich glaube, das wird sich machen lassen.“ Kapitel 5: Der Plan ------------------- Kai spähte durch die Tür des Schlafzimmers nach draußen, wo langsam mehr und mehr Leute ins Penthouse eintrudelten. Er beobachtete, wie Iwanov lächelnd Hände schüttelte und einer Frau mit pinkfarbenen Haaren in Lederjacke auf die Schulter klopfte. Eine andere Frau, mit aufgesteckten, blauen Haaren und engem, schwarzem Lederrock in Knielänge, steckte sich eine Zigarette an und lieferte sich dann einen Schlagabtausch mit Papov, der darin endete, dass dieser ihr einen Drink machte. Kai atmete tief durch, dann schickte er Takao eine Nachricht: Gehe voll Undercover für den Abend. Melde mich. Er schaltete das Handy gleich darauf ab. Eine Moralpredigt von Takao war das letzte, was er nun hören wollte. Sicher, wäre Takao an seiner Stelle, würde er Dinge anders handhaben und vieles an seiner Herangehensweise war sicher nicht falsch. Im Gegenteil, Takao war der Grund, warum Kai überhaupt bei der Polizei angefangen hatte - er war ein guter Mann, einer der wenigen wirklich unbestechlichen Ermittler mit einer herausragenden Erfolgsquote. Man feierte ihn in der Stadt als Champion der Unterdrückten, als Verteidiger der Schwachen. Kai hatte ihn gesehen, getroffen, und er hatte gewusst, dass er so sein wollte wie er, nur ein kleines bisschen. Nur ein kleines bisschen mehr sein als Takao, ein kleines bisschen besser, nur ein kleines bisschen gefeierter von der Gesellschaft sein und er konnte sich einbilden, dass er vollkommen frei von der stillen Faszination war, die das Ausnutzen von Lücken im System in ihm hervorrief. Und dass er nicht manchmal, nur manchmal, die Welt brennen sehen wollte, die ihre Ungerechtigkeit so oft selbst verschuldete. Kai verstand Iwanov in gewisser Weise sehr gut. Auch deswegen war er so gefährlich für ihn. „Man kann dich bis draußen seufzen hören“, sagte Iwanov vom Türrahmen aus. Er war lautlos wie der Teufel erschienen und Kai fluchte vor Schreck. Im Spiegel konnte er sehen, wie Iwanow, die Arme vor der Brust verschränkt, seine Lippen zu einem amüsierten Lächeln verzog. „Was ist los?“ Kai antwortete nicht, sondern richtete sich die Manschettenknöpfe. Es war seltsam, woran sich das motorische Gedächtnis noch erinnerte, auch wenn der restliche Verstand sein Bestes getan hatte, um bestimmte Dinge zu vergessen. Er hatte überhaupt keine Schwierigkeiten damit, seine Krawatte in einem Windsorknoten zu binden und dann alles an seine Stelle zu rücken. Seine ganze Kindheit und Jugend hatte er damit verbracht, Etikette zu lernen und sich auf ein Leben zwischen Reichtum, Schönheit und Korruption vorzubereiten. Er würde lügen, wenn er behauptete, dass die Macht ihm nicht gefallen hatte, die Macht und das Glitzern einer Welt, die ihm zwischen Exzessen und Ekstase zu Füßen lag. Fast schade, dass sein Hass und sein Bedürfnis nach einem eigenständig gelenkten Leben größer gewesen waren. Kai zuckte beinahe zusammen, als lange Finger über seinen Hemdkragen und das Jackett glitten, aber nur beinahe. Er behielt den Blick stur auf die Krawatte gerichtet, aber Iwanov war wie ein glühender Schatten hinter ihm im Spiegelglas, als seine Finger weiter über Kais Ärmel strichen, bis sie für den Bruchteil einer Sekunde die nackte Haut seines Handgelenks berührten. Kai biss die Zähne zusammen, ignorierte das Aufflammen von Interesse, das sich nur intensivierte, als sich sein und Iwanovs Blick im Spiegel trafen. Der Bastard legte es darauf an, das war so sicher wie das Amen im Gebet. „Was sagt Kuznetsov dazu, dass du extra reingekommen bist, um mich zu befummeln?“, fragte er daher trocken. Iwanovs Augen blitzten amüsiert auf. „Na, na, da wird doch wohl nicht jemand eifersüchtig sein?“ Kai hatte sehr genau mitbekommen, dass er seine Frage nicht beantwortet hatte. „Takao und ich haben schon den Wiedervereinigungssex mitbekommen, den Eifersuchtssex braucht es echt nicht.“ Iwanovs Lächeln breitete sich. „Oh, ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, keine Sorge.“ „Weiß niemand das auch?“ „So interessiert an meinem Liebesleben“, murmelte Iwanov, „dabei hat es mit deiner Mission doch absolut nichts zu tun, wen ich vögle oder nicht.“ Kai schwieg, denn leider hatte Iwanov bis zu einem gewissen Grad recht. Ehe er eine passende Antwort parat hatte, hatte Iwanov die Hand von ihm genommen und war zurückgetreten. Augenblicklich war es, als ob er eine unsichtbare Wand um sich herum aufgezogen hatte. Er lächelte immer noch, aber es war nicht mehr in seinen Augen. Erstaunlich, wie klar Kai solche Dinge aus seinem Gesicht lesen konnte, ohne eine einzige Ahnung seiner Gedanken zu bekommen. „Wenn du dann deinen lächerlich komplizierten Krawattenknoten fertig hast, komm hinaus“, sagte er. „Es sind mittlerweile alle da und ich will anfangen.“ Sein Blick glitt noch einmal über Kai, kühl und kalkulierend. Einen Moment lang schien da noch etwas anderes in seinen Augen zu sein, ein Aufblitzen von etwas, das Kai nicht richtig benennen konnte - fast etwas wie eine Erinnerung, zu flüchtig, um sich lange daran festzuhalten. Dann wandte er sich ab und verließ das Schlafzimmer, und wenig später konnte Kai seine Stimme fest und amüsiert über die Gruppe waschen hören. Kai atmete schwer aus, warf noch einen Blick auf sein Spiegelbild. Es starrte mit rostroten Augen und undurchdringlichem Ausdruck zurück - nicht ganz ein Fremder, eher im Gegenteil. Er fuhr sich über das Gesicht und wandte sich ab. Dann marschierte er mit festen Schritten hinaus und legte sämtliche Hiwatari-Arroganz in seine Haltung, als er in das Wohnzimmer trat. Mehrere Augenpaare richteten sich auf ihn. Mental machte Kai sich zu jedem Gesicht im Raum Notizen. Einige davon kannte er aus den Daten rund um Iwanov, die er obsessiv studiert hatte, allen voran natürlich Kuznetsov, Ivan Papov und Sergeij Rybakov. Sie hatten sich fast komödiantisch um Iwanov herum positioniert: Kuznetsov hinter dem Armstuhl stehend, auf dem Iwanov mit lässiger Eleganz thronte, Rybakov und Papov an den nächsten Enden der beiden großen Sofas im Raum. Auf der Armlehne von Iwanovs Stuhl saß ein Rotschopf mit dem gleichen amüsierten Lächeln und der gleichen selbstverständlichen Haltung der Gelassenheit wie Iwanov. Sie musterte Kai neugierig aus dunklen Augen, während ihre schlanken Finger unruhig mit einem Fidget Cube spielten, den sie methodisch zu einem flachen Viereck zerlegte und dann wieder zu einem Würfel zusammensetzte. Das Mädchen war sicher die Jüngste im Raum, was ihrer Selbstsicherheit allerdings keinen Abbruch zu tun schien. Kai hatte sie noch nie gesehen. Sein Blick wanderte weiter. Neben Rybakov, ein wenig verlegen und trotz knallig-pinkem Bob etwas unscheinbar, saß die junge Frau in Lederjacke, die ihm flüchtig zulächelte und dann mit den Knöcheln in ihren fingerlosen Bikerhandschuhen knackte, woraufhin Rybakov zusammenzuckte. Mathilda Alster, erkannte Kai - eine Profispielerin, die sie schon mehrmals aufgrund illegaler Aktivitäten hatten festnehmen wollen, ohne ihr jemals etwas beweisen zu können. Sie neigte sich zu einer Frau neben sich, ebenfalls ein Rotschopf mit einem sanften, fast gütig wirkenden Gesicht, und sagte leise etwas zu ihr. Kai hatte sie noch nie gesehen, daher merkte er sie sich besonders gut. Auf dem Sofa gegenüber neben Papov saß eine Frau mit langen, braunen Haaren und einem hellen Pony in einem roten Kleid. Ihre Kehle war bedeckt von einem filigranen Collier, dessen Steine so sehr im Licht des Kronleuchters glitzerten, dass Kai fast ein wenig schwindelig wurde. Auch ihre Identität kannte er nicht, aber sie hatte etwas an sich, das ihm instinktiv sagte, sie nicht zu unterschätzen, wenn er es nicht bereuen wollte. Die letzte Frau war die Frau mit den blauen Haaren. Sie saß entspannt da, die endlos langen Beine übereinandergeschlagen, und rauchte eine Zigarette, deren Asche sie achtlos in den Kristallaschenbecher neben sich fallen ließ. Auch sie war kein unbeschriebenes Blatt: Mariam Shields war einer Verhaftung im Zuge einer extrem erfolgreichen Reihe an Banküberfällen unter der Schirmherrschaft von Ozuma „Flash Leopard“ Saints nur entkommen, weil dieser die gesamte Schuld auf sich geladen hatte und die Beweise allein ihn betrafen. Wenn sie Kai kannte, zeigte sie es nicht. Ihre grünen Augen schweiften achtlos über ihn hinweg, als er sich neben ihr auf dem Sofa niederließ. Sobald er saß, nahm Iwanov eine etwas geradere Haltung an und kündigte damit sichtlich den Beginn der Planvorstellung an. Kai bildete sich ein, dass er einen ganz flüchtigen Moment schmerzvoll das Gesicht verzog, aber ehe er genauer darüber nachdenken konnte, hatte Iwanov mit einer kleinen Fernbedienung den riesigen Flatscreen an der Wand gegenüber von seinem Lehnstuhl aktiviert. „Meine Lieben, ihr seid hier, weil ihr die Besten in dem seid, was ihr tut“, sagte er gelassen, „und dieser Job kann nur von den besten ausgeführt werden. Die Belohnung ist nicht von schlechten Eltern, wie ihr schon wisst, und wenn irgendjemand dennoch unzufrieden davon rausgeht, werde ich mich schon um die Befriedigung der Gelüste kümmern.“ „Oh, das glaube ich gerne“, schnurrte die Juwelenfrau. Iwanov zwinkerte ihr zu, dann glitt er nahtlos über in seine Erklärung und benutzte dabei eine Slider-Präsentation, um seine Worte zu untermalen. Sein ganzes Gebaren veränderte sich dabei, ein vollkommen glatter Übergang in den Yuriy Iwanov, der Kais Nackenhaare aufstellte: Kühl, kalkuliert, clever. Er verschränkte die Arme vor der Brust in dem Versuch, das Herzklopfen darin zu unterbinden. „Das Ziel ist der Raub des Zeus und Apollon“, sagte Iwanov ohne viele Umschweife. „Die Einnahmen beider Casinos werden im Apollon gelagert. In einer normalen Nacht kommen da schon mal an die 80 Millionen Dollar zusammen, am Wochenende locker 150 Millionen. Und bei Nächten von Sportwettkämpfen locker das doppelte.“ Er machte eine Pause und verzog die Lippen zu einem raubtierhaften Lächeln. „Ratet, was Siebald zur Eröffnung seines neuen Babys, dem Poseidon, austragen lassen will. Und ratet, wann wir den Job durchziehen werden.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann fragte Shields sehr ruhig: „Haben sie dir ins Hirn geschissen?“ Der Babyrotschopf neben Iwanov lachte laut auf, während Kai ihr insgeheim nur beipflichten konnte. Er wusste, worum es hier wirklich ging und dass der Raubzug nur ein Ablenkungsmanöver war, aber dieses Vorhaben war absurd. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Aster und die Frau neben ihr besorgte Blicke wechselten. Der harte Kern um Iwanov hingegen wirkte vollkommen ungerührt. Und auch Iwanov breitete sein Lächeln nur, bis er fast manisch wirkte. „Oh nein, Liebling, ich bin bei vollkommen klarem Verstand. Nun. Ein bisschen Wahnsinn gehört zur Genialität wohl dazu. Es steht dir noch allerdings frei, zu gehen - vollkommen ohne Konsequenzen. Aber auch vollkommen ohne die Chance auf das große Geld.“ „Du planst, Siebald um 300 Millionen Dollar zu erleichtern“, sagte Shields langsam. „Nicht ganz“, sagte Iwanov ruhig, „ich plane, ihn um 150 Millionen Dollar und einen Diamanten zu erleichtern.“ Erneut herrschte Schweigen. Aber Iwanovs Augen brannten, und Kai fing Feuer darin, ob er wollte oder nicht. Ein Blick durch den Raum zeigte ihm, dass er damit nicht alleine war. Er atmete tief durch und erinnerte sich daran, dass das hier nicht die Wirklichkeit war - dieser Kai Hiwatari war nicht der wahre Deal, und seine Rolle in diesem Plan war es auch nicht. Die Frau mit dem Juwelencollier hob eine Hand. „Was erwartet uns da?“ „Die Casinos sind schwer bewacht“, sagte Kuznetsov überraschend. Noch überraschender war, dass er dabei grinste, als ob dies das Beste am Ganzen war, und seine Erläuterungen durch Bilder begleitete. „Selbst wenn wir es durch die Security am Eingang schaffen, die Infrarotsicherung in den Aufzügen und Lüftschächten und die Kameras, Fingerabdruck- und Augenscans austricksen, haben wir immer noch den Safe selbst, der nur zu speziellen Anlässen und ganz bestimmten Uhrzeiten von ausgewähltem Personal geöffnet und betreten wird.“ Alster schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich.“ Sie wandte den Kopf zu Shields. „Oder?“ Shields hatte einen Ausdruck im Gesicht, der zeigte, dass sie am Haken hing. „Die Sicherheitssysteme von Casinos sind nahezu unüberwindbar. Der Safe ist da noch unser kleinstes Problem.“ „Mach dir nicht ins Hemd, Große“, sagte Papov grinsend. „Yura hat einen Plan.“ „Dann verrate ihn uns. Kein Hinhalten mehr, Iwanov, sag uns, wie du es machen willst“, sagte Kai rau und zog damit erneut einige Blicke auf sich. Der einzige, auf den es ihm ankam, war Iwanovs. Sie sahen sich lange an, bis Rybakov fast schon unkomfortabel mit der Situation auf seinem Platz herumrutschte und Iwanov die Lippen erneut zu einem seiner unkontrollierten, perfekten Lächeln verzog, die Kai ein heißes, frustriertes Kribbeln in die Leistengegend trieben. „Gut“, sagte er leise, aber klar, „dann passt auf. Wir machen es folgendermaßen.“ Kapitel 6: Meine Lust will, dass es uns ewig gibt ------------------------------------------------- Letzten Endes bissen alle an, auch wenn noch nicht sämtliche Details des Raubzugs geklärt waren. Dafür würden sie erst einmal die Casinos infiltrieren müssen, die sie ausrauben wollten, um ein Gefühl für Terminpläne, Zeitabfolgen und Räumlichkeiten zu bekommen. Sie diskutierten noch ein wenig die Gruppen aus, in denen sie in der nächsten Woche die Casinos auskundschaften würden, und machten weitere Treffen aus dann löste sich die Versammlung auf ein unausgesprochenes Zeichen hin nach und nach auf, als die meisten ihrer Wege gingen. Yuriy hielt durch, bis nur noch sie beide, Sina, Sergej, Ivan und Hiwatari im Penthouse waren. Für den Rest des Teams musste es aussehen, als ob er unbekümmert weiterlächelte. Aber Boris konnte ganz deutlich erkennen, wie sein Gesicht immer bleicher und der Ausdruck um seine Augen angespannter wurde. Am Liebsten hätte er Hiwatari hochkant hinausgeworfen, aber leider war das ja keine Option. Ihm die Nase brechen auch nicht. Dabei hatte seine Fresse etwas, das zum Reintreten geradezu einlud, ganz wie ein Winterstiefel. „Gehen wir noch was essen?“, fragte Sina aufgeräumt und war schon drauf und dran, ihre Stiefel zuzuschnüren. Boris wuschelte ihr über den Kopf und grinste, als er ihr ein empörtes Quieken entlockte. Die junge Frau war für ihn selbst wie eine kleine Schwester; nachdem er sich um sie gekümmert hatte, als man Yuriy eingesperrt hatte, fiel es ihm manchmal schwer, sie als erwachsenen Menschen zu sehen. Dabei war sie eigenwillig und ging ihren Weg, lebte ihr eigenes Leben und hatte ihre eigene Karriere. Er war so stolz über ihren ersten Diebstahl vor sechs Jahren gewesen, dass er sogar ein kleines Tränchen verdrückt hatte. Zu seinem Geburtstag stahl Sina ihm im Jahr darauf sogar eine ganze Schokoladentorte aus einer Nobelkonditorei. Nur Yuriy fehlte an dem Tag zu seinem Glück, aber man konnte nicht alles haben. „Ich muss noch etwas mit Yuriy besprechen“, sagte er ihr, „morgen dann?“ Sina rollte mit den Augen. „So nennt man das heute also?“ „Sinaida! Welch lasterhafte Gedanken in dies zartem Alter!“, rief Yuriy prompt aus und tat, als ob er dramatisch nach einer unsichtbaren Perlenkette griff. Wenn er dabei etwas zu ehrlich ächzte und einen Moment lang die Finger etwas zu fest ins Hemd grub, dann sahen es nur Boris‘ kundige Augen. Er blickte auf und bemerkte, dass Hiwataris Augen fest auf Yuriys Hände gerichtet waren, der Gesichtsausdruck des Polizisten undeutlich. Okay, vielleicht bemerkte es nicht nur Boris. Blöder Arsch. Sina rollte erneut mit den Augen, dann lief sie mit wehenden roten Haaren den Korridor hinunter und klopfte gegen eine Tür. „Vanja! Serjoscha! Ich will Pizza!“ Boris kam gerade dazu, Luft zu holen, da war Sina schon wieder neben ihnen und zupfte ausgerechnet an Hiwataris Jackett. „Hey, komm doch auch mit.“ Hiwatari blinzelte wie überfahren. Boris verkniff sich ein Grinsen. „Bitte?“ „Essen!“ Sie musterte ihn kritisch, dann machte sie einen auffordernden Ruck mit ihrem Kopf Richtung Tür. Im hinteren Bereich des Penthouses kamen Sergej und Ivan ergeben in ihren Lederjacken zu ihnen vor. „Na komm, ich kenne nen tollen Laden hier in der Nähe. Bist du ein Hawaii-Typ? Nein, du wirkst mir nicht wie der Hawaii-Typ. Salami?“ „Salami ist schon gut“, sagte Hiwatari schwach. „Ja, nicht wahr? Bisschen langweilig vielleicht. Wie heißt du nochmal? Kai? Kai war es, ja?“ „Äh, ja“, sagte Hiwatari schwach. Boris hüstelte einen Lacher in die Hand, als der Polizist fast hilflos zu Yuriy blickte. Yuriy wiederum verzog die Lippen zu einem wölfischen Grinsen und tätschelte Hiwatari die Schulter. Boris blickte weg, als seine Hand ein wenig zu lang auf Hiwataris Rücken verweilte, und er lächelte erst wieder, als Yuriy sachte eine rote Strähne hinter Sinas Ohr zurücksteckte. „Viel Spaß“, wünschte er dann jovial, „nehmt ihr Borja und mir auch was mit?“ „Klar. Diavolo für Boris-“ Sie zögerte einen Moment. „Magst du immer noch die Calzone?“ Etwas in Yuriys Augen wurde für den Bruchteil einer Sekunde sanft und traurig. Dann nickte er und drückte einen Schmatzer auf ihre Wange. „Wenn sie in den letzten zehn Jahren irgendwas Besseres rausgehauen haben, kannst du mich gerne damit überraschen.“ „Ich werde mal schauen, was uns über den Weg kriecht“, versprach sie lachend, packte den weiterhin vollkommen verdatterten Hiwatari und zog motiviert auf Sergej und Ivan einredend von dannen. Die Tür fiel ins Haus und ließ Stille zurück. Yuriy sackte fast augenblicklich gegen Boris. Boris fing ihn auf und verzog das Gesicht, als Yuriy einen gepeinigten Laut von sich gab. Er hielt ihn an den Schultern und strich ihm das Haar aus den Augen, während Yuriy tief, fast rasselnd Luft holte. Eine Weile verharrten sie so, dann klopfte Yuriy auf seinen Arm. „Bring mich bitte ins Zimmer“, murmelte er. Boris gab einen zustimmenden Laut von sich. Gemeinsam schafften sie es in das Schlafzimmer, das sie sich für die Dauer der Operation teilten, und Yuriy ließ sich schwerfällig auf die Bettkante fallen. „Salbe, bitte“, sagte er und Boris half ihm dabei, das Jackett abzustreifen, ehe er zur Theke ging und die Salbe holte, während Yuriy sich das Hemd aufknöpfte. Die Spur der Verwüstung, die Garlands hinterfotziger Anschlag auf Yuriys Körper hinterlassen hatte, war beim ersten Mal nicht ganz einfach anzusehen gewesen, aber mittlerweile hatte Boris sich daran gewöhnt. Wulstiges, dickes Brandnarbengeflecht, das zu spät und nicht ausreichend behandelt worden war, zog sich in Schlieren über seine Brust, Arme und einen großen Teil des Rückens. Schneewehen, die an ihren Rändern in morgensonnenrote Schluchten übergingen. Boris wartete, bis Yuriy aus dem Hemd heraus war und schwer atmend die besonders großen Narben über seiner Brust berührte. „Du solltest früher was sagen, Yura“, sagte er und schraubte den Salbentiegel auf, um die Fingerspitzen hineinzutauchen und die kühle Paste auf dem Narbengewebe zu verteilen. Yuriy schnaubte. „Das hier ist kein Kindergeburtstag. Ich kann mir das gerade nicht leisten, so überhaupt nicht.“ Boris verdrehte die Augen. „Nimm deine Schmerzmittel, alter Mann.“ „Wen nennst du hier alt, du seniler Greis? Du bist vier Monate älter als ich.“ „Im Gegensatz zu dir halte ich mich aber fit, mit regelmäßigem Sport und so.“ Yuriy grinste anzüglich, auch wenn der Ausdruck durch sein immer noch sehr bleiches Gesicht ein wenig an Aussagekraft verlor. „Ich kann mich auch mit regelmäßigem Sport fit halten. Du musst mir nur die Klimmstange halten.“ „Vielleicht willst du ja lieber Hiwataris Stange erklimmen“, rutschte es Boris heraus. Er vermied sorgfältig jeglichen Blick in Yuriys Gesicht und konzentrierte sich auf das Auftragen der Salbe. Yuriy war einen Moment lang bis auf seinen schweren Atem ruhig. „Eifersucht steht dir nicht, Borja.“ „Als würdest du es nicht genießen.“ „Du hattest nie ein Monopol auf mich, ich dachte, dass wir das klar ausgemacht haben.“ „Verdammte Scheiße, Yuriy.“ Mit einem Aufflammen jener heftigen Wut, die ihn seine ganze Jugend lang begleitet hatte, pfefferte Boris den Salbentiegel neben Yuriy aufs Bett. Der Rotschopf zuckte nicht mit der Wimper, sondern blickte ihn nur mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck an. Boris schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du warst verfickte zehn Jahre unerreichbar, ich habe trotzdem jeden Tag darauf gewartet, dass du wieder rauskommst, dass wir alle wieder zusammen sind, dass alles wieder - und du kommst mir hier mit ‚du hattest nie ein Monopol auf mich‘. Verfickte Scheiße, das weiß ich. Niemand hat ein Monopol auf dich. Dein letzter Liebhaber hat dich mit einem ganzen Gebäude in die Luft gejagt, weil er seine Karriere über dich gestellt hat. Aber hey, alles kein Ding, alles ganz locker!“ Er schnaubte. „Komm mir nicht mit ‚Eifersucht steht dir nicht‘, wenn‘s mir nicht gefällt, dass du einem verfickten Undercover-Cop hinterherhechelst wie eine läufige Hündin. Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Weiß er, dass du ihn schon seit Jahren beobachten lässt?“ Yuriy, der ihm schweigend und ohne zu blinzeln zugehört hatte, verzog die Lippen nun zu einem dünnen Lächeln. „Natürlich nicht.“ „Und was wirst du tun“, fragte Boris leise, „wenn er draufkommt, dass du verwickelter in den Mord an seinem Vater bist, als er annimmt?“ Jetzt wurde Yuriys Gesicht hart wie Granit. „Das werde ich schon handlen. Du hältst die Fresse.“ „Oh, du handlest ja immer alles so toll alleine“, sagte Boris höhnisch. „Du kennst meine Meinung dazu. Die ganze Sache mit Hiwatari kann dieses Boot ganz schnell zum Kentern bringen.“ „Und das hat auch überhaupt nichts mit irgendeiner Eifersucht zu tun.“ Yuriy rieb sich über das Gesicht. „Die ganze Sache mit Hiwatari kann diesem Boot auch einen Turboantrieb verpassen.“ „Du pokerst hier mit unseren Leben.“ „Und du lässt mich“, sagte Yuriy hart, „du hast mich immer gelassen. Ihr habt mich alle immer gelassen, ich habe immer die Verantwortung getragen und du weißt ganz genau, dass ich sie auch weiter tragen werde. Also komm‘ mir jetzt hier nicht mit erhobenem Finger.“ „Ein erhobener Finger würde dir manchmal vielleicht ganz gut tun, genauso wie man dir vielleicht öfter den Hintern versohlen sollte“, schnappte Boris. Sie maßen sich einen Moment lang schweigend mit Blicken. Yuriys blaue Augen sprühten wütende Funken und Boris konnte sehen, dass er sich nur mit Mühe zurückhielt. Dann jedoch schnaubte Yuriy plötzlich und deutlich amüsiert, und etwas von der Spannung im Raum löste sich in Wohlgefallen auf. „Das Hinternversohlen würde dir wohl so passen“, sagte er rau und streifte sich die Schuhe ab, ehe er den Gürtel öffnete. Boris grollte leicht, als auch der letzte Rest Wut sich angesichts von Yuriys zitternden Fingern verflüchtigte, dann ging er ihm zur Hand. Yuriy schloss die Finger fest um seinen Unterarm, als er ihm etwas mehr aufs Bett half, bis Yuriy bequem in die Kissen sinken konnte. Boris setzte sich neben ihn und hielt seine Hand. Als seine Finger sich um Yuriys schlossen, öffnete der die Augen. Erneut blickten sie sich an, aber es war ein anderer Blick als noch ein paar Momente zuvor - tief, vielleicht nicht verstehend, aber akzeptierend. Der Blick zweier Leute, die zu viel miteinander durchgemacht hatten, als dass etwas anderes als der Tod sie wirklich voneinander trennen konnte. Boris verstand Yuriy nicht. Manchmal bildete er sich ein, dass er es tat, aber oft stimmte es einfach nicht. Es spielte allerdings keine Rolle. Er musste Yuriy nur ansehen und wissen, dass es keine Rolle spielte. Yuriy drückte seine Hand, als ob er seine Gedanken erraten konnte. „Du weißt, dass niemand so für mich ist wie du.“ „Niemand ist so wie ich, ja“, sagte Boris. Dann seufzte er. „Yura. Ist es eine gute Idee, dieses Ding abzuziehen? Sag mir ganz ehrlich: packst du das?“ „Du unterschätzt die Macht von Schmerzmitteln.“ „Ich schlage dich gleich wirklich.“ „Oh, Boris, da werde ich gleich ganz rot!“ Yuriy grinste, dann wurde er ernst. „Wir ziehen das jetzt durch. Und wenn es das letzte ist, was ich in diesem gottverdammten Leben tue.“ Genau davor habe ich Angst, dachte Boris, aber er sprach es nicht aus. Er sagte auch nichts, als Yuriy nach den Tabletten und dem Wasserglas griff und die Pillen mit einigen Schlucken aus letzterem hinabspülte, ehe er die Augen schloss. „Was hast du für mich aufgegeben?“, fragte er dann. Boris zögerte. „Das ist nicht so wichtig.“ Yuriy öffnete ein Auge, dann schloss er es wieder. „Du musst nicht drüber reden. Ich weiß, dass ich viel verpasst habe.“ Boris rieb sich über das Gesicht und atmete tief durch. Er hatte das Bedürfnis nach einer Zigarette, aber Yuriy war erstaunlich pedantisch, was das Rauchen in Innenräumen anging, die kein Auto waren. „Da war ein Mädchen“, sagte er schließlich. „Clever. Warmherzig, auch wenn sie eine richtige Furie sein kann. Sie mischt sich in viel zu viele Dinge ein, aber sie meint es nur gut.“ Yuriy rührte sich nicht. Von seinem Gesichtsausdruck war nicht zu lesen, wie er empfand. „Wie heißt sie?“ „Hiromi.“ „Hiromi? Ist das japanisch?“ „Ja.“ „Du lässt dir echt jedes Wort aus der Nase ziehen“, stellte Yuriy fest und sah ihn nun doch wieder an. „Das heißt, dass es was Ernstes war.“ Boris sagte nichts. Yuriy starrte ihn einen Moment lang forschend an, dann neigte er ein wenig den Kopf. „Was ist passiert?“ „Sie ist ein anständiges Mädchen“, sagte Boris düster, „und ich bin ein Krimineller, Yura. Werde es immer sein. Die Katze lässt das Mausen nicht. Vielleicht hätte ich es für sie geschafft, aber … dann bist du rausgekommen und es war keine Frage.“ „Keine Frage?“ „Keine Frage, dass ich dir dabei helfe, das Schwein bluten zu lassen. Das ist keine Welt für ein Mädel wie sie.“ Yuriy schwieg einen langen Moment. Es war deutlich sichtbar, dass er müder und müder wurde, je mehr die Schmerzmittel ihre Wirkung entfalteten. Aber dann drückte er noch einmal Boris‘ Hand. „Ein letztes Ding“, sagte er leise, „und dann tust du mir einen Gefallen und machst endlich einmal das, was du wirklich willst - ohne auf mich zu achten, ohne das Gefühl zu haben, irgendwem was zu schulden. Du wirst mich immer haben. Ich werde immer da sein, egal was du tust.“ Ein Klumpen steckte in Boris‘ Kehle, sodass er nur stumm nicken konnte. Er blieb bei Yuriy, bis dessen schwere, ruhige Atemzüge verrieten, dass er eingeschlafen war. Dann ging er hinaus, schloss die Tür hinter sich und trat auf die Terrasse, um auf die Stadt zu blicken und zu rauchen, und ein wenig an ein Mädchen zu denken, das ihm eine Weile lang die Welt bedeutet hatte. Kapitel 7: Mein Körper gebrochen, deiner verbraucht --------------------------------------------------- Yuriys Augen waren so gletscherblau, dass Garland wie die Titanic an ihnen zu zerschellen drohte. Er ließ die Fingerspitzen über Yuriys milchweiße Haut wandern, dann die Zungenspitze über die Narben, die sich da und dort in seinen Körper gruben. Zeugen eines bewegten Lebens. Garland hatte mittlerweile genügend eigene, aber von Yuriys Körper konnte er ohnehin nicht genug bekommen. Und wenn er ehrlich mit sich war, war es mehr als das. Er war fasziniert, angezogen wie abgestoßen. Er wollte Yuriy überflügeln, er wollte Yuriy sein, er wollte Yuriy. Yuriy lächelte, aber das Lächeln war voller rasiermesserscharfer Zähne, und Garland hatte diesen Traum in den letzten zehn Jahren mittlerweile oft genug gehabt, um zu wissen, wie er ausging. Es war unausweichlich. Er war sich bewusst, dass er träumte, aber er konnte nichts tun, um den Verlauf des Traums zu beeinflussen. Und so war er auch dieses Mal wie gebannt, als Yuriy sich zu ihm beugte - sein rotes Haar war überall, war so grell, dass es alle anderen Farben des Traums verschlang - und die Lippen auf seine legte, und während sie sich küssten, während Garland die Fingernägel in Yuriys Hüften grub und sich an ihn drängte, in ihn drängte, begann es nach Rauch zu riechen, bis er den Rauch schließlich sogar auf seiner Zunge schmecken konnte. Yuriy sah ihn an, ließ ihn nicht los, und die Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen, während er in Flammen aufging und brannte, brannte, brannte. Das Feuer sprang auf Garland über, wo sie miteinander vereint waren, und er fühlte den Schmerz, der sich durch seine Haut zu fressen begann, unfähig, sich davon zu befreien. Yuriy presste einen Kuss auf seinen Mundwinkel, zart wie Schmetterlingsflügel und voll von bitterem Triumph. „Ich gewinne“, sagte er, und Garland wachte auf. Augenblicklich schlug er die Bettdecke zurück und setzte sich am Bettrand auf. Das kalte Metall des Rahmens brannte auf der Innenseite seiner Knie, als er die Ellbogen auf seinen Oberschenkeln abstützte und die Fingerknöchel gegen die Augen presste, um dann tief durchzuatmen. Das Schlafzimmer im Penthouse hoch über der Stadt war vollkommen ruhig um ihn herum. Garland konnte nur bei absoluter Stille und Dunkelheit schlafen. Er hatte sich nie vor dem gefürchtet, was im Dunkeln lauerte. Der Traum erinnerte ihn wieder daran, warum. Nichts konnte so beängstigend sein wie das, was sein Gehirn sich ausdachte, wenn er sich einen Moment entspannte. Und Yuriy … zehn Jahre, und er suchte ihn immer noch heim, wie ein blutgetränkter Geist, den Garland nicht loswurde. Garland zuckte, als die Schlafzimmertür aufschwang. Hiro lehnte im Türrahmen und musterte ihn mit undeutbarem Blick, die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Sein Head of Security begleitete ihn nun schon seit Jahren, lebte und arbeitete auf engstem Raum mit ihm. Ihm fehlen zwei Finger an der rechten Hand, aber das war die gerechte Strafe für einen Maulwurf der Polizei, der dachte, cleverer zu sein als erlaubt war. Garland war ihm auf die Schliche gekommen, und Brooklyn hatte viel Spaß dabei gehabt, Hiros Loyalitäten auf die richtige Seite zu ziehen, was wiederum auch ohne die abgeschnittenen Finger möglich gewesen wäre, denn Hiro wurde für seine Arbeit mehr als fürstlich bezahlt - fürstlicher, als es ein Cop wurde.. Er war ein wertvolles Mitglied von Garlands Truppe, auch wenn Garland ihn genauso ohne zu zögern für das Erreichen seiner Ziele opfern würde wie alle anderen, mit denen er sich umgab. „Drink?“, fragte Hiro in seine Gedanken hinein. Sein Blick verriet, dass Garland Geräusche im Schlaf gemacht haben musste, die ihn verraten hatten. Garland rieb sich über das Gesicht und atmete erneut tief durch, dann nickte er und erhob sich. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Er wanderte an der breiten Fensterfront vorbei und warf einen Blick auf die Stadt, die sich wie ein glitzernder Teppich unter ihm ausbreitete. Seine Casinos hätte er im Schlaf finden können - und es waren seine Casinos, auch wenn sie eigentlich jemand anderem gehörten. Aber Garland hatte sie groß gemacht, kümmerte sich um den regulären Betrieb und das, was hinter den Kulissen abging. Er war der Herr im Haus. Nicht Volkov, für dessen Schatten Garland längst schon zu groß geworden war und von dem er sich mittlerweile nur noch in seinem Tun behindert fühlte, was ihn nicht davon abhielt, über allem zu schweben wie die böse Version des Heiligen Geists. Garland biss die Zähne aufeinander und rieb sich das Handgelenk. Dann verließ er die allumfassende Stille seines Schlafzimmers und begab sich in die Wohnzimmerhalle. Er war nicht überrascht, Brooklyn mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor dem mannshohen, goldenen Käfig zu sehen, hinter dem ein kleiner Schwarm Papageien ihr Unwesen trieb. Er reagierte nicht auf Garland und der wusste es besser, als ihn von der Seite her anzusprechen, wenn er nicht aufnahmefähig war. Stattdessen ließ er sich auf die bohnenförmige Couch in der Mitte des Wohnzimmers fallen, eine Couch, die groß genug war, um einem ganzen Fußballteam Platz zu bereiten. Hiro reichte ihm dienstbeflissen ein Whiskeyglas, dann ließ er sich am anderen Ende der Couch nieder und musterte ihn erneut. Garland wich seinem Blick aus und nippte an seinem Glas. Es enthielt keinen Whiskey. Er senkte das Glas und sah Hiro an. „Was zum Teufel ist das?“ Hiro zuckte nicht mit der Wimper. „Sake.“ „Ugh“, sagte Garland und trank noch einen Schluck. Hiro lächelte matt und sagte nichts. Eine Weile lauschte Garland auf die Hintergrundgeräusche: Wassergeplätscher des Springbrunnens, den er im Penthouse hatte installieren lassen, die sanften Töne eines Klaviers, das leise Gezwitscher und Gezanke der Papageien. Noch ein paar Wochen bis zur Eröffnung des Poseidon und es gab noch so viel zu tun. Eigentlich konnte er es sich gar nicht leisten, auch nur eine Minute lang die Augen zuzumachen, nicht, wenn er wollte, dass alles glatt ging. Gott, er konnte spüren, wie sich schon wieder alles in seinem Rücken verknotete. „Ich gehe ins Büro“, sagte er schließlich und setzte das Glas ab. „Schickt dann Ming Ming zu mir, ich hoffe wirklich, dass sie endlich ihre Show durchgeplant hat. Wir müssen den Plan für die Eröffnungsnacht finalisieren.“ „Entspann dich“, erklang Brooklyns sanfte Stimme vom Käfig her, ohne dass er sich umdrehte. „Ihr Zeitfenster steht doch. Ist doch egal, was sie dann im Endeffekt singt.“ Garland wollte ihm sagen, dass es ganz und gar nicht egal war, weil er ein Gesamtkonzept verfolgte, verdammt nochmal, aber er wusste nur zu gut, dass Brooklyn solche Details nicht im Geringsten interessierten. Also seufzte er nur, erhob sich und streckte sich, bis er hörte, wie sämtliche Wirbel in seinem Rücken knackten. Er brauchte Sex. Möglichst bald. Erneut warf er einen Blick zu Brooklyn. Ich gewinne, hallte die Erinnerung an Yuriy in seinem Ohr nach. Garland biss die Zähne zusammen, schüttelte sein Bild fort. „Danke für deinen Input, Brooklyn“, sagte er, verließ das Wohnzimmer und zog sich in sein Büro zurück. Arbeit gab es bei zwei Casinos immer genug, und Arbeit führte im Normalfall auch dazu, dass er sich nach und nach wieder fokussieren konnte. Heute jedoch blieb die erhoffte Wirkung aus. Er sortierte Unterlagen, starrte die neuesten Bilanzen aus dem Zeus und dem Apollon an und klärte einige ausstehende Details zum Cocktailempfang bei der Eröffnung des Poseidon, aber sein Herz war nicht so recht bei der Sache. Einer seiner Eventmanager hatte eine Eiskunstlaufshow vorgeschlagen. Yuriys gletscherblaue Augen blitzten wieder in Garlands Erinnerung auf, ein Lächeln so scharf wie eine frisch gewetzte Klinge. Du und ich, Gar. Gemeinsam bringen wir Volkov zur Strecke und dann machen wir was Ehrliches aus dem Schuppen. Was mit Substanz. Gott, sie waren so jung gewesen, und Yuriy hatte immer einen idealistischen Funken besessen. Schwächling. Garland bereute nicht ein bisschen, wie die Sache zwischen ihnen vor zehn Jahren ihr fulminantes Ende gefunden hatte. In manchen Bereichen war Yuriy zu viel gewesen und in manchen zu wenig. Er taugte nicht für diese Welt, weil er sich nicht entscheiden konnte, ob er sie regieren oder verlassen wollte. Garland hingegen hatte seine Entscheidung in dem Moment getroffen, in dem er sich von Volkov unter seine Fittiche hatte nehmen lassen. Das war der große Unterschied zwischen ihnen, war es immer schon gewesen: Yuriy redete nur groß, aber wenn es darauf ankam, hatte er nicht die Eier in die Hose. Garland hingegen hatte nie ein Problem damit gehabt, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn das Ziel es wert war. Ehre? Moral? Beides waren Dinge, deren Wert von Menschen festgelegt wurde. Wenn man den letzten Schritt nicht gehen konnte, nur weil man irgendwelche moralischen Bedenken hatte oder jemanden sympathisch fand, hatte man in dieser Welt, in der sie sich bewegten, nichts zu suchen. Deswegen verschimmelte Yuriy jetzt in einem Gefängnis und er selbst saß am Dach der Welt - und Gott mochte ihm helfen, er würde auch dort bleiben. Er hatte keine Angst vor einem Geist, und Träume waren letztendlich nur das. Sie hatten das Spiel gespielt und er hatte gewonnen. Es gab nichts zu befürchten. Mit einem zufriedenen Schmunzeln lehnte er sich zurück und spielte mit einigen Würfeln, die er frisch als Sonderedition für den Abend der Eröffnung anfertigen ließ. Das Leben war ein Spiel, ja - aber jedes Spiel konnte manipulieren, wenn man nur die Regeln kannte, und keiner kannte die Regeln besser als Garland. Bei drei Casinos war die Grenze noch lange nicht erreicht. Die ganze Welt stand ihm offen, und er würde danach greifen. Und weder Volkov, noch Yuriys Schatten, noch irgendjemand anderes würde ihn daran hindern. Kapitel 8: Let‘s Get The Party Started -------------------------------------- Es war schwierig, Takao wirklich auf die Palme zu bringen, aber Kai hatte diese Fähigkeit in den letzten Jahren perfektioniert. „Scheiße, Kai!”, zischte sein Partner aufgebracht. „Was sollte die Scheiße? Du kannst nicht einfach sang- und klanglos verschwinden, so funktioniert Undercoverarbeit nicht! Wofür haben wir dich eigentlich verkabelt?” „Hör mir zu”, sagte Kai, und seine Stimme schien tatsächlich drängend genug zu sein, dass Takao die Klappe hielt. „Anders wäre es nicht gegangen.” Er erläuterte rasch und knapp den vorangegangenen Abend, dann lauschte er, als Takao zischend die Luft entweichen ließ. Takao hatte ein ausgesprochenes Temperament, immer schon gehabt, aber die Jahre - und Hiromi - waren gut zu ihm gewesen und hatten ihn ein wenig heruntergekühlt. Kai war sich ziemlich sicher, dass Hiromi genau in diesem Moment bei ihm im Zimmer war und er sich vor seiner Kollegin nicht die Blöße geben wollte. Bei dem Gedanken entwischte Kai ein kurzes, humorloses Grinsen.  „Du bist immer noch ein gottverdammter Arsch“, knurrte Takao schließlich. „Lass die Einsamer-Wolf-Scheiße und halt dich einmal in deinem Leben ans Protokoll, Kai. Das ist nämlich nicht da, um dich zu piesacken, sondern um für deinen Schutz zu sorgen, kapiert? Und nein, das ist keine freundliche Empfehlung, sondern ein Befehl als leitender Beamter in diesem Fall. Haben wir uns verstanden?“ Kai biss die Zähne zusammen und atmete langsam aus. Er merkte erst, wie hart er das Handy umklammert hielt, als der heiß gelaufene Rahmen ihm in die Handfläche schnitt. Takao hatte keine Ahnung, dachte er unwillkürlich, auch wenn es nicht fair war. Er wusste, dass Takao ein ganz eigenes Interesse an der Aufklärung dieser Sache hatte. Und dass er es wohl tatsächlich nur gut meinte. „Verstanden“, sagte Kai nach einer kurzen Pause gepresst. „Sehr schön. Brief mich für heute.“ „Wir gehen zur Informationsbeschaffung ins Casino. Und nein, da werde ich euch auch nicht mitnehmen, aber das wussten wir.“ Takao gab einen zustimmenden Laut von sich, dann seufzte er. „Okay. Meld dich, wenn du wieder zurück bist. Ich mein‘s ernst, Kai.“ „Ich dich auch“, sagte Kai und legte auf. Dann schaltete er das Handy aus und legte es in die Nachttischschublade, die er abschloss. Den Schlüssel steckte er in die Innentasche seines Sakkos, ehe er sich durch die Haare fuhr und einen Moment reglos mitten im Raum stehen blieb. Hinter seiner Zimmertür waren gedämpfte Stimmen zu hören. Iwanov, seine Schwester, Shields und Fernandez, die mit ihm ins Casino kommen würden, hatten sich wie er zwecktauglich angezogen und machten sich wohl gerade fertig. Es hatte Kai erstaunt zu sehen, dass Iwanovs Schoßhund Kuznetsov sie nicht begleiten würde, aber als er eine entsprechende, spöttische Bemerkung gemacht hatte, hatte Iwanov ihn nur mit seinem widerwärtigen Grinsen beschenkt. Gott, wie er den Kerl hasste. Auch, wenn das vor allem daran lag, dass Iwanov ihn dazu brachte, etwas zu fühlen, das er nicht genauer benennen wollte. Ein letzter Blick in den Spiegel, wo er feststellte, dass allesvon dem maßgeschneiderten Armanianzug bis zu dem dunkelblauen Hemd und den blank polierten Lederschuhen an Ort und Stelle saß. Dann atmete er tief durch und trat hinaus, wanderte den kurzen Gang des Penthouses entlang und ging ins Wohnzimmer, wo er gleich von mehreren Augenpaaren gemustert wurde.  „Na sieh mal einer an“, sagte Shields, die in ihrem eng anliegenden roten Kleid, fantastischem Make-Up und zurechtgesteckten Haaren gleich sehr viel weniger verwahrlost wirke als bisher. „Da ist ja ein Rohdiamant unter dem ganzen Dreck zum Vorschein gekommen.“ „Das gleiche könnte ich über dich sagen“, erwiderte Kai unbeeindruckt. Das brachte ihm einen scharfen Blick von Papov, der über seinem Laptop kauerte, ein, während Shields nur ein Lachen schnaubte und sich mit einer eleganten Bewegung eine Zigarette aus einem silbernen Zigarettenetui fischte. „Beruhigt euch, Kinder“, sagte Iwanov gelassen, als er ebenfalls ins Wohnzimmer trat, mit Sina an seiner Seite. Kai stellte mit wachsender Empörung fest, dass der Mensch nicht einmal den Anstand besaß, in formeller Kleidung albern auszusehen, ganz im Gegenteil. Irgendwie schaffte Iwanov es, in seinem Anzug trotz des Zylinders, der seine Haare verbarg, so auszusehen, wie Kai sich gerne fühlen wollte: Vollkommen in seinem Element, und als ob ihm nach nichts anderem der Sinn stehen würde, als sinnlos viel Geld in einem Casino zu lassen. „Zugegeben“, sagte Iwanov nun in seine Gedanken hinein, „Mariam hat schon recht. Das ist wesentlich besser als deine bisherigen Outfits.“ „Freut mich, wenn ich dir was bieten kann“, sagte Kai trocken und starrte Iwanov dabei eindringlich an. Irgendwas an ihm reizte ihn jedes Mal dazu, ihn zu irgendetwas herauszufordern. Iwanovs Mundwinkel kräuselten sich zu einem Lächeln, doch wenn er die Herausforderung spürte, ging er nicht darauf ein. „Na schön“, sagte er stattdessen sachlich. „Wir bilden drei Teams. Mariam, du gehst allein. Julia, du bleibst bei mir.“ Fernandez‘ Augen leuchteten auf. Sie legte eine Hand, deren Nägel passend zu ihrem Kleid grün lackiert waren, auf seinen Arm. „Wir werden sicher Spaß haben.“ „Davon bin ich überzeugt“, summte Iwanov, und sein Lächeln wurde warm, als er den Blick auf seine Schwester legte. „Sina, du gehst mit Kai.“ Kai blinzelte, dann sah er zu Sina. Bei ihrem Pizzaessen, zu dem er recht unfreiwillig mitgegangen war, hatte sie eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sie schnell und gerne redete, von einem Thema zum nächsten sprang und generell nicht besonders kompetent darin war, ihre Aufmerksamkeit lange bei einer Sache verweilen zu lassen. Dabei hatte sie eine gewisse Art an sich, die es selbst Kai schwer machte, sie nicht zu mögen - und dabei gab er sich angesichts ihrer Verwandtschaft alle Mühe. „Ich bin der Meinung, dass ich alleine gehen soll“, sagte er dennoch angespannt. „Die beiden Damen können sich ja zusammentun. Bin nicht so gut im Team.“ „Ach was?”, sagte Iwanov süßlich. „Dann wird es wohl Zeit, dich daran zu gewöhnen, denn nun bist du Teil von einem, und wenn wir untergehen, dann gehst du mit uns unter.“ Er zeigte in seinem wölfischen Grinsen alle Zähne. „Also entspann dich und tu, was ich dir sage.“ Arroganter Wichser. Kai wollte ihm am liebsten seine Faust ins Gesicht rammen. Aber das Spiel konnten zwei spielen, und egal wie sehr er es wollte, jetzt war nicht der Zeitpunkt, Iwanov offen zu antagonisieren. Also lächelte er ebenfalls zähnefletschend und richtete sich die Manschettenknöpfe, ehe er Sinaida seinen Arm anbot. „Mademoiselle?”, sagte er dabei mit dem aalglatten Tonfall eines Menschen, der unter den größten Haifischen dieser Stadt aufgewachsen war. Sinaida klimperte kuhäugig mit den falschen Wimpern und ihren falschen grünen Augen, dann strich sie sich in einer geübten Geste die falschen blonden Haare über die nackte Schulter und hängte sich an seinen Arm.  „Monsieur!”, erwiderte sie dabei glockenhell kichernd, dass es in den Ohren wehtat, als ob sie niemals etwas anderes gewesen wäre als eine gutaussehende Dumpfbacke. Kais Lächeln wurde etwas ehrlicher. Er musste zugeben, dass er die junge Frau mochte. Iwanov schien seine Gedanken zu riechen, wie ein Raubtier Blut roch. Er neigte die Lippen immer noch lächelnd so nahe an Kais Ohr, dass sein warmer Atem dagegen schlug.  „Sollten deine Hände und Augen wandern, wandert meine Faust”, sagte er so leise und samtig, dass sich die kleinen Härchen auf Kais Unterarm aufstellten. „Keine Sorge, sie fällt nicht unbedingt in mein übliches Beuteschema“, erwiderte Kai genauso leise und packte Iwanov am Unterarm, ehe er ihm noch näherkommen konnte. Iwanovs Aftershave kitzelte ihn dennoch in der Nase und er unterdrückte einen Schwall von Wut auf sich selbst bei den Funken an Erregung, die es bei ihm auslöste.  „So?“ Iwanovs Augen glitzerten, als er ihn ansah. Er war immer noch sehr, sehr leise, als er fragte: „Und was könnte dieses Beuteschema sein?“ Flirtete der Kerl mit ihm? Kai biss die Zähne zusammen, dann verzog er die Lippen zu einem weiteren, diesmal humorlosen Lächeln.  „So interessiert an meinem Liebesleben“, schleuderte er Iwanov dessen eigene Worte von vor einigen Nächten entgegen. „Dabei hat es mit deiner Mission doch absolut nichts zu tun, wen ich vögle oder nicht.“ „Wir können euch alle hören, und ich wünschte wirklich, es wäre nicht so“, merkte Papov genervt an, ohne von seinem Bildschirm aufzublicken. „Haltet gefälligst die Klappen. Ich verkable euch jetzt alle, damit wir euch im Casino nicht verlieren.“  „Mein Held“, seufzte Shields und wirkte, als ob sie es nur halb scherzhaft meinte. Kai fühlte sich unangenehm berührt, weil er sich so hatte gehen lassen, und auch Iwanov war das Lächeln immerhin vergangen. Er musterte Kai noch einen Moment lang ausdruckslos, dann befreite er sich aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück.  „Ihr habt den Mann gehört“, sagte er mit einem Nicken zu Papov. „Verkabeln lassen. Anschließend geht nochmal jeder aufs Klo und dann reiten wir los.“   Eine Limousine - Kai fragte gar nicht erst, wer sie beschafft hatte, aber Kuznetsov grinste ihn hinter dem Steuer hervor an, als ob er wusste, dass Kai die Frage auf der Zunge brannte - brachte sie bis vor die Tore des Apollon.  Schon im Foyer wurde deutlich, dass Garland Siebalds Motto für Inneneinrichtung „Klotzen statt kleckern“ sein musste. Es war die Art von protziger Darstellung von Reichtum, die Soichiro immer sauer aufgestoßen war, und auch Kai verzog unwillkürlich verächtlich den Blick bei den dutzenden schweren Kristallkronleuchtern, die sich gegenseitig erdrückten, den Marmorsäulen, Goldbordüren und roten Teppichen. Irgendwo spielte natürlich klassische Musik, was bedeutete, dass irgendwo natürlich ein Pianist an einem riesigen Flügel sitzen musste, und natürlich rannten überall schön gekleidete und arrogant dreinblickende Leute herum und tranken Champagner.  „Uninspiriert, nicht wahr“, murmelte Iwanov neben ihm. Er trug braune Kontaktlinsen, womit sein Blick immerhin nicht ganz so stechend war wie sonst. „Hm“, sagte Kai, weil er ihm nicht recht geben sollte. „Ach kommt, das macht es doch einfacher, ohne Schuldbewusstsein von Leuten zu klauen“, sagte Sina munter und hakte sich dabei augenzwinkernd bei Kai ein.  Iwanov schmunzelte ein wenig, und es wirkte nicht einmal höhnisch. „Halt dich zurück, nur zur Sicherheit. Gut, wir teilen uns auf wie besprochen. In drei Stunden treffen wir uns wieder hier am Eingang. Seht zu, dass ihr möglichst viel von dem Spaß aufnehmt.“ Mariam war bereits vorangegangen; der hohe Pferdeschwanz schwang mit jedem ihrer Schritte hin und her, und sie wurde von Blicken verfolgt, als sie ohne viel Eile zur Garderobe ging. Iwanov und Fernandez bogen ebenfalls ab und schneller, als Kai schauen konnte, waren sie in der Menge verschwunden. Er fluchte innerlich, schalt sich für einen inkompetenten Idioten und ließ sich von Sina tiefer in das Casino ziehen. Denken, denken, denken. Es war okay, er war nicht vollkommen unvorbereitet auf diese Situation. Das hieß einfach nur, dass er erst Material sammeln und dann Sina so rasch wie möglich zurück in Iwanovs und Fernandez‘ Nähe dirigieren musste. Sie hatten im Vorfeld ausgemacht, wer welche Areale abgrasen sollte, also wusste er, wo die beiden sich zumindest ungefähr aufhalten mussten. „Du bist zu angespannt“, sagte sie heiter, hob eine Hand und strich ihm über die Wange, als ob sie tatsächlich seine Eroberung des Abends war und es kaum erwarten konnte, mit ihm im nächsten - vermutlich goldbesetzten - Badezimmer zu verschwinden.  „Hm“, sagte Kai, was Sina zum Lachen brachte.  „Ich hab diese Leute immer bewundert, weißt du“, sagte sie dann, während sie durch die Gänge schlenderten und dabei versuchten, möglichst viel Material mit den winzigen Kameras in ihren Kleidungsknöpfen aufzunehmen.  „Wieso?“, fragte er und stellte fest, dass die Antwort ihn tatsächlich interessierte. „Wir hatten nie viel Geld“, sagte Sina lächelnd und hing dabei weiter an seinem Arm, als ob sie nichts weiter als eine schöne Handtasche war. „Ein paar meiner frühesten Erinnerungen bestehen daraus, wie meine Mutter und ich uns beim Sozialmarkt um billiges Essen gestritten haben. Wir sind ständig umgezogen, weil es an der Miete gefehlt hat. Jede Autoreparatur war eine Katastrophe - finanziell kaum zu stemmen, und wir waren auf das Auto angewiesen. Schule war am schlimmsten, weil immer alles passen musste, und es war mir so peinlich, arm zu sein, wenn ich sowieso schon das komische Migrantenkind war. Wir leben in einer Gesellschaft, wo ein Prozent der Bevölkerung so viel Geld hat, dass er gar nicht weiß, wohin damit, und der Rest sich dafür schämt, um das Überleben kämpfen zu müssen, ist das nicht absurd? Die Welt ist absurd. Lass uns tanzen, dann können wir hier einen Rundumblick bekommen.“ Kai, der nicht wusste, was er zu Sinas Erzählung sagen sollte, das nicht wie eine Plattitüde geklungen hätte, nickte nur. „Kannst du einen Walzer?“ „Natürlich“, sagte sie augenzwinkernd und glitt mit ihm auf die Tanzfläche. Der Walzer war, wenn er langsam getanzt wurde, ein Tanz mit einigermaßen stetigen, langen Bewegungen, was hoffentlich halbwegs gute Aufnahmen zulassen würde. „Hast du deswegen zu stehlen begonnen?“, fragte er nach einer Weile und redete sich ein, dass es nur war, um mehr Informationen über sie und Iwanov zu bekommen. „Hätte ich nicht müssen“, sagte sie, die Hände leicht und sicher in seinen. „Yuriy hat für uns gesorgt, nachdem er mich gefunden hat, und als er ins Gefängnis musste, hat Borya übernommen. Aber ich bin für ein bisschen Werteumverteilung, verstehst du? Vermutlich nicht, nachdem du in dieser Welt aufgewachsen bist.“ Sie sagte es vollkommen neutral, aber es stach dennoch. Kai dachte an die erstickend stillen Stunden seiner Kindheit, an das ewig währende Lernen von Haltung und Disziplin, und an die Feiern, die Feiern, die Dekadenz, den Schimmel unter all dem Gold. Er war selbst dazu geworden, nach dem Tod seines Vaters und dem Zerfall seiner Familie, hatte sich zugekokst, bis er nichts mehr spürte und sich selbst nicht mehr kannte. All diese Menschen und ihre grenzenlosen Exzesse, die er verachtet hatte - und sich selbst hatte er genauso verachtet. War er wirklich jemals davon losgekommen, trotz seiner Versuche, durch seinen Einstieg bei der Polizei Gerechtigkeit zu schaffen und Gutes zu tun? Gab es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt, in einem System, das so gebrochen war wie dieses? Gefährliche Gedanken, besonders, wenn er einen Job zu erledigen hatte. „Doch, ich verstehe es“, sagte er dennoch leise, dann klärte er sich die Kehle. „Komm. Wir haben einen Job zu erledigen.“ Es kam ihm zugute, dass er auf diesem Spielfeld aufgewachsen war, denn es war wie das Überstreifen einer alten Haut, als er mit Arroganz und dem Selbstbewusstsein von jemandem mit den Taschen voller Geld zusammen mit Sina seinen Teil des Apollon durchkämmte. Kaum jemand stellte sie in Frage, und er entdeckte, dass er immer noch gut an einem Pokertisch war. Während sie sich eine Weile in der Spielhalle aufhielten und Sina beständig um den Tisch hüpfte, um möglichst viel von der Halle aufzunehmen, gewann er eine recht ansehnliche Summe Geld, auch wenn der eigentliche Kitzel im Risiko lag, das ihm verlockend den Verstand streichelte. Aber die Dinge waren nicht mehr, wie sie einmal gewesen waren: Sein Vater war tot, seine Begleitung unecht, und als er sich vom Tisch entfernte, dann war es nicht, um im Badezimmer eine Line zu ziehen, sondern um seinen ursprünglichen Plan zu verfolgen und zurück in Iwanovs Nähe zu kommen.  Er hatte nur ein ganz klein wenig ein schlechtes Gewissen, als er die sich angeregt unterhaltende Sina zurückließ und hinausschlüpfte. Kai hatte sich den Gebäudeplan gut eingeprägt und fand erstaunlich mühelos den Weg zurück in den unteren Stock. Iwanov hatte ihm und Sina den ersten Stock überlassen, weil hier die dicken Fische spielten. Im Erdgeschoss, das er und Fernandez übernommen hatten, war es lebendiger und das Publikum eher in der bürgerlichen Mittelschicht angesiedelt. Kai glitt hindurch und hielt die Augen offen nach Iwanovs albernem Zylinder. Dann entdeckte er Fernandez an der Bar sitzend, allein und entspannt, und runzelte die Stirn. Am liebsten wäre er hingegangen und hätte sie einfach gefragt, wo zum Teufel Iwanov war, aber das konnte er nicht, ohne womöglich die Mission zu kompromittieren.  Mehrere Minuten vergingen, in denen Kais Unruhe wuchs, je länger er ihn nicht fand. Wo, verdammt nochmal, war- Natürlich. Er war so ein verdammter Idiot. Iwanov hatte bei den Vorbereitungen auf diese Tour sehr nebensächlich - bewusst nebensächlich wohl, der Bastard - die Routinen der wichtigsten Mitarbeitenden erwähnt, zu denen auch Siebald selbst zählte, denn dieser pflegte zweimal vorbeizuschauen, einmal in der Mitte und einmal am Ende des Tagesbetriebs. Ein Blick auf die Uhr verriet Kai, dass seine Eingebung vermutlich goldrichtig war; sie näherten sich halb zwölf, was der Zeitpunkt war, an dem Siebald für gewöhnlich im Hauptsaal mit der Casinoleitung sprach. Kai fluchte insgeheim und ging mit schnellen Schritten los. Rennen wäre zu auffällig gewesen, aber am liebsten hätte er darauf gepfiffen. Er musste mehrere Räume durchqueren und doch noch einmal die Treppen zurück in den oberen Stock sprinten, aber dann kam er in die Haupthalle und sah ihn.  Iwanov hatte sich gegen eine der hinteren Säulen gelesen und zählte Spielchips, ohne die Augen von der Galerie zu nehmen, auf der Garland Siebald ins Gespräch vertieft stand. Kai stand und starrte Iwanov an, und er erkannte, dass das Volkovs rechte Hand gewesen war - der Rote Wolf, vor dem man sich jahrelang zu Tode gefürchtet hatte. Noch nie hatte er Iwanovs Blick so konzentriert gesehen, so intensiv. Sein Gesicht war zu einer vollkommen glatten Maske erstarrt, aber die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor, während er Chip für Chip auf den Tisch neben sich legte. Kai sah ihn an, und er erkannte jemanden, der bereit war, zu zerstören, egal was es kosten mochte. Takao hatte Unrecht gehabt. Iwanov hatte nicht vor, seine Gefängnisstrafe zu reduzieren, oh nein. Sein Ziel lag anderswo, und er spielte nur so lange bei dieser Aktion mit, wie es ihm selbst passte. Was dann passierte, stand in den Sternen - und Kai beschloss in dieser Sekunde, dass er da sein würde, um das Schlimmste zu verhindern. Er konnte nicht mehr zurück oder diese Mission abbrechen, dafür steckten sie alle schon zu tief drin. Aber er mochte verdammt sein, wenn er nicht der Stolperstein sein würde, der Iwanov zu Fall brachte und sein riskantes Spiel durchkreuzte. Das war, worin er gut war. Das war, was Takao stolz machen würde. Es war vollkommen irrelevant, wie abstoßend er Siebald fand, oder wie seltsam bewegend Sinas Geschichte. Iwanov war unter all seinem Lächeln und seinem Schneid ein brandgefährlicher Krimineller, und Kai würde sich nicht in sein Netz aus Lügen und Blendwerk ergeben. Als ob er ihn gefühlt hatte, glitt Iwanovs Blick zu Kai. Einen Moment lang sahen sie sich über den belebten Saal hinweg an, und die anderen Besuchenden glitten zwischen ihnen hindurch wie Gespenster, die Kai gar nicht richtig mitbekam. In diesem Augenblick gab es nur ihn und Iwanov, und für eine Sekunde hatte er die blendende Gewissheit, dass es so auch enden würde. Langsam, bedächtig verzog Iwanov die Lippen zu einem seiner Wolfslächeln, als ob er Kais Annahme teilte, ohne sich davor zu fürchten. Komm nur, dachte Kai sinnloserweise, aber entschlossen, während Iwanovs Lächeln noch breiter wurde. Die Party hat gerade erst begonnen. Komm nur. Ich werde da sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)