Kigan von QueenLuna (– The crime scene of Gotamo City –) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Kapitel 1 ‚Diese grauenvolle, versiffte Stadt! Ein Loch voll dreckiger Diebe und gewieften Gaunern! Alles unter den Augen der Behörden, die es dulden – nur um sich selbst zu bereichern und diese Stadt weiter im Sumpf des Verbrechens versinken zu lassen, bis sie erstickt. Sie wird ersticken und alles mit sich reißen! Und wenn sie in ihrem eigenen Blut ertrinken und dann leise wimmernd die Hand hilfesuchend nach mir ausstrecken, werde ich sagen -‘ „NIIKURA-SAN?!“ Krachend schlug die Tür gegen die alte Backsteinmauer. Fast genauso laut krachte mein Kopf gegen die Stuhllehne, als ich erschrocken hochfuhr und auf die beiden Eindringlinge starrte, die sich gerade anschickten, mein Büro zu betreten. Doch bevor ich überhaupt dazukam, irgendetwas zu sagen, erklang ein bedrohliches Knurren. Die beiden froren augenblicklich mitten in der Bewegung ein. Mit großen Augen schauten sie auf die große, dänische Bulldogge, die ihnen zähnefletschend den Weg versperrte. Die Tür hatte sie nur um Haaresbreite verfehlt. Ich hätte vielleicht so etwas wie Triumph empfunden, beim Anblick der zwei hochgewachsenen Männer, die wie die sprichwörtlichen Salzsäulen in meiner Tür standen und auf Rina starrten, doch mein Puls raste nach wie vor. Was mussten die hier auch so hereinstürmen, ohne anzuklopfen? Was war denn das für eine Art und Weise?! Langsam nahm ich meine Füße vom Schreibtisch und setzte mich ein Stück gerader hin. Am liebsten hätte ich die beiden so dastehen lassen und ihnen die Tür einfach wieder vor der Nase zugemacht. Da wollte man einmal den verregneten Nachmittag am Fenster genießen, in Ruhe diese elende Stadt samt ihrer Bewohner verfluchen, aber nicht mal das war einem vergönnt. Angepisst musterte ich die beiden. Wie gewöhnliche Klienten sahen sie nicht aus. Zu gepflegt mit ihrer dunklen Kleidung, die beinahe etwas von einer Uniform hatte. Dem einen reichten die braunen Haare fast bis auf die Schultern, sie waren vom Wind ein wenig zerzaust. Dafür lagen sie bei dem anderen akkurat gescheitelt und umrahmten sein Gesicht wie ein dunkler Vorhang. Nein, solche Typen verirrten sich definitiv nicht aus Zufall in mein Büro. Da war etwas faul. Denn daran, dass mir mal jemand einen wichtigen Auftrag erteilen würde, der über das Finden von verloren gegangenen Schmuckstücken oder Haustieren hinausging, glaubte ich schon längst nicht mehr. Ich ließ sie noch ein wenig zappeln, bis ich mit einem leisen Pfiff der Dame des Hauses bedeutete, in ihren Korb zurückzukehren. Auch wenn Rina auf den ersten Blick sehr einschüchternd wirkte – besonders wenn man sie im falschen Moment erwischte – gehorchte sie mir aufs Wort und war sonst eine sehr sanfte Seele. Für einige Sekunden blickten ihr meine Besucher stumm hinterher, ehe sie aus ihrer Starre erwachten und endlich eintraten. „Entschuldigung. Sind Sie Niikura-San?“, fragte der eine, diesmal leiser und im ganzen Satz. Anscheinend steckte doch so etwas wie Anstand in ihm. Seine dunklen Augen lagen abschätzend auf mir, während sein Begleiter mein Büro einer schnellen Musterung unterzog. „Wer will das wissen?“ Wer ohne Anklopfen hereinstürmte, sollte nicht erwarten, dass ich ihm mit Höflichkeit begegnete. Wenige Augenblicke später hatte ich zwei, mir nur allzu bekannte, golden glänzende Marken unter der Nase. Cops. Ohne Uniform, also keine einfachen Streifenpolizisten, sondern vermutlich im gesonderten Außendienst. Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich die beiden, die sich vor meinem Schreibtisch aufgebaut hatten. Was wollten die hier? Innerlich mahnte ich mich zur Vorsicht und Ruhe. Solche Typen hatte ich in der Vergangenheit zur Genüge kennengelernt: Nach außen hin hochmotiviert, aalglatt und dennoch hatten alle im Geheimen Dreck am Stecken. Schweigend entzündete ich meine Zigarette erneut, die während der letzten Minuten erloschen war, und sank im Drehstuhl zurück, ohne die beiden aus den Augen zu lassen. Die Lehne knarrte laut, was die Augenbrauen des Braunhaarigen amüsiert nach oben wandern ließen, während der andere mich weiterhin unbeeindruckt ansah. Aus der Ecke kam ein Schnaufen, hastig zuckten ihre Blicke zu meinem Hundemädchen. Doch die lag nur ausgestreckt in ihrem Korb und beobachtete das Geschehen aus wachen Augen – bereit, einzugreifen, wenn ihr etwas nicht passte. Gut so. Mittlerweile hatte sich mein Puls wieder normalisiert, was aber noch lange nicht hieß, dass ich Bock hatte, mich mit den beiden zu unterhalten. Gemächlich sog ich den Rauch ein und stieß ihn in Zeitlupe wieder aus, bevor ich mich zu einer Antwort hinreißen ließ. Mit dem Kopf deutete ich auf meine Bürotür, die immer noch offen stand. Sie war etwas in die Jahre gekommen, an einigen Stellen blätterte bereits die Farbe ab und jetzt vermutlich sogar noch mehr nach dieser Behandlung. Hatte sie vorhin schon etwas schief gehangen? „Steht dort an der Tür, wenn Sie sie nicht gleich aus den Angeln gerissen hätten.“ „Ich deute das jetzt mal als ein Ja.“ Es war das erste Mal, dass der Schwarzhaarige sprach und ich war ein wenig überrascht, wie warm, fast schon sanft seine Stimme klang, im starken Gegensatz zu seinem kühlen, durchdringenden Blick. „Hm, sieht so aus“, murrte ich, während sein Kollege endlich die Tür schloss – umsichtiger und leiser als nötig. In mir kam das untrügliche Gefühl auf, dass mir ein sehr anstrengendes Gespräch bevorstand, deshalb zeigte ich mit einer Kopfbewegung auf die zwei Besuchersessel vor meinem breiten Schreibtisch. Vielleicht wären die Cops besser zu ertragen, wenn sie nicht wie eine Mauer vor mir aufragten. „Ich würde Ihnen ja Kaffee anbieten, aber die Maschine ist defekt.“ War sie nicht, aber ich hatte einfach keine Lust für die beiden Vögel noch einmal aufzustehen, während sie es sich in den Sesseln bequem machten. „Macht nichts. Wir hatten sowieso nicht vor, lange zu bleiben.“ Na wenigstens einmal gute Aussichten. „Und was verschafft mir die Ehre?“ Finster funkelte ich sie an, machte dabei keinen Hehl daraus, wie sehr ich mir wünschte, sie würden augenblicklich wieder aufstehen und verschwinden. Sekundenlang herrschte Schweigen, der Regen trommelte überdeutlich an die Scheiben, dann räusperte sich der Braunhaarige verhalten und fing an, in seiner mitgebrachten Mappe zu wühlen. Währenddessen erwiderte sein Partner ruhig meinen Blick, mit einem versteckten Schmunzeln im Mundwinkel, das mich innerlich sofort auf Abwehr schalten ließ. Hatte ich was im Gesicht? Was fand der denn so amüsant? Es wirkte beinahe so, als würde er darauf warten, dass ich etwas tat, weswegen sie mich einsacken und mitnehmen konnten. Egal, was es war. Eine leise Alarmglocke fing an, in meinem Hinterkopf zu schrillen. Ich hatte schon eine Weile nichts mehr mit den Cops zu tun gehabt, doch diese Art war mir nur zu genau in Erinnerung geblieben: überheblich, stets von sich überzeugt und das Gesetz gern so für sich auslegend, wie es ihnen passte. Erst ein erneutes Räuspern unterbrach unser Blickduell. „Also, wir hätten einige Fragen an Sie. Kennen Sie diese Person?“ Ein Foto landete auf dem Schreibtisch. Demonstrativ gelassen drückte ich die restliche Glut meiner Zigarette im überquellenden Aschenbecher aus, was mit hochgezogenen Augenbrauen von Seiten meiner Besucher kommentiert wurde. Mir egal. Mein Reich, meine Ordnung. Ich zog das Foto näher zu mir, um es im schummrigen Licht besser betrachten zu können. Es wirkte recht abgegriffen, eine Ecke zierte ein unübersehbarer Riss. Stirnrunzelnd betrachtete ich den jungen Mann darauf. Was hatte der denn ausgefressen? Ein Verbrecher sah anders aus. Der hier wirkte, als könnte er kein Wässerchen trüben. Ich schätzte ihn um die 16 Jahre. Er trug eine dunkle Schuluniform und hatte schwarze Haare, durch die er ausdruckslos in die Kamera blickte. In mir klingelte nichts. Das konnte jeder sein. Gefühlt sah die Hälfte der Jugendlichen in dieser Stadt so aus. Kompletter Einheitsbrei. Schnaubend ließ ich das Bild sinken und lehnte mich zurück. „Nein, sagt mir nichts.“ „Vermutlich sieht er jetzt etwas anders aus. Das Bild ist etwa fünf Jahre alt. Uns wurde kein aktuelleres zur Verfügung gestellt.“ Ich konnte mir gerade noch ein Augenrollen verkneifen. Stattdessen versuchte ich mich erneut auf die Gesichtszüge des Jugendlichen zu konzentrieren, ihn mir gegebenenfalls ein paar Jahre älter und mit anderer Frisur vorzustellen. Auch da tat sich in meinem Gedächtnis nichts, so schüttelte ich einfach nur schweigend den Kopf. „Sind Sie sicher?“ Ich unterdrückte mit Mühe ein genervtes Knurren. Der Kurzhaarige war nahe dran, mich richtig aufzuregen. Seinen herausfordernden Blick konnte der sich sonst wo hinstecken. Ich ignorierte ihn, wandte mich dafür gezwungen gleichgültig an seinen Kollegen. „Wenn ich es sage. Woher sollte ich ihn überhaupt kennen?“ Irgendetwas schien ich verpasst zu haben, denn die beiden tauschten einen Blick aus, ehe sich der Dunkelhaarige zu mir über den Schreibtisch beugte, während sich sein Partner etwas auf einem Zettel notierte. Was sollte diese unnötige Nähe? Wollte der mir ein Geheimnis verraten oder mich einschüchtern? Letzteres konnte er knicken. Ich wusste sowieso von nichts. Misstrauisch wartete ich auf eine Antwort, versuchte meinen wütenden Puls ein Stück weit zu beruhigen, der aufgrund dieser zuckenden Mundwinkel erneut nach oben geschnellt war. Ich durfte mich nicht so provozieren lassen, schließlich waren mir die Methoden der Polizei genauestens bekannt. „Das ist Terachi Shinya.“ Mit Argusaugen verfolgte er meine Reaktion, doch ich konnte ihm keine bieten, denn ich war immer noch ahnungslos. Ich zuckte bloß mit den Schultern und wartete auf weitere Erklärungen. „Er ist vor drei Tagen nach dem Brand seines Elternhauses verschwunden. Seine Leiche wurde nicht gefunden, so gilt er momentan als vermisst.“ Etwas an dem Unterton irritierte mich, nur konnte ich nicht den Finger drauflegen. Es war, als müsste ich etwas Bestimmtes wissen. Stattdessen zuckte ich lediglich ein weiteres Mal mit den Schultern und klemmte mir eine neue Zigarette zwischen die Lippen, während endlich Abstand zwischen uns kam. Auf den missbilligenden Gesichtsausdruck seines Kollegen hin ließ ich mich sogar dazu verleiten, das Fenster einen Spalt breit zu öffnen, bevor ich sie entzündete. War schließlich kein Unmensch. „Das ist natürlich bedauerlich“, nuschelte ich in den ersten Zug. „Aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun hat.“ Erneut landeten Fotos vor mir auf dem Schreibtisch. „In seinem Zimmer wurde eine Visitenkarte Ihrer Detektei gefunden. Hinten war eine Notiz verzeichnet, mit den Worten ‚Unbedingt anrufen!‘ und einer beachtlichen Anzahl von Ausrufezeichen.“ Jetzt war mein Interesse doch einen Hauch geweckt. Mit zusammengekniffenen Augen beugte ich mich über die Fotos, die nun vor mir lagen. Ausschnitte eines Zimmers waren zu sehen, vollkommen im Chaos versunken, aber meine Karte erkannte ich trotzdem. „Es gibt viele Leute, die eine Visitenkarte von mir haben.“ Auch wenn mir just kein Name dazu einfiel. Aber hey, ich hatte die Detektei schon seit Jahren. In der ganzen Zeit hatten durchaus einige Visitenkarten den Besitzer gewechselt. „Hat er Sie angerufen oder anderweitig kontaktiert?“ „Nein. Wie gesagt, ich kenne ihn nicht und höre heute zum ersten Mal von ihm.“ Wieder diese Blicke. Die gingen mir gehörig auf den Geist. Ich beschloss, dass es das Beste war, sie allmählich zu verabschieden. Mit einem Ruck erhob ich mich vom Schreibtisch. „Wenn das alles wäre...“ Es kam einem Rauswurf gleich, doch für Höflichkeiten hatte ich heute keinen Nerv. Dennoch hatte ich mit ein wenig Gegenwehr gerechnet, nur blieb diese aus. Anscheinend waren sie ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass das Ganze hier nichts brachte. Mit einem Lächeln auf den Lippen, das mir die Nackenhaare zu Berge stehen ließ, erhob sich der Dunkelhaarige aus dem Sessel und strich sich dabei lässig eine der längeren Strähnen aus dem Gesicht. Sein Partner schob schnell die Fotos in die Tasche, ehe er seinem Beispiel folgte. „Ach, eins noch: Wo waren Sie am Tag des Brandes, also vor drei Tagen?“ Einen Moment lang blinzelte ich sie an, dann riss mir der Geduldsfaden. „Was soll die Frage? Halten Sie mich für verdächtig?“, blaffte ich. „Wenn Sie es genau wissen wollen, vermutlich war ich hier und nein, ich habe kein Alibi, außer mein Vermieter hat mich zufällig gesehen!“ Ich war sauer. Wirklich sauer. Hier reinstürmen, mir den Nachmittag verderben und mich verdächtigen. Ging's noch? Mein Ausbruch schien die beiden nicht weiter zu stören. Seelenruhig nickten sie, als hätten sie nichts anderes erwartet. „In Ordnung, ist vermerkt. Wenn Ihnen trotzdem etwas einfällt…“ Zwei graue Visitenkarten wurden vor mir auf dem Schreibtisch abgelegt, bevor sie sich nach einer knappen Verbeugung zur Tür wandten. „… zögern Sie nicht, uns anzurufen, Niikura-San.“ Das würde ich ganz bestimmt nicht tun. Ich wollte mit dem Verein nichts mehr zu tun haben. Mit einem leisen Klacken fiel die Tür ins Schloss und ich ließ mich schnaufend zurück in meinen Stuhl sinken. Meine Fresse! Nach einigen Zügen von meiner Zigarette hatte ich mich soweit beruhigt, dass ich nach den beiden Karten langte, um sie augenblicklich dahin zu befördern, wo sie hingehörten: in den Papierkorb. Nein, ich würde sie definitiv nicht anrufen. Ich war froh, dass die Polizei mich und meine Detektei in den letzten Jahren in Ruhe gelassen hatte, sodass ich normal arbeiten konnte, und das sollte auch so bleiben. Mitten in der Bewegung stockte ich, als mein Blick auf ihre Namen fiel. Hara und Andou. Schnaubend stieß ich den Rauch durch die Nase aus und legte die Karten beiseite. ~to be continued Nachwort: Frohes Neues ^^ Willkommen zu meiner neuen Geschichte, die diesmal etwas umfangreicher wird, also eher ein Jahresprojekt ist. Aktuelles Ziel ist es mindestens pro Monat ein Kapitel hochzuladen, vielleicht auch zwei :) Wie weit mich die Story treibt, weiß ich noch nicht, also ob beispielweise noch mehr Genre dazukommen. Aber die Charaktere werden es mir schon sagen. Die erste Idee zu dieser Geschichte hatte ich, als ich mit meiner Besten im Oktober in den Urlaub gefahren bin und wir im Auto lautstark "Kigan" hörten, deshalb auch der Titel. Plötzlich hatte ich einen Kaoru vor Augen, der Detektivmäßig um Ecken schleicht *lach* Na ja und dieser Plot wurde dann von uns immer weiterentwickelt, also hat sie auch ihre Finger im Spiel xD Wie auch immer und wohin auch immer das führt - ich hoffe, es hat gefallen bzw. ihr lasst es mich wissen ^^ Die Story ist übrigens nicht gebetat, also solltet ihr Fehler finden, schickt sie mir ruhig als private Nachricht. Liebe Grüße Luna Kapitel 2: ----------- Kapitel 2 Murrend drehte ich mich auf die Seite und kniff die Augen zusammen. Ein ohrenbetäubendes Donnergrollen ließ die alten Fensterscheiben klappern und riss mich endgültig aus dem Schlaf. Schwerfällig hob ich die Lider, blinzelte durch die geöffneten Vorhänge nach draußen. Viel zu erkennen war nicht. Der Regen trommelte laut gegen die Scheiben, erweckte den Eindruck, als würde jeden Moment die Sintflut über die Stadt hereinbrechen. Na, meinetwegen. Ein greller Blitz erhellte kurzzeitig den dunkelgrauen Himmel, der Donner folgte Sekundenbruchteile später. Bei der Geräuschkulisse brauchte ich gar nicht mehr ans Weiterschlafen zu denken. Doch anscheinend war ich der Einzige, den das Spektakel dort draußen zu stören schien, denn Rina lag seelenruhig schnarchend in ihrem Korb neben meinem Bett und bekam nichts mit. Toller Wachhund. Vermutlich hätte sie momentan selbst den miesesten Einbrecher überhört. Laut schnaubend richtete ich mich auf und setzte mich auf die Bettkante. Was für ein beschissener Start in den Tag. Mein Wecker verkündete, es wäre bereits kurz nach sechs, wobei es eher so wirkte, als sei es finsterste Nacht. Müde langte ich nach meinen Zigaretten auf dem Nachttisch und stellte mich an das leicht geöffnete Fenster. Einige Regentropfen färbten den Holzfußboden dunkel, doch es störte mich wenig. Gedankenverloren verfolgte ich ihren Weg in meine Wohnung, ehe ich mein Feuerzeug zückte. Mein Nikotinkonsum war inzwischen besorgniserregend hoch, aber anders brachte ich die Zeit nicht rum. Kaffee und Zigaretten – mein Lebenselixier. Während ich genussvoll den ersten Zug des Tages inhalierte, wanderte mein Blick zum Innenhof, der sich unterhalb des Fensters erstreckte. Eine einzelne Laterne tauchte ihn in diffuses Licht, die anderen waren schon seit Jahren defekt. Trotz der spärlichen Beleuchtung ließ sich die Hässlichkeit dieses Ortes nicht verstecken. Zwischen den Mülltonnen türmte sich der Schrott, der Putz bröckelte von den umliegenden Häusern. Die Fenster waren blind, teils eingeschlagen. Wann die Dächer einstürzen würden, war bloß eine Frage der Zeit. Die Gegend wirkte selbst am Tage heruntergekommen und verlassen und zum wiederholten Male fragte ich mich, warum ich gerade hierher gezogen war. Gut, die Miete war günstig, die Wohnung unter dem Dach praktisch, denn da fast das gesamte Haus leer stand, hatte ich genügend Raum für ein eigenes Büro eine Etage tiefer. Bis auf mich und den Vermieter, dem das Erdgeschoss gehörte, wohnte nur noch eine Oma den Flur runter. Der Rest der Wohnungen blieb ungenutzt, so wie beinahe jedes Haus der Gegend das gleiche Schicksal teilte. Einfach trostlos. Und auch wenn hier jeder sein eigenes Leben lebte, verstanden die alte Dame und ich uns wenigstens soweit, dass ich ab und zu für sie einkaufte und sie im Gegenzug auf meine Bulldogge aufpasste. Seufzend drückte ich die Zigarette auf dem Fensterbrett aus und schmiss sie in den Innenhof. Gähnend hob Rina den Kopf und beobachtete mich aus müden Augen. Das erneute Donnern schien sie wenig zu beeindrucken. Schmunzelnd sank ich vor ihr in die Hocke, kraulte kurz über die graumelierte Schnauze. „Gibt gleich Frühstück, altes Mädchen.“ Sie war wirklich durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Außer vielleicht kurzzeitig durch überraschend hereinstürmende Cops. Schnell schob ich die Erinnerung an den gestrigen Tag beiseite und erhob mich. Erstmal duschen, dann frühstücken, bevor womöglich der Strom ausfiel und nur noch kaltes Wasser übrig blieb. Überrascht hätte es mich bei meinem Glück nicht. * Der Regen schlug mir ins Gesicht, fluchend zog ich die Kapuze tiefer. Ein Schirm hätte bei diesem Wind nichts genützt. Was für ein Mistwetter. Warum war ich nochmal rausgegangen? Richtig, Rina wollte ihre tägliche Spazierrunde, das Wetter und mein Leid interessierten sie dabei herzlich wenig. Gemächlich trabte sie neben mir her, markierte hin und wieder ihr Revier und schien sonst recht zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Von der Einstellung konnte sie mir gern etwas abgeben. Als wäre heute alles gegen mich, war mir vorhin auch noch der Kaffee ausgegangen. Schlecht gelaunt blickte ich die Straße hinunter, während ich darauf wartete, dass mein Hund sein Geschäft erledigte. Obwohl es mittlerweile schon nach neun war, war ich beinahe allein unterwegs. Mal abgesehen von der Frau auf der anderen Straßenseite, die krampfhaft ihren Schirm umklammerte, der wegzufliegen drohte. Es lag nicht nur am Wetter, dass die Gegend derart verwaist wirkte. Der Großteil der Geschäfte hatte vor Jahren dicht gemacht, nur noch vereinzelte hielten sich gegenüber der Banden, die hier das Sagen hatten, und der Konkurrenz aus der Innenstadt. Wer wollte schon in einem Viertel einkaufen, wo man Angst haben musste, jeden Moment überfallen zu werden, wenn das Stadtzentrum dagegen geradezu paradiesisch wirkte? Und dass sich überhaupt jemand in mein Büro wagte und meine Dienste beanspruchte, grenzte schon beinahe an ein Wunder. Aber meine Klienten stammten mehrheitlich aus dieser Gegend und für manche war ich die einzige Hilfe, die sie bekommen konnten. Ohne nach rechts und links zu schauen, überquerte ich die leere Straße und steuerte auf die leuchtend blau gestrichene Tür eines kleinen Cafés zu. Das helle Klingeln über der Eingangstür kündigte meinen Besuch an und sogleich erschien Frau Sumidas Kopf im Durchgang zur Küche. „Oh, guten Morgen, Kaoru. Schon so früh auf den Beinen?“ Brummend ließ ich mich auf meinen Stammplatz in der Ecke fallen, zog die nasse Jacke aus und warf sie über den benachbarten Stuhl. Eine Regenjacke sah anders aus. Meine langen Haare waren nass und hingen mir in wirren Strähnen ins Gesicht. Notdürftig trocknete ich sie mit dem Handtuch, das mir Frau Sumida reichte, ehe ich mich daran machte, Rinas kurzes Fell großzügig abzureiben, damit sie nicht den ganzen Laden voll tropfte. Frau Sumida lächelte nachsichtig. „Der Kaffee war alle“, beantwortete ich etwas verzögert ihre Frage. „Herrje.“ Sie machte ein übertrieben bestürztes Gesicht und nahm mir das Handtuch wieder ab. „Das ist natürlich eine Katastrophe. Ich schau gleich, wie ich dir Abhilfe verschaffen kann.“ Und schon war sie hinter der Theke verschwunden. Ich konnte nicht anders, als ihr schmunzelnd hinterherzuschauen. Sie war wirklich der Sonnenschein der Gegend, fing regelmäßig verlorene Gestalten auf und war generell nicht mehr von hier wegzudenken. Seit über 10 Jahren gehörte ihr das Café, alle achteten sie und selbst die Gangs ließen sie in Ruhe. Vielleicht hatte sie auch einige besondere Verbindungen, die sie schützten, aber das interessierte mich nicht. Hauptsache, sie und ihr köstlicher Kaffee waren da. Irgendwann würde man sie im Sarg hier raustragen, scherzte sie in regelmäßigen Abständen. Allerdings vermutete ich, dass das ihr Ernst war. Umso stärker hoffte ich, dass sie mindestens noch zwanzig Jahre hier verbringen würde, auch wenn sie dann bereits die Neunzig deutlich überschritt. Zu dieser Uhrzeit war außer mir nur noch Herr Hirokawa im Café, ein älterer Mann, der direkt gegenüber wohnte. Schweigend nickte er mir zu, bevor er sich wieder in seine Zeitung vertiefte. Man kannte sich. „So, die Rettung naht.“ Eine dampfende Tasse dunklen Golds wurde vor mir auf dem Tisch abgestellt, daneben eine Packung mit Kaffeebohnen. Ich schenkte Frau Sumida ein dankbares Lächeln, drückte ihr im Gegenzug ein paar Geldscheine in die Hand. So wurde der Tag wenigstens einen Hauch erträglicher. Vorsichtig pustete ich in die Tasse, ehe ich mir den ersten Schluck genehmigte. Währenddessen schlabberte Rina geräuschvoll aus dem immer bereitstehenden Wassernapf. „Und? Gibt’s etwas Neues, Kaoru?“ „Nein, und selbst?“ Frau Sumida lachte leise auf und fing an mit einem Lappen über die Theke zu wischen. „Ich könnte jetzt über meine Rückenschmerzen oder meine geschwollenen Füße klagen, aber das interessiert euch junge Leute sicher nicht.“ Belustigt zog ich eine Augenbraue hoch. Mit Mitte 30 fühlte ich mich nicht mehr sonderlich jung, aber wenn sie meinte. „Seien Sie sich meines Mitgefühls bewusst.“ Sie lachte und während sie weiterwischte, schnappte ich mir eine der bereitliegenden Zeitungen und vertiefte mich in die neuesten Schlagzeilen, um mich auf den aktuellsten Stand zu bringen. Für einige Minuten herrschte angenehmes Schweigen, nur untermalt vom Rascheln der Seiten und vom steten Geräusch des Regens, der gegen die Scheiben trommelte. Mit einem Mal stutzte ich und las den Text erneut. Seltsam. Ich schaute kurz prüfend auf das Datum. Zwei Tage alt, das passte. Nur eben der Name nicht. „Sagen Sie, Frau Sumida, was wissen Sie über diesen Brand?“ Um zu verdeutlichen, was ich meinte, zeigte ich ihr den entsprechenden Artikel. Neugierig trat sie um die Theke herum und überflog die Zeilen. „Ach, der bei den Hanedas. Schlimme Sache. Hat fast eine komplette Etage zerstört und noch einen Teil vom Nachbarhaus.“ Das wusste ich schon. Der Reporter hatte sich ausführlich darüber ausgelassen, da die Hanedas eine der einflussreichsten Familien der Stadt zu sein schienen, wie in dem Bericht stand. Wieder etwas, das an mir vorbeigegangen war. „Gab es die Woche mehrere Brände?“ „Nein. Nicht, dass ich wüsste. Warum fragst du?“ Nachdenklich strich ich über meinen Kinnbart, starrte dabei auf den Text. Darin hatte nichts von einer verschwundenen Person gestanden, aber dennoch… „Ich hatte gestern Besuch von zwei Cops, die nach jemandem gefragt haben, der bei einem Brand verschwunden sei. Nur hieß der anders. Haben die Hanedas überhaupt Kinder?" Wenn jemand wusste, was bei den Besserbetuchten der Stadt los war, dann Frau Sumida, denn sie hatte ihre Augen und Ohren überall. Ich war seit Jahren diesbezüglich komplett uninformiert, wollte damit auch aus gutem Grund nichts zu tun haben. Als nach einigen Sekunden immer noch keine Antwort kam, sah ich auf. Frau Sumidas Dauerlächeln war verschwunden, ihre Augen hafteten ebenfalls auf den Zeilen, gleichzeitig schien sie durch sie hindurch zu sehen. „Frau Sumida?“ Sie zuckte zusammen und blickte augenblicklich auf. „Verzeih, ich war kurz in Gedanken.“ Ihr entschuldigendes Lächeln wirkte recht dünn. „Also soweit ich mich erinnere, brachte Haneda-Sans zweite Frau einen Sohn mit in die Ehe. Aber wie der hieß, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen.“ Ich konnte es mir denken. Wenn der Junge von dem Foto wirklich zu dieser Familie gehörte, erklärte es wenigstens, warum sich die Polizei überhaupt die Mühe machte, nach ihm zu suchen – in einer Stadt, wo tagtäglich Menschen verschwanden und es keinen interessierte. „Vielleicht ist der Junge entführt wurden“, durchdrang Herr Hirokawas kratzige Stimme meine Gedanken. Grübelnd sah ich Richtung Theke, lauschte mit halbem Ohr der nun entbrannten Diskussion zwischen ihm und Frau Sumida, was mögliche Lösegeldsummen anging und was sonst noch dahinterstecken könnte. Entführung? Wäre möglich. Das wäre auch ein Grund, warum die beiden Cops gestern auf meiner Matte gestanden hatten. Aber – Nein! Ich merkte, wie die unterschwellige Wut erneut in mir aufzusteigen drohte. Wegen einer blöden Visitenkarte verdächtigen die mich? Als ob ein Entführer seinen Namen mit dem Hinweis am Tatort hinterlassen würde, ihn dringend anzurufen! Wobei die Frage war, ob es sich wirklich um eine Entführung handelte, schließlich hatten sie nur vom Verschwinden gesprochen, der Rest war Mutmaßung. Wenn dem aber so war, würde ich es vermutlich schneller erfahren, als mir lieb war. * Selbe Zeit, Polizeipräsidium „Warum habt ihr diesen gottverdammten Mistkerl nicht hergebracht?! Ihr seid zu nichts zu gebrauchen!“ So ging das jetzt schon seit einer geraumen Weile. Ich musste mich arg zusammenreißen, nicht aus der Haut zu fahren. Ging‘s noch? Was bildete der sich ein? Wir machten den Job schließlich nicht erst seit gestern. „Takayama-San“, nutzte mein Partner eine kurze Atempause und schaltete sich ein. „Wir haben nicht genügend Beweise, Niikura-San einfach hierher mitzunehmen.“ Dais Stimme klang erzwungen ruhig, vermutlich fiel nur mir das leichte Zittern darin auf. Er war genauso sauer wie ich, allerdings hatte er sich eindeutig besser im Griff. Ich war kurz davor etwas zu zerschlagen. Entweder die Kaffeetasse auf meinem Schreibtisch oder etwas anderes. Stattdessen ballte ich meine Hände zu Fäusten, um das unterdrückte Zittern zu verbergen. Es war ja nicht so, dass wir die Tatsache mangelnder Beweise nicht schon unzählige Male wiederholt hatten, aber der Chief wollte es einfach nicht hören. „Schwachsinn! Der Typ ist doch nicht ganz sauber! Detektiv. Pah, dass ich nicht lache! So wie der sich damals hier aufgeführt hat, ist der jetzt alles andere, aber definitiv kein Detektiv.“ Gegen meinen Willen schlich sich ein kleines Schmunzeln auf meine Lippen, allerdings weniger wegen der Beleidigung, sondern wegen der Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag vor fünf Jahren, die vor meinem geistigen Auge aufblitzte. Ja, das war ein guter Abgang gewesen. Nichts, was man so schnell vergaß. Und mittlerweile konnte ich es sogar nachvollziehen. Am liebsten hätte ich dem Chief etwas Dementsprechendes an den Kopf geworfen, doch die Stimme meines Kollegen brachte mich in die Realität zurück. „... das sind nicht genug Beweise.“ Dais Geduld schien mittlerweile arg an ihre Grenzen gekommen zu sein, so wie er unseren Vorgesetzten anfunkelte. Der starrte schnaubend zurück. Es war kein Geheimnis, dass Takayama unser Zweier-Team auf dem Kieker hatte, seit wir ihm vor einiger Zeit ordentlich die Meinung gegeigt hatten und uns seither auch selten von ihm etwas befehlen ließen. Dafür putzte er uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit runter, ganz zur Schadenfreude unserer übrigen Kollegen. Im Hintergrund bemerkte ich Shiroyamas gehässiges Grinsen, der die ganze Szene interessiert verfolgte. Mein Puls legte gleich noch ein paar Schläge zu. Doch anscheinend hatte Dai gewonnen, denn in diesem Moment wandte sich der Chief wutschnaubend ab, bellte irgendetwas von „Bringt mir Ergebnisse!“, ehe die Tür zu seinem Büro lautstark ins Schloss knallte. Erst nach etlichen Sekunden wagte ich es durchzuatmen und lehnte mich im Stuhl zurück. Mein Partner brauchte einige Augenblicke länger, um sich zu entspannen. Dann ließ er sich stöhnend auf seinen Stuhl fallen und fuhr sich mit der Hand durch die braunen Haare. „Was für ein Arsch“, knurrte er so leise, dass nur ich es verstand. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Hast dich gut geschlagen. Ich hätte ihm fast den Hals umgedreht.“ „Hm… aber nächstes Mal bist du wieder dran, gegen den Drachen zu kämpfen, Toshiya. Und meinetwegen brauchst du keine Rücksicht zu nehmen.“ Wider Erwarten entschlüpfte mir ein Lachen, während Dai mir ein Grinsen schenkte. Der nächste Kampf würde vermutlich nicht lange auf sich warten lassen, denn wir waren gestern schon übereingekommen, dass wir Niikura definitiv nicht wegen irgendwelcher fadenscheiniger Begründungen, wie beispielsweise Visitenkarten, herbringen würden. Oder etwas anderem, nur damit Takayama einen Sündenbock hatte, den er vorführen und an dem er seine Laune auslassen konnte. Nachwort: So... dies ist nun Kapitel 2 ^^ So viel passiert ist ja jetzt nicht, oder? Aber ich brauchte es, um nach und nach die Story aufzubauen. Ich merke mal wieder, warum ich sonst eigentlich nur One-Shots schreibe, da muss man nicht so viel aufbauen *lach* hab immer Angst etwas zu vergessen oder irgendwelche Logikfehler einzubauen. Ich hoffe, man sagt es mir, sollte das passieren ^^ Feedback wäre super. Anmerkung: Einfach aufgrund des Leseflusses habe ich „Die“ in „Dai“ geändert. Ich hoffe, das ist in Ordnung für euch :) Liebe Grüße Luna Kapitel 3: ----------- Kapitel 3 Eine Woche später „Möchtest du noch ein Stück Kuchen, Kaoru?“ Blinzelnd löste ich mich aus der Betrachtung der verblassten Blumentapete und traf auf Frau Sumidas erwartungsvollen Blick. Sie saß mir gegenüber auf dem Sofa, schon halb über den Tisch gebeugt, die Kuchenzange in der Hand. „Gerne.“ Schließlich wollte ich die alte Dame nicht enttäuschen, obwohl ich mehr als satt war. Wen wollte sie hier eigentlich mästen? Gut, beschweren würde ich mich nicht, denn Kuchen war eins der letzten Dinge, die ich mir für gewöhnlich gönnte. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen hielt ich ihr meinen Teller bereitwillig hin, auf den sie das mittlerweile dritte Stück schob. Wenn ich nicht aufpasste, packte sie mir nachher noch die Reste ein, von denen ich mich anschließend noch eine Woche ernähren könnte. Frau Sumida liebte es einfach, andere zu bewirten und sich um sie zu kümmern. Und wenn ihre üblichen Stammgäste am Ruhetag schon nicht ins Café kommen konnten, kamen sie eben zu ihr nach Hause. Sie war wirklich eine der wenigen, guten Seelen in dieser Stadt. Außerdem schmeckte ihr Kuchen herausragend gut und den konnte ich beim besten Willen nicht verschmähen. Eine Berührung am Fuß riss mich erneut aus meinen Gedanken und ließ mich hinabblicken. Ein braun-schwarz-gestreifter Stubentiger schlängelte sich laut schnurrend um meine Beine. „Jetzt lass Kaoru doch erst einmal aufessen, Mila“, erklang Frau Sumidas gutmütiges Lachen, während ich den Teller beiseite stellte und das Fellknäuel, das mich aus grünen Augen anfunkelte, hochhob. „Ach, das macht nichts. Ich glaube, sie hat einen Narren an mir gefressen, sonst würde sie nicht ständig auf meiner Matte sitzen.“ Ich konnte gar nicht mehr sagen, wie viele Male ich die kleine Katzendame in den letzten Jahren vor meinem Haus aufgesammelt hatte, um sie anschließend drei Straßen weiter bei ihrem Frauchen abzugeben. Ein dutzend waren es bestimmt. Zwischenzeitlich war mir bereits der Verdacht gekommen, dass sie auf das Ausbüchsen trainiert war, nur um Frau Sumida einen Grund zu liefern, mich einzuladen und mit Kuchen vollzustopfen. Allerdings hatte ich nie nachgefragt und wirklich böse darüber konnte ich auch nicht sein. Mit der Katze auf dem Schoß konnte ich wenigstens vorübergehend mit dem Essen zu pausieren. So lehnte ich mich im Sessel zurück und ließ den Blick durch den Raum schweifen. „Haben Sie umgeräumt?“ Überrascht sah Frau Sumida von der Kaffeetasse in ihren Händen auf und folgte meinem Blick. „Ich brauchte mal etwas Abwechslung. Was dir so alles auffällt…“ „Ab und zu muss ich eben meinen detektivischen Spürsinn trainieren“, lachte ich leise. „Stimmt. Nicht, dass der gerade dann eingerostet ist, wenn du ihn brauchst.“ Ihre Mundwinkel zuckten, als sie ihren Kaffee trank. Unterdessen sah ich mich weiter um, es war bereits ein paar Monate her, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Für gewöhnlich besuchte ich sie regelmäßig im Café. Überall an den Wänden hingen Bilder, sowohl Gemälde als auch Fotografien. Nur selten blitzte ein größeres Stück der Tapete hindurch. Dennoch war diese Fülle nicht erdrückend und zusammen mit den etwas in die Jahre gekommenen Möbeln wirkte die Wohnung durchaus stilvoll eingerichtet. Allerdings war ich nicht unbedingt ein Experte in solchen Dingen. Mich interessierte Dekoration herzlich wenig. Funktional musste es sein, weshalb man meine Wohnung auch gut und gerne als karg bezeichnen konnte. Völlig anders als Frau Sumidas Behausung. Die deckenhohen Regale waren vollgestopft mit Büchern, erinnerten dabei an eine Bibliothek, auf der Kommode hinter dem Sofa standen diverse Schatullen und verzierte Vasen. Ein Hauch vom früheren Glanz der Wohnung haftete diesen Dingen an. „Sagen Sie, Frau Sumida, haben Sie nie daran gedacht, hier wegzuziehen?“ Verständnislos blinzelte sie mich an. „Ich meine, dies ist nun nicht die beste Gegend und so ein Café ist sicher auch in einem anderen Viertel der Stadt gern gesehen.“ „Ach nein, Kaoru. Ich bleibe hier bis zum Schluss. Die Wohnung gehört mir bereits seit über 30 Jahren. Auch wenn ich zwischendurch mal woanders gewohnt habe, hat sich mein Herz immer wieder hierher zurückgesehnt. Frag nicht, warum. Es ist einfach so.“ Ihr Lächeln war ansteckend. Teils konnte ich sie verstehen, teils auch nicht. Denn die Gegend hatte meines Erachtens nichts Liebenswertes an sich, das irgendeine Sehnsucht erwecken konnte. Anscheinend sah man mir meine Zweifel deutlich an, denn sie lachte leise, als sie sich erhob, um einen Teil der Teller wegzubringen. „Du musst es nicht nachvollziehen können.“ „Das kann ich auch nicht.“ Eilig scheuchte ich Mila von meinem Schoß und stand ebenfalls auf, um der Hausherrin zur Hand zu gehen. „Weißt du, Kaoru, es gibt immer etwas, was jemanden an einen Ort bindet. Seien es Verwandte oder Bekannte, Besitztümer, Erinnerungen oder einfach das Gefühl, genau hier richtig zu sein.“ Darauf wusste ich nichts zu entgegnen, so nickte ich nur schweigend und folgte ihr in die Küche. * Es stank nach Benzin und nassen Sitzpolstern. Angeekelt zog ich meinen Schal höher, vergrub die Nase darin, um dem Geruch wenigstens etwas zu entkommen. Gleichzeitig verbat ich mir den Gedanken, was sich in diesen Sitzen noch so alles an Lebewesen tummelte. Bloß nicht darüber nachdenken. An sich waren die vier Stationen mit dem Bus nicht weit, aber im Moment kamen sie einer Weltreise gleich. Die Scheiben waren beschlagen und nur mit Mühe waren die vorbeiziehenden Straßenzüge dahinter zu erkennen. Nicht, dass es dort draußen etwas Reizvolles zu sehen gab. Mit einem unsanften Ruck kam der Bus zum Stehen, drückte mich dabei in die Lehne des Vordersitzes. Mir lag bereits eine gepfefferte Verwünschung auf den Lippen, doch ein flüchtiger Blick auf die Anzeigetafel verhinderte den Schwall an Schimpfwörtern. Hastig erhob ich mich und schlängelte mich durch die Reihen nach draußen. Endlich frische Luft. Während sich hinter mir die Türen zischend schlossen und der Bus seine Fahrt röhrend fortsetzte, blieb ich einen Moment lang auf dem Fußweg stehen und atmete tief ein. Gott, wie ich diese Busse hasste. Alles versifft, man fühlte sich eingeengt wie eine Sardine in der Dose. Die Luft war abgestanden und generell musste man darauf vertrauen, dass der Fahrer wusste, was er tat. Und bei vielen bezweifelte ich das stark. Ein kalter Windstoß, der mir die Nässe des Nieselregens direkt ins Gesicht trieb, holte mich schließlich aus meiner Starre. Fluchend trat ich in den nächsten Hauseingang, um mir eine Zigarettenlänge Zeit zum Verschnaufen zu gönnen. Natürlich klappte das Anzünden erst beim dritten Versuch. Wie sollte es auch anders sein? Dezent verstimmt drückte ich mich tiefer in den Hauseingang, nahm einen kräftigen Zug, während meine Augen langsam die Straße entlangwanderten. Es war zwar kaum eine Menschenseele unterwegs, dennoch fühlte ich mich wie auf dem Präsentierteller – wie das sprichwörtliche, schwarze Schaf in einer Herde voll weißer. In diesem Teil der Stadt war ich seit Ewigkeiten nicht mehr gewesen. Er war zwar nur wenige Kilometer von meinem jetzigen Viertel entfernt und wirkte trotzdem vollkommenen anders – gleich einer komplett anderen Welt. Früher war mir diese Gegensätzlichkeit gar nicht so bewusst gewesen. Während mein Blick über die Hausfassaden auf der anderen Straßenseite schweifte, wurde mir die Diskrepanz dieser Stadt wieder einmal deutlich vor Augen geführt. Hier konnten es sich die Leute leisten, ihre Häuser schön zu verputzen, die Eingänge sogar mit Blumenkübeln zu verzieren. Zeitgleich mutierten andere Viertel zu wahren Geisterstädten, kurz vor dem endgültigen Verfall. Und es würde sich nie ändern. Keiner, der hier wohnte, scherte sich darum, wie es anderen ging, solange es ihm selbst an nichts fehlte. Ich versuchte den bitteren Geschmack auf meiner Zunge hinunterzuschlucken. Aufregen brachte nichts, denn ich konnte sowieso nichts dagegen machen. Diesen aussichtslosen Kampf hatte ich vor Jahren aufgegeben. Schnaubend trat ich die Zigarette aus, zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und machte mich auf den Weg. Es war nicht weit. Je näher ich meinem Ziel kam, desto unruhiger wurde ich, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, warum. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass ich einer Spur nachging oder dass ich in solch einer Gegend unterwegs war. Nein, alles keine Gründe nervös zu werden, doch diesmal ging es mich persönlich etwas an. Die Sache mit der Visitenkarte und dem Brand ging mir nicht aus dem Kopf, jegliche Verdrängungsversuche funktionierten nicht. Mittlerweile war der Besuch der Polizisten eine Woche her und seither hatte sich niemand mehr gemeldet, dennoch ließ mir die Sache keine Ruhe. Es war wie bei unterschwelligen Kopfschmerzen. Mal waren sie nur ganz leicht spürbar, sodass man sie beinahe vergaß, um dann im nächsten Moment wieder kräftig zuzuschlagen. Es war zum Verrücktwerden. Dabei konnte mir die ganze Sache eigentlich gepflegt am Allerwertesten vorbeigehen, solange die Cops nicht erneut auf meiner Matte standen. Ich glaubte zwar nicht, dass das Ganze hier zu irgendetwas führen würde, doch anscheinend war mein immer noch vorhandener Drang nach Gerechtigkeit und Wahrheit, gemischt mit einer Portion Neugier, stark genug gewesen, um mich zum Stadthaus der Hanedas zu führen. Innerlich schüttelte ich über mich selbst den Kopf. Ich würde es wohl nie lernen. Wenigstens waren meine spontanen Nachforschungen in den vergangenen Tagen soweit erfolgreich gewesen, dass meine Vermutung, bei dem Verschwundenen könnte es sich um Hanedas Stiefsohn handeln, bestätigt worden war. Und das war‘s dann auch schon mit den Anhaltspunkten. Viel mehr gab es über diese Familie nicht herauszufinden, egal, wie viele Zeitungsartikel ich im elektronischen Archiv der Stadt durchforstet hatte. Nur kleinere Anzeigen über irgendwelche Spenden- und Eröffnungsgalas gab es dort und einen kurzen, fünfzehn Jahre alten Artikel über die Heirat von Akihiko Haneda mit einer Eri Terachi und einige Jahre später ihre Todesanzeige. Dafür, dass die Familie anscheinend zu den Angesehenen dieser Stadt gehörte, hielt sie sich reichlich bedeckt, anders als manch andere aus diesen Kreise. Vielleicht hatte gerade das meine natürliche Neugier endgültig entfacht und mich dazu angetrieben, meine Nase in die Sache zu stecken, obwohl es mir nichts brachte, besonders kein Geld. Mit einem schnellen Blick über die Schulter wechselte ich die Straßenseite, versuchte meinen Puls bewusst unten zu halten. Am liebsten hätte ich noch eine geraucht. Zwar hatte ich den beiden Cops gesagt, dass es viele Leute gab, die meine Karte besaßen, dennoch war es mir schleierhaft, warum sie ausgerechnet bei dieser Familie gelandet war. Denn selbst, wenn sie wirklich für irgendetwas einen Detektiv hatten engagieren wollen, warum dann ausgerechnet mich? Ich war unbedeutend, ein kleines Licht am Firmament der Ermittler und garantiert nicht in der gewünschten Liga. Und das war wohl eher der Grund, weshalb ich hier war. Ich rechnete nicht mit Antworten, aber irgendwo musste ich schließlich anfangen. Ich bog um die nächste Ecke und stockte mitten in der Bewegung. Ein kurzer Blick auf die Hausnummer neben mir, bestätigte, dass mein Ziel nur wenige Meter entfernt vor mir lag. Ungesehen huschte ich in den nächsten Eingang, in der Hoffnung, dass nicht just in diesem Augenblick die Bewohner das Haus verlassen wollten. Stirnrunzelnd blickte ich auf die beiden Autos, die vor einem der Gebäude parkten. Theoretisch nicht ungewöhnlich, allerdings war der große, schwarze Wagen mit den getönten Scheiben selbst für dieses Viertel reichlich auffällig. Und hätte ich noch Zweifel daran gehabt, hier richtig zu sein, die drei finster ausschauenden Typen, die neben der Haustür aufgereiht standen, räumten diese aus. Personenschützer, und zwar wohl von der weniger spaßigen Sorte. Da fühlte sich anscheinend jemand sehr wichtig. Vorsichtig schlich ich noch ein Stück weiter heran, duckte mich hinter einer kleinen Mauer, direkt gegenüber meines Ziels. Ich spekulierte darauf, dass die zunehmende Dunkelheit mir ausreichend Schutz bieten würde. Ein Gefühl sagte mir, dass es besser war, ungesehen zu bleiben und dieses Gefühl hatte mich diesbezüglich noch nie im Stich gelassen. Eigentlich hatte ich bereits heute Vormittag hier sein wollen, um wenigstens einen Blick von außen auf das Haus zu werfen, aber dann war mir Frau Sumidas Katze in die Quere gekommen. Nun war ich ganz froh darüber. Mein Blick glitt prüfend über das dreistöckige Gebäude. Bis auf die Autos und die Wachen unterschied es sich überraschender Weise nicht sonderlich von den anderen in dieser Straße. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Die Häuser standen dicht gedrängt aneinander, so war es nicht verwunderlich, dass es bei dem Brand das Nachbargebäude miterwischt hatte. Von diesem war allerdings nur ein kleiner Teil der Fassade betroffen, während der erste Stock bei den Hanedas tiefschwarz und verrußt war. Doch schien sich der Schaden im Inneren in Grenzen zu halten, denn im Stockwerk darüber brannte Licht, ebenso wie im Erdgeschoss. Gut, so kam ich nicht weiter. Und nachfragen, ob ich mich drinnen umschauen könnte, sparte ich mir. Schließlich hatte ich mit der Angelegenheit nur entfernt etwas zu tun, war nicht die Polizei und die Schränke dort drüben würden mich hochkant zurück auf die Straße befördern, sollte ich mich nähern. Während ich darüber nachdachte, wie ich möglichst unauffällig wegkam – ich hatte das Gefühl, dass die Wachen in meine Richtung schauten – ging hinter ihnen die Tür auf und lenkte ihre Aufmerksamkeit so weit von mir ab, dass ich aus dem Staub machen konnte. Kapitel 4: ----------- Kapitel 4 Einige Minuten zuvor „Ich möchte Sie bitten, zu gehen. Wie ich Ihnen bereits mitteilte, Herr Haneda ist nicht da und ohne Zustimmung kann ich Sie nicht herein oder gar nach oben lassen.“ Ich war kurz davor, die Augen zu verdrehen und etwas Unschönes von mir zu geben, doch es würde nichts bringen. Stattdessen atmete ich tief durch und setzte eine möglichst professionelle Miene auf. Dieser Typ von einem Butler kotzte mich an. Es war nun schon das vierte Mal, dass wir hier standen und der Kerl uns abwimmelte, als wären wir irgendwelche Bettler, die nach Geld verlangten. Dabei kamen wir nur unserer Arbeit nach – oder versuchten es zumindest. Denn wieder einmal wurden uns Antworten, die den Brand oder den Verschwundenen betrafen, verwehrt. Inzwischen hatte ich sogar das unbestimmte Gefühl, dass man uns absichtlich Steine in den Weg warf. Gut, wir hätten uns sicher auch mit Gewalt Zutritt ins erste Stockwerk verschaffen können, allerdings wirkten die Wachen vor dem Haus, als würde es ihnen in den Fingern jucken, jemandem die Knochen zu brechen. Und auf weiteren Ärger mit dem Chief oder eine Anzeige war ich nicht scharf. „Könnten Sie denn dieses Mal Herrn Haneda ausrichten, dass wir Fragen an ihn haben?“ Dai klang genauso genervt, wie ich mich fühlte, nur machte er sich gar nicht erst die Mühe, seinen Unmut zu verstecken. Bereits bei den letzten Besuchen hatten wir um einen ‚Termin‘ beim Hausherren gebeten, aber nie eine Antwort erhalten, ebenso wenig wie auf unsere schriftlichen Anfragen. Es war sowieso die Krönung, dass wir, die Polizei, einen Termin für eine Befragung machen mussten. Eine absolute Sauerei! Am liebsten wäre ich schon beim zweiten Mal in dieses Haus oder wahlweise in das Hauptanwesen der Familie gestürmt und hätte alle, die ich greifen konnte, mit aufs Revier gezerrt. Aber mir waren die Hände gebunden. Oder vielmehr: sie wurden mir gebunden. Denn alle Anträge für Durchsuchungsbeschlüsse waren bisher von den oberen Etagen abgelehnt worden. ‚Man könne eine solch angesehene und einflussreiche Familie nicht wegen so einer Kleinigkeit belästigen.‘ Dass ich nicht lachte. Als ich die Begründung das erste Mal gelesen hatte, dachte ich, ich spinne. Es ging schließlich nicht um ein verschwundenes Schmuckstück oder einen entlaufenen Hund, sondern um ein vermisstes Familienmitglied. Aber das interessierte niemanden, weder unsere Vorgesetzten, noch die Familie selbst. Die ganze Sache stank zum Himmel, da machte mir niemand etwas vor. Und gerade deshalb brauchten wir auf Unterstützung gar nicht erst zu hoffen. Alles, was meinem Kollegen und mir blieb, war immer wieder vor Ort freundlich nachzufragen, am besten auf Knien rutschender Weise. Ich könnte kotzen! Am besten diesem kleinen, faltigen Typ vor uns direkt vor die Füße. Der machte seinem Berufsstand als verschwiegener Butler alle Ehre. Definitiv zum Kotzen! „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“ Der Rausschmiss war deutlich. Schnaubend trat ich hinter Dai nach draußen. Am liebsten hätte ich die Tür hinter mir zugeknallt, um meinen Frust wenigstens ein Stück weit loszuwerden, nur leider war der Alte schneller gewesen. Gedämpft klickte das Schloss hinter uns. Mit bemüht gelassenen Schritten trat ich an unser Auto und warf mich auf den Beifahrersitz, während Dai sich schweigend hinter das Lenkrad klemmte. Konzentriert lenkte er uns an dem auffälligen Schlitten des Hausherren vorbei. Entweder besaß der mehrere von dieser Sorte und auf jedem seiner Grundstücke parkte eines oder man hatte uns wieder einmal erfolgreich verarscht. Wie auch immer, wir kamen nicht weiter. Schweigend beobachtete ich, wie der schwarze Wagen im Rückspiegel immer kleiner wurde und schließlich verschwand. Keiner von uns sagte ein Wort, die bleierne Stille drückte schwer auf unsere Schultern, doch nichts, was wir sagen könnten, hätte die miese Stimmung verbessert. Nach und nach beruhigte ich mich ein wenig. Ich war immer noch wütend und gleichzeitig wieder nicht. Ich konnte das Gefühl, das sich in mir breit machte, abgesehen vom Frust, nur schwer beschreiben. Heute war definitiv einer dieser Tage, an denen ich kurz davor war, meinen Job hinzuschmeißen. Alles fühlte sich so sinnlos an. Wozu waren wir Cops, Ordnungshüter, wenn wir es in dieser Stadt nicht einmal schafften, jemanden zu befragen, nur weil dieser zur oberen Riege der Gesellschaft gehörte? Es war zum Haare raufen. Von dem verschwundenen Shinya Terachi fehlte jede Spur und egal, wo Dai und ich anfingen, alle Spuren führten ins Leere. Wen wir auch befragten, wir stießen auf eine Wand des Schweigens. Es war, als würde keiner wollen, dass er überhaupt wieder auftauchte. Dass er bei dem Brand nicht gestorben war, war inzwischen klar, nur wohin war er verschwunden? Steckte jemand anderes dahinter oder hatte er selbst die Flucht ergriffen? So wie ich diese Familie einschätzte, war beides möglich. „Und nun?“, riss mich Dais Stimme aus den Gedanken. Ich warf meinem Kollegen einen flüchtigen Blick zu. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte er das Lenkrad. Es ging ihm wie mir, was mich interessanterweise automatisch weiter besänftigte. Wenigstens auf ihn konnte ich bauen, wenn alle gegen uns arbeiteten. „Am liebsten würde ich sofort zurückfahren, das Haus stürmen, den Lackaffen von Butler zusammen mit den drei Gorillas vor der Tür einfach in irgendeiner Ecke festbinden und danach jeden verdammten Zentimeter filzen. Und wenn wir da nichts finden, fahren wir zum Wochenendsitz der Hanedas, mähen das Eingangstor samt der blöden Köter nieder und wenn der Alte dort ist, zerren wir ihn vom Sofa, um ihn endlich zu fragen, was in seiner Familie eigentlich falsch läuft.“ „Klingt prinzipiell nach einem tollen Plan, Toshiya. Aber wir sind leider heute schon wieder an Stufe eins gescheitert, nämlich dem Stürmen.“ Ein kurzes, freudloses Lachen entfloh mir. „Ja, leider.“ „Vermutlich wäre jetzt in dem ausgebrannten Stockwerk sowieso nichts mehr zu finden. Sie hatten schließlich über eine Woche Zeit, alle Hinweise zu beseitigen, sollte es denn je welche gegeben haben.“ Ich nickte stumm und starrte aus dem Fenster. Dai hatte recht. Wir konnten froh sein, dass überhaupt Fotos vom Brandort existierten. Aber es ging ums Prinzip und unsere Berufsehre. Scheiße! Wir waren Cops und ließen uns so auf der Nase rumtanzen! „Ich habe immer mehr das Gefühl, dass uns irgendwer von oben beobachtet und sich darüber freut, wie wir uns zum Affen machen, ständig von A nach B rennen und trotzdem nicht weiterkommen.“ Ein kühler Windstoß fegte durch das Fahrzeug, als Dai die Scheiben runterkurbelte und sich eine Zigarette ansteckte. Seufzend tat ich es ihm nach und schloss für einige Sekunden die Augen, um so meine Frustration in den Griff zu bekommen. Es half nicht. Resigniert stieß ich den Rauch durch die Nase aus und starrte auf die glimmende Spitze der Zigarette. Mit dem Fall klappte es nicht und mit meinem Vorhaben, nicht zu rauchen, noch weniger. Das war doch alles Mist! Anfang des Jahres hatten Dai und ich beschlossen, gemeinsam gegen unsere Nikotinsucht anzutreten, was theoretisch funktionieren würde, da wir sowieso jeden Tag zusammen arbeiteten und uns so gegenseitig kontrollieren konnten. Nur machten uns Fälle wie dieser einen Strich durch die Rechnung. Irgendwie musste man den Stress schließlich abbauen. „Ich verstehe einfach nicht, warum es Haneda kein bisschen zu interessieren scheint, was aus seinem einzigen Erben geworden ist?“, nuschelte Dai mit der Zigarette im Mund, während er den Wagen vor dem Polizeirevier in eine Lücke quetschte. „Ach, die ganze Sache ist so oder so nicht sauber.“ Ich warf einen finsteren Blick auf die graue Fassade des hohen Steingebäudes neben uns. Das Gebäude, in dem eigentlich das Gesetz zu Hause sein sollte, in dem aber anscheinend jeder sein eigenes Ding durchzog. Die Sache mit der Korruption unter dem Großteil der Kollegen war nicht mal das größte Problem, sondern vielmehr ein offenes Geheimnis. Es kümmerte niemanden. An Tagen wie heute hatte ich noch weniger Lust, auch nur einen Fuß in dieses Loch zu setzen. „Vielleicht sollten wir es einfach lassen.“ Ich spürte Dais fragenden Blick auf mir ruhen, während ich weiter auf den Eingang des Reviers starrte. Zwei Kollegen traten genau in diesem Moment heraus, nickten uns kurz zu, während sie zu ihrem Auto gingen. Ich kannte sie nur flüchtig, sie arbeiteten für eine andere Abteilung. „Es ist doch sinnlos, was wir tun.“ Meine aufgerauchte Zigarette landete auf dem Bordstein neben dem Auto, ehe ich das Fenster schloss und mich an meinen Partner wandte. „Als würden wir wie Don Quijote gegen Windmühlen kämpfen.“ Einen Augenblick lang starrte er mich an, als würde er mich für nicht ganz zurechnungsfähig halten. Oder er fragte sich schlicht und einfach, wer dieser ominöse Don war. Beides war möglich. Doch schließlich machte sich ein schiefes Grinsen in seinem Gesicht breit. „Nix da. Jetzt haben wir einmal mit dem Fall angefangen, dann ziehen wir das auch durch. Und wenn der Chief noch so sehr im Dreieck springt, damit wir die Sache auf sich beruhen lassen. Ich will jedenfalls nicht auf sein angepisstes Gesicht verzichten, wenn wir den Leuten weiter auf die Nerven gehen und nachbohren.“ Ich lachte laut auf. Stimmt. Das wollte ich auch nicht missen. Hatten mir Takayamas Wutanfälle vor einer Woche noch die Laune vermiest, gehörten sie jetzt beinahe dazu und stachelten meine angeborene Sturheit weiter an. „Noch bin ich nicht dazu bereit, hinzuwerfen“, fügte Dai leiser hinzu. Mal wieder war ich dankbar dafür, ihn als Partner zu haben. Seine motivierende Art tat gut. Denn eigentlich war ich auch noch nicht soweit, aufzugeben und dem Polizeidienst den Rücken zu kehren, wie es manch anderer vor uns getan hatte. So etwas kratzte an meinem Stolz. Seufzend löste ich den Gurt. Dann mal auf in die Höhle des Löwen. „Übrigens, Dai, wir sollten nach Feierabend mal wieder ein Bier trinken gehen.“ „Bin dabei. Je nachdem, wie es nachher läuft, bin ich auch für härteres Zeug zu haben.“ * Der Nebel von unzähligen Zigaretten waberte durch den Raum und tauchte die kleine Kneipe in diffuses Licht. Die Luft war zum Schneiden dick und machte das Atmen schwer. Selbst mir stach der Gestank von altem und neuem Rauch in der Nase, dennoch wollte ich auf keinen Fall gehen. Ich brauchte das heute, selbst wenn ich danach wie ein Aschenbecher roch. Was für ein beschissener Tag! So wie er angefangen hatte, hatte er geendet. Da war der Hausbesuch bei den Hanedas nur die Spitze des Misthaufens gewesen. Mit zusammengekniffenen Lippen starrte ich auf den Tresen vor mir, der sicher auch schon sauberere Zeiten gesehen hatte. Die hölzerne Oberfläche klebte widerlich und war übersät mit Kratzern und Abdrücken der unzähligen Gläser, die hier schon den Besitzer gewechselt hatten. Ich wollte gar nicht wissen, wann es der Barkeeper das letzte Mal für nötig gehalten hatte, einmal ordentlich drüber zu wischen. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, wie er eins der benutzten Gläser flüchtig unter den Wasserhahn hielt und es anschließend mit dem schmutzigen Geschirrtuch abtrocknete, das sonst über seiner Schulter hing. Bloß nicht drüber nachdenken! Alkohol hatte ja bekanntlich eine desinfizierende Wirkung und billiger Fusel umso mehr. Schnaubend griff ich nach meinem Glas und nahm einen großen Schluck von der klaren Flüssigkeit, die augenblicklich unangenehm in meinem Rachen brannte. Mit Mühe unterdrückte ich ein Husten. Dafür verscheuchte das Brennen vorübergehend alle Gedanken aus meinem Kopf. Wie immer hatten Dai und ich mit Bier abgefangen, waren aber schnell auf die härteren Sachen umgestiegen. Und es wirkte. Allmählich fühlte ich mich angenehm leicht, der Frust war einer Mir-doch-egal-Stimmung gewichen. Kurz warf ich Dai einen prüfenden Blick zu, ob es ihm gut ging. Er hielt sich wacker. Selbst nach dem vierten Glas Klarem saß er halbwegs gerade und starrte finster vor sich hin. Wenn wir beide nicht aufpassten, würde die Falten zwischen unseren Augenbrauen nie wieder verschwinden. Der Gedanke brachte mich wider Erwarten zum Lachen. Ich spürte Dais fragenden Blick auf mir, meine plötzlich heitere Stimmung irritierte ihn. „Habe gerade nur gedacht, dass wir bald sehr faltig aussehen, wenn wir so weitermachen.“ Mit meinem Versuch, seinen Gesichtsausdruck zu imitieren, brachte ich ihn ebenfalls zum Schmunzeln. „Ich glaube, dafür ist es längst zu spät.“ Leise lachend gab ich dem Typ hinter dem Tresen ein Zeichen für die nächste Runde. Mir war heute nach einem gepflegten Besäufnis, schließlich waren wir außer Dienst und da konnte mir der Rest der Welt den Buckel runterrutschen. Womöglich würde ich es morgen bereuen, aber gerade wärmte mich der Alkohol von innen und ließ mich alles, trotz des dauerhaft latenten Ärgers, mit einer Prise Sarkasmus und Humor sehen. Mein Redebedarf war heute nach dem Anschiss vom Chief noch ausgeprägter als sonst und meine Wortwahl womöglich auch nicht die gewählteste. Aber wen interessierte das? Dai kannte das schon und über den Geräuschpegel hinweg verstand uns hier sowieso niemand. Als wir am späten Nachmittag ins Revier zurückgekehrt waren, war ich sofort ins Chefbüro zitiert worden. Dai hatte Glück, denn er war rechtzeitig in die zuständige Brandabteilung verschwunden, um dem vor Wut schnaubenden Chief zu entgehen. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Wäre ich schneller gewesen, hätte ich es genauso gemacht. Doch nun hatte ich allein Takayamas Monolog ertragen müssen. Anscheinend war die Beschwerde über unseren Hausbesuch in der Sekunde auf seinen Schreibtisch geflattert, in der man uns vor die Tür gesetzt hatte. Überrascht war ich über den Anschiss nicht gewesen. Aber was hatte der Chief denn gedacht? Er wollte, dass wir etwas taten und tickte dann aus, wenn wir unserer Arbeit nachgingen. Ein Beweis mehr, dass ihm die Richtung unserer Ermittlungen ein Dorn im Auge war. Auch wenn es mich mittlerweile kaum mehr interessierte, welche Beschimpfungen der Chief auf Lager hatte, so hatte ich trotzdem nicht verhindern können, dass es an mir nagte. Das Ganze nervte und kratzte an meinem Stolz. Und noch mehr kotzte mich jedes Mal Shiroyamas süffisantes Grinsen an, wenn er sich anschließend scheinheilig nach unseren Fortschritten erkundigte. Das ging ihn einen Dreck an! Der sollte sich um seine eigenen Fälle kümmern und sich nicht einmischen! Er tat so, als wäre er der Dienstältere und bot liebend gern seine Hilfe an, dabei waren wir drei im selben Jahr in den Dienst getreten. Blöderweise war er einen Monat vor uns da gewesen. Was ihm aber noch lange nicht das Recht gab, von oben auf uns herabzusehen. Ich würde gern mal sehen wollen, wie er bei so einem Fall vorankäme, wenn ihm ständig der Weg verbaut wurde. Ich war schon einige Male kurz davor gewesen, ihm den gehässigen Ausdruck aus dem Gesicht zu schlagen. „Gewalt bringt bei dem nichts.“ Überrascht sah ich auf und blickte direkt in Dais feixendes Gesicht. „Kannst du seit Neustem Gedanken lesen?“ „Schön wär‘s, aber nein. Man kann dir deine Mordpläne nur gerade sehr deutlich ansehen.“ Schnaubend nahm ich die beiden Gläser in Empfang, die uns über den Tresen gereicht wurden, drückte eines davon meinem Partner in die Hand und gönnte mir gleichzeitig selbst einen kräftigen Schluck. „Shiroyama regt mich auf, sobald ich ihn sehe. Sein dämliches Grinsen kann der sich sonst wo hinstecken!“ Augenblicklich schoss mein Puls erneut nach oben. „Manchmal nehmt ihr euch aber nicht viel.“ „Hm?“ Stirnrunzelnd starrte ich Dai an. „Na ja, euer Grinsen bringt die Leute recht schnell auf die Palme. Niikura-San sah letztens auch so aus, als würde er dich am liebsten schlagen.“ Jetzt musste ich doch lachen. Niikura. Die Erinnerung an diesen mühsam beherrschten Gesichtsausdruck besserte ein wenig meine Laune. Ich konnte nicht abstreiten, dass ich mit meiner Art gern die Leute aus der Reserve lockte. Immer noch schmunzelnd kramte ich in der Jacke nach meinen Zigaretten. Das schlechte Gewissen schob ich erstmal beiseite. Für heute war es sowieso zu spät. „Du auch eine?“ Fragend hielt ich meinem Kollegen die Schachtel hin. Nach kurzem Zögern klemmte zwischen seinen Lippen ebenfalls einer der Glimmstängel. Sein genuscheltes „Wir versuchen es einfach nach dem Fall nochmal“ ließ mich grinsen. Ja, nach dem Fall würde es hoffentlich besser werden, auch wenn ich nicht wirklich daran glaubte. Wobei auch ein stressfreies Leben nicht für weniger Nikotinkonsum garantierte. Das Bild eines übervollen Aschenbechers und eines bestimmten, verräucherten Büros tauchte vor meinem geistigen Auge auf, während ich meinen ersten Zug nahm. Da gab es definitiv noch mehr, die etwas kürzer treten sollten, aber so wie ich den Besitzer besagten Aschenbechers einschätzte, interessierte ihn das herzlich wenig. Ich konnte ihn verstehen. Wer derart von seinen Ex-Kollegen und der Gesellschaft enttäuscht worden war, hatte andere Prioritäten. „Übrigens will ich in den nächsten Tagen nochmal zur Detektei fahren.“ Dais Blick ruhte auf mir, seine Mundwinkel zuckten. „Gute Idee. Vielleicht ist er bei einem zweiten Gespräch etwas netter.“ Nachwort So, dieses Mal ein Kaoru-freies Kapitel und dafür eine größere Portion Toshiya und Die ^^ ich hab das Gefühl, es ist wieder nicht so viel passiert, aber ich fand es wichtig, die beiden auch mal etwas genauer zu beleuchten ^^ Ich mag sie *lach* Ich muss gestehen, ich habe das Originalkapitel irgendwann im November geschrieben und als ich es heute las, war ich etwas erstaunt, da ich selbst nicht mehr wusste was ich geschrieben habe XD ich und mein Gedächtnis, aber schön dass ich mich selbst überraschen kann. Ich hoffe, es hat gefallen und Feedback wäre wie immer ein Träumchen. Bis zum nächsten Mal Luna Kapitel 5: ----------- Kapitel 5 Stirnrunzelnd starrte ich zum wiederholten Male auf den kleinen Zettel in meiner Hand. Als ich ihn vor einer guten Stunde in meinem Büro entdeckt hatte, war er zwar fein säuberlich zusammengefaltet gewesen, dennoch fehlte ihm eine Ecke, als wäre er von jemandem in großer Eile aus einem Block gerissen worden. Er wirkte derart nichtssagend, dass ich ihn vorhin sofort in den Papierkorb hatte befördern wollen, doch schlussendlich hatte die Neugier gesiegt. Oder die Langeweile. Wie man es nahm. Jetzt war es schon so weit, dass ich mich mit seltsamen Zetteln beschäftigte, um mich abzulenken. Schnaubend legte ich ihn auf den Schreibtisch und fischte mir erstmal eine Zigarette aus der halbleeren Schachtel. Das Feuerzeug glühte grell vor meinen übermüdeten Augen auf. Ich nahm einen tiefen Zug, während ich mich in meinem Stuhl zurücklehnte und für einen Moment die Augen schloss. In den vergangenen, beiden Nächten hatte ich schlecht geschlafen, was nichts Neues war. Mir schwirrte der Kopf, unzählige Gedanken wirbelten durcheinander und verursachten vielmehr Kopfschmerzen, anstatt dass sie mich weiterbrachten. Und das frustrierte mich noch mehr. Prinzipiell ging mich der Brand im Haneda-Haus nichts an, genauso wenig wie das Verschwinden des Sohnes. Ich hatte die Familie bisher nicht gekannt und noch weniger etwas mit ihnen zu tun gehabt. Und theoretisch fiel das Ganze sowieso in den Zuständigkeitsbereich der Polizei. Theoretisch. Nur dass die nicht immer gewissenhaft ihrer Arbeit nachkam, wusste ich aus der Vergangenheit zur Genüge. Vermutlich war genau das der Grund, warum mich der Fall nicht losließ. Seufzend blickte ich nach draußen, versuchte die Erinnerung gar nicht erst wieder Besitz von mir ergreifen zu lassen. Es gelang mir nicht. Mit trägen Augen verfolgte ich einen der vielen Regentropfen, die am Fenster entlang rannen und langsam von anderen Bildern überlagert wurden. Wie so oft in den letzten Jahren. Ein grinsendes Kindergesicht. Die große Zahnlücke minderte das Strahlen nur wenig. Sie war erst sieben gewesen. Laut ihren Eltern immer fröhlich, von allen geliebt und nicht unterzukriegen. Und dennoch hatte es jemand auf sie abgesehen gehabt. Oder gerade deshalb. Zischend kniff ich die Augen zusammen, rieb mir über die Nasenwurzel und versuchte die Bilder zu vertreiben. Sie hatten sich so tief in mein Gedächtnis gebrannt, dass ich es nie geschafft hatte, sie zu vergessen und an manchen Tagen überrollten sie mich einfach. Es war fünf Jahre her und mein letzter Fall als Cop gewesen. Danach hatte ich aufgegeben. Eigentlich hatte ich das schon vorher, aber dieser Fall war der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Ich spürte die Frustration und Enttäuschung von damals noch immer in meiner Brust. Mit diesen Gefühlen hatte ich nicht mehr weiterarbeiten können. Nicht, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht sowieso schon allein dagestanden hatte. Nein, dazu kamen noch die Steine, die mir ständig in den Weg gelegt worden waren. Ich hatte bereits zu Beginn meines Dienstes gemerkt, dass der Polizeiapparat in dieser Stadt nicht so arbeitete, wie er sollte. Doch in diesen letzten Monaten war mir das volle Ausmaß dessen wirklich erst bewusst geworden. Und damit hatte ich nicht mehr leben können. Da waren so viele Dinge gewesen. Nicht nur das ständige Schmiergeld, die Verbrecher, die mit einem breiten Grinsen das Revier verließen, die Kollegen, die den Job nicht ernst nahmen. Nein. Warum wurde ein Waffenhändler freigelassen, nachdem er einen Polizisten erschossen hatte? Und warum wurde der Raub einer Handtasche als wichtiger erachtet als ein junges, vermisstes Mädchen? Nur weil ihre Eltern arme Fabrikarbeiter waren und keinen mit Edelstein besetzten Schmuck mit sich spazieren trugen? Die Wut keimte augenblicklich wieder in mir auf, als ich an die verzweifelten Gesichter dachte und gleichzeitig die Worte des Chiefs im Ohr hatte: ‚Jetzt ist wenigstens ein hungriges Maul weniger zu stopfen in dieser Stadt. Außerdem hat die Familie ja noch genug andere Kinder.‘ Dieses selbstgefällige Grinsen. Ich hatte rotgesehen und meine Faust hatte ihr Ziel wunderbar getroffen. In diesem Moment waren mir die Konsequenzen egal gewesen. Ich war Polizist geworden, um Menschen zu helfen – egal, wer sie waren, woher sie kamen oder wie viel sie verdienten. Doch anscheinend hatte ich mit dieser Meinung ziemlich alleine dagestanden. Das Desinteresse, die abfälligen Bemerkungen der Kollegen – ich hatte das alles ignoriert und mich trotzdem mit dem Fall auseinandergesetzt. Natürlich war ich alleine nicht besonders gut vorangekommen, denn Hilfe hatte ich von den anderen keine zu erwarten brauchen. Mit Mühe schluckte ich den Geschmack von Galle herunter, der sich in meinem Mund auszubreiten drohte. Ich hatte sie nicht retten können, war einfach zu langsam gewesen. Ihr ausgemergelter Körper weggeworfen wie Müll. Hätten die Unmengen von Krähen, die über dem Hinterhof kreisten, nicht irgendwann einen Anwohner neugierig gemacht, dann würden ihre Überreste vermutlich noch heute zwischen den Mülltonnen liegen. Ich war mir sicher: Hätte mir nur einer geholfen, hätten wir zwei Tage eher den Entführer finden können, dann wäre sie vielleicht noch am Leben gewesen. Doch so hatte ich alleine den verzweifelten Eltern die Nachricht überbringen müssen, mir gefasst ihre Vorwürfe angehört, während mich innerlich die Wut zerfraß und ich ihnen innerlich recht gab. Wenigstens war es einer kleinen Genugtuung gleichgekommen, als ich schließlich wenige Stunden später mit stark schmerzender Hand und einem Karton mit meinen Sachen zu den Füßen vor dem Polizeigebäude gestanden hatte und mir den Regen ins Gesicht fallen ließ. Als könnte er mich auf diese Art ein bisschen von meiner Mitschuld reinwaschen. Es war der Tag gewesen, an dem ich mir geschworen hatte, nie wieder auch nur einen Fuß dort hineinzusetzen und bisher hatte ich mich daran gehalten. Ein dünnes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich an die erschrockenen Mienen der anderen zurückdachte, als ich mit unzähligen Flüchen, Vorwürfen und verstauchten Fingern meinen ehemaligen Arbeitsplatz hinter mir ließ. Ich glaubte nicht, dass sich auch nur einer von ihnen meine Worte zu Herzen genommen hatte, aber ich musste mir nicht vorwerfen, klammheimlich gekündigt und die Vorkommnisse verschwiegen zu haben. Ich drückte die letzte Glut der Zigarette im Aschenbecher aus, ehe ich aufstand und zur Kaffeemaschine schlenderte. Während sie lautstark ratternd ihre Arbeit begann, wanderte mein Blick abermals zum Fenster. Der Regen hatte zugenommen und trommelte geräuschvoll gegen die Scheibe. Was wenig überraschend war, wenn man bedachte, dass es in Gotamo City eigentlich immer regnete. Als würde der Himmel diese Stadt ebenso verabscheuen wie ich und versuchen, sie auf diese Weise wegzuspülen. Ein klägliches Piepsen riss mich aus meiner Betrachtung. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete ich die Anzeige, die mir unmissverständlich klarmachte, dass das hier die letzte Tasse war, die ich aus meinem Bohnenvorrat bekam. Dann musste ich wohl morgen früh bei Frau Sumida vorbeischauen und für Nachschub sorgen. Heute würde mich das Koffein hoffentlich noch über den restlichen Abend retten. Vorsichtig balancierte ich die dampfende Tasse zurück zum Schreibtisch und setzte mich. Mein Blick fiel auf den ominösen Zettel, während ich schlürfend den ersten Schluck nahm. Als ich am Mittag nach der Gassi-Runde ins Büro zurückgekommen war, hatte er auf dem Boden gelegen. Vermutlich hatte ihn jemand durch den Spalt unter der Tür hindurchgeschoben, vielleicht in der Hoffnung, dass ich auf die Art gleich darüber stolperte. Wobei er so klein und unauffällig war, dass ich ihn im ersten Moment für Müll gehalten hatte, den ich verloren hatte. Eigentlich hätte es durchaus gereicht, den Zettel in den Briefkasten zu werfen. Aber gut… Ich stellte die Tasse beiseite und griff erneut danach. Nur ein einzelnes Wort stand darauf. Inosan. Unschuldig. Egal, wie oft ich darauf starrte, ich wurde nicht schlauer. Was sollte das heißen? Wer war unschuldig? Oder sollte das Werbung für irgendetwas sein? Allerdings war das eindeutig die falsche Gegend für Werbung. Und die falsche Aufmachung. Ein flüchtiger Gedanke blitzte in meinem Kopf auf und brachte mich unabsichtlich zum Lachen. Sollte es wirklich Werbung sein, hätte ich mir am ehesten eine Bar aus dem Rotlichtviertel darunter vorstellen können. Da kamen sicher einige auf solche Ideen. Kopfschüttelnd nahm ich einen weiteren Schluck Kaffee aus der Tasse. Nein, ein Werbeflyer für einen Puff war das garantiert nicht. Da passte die fein säuberliche Handschrift nicht dazu, ebenso wenig wie das verblasste Blumenmuster auf dem Papier. Das Muster erinnerte mich vielmehr entfernt an die Tapete in Frau Sumidas Haus. Ich konnte nicht anders, als die Augen über mich zu verdrehen. Eigentlich war es total bescheuert, sich den ganzen Nachmittag mit diesem blöden Zettel zu beschäftigen. Als hätte ich nichts anderes zu tun als Rätselraten. Gut, hatte ich auch nicht, aber dennoch - Ein überdeutliches Schnaufen holte mich aus meinen Gedanken. Dunkle Augen starrten mich von unten beinahe vorwurfsvoll an. Sofort meldete sich mein Gewissen und ich schnitt eine entschuldigende Grimasse. „Sorry, mein Mädchen, du bekommst gleich dein Fresschen.“ Hatte ich doch solange aus dem Fenster gestarrt und vor mich hin gegrübelt, dass ich meinen Hund unfreiwillig auf Diät gesetzt hatte, weil die Zeit nur so verflogen war. Bevor ich mich erhob, kam mir eine flüchtige Idee. „Sag mal, Rina, du kannst nicht erschnüffeln, von wem der hier ist, oder?“ Auffordernd hielt ich das Stück Papier unter ihre graue Schnauze. Eine wirkliche Reaktion hatte ich auch nicht erwartet, schließlich war es mehr eine Schnapsidee gewesen. Rina wirkte, wie erwartet, wenig interessiert und sah mich weiterhin ungerührt an. Na ja, sie war eben kein Spürhund. Seufzend erhob ich mich und ging zum Kaffeeautomat zurück, in dessen Unterschrank ich immer den Ersatzfressnapf und etwas Hundefutter aufbewahrte, um nicht jedes Mal eine Etage höher gehen zu müssen. Während Rina schmatzend das übelriechende Futter verschlang, kehrten meine Gedanken zu dem Zettel zurück. Wahrscheinlich hatte sich nur jemand einen blöden Scherz mit mir erlaubt und ich zerbrach mir umsonst den Kopf. Der hatte anscheinend wirklich nicht genug zu tun. Mit nur wenigen Schritten war ich zurück am Schreibtisch, langte nach dem Zettel und zerknüllte ihn mit einer Hand, ehe ich ihn in Richtung Mülleimer warf. Er landete daneben. Außerdem – wenn es dem Verfasser des Zettels um etwas Wichtiges gegangen wäre, hätte er ja auch ausführlicher schreiben und mich nicht mit einzelnen Brotkrumen abspeisen können. Am besten schrieb er einfach noch einen Zettel oder Brief. Oder er kam persönlich her. Einen Augenblick lang starrte ich noch auf die Stelle neben dem Papierkorb. Und was wenn –? Ach verdammt! Mich selbst verfluchend stand ich auf und hob den Zettel vom Boden, um ihn mit Nachdruck auf meinen Schreibtisch zu legen. * Verdutzt hielt ich inne und rüttelte noch einmal kräftig an der himmelblauen Tür. Außer einem lauten, klappernden Geräusch tat sich nichts. Sie blieb verschlossen. Stirnrunzelnd ließ ich die Türklinke los und starrte einige Sekunden verwirrt darauf. Seit wann war denn Frau Sumidas Café unter der Woche geschlossen? Das war bisher noch nie vorgekommen. Okay, noch nie vielleicht nicht. Aber die paar Male konnte man an einer Hand abzählen und da war sie krank gewesen und hatte das ihren Gästen auch durch ein kleines Schild im Fenster mitgeteilt. Nur dieses Mal war das Fenster leer. Auch im Inneren des Ladens war nichts zu erkennen, egal, wie sehr ich mir die Nase an der Scheibe platt drückte. Es war dunkel, die Stühle und Tische standen da wie immer, auf der Theke befanden sich einige Tassen. Alles in allem wirkte es, als würde Frau Sumida jeden Augenblick öffnen. Nur von ihr selbst fehlte jede Spur und dabei war es schon nach acht. Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Seltsam. Schnaubend wandte ich mich von der Tür ab und ging ein paar Schritte zurück, um einen Blick die Straße entlang werfen zu können. Womöglich kam sie gleich um die Ecke und ich reagierte dezent über. In dieser Gegend hatten die wenigen Geschäfte sowieso keine in Stein gemeißelten Öffnungszeiten und da konnte es durchaus einmal passieren, dass etwas später geöffnet wurde. Ich würde einfach ein paar Minuten warten, vielleicht war ihr etwas dazwischen gekommen. Ein kalter Wind pfiff durch die Straße, es hätte nicht viel gefehlt und ein vertrockneter Dornenbusch wäre darüber gerollt, so ausgestorben wirkte es hier. Vereinzelt klapperte irgendwo ein Fensterladen, doch zu sehen war niemand. Wenn ich nicht zwingend meinen Kaffee-Nachschub gebraucht hätte, wäre ich sicher auch zu Hause geblieben. Ungeduldig ging ich ein paar Meter auf und ab, vergrub die Nase im Kragen der Jacke, um mich wenigstens etwas vor der Kälte zu schützen. Frau Sumida tauchte auch nach weiteren zehn Minuten nicht auf, mittlerweile ging die Uhr verdächtig auf halb 9 zu. Egal, wie sehr ich mir einredete, dass sie sicher nur krank war, das ungute Gefühl in mir wollte nicht weichen. Es drückte auf meinen Brustkorb und machte mir das Atmen schwer. ‚Mensch, Kaoru, jetzt geh nicht gleich vom Schlimmsten aus.‘ Mein Hirn hatte anscheinend wirklich wenig zu tun, denn es malte sich gerne die unterschiedlichsten Szenarien aus. Wobei das bei dieser Stadt ja nun nicht verwunderlich war. Ich würde einfach später noch einmal vorbeigehen. Langsam machte ich mich wieder auf den Rückweg, warf dabei alle paar Meter einen Blick zurück, immer in der Hoffnung Frau Sumida würde just in diesem Moment auftauchen. Doch ich wurde enttäuscht. Wieder zu Hause angekommen führte gewohnheitsgemäß mein erster Weg zur Kaffeemaschine, bis mir einfiel, dass die Bohnen alle waren. Dann eben nicht. Grummelnd setzte ich mich an meinen Schreibtisch, starrte blicklos aus dem Fenster. Rinas Kopf lag auf meinem Schoß, ihr gleichmäßiges Schnaufen und ihr weiches Fell, über das ich meine Hand gleiten ließ, halfen kaum die Unruhe in mir zu vertreiben. Vielleicht sollte ich einfach – Ach Quatsch, womöglich hatte sie nur einen dringenden Termin gehabt. Sicher. Nach einigen Minuten hielt ich es nicht mehr aus. Ruckartig stand ich auf, entlockte Rina damit ein erschrockenes Winseln. „Ich geh noch mal eine kurze Runde. Bin gleich wieder da“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu meinem Hund. Eilig griff ich nach meiner Jacke und verließ das Büro. Vermutlich war alles in bester Ordnung, Frau Sumida ging es gut und ich konnte mein plötzliches Erscheinen mit spontaner Nachbarschaftshilfe begründen und meiner Sehnsucht nach Kaffee. Was definitiv realistisch war. Das Klappern meiner Schuhe auf dem porösen Gehweg hallte laut von den Hausfassaden wider, während ich die wenigen Abzweigungen bis zu Frau Sumidas Haus nahm. Ich wurde erst langsamer, als endlich die altbekannte Backsteinfassade vor mir auftauchte. So schnell war ich noch nie hier gewesen, aber bisher hatte mich auch immer nur Frau Sumidas Katze hergelotst und nicht diese innere Unruhe. Ich atmete einige Male tief durch, mein Blick wanderte zu den Fenstern ihrer Wohnung. Alles wirkte normal. Was hatte ich auch erwartet? Über mich selbst den Kopf schüttelnd, wechselte ich die Straßenseite und steuerte zielstrebig auf den Durchgang zum Hinterhof zu, in dem der Eingang zum Haus lag. Plötzlich stockte ich mitten im Schritt, wandte abrupt den Kopf nach rechts. Aus den Augenwinkeln hatte ich etwas bemerkt, das hier eindeutig nicht hingehörte. Langsam trat ich einige Schritte zurück. Mein Herz setzte einige Schläge aus, während ich auf das schwarze Auto starrte, das halb versteckt in der schmalen Gasse neben Frau Sumidas Haus stand. Entweder war einer von ihren Nachbarn zu überraschendem Reichtum gekommen oder irgendwer hatte sich verfahren. Ohne weiter groß darüber nachzudenken, lief ich schnell zu dem Durchgang, verharrte dann im Halbdunkel, um einen vorsichtigen Blick auf die Haustür zu werfen. Aus der Entfernung war nicht viel zu erkennen, aber es schien, als wäre sie nur angelehnt. Mein Puls beschleunigte sich, als ich die anderen Hauseingänge betrachtete, die vom Hinterhof abgingen. Alles wirkte normal, wie immer. Dennoch machte sich ein Gefühl in mir breit, das ich nur zu gut von früher kannte. Als Polizist hatte mich diese unterschwellige Nervosität, gemischt mit einer leichten Aufgekratztheit fokussierter handeln lassen. Auch jetzt noch trieb sie meinen Herzschlag in die Höhe, meine Nackenhaare stellten sich auf. ‚Ganz ruhig, alles gut‘, versuchte ich mich in einem immer wiederkehrenden Mantra zu beruhigen, während ich auf Frau Sumidas Tür starrte und meine nächsten Schritte plante. Im besten Fall machte ich mich hier gerade einfach nur lächerlich, wie ich agentenmäßig im Durchgang lauerte. Aber wenn - Um ein Haar hätte ich aufgeschrien, als mich etwas am Bein berührte und mich vollkommen unerwartet aus meiner Anspannung riss. Im letzten Moment unterdrückte ich den Laut, mein Blick schnellte nach unten, von wo aus mir grüne Katzenaugen ebenso erschrocken, wie ich mich fühlte, entgegensahen. Mila. Erleichtert atmete ich auf und ließ mich etwas umständlich in die Hocke sinken. „Na, bist du wieder auf Mäusejagd oder wolltest du mich nur begrüßen?“, flüsterte ich, während meine Finger durch das weiche Fell glitten. Wie zu erwarten, bekam ich außer einem leisen Schnurren keine Antwort, doch so hatte ich Zeit, mich etwas zu beruhigen und meinen rasenden Puls zu bändigen. Noch so eine Aktion und ich bekam einen Herzinfarkt, dessen war ich mir sicher. Doch ich kam nicht zur Ruhe, denn gleich darauf schubste ein lautes Poltern mein Herz erneut Richtung Infarkt. Ich schoss in die Höhe, drückte mich an die kalte Backsteinwand. Das Geräusch war eindeutig aus Frau Sumidas Haus gekommen. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlich ich näher. Die Tür war wirklich nur angelehnt und ließ sich ohne Probleme öffnen. Ein flüchtiger Blick zurück zeigte, dass Mila immer noch im Hinterhof saß und mir mit Argusaugen folgte. Besser sie blieb da. Leise trat ich ein und lehnte die Tür hinter mir an. Ich brauchte einige Sekunden, um mich an das diffuse Licht drinnen zu gewöhnen. Früher waren beide Wohnungen in diesem Haus bewohnt gewesen, inzwischen stand das Erdgeschoss leer und hüllte sich in völlige Schwärze. Schemenhaft erkannte ich die Treppe, die eine Etage höher zu Frau Sumidas Wohnung führte. Von dort drangen Geräusche und gedämpfte Stimmen. Vorsichtig folgte ich den Stufen nach oben, betete, dass das alte Holz nicht plötzlich laut knarrte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Die eigentliche Wohnungstür stand einen Spalt offen, ein schmaler Lichtspalt erhellte die Stufe vor mir. Ich blieb stehen, umklammerte mit meinen schweißnassen Händen das Geländer, in meinen Ohren rauschte es. Unzählige Male war ich bereits hier gewesen, doch noch nie war mir das Haus so kalt und bedrohlich vorgekommen. Ich löste mich mühsam aus meiner Starre und nahm die letzten Stufen. Früher wäre ich mit gezückter Waffe vorangestürmt und hätte die Tür ohne Rücksicht auf Verluste eingetreten. Doch das war Jahre her. Weder waren meine Nerven aktuell ausreichend stark für so eine Aktion, noch hatte ich eine Waffe. Und den Stimmen zufolge, die jetzt deutlicher aus der Wohnung drangen, hatte ich es mit mehreren Männern zu tun. Mindestens drei, den unterschiedlichen Sprechweisen nach. Ich verstand nicht, was sie sagten, nur vereinzelte Wortfetzen drangen durch das Rauschen in meinen Ohren. Von Frau Sumida war nichts zu hören. Inständig hoffte ich, dass sie gar nicht da war. Vielleicht doch unterwegs zum Einkaufen, obwohl mir ein leises Stimmchen in meinem Hinterkopf etwas anderes zuraunte. Was konnte ich tun? Hineinstürmen? Gegen drei Kerle hatte ich kaum eine Chance, dazu war ich zu lange aus der Übung. Wieder krachte etwas hinter der Tür, Glas splitterte. Jemand fluchte. „Wo ist das -“ Der restliche Satz ging in einem weiteren Krachen unter. Doch der Lärm katapultierte mich zurück in die Realität, die schnellen Schritte, die sich der Tür näherten, zwangen mich zum Handeln. Hastig trat ich nach rechts in den kurzen Flur, der bei einem bodenlangen Vorhang, hinter dem sich die Vorratsnische verbarg, und dem ehemaligen Gemeinschaftsbad endete. Keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Wie in Zeitlupe sah ich durch den erleuchteten Spalt einen breiten Schatten auf die Tür zusteuern. Gleichzeitig griff ich geistesgegenwärtig nach dem Vorhang, schlüpfte darunter und ließ mich in die Hocke sinken. Keine Sekunde später hörte ich, wie die Tür unsanft die Wand traf und sich schwere Schritte näherten. Wie versteinert hockte ich da, lauschte mit angehaltenem Atem. Was tat ich hier? Ich kam mir vor wie ein Feigling, konnte mich einfach nicht bewegen. Was war mit Frau Sumida? Ich starrte in das Dunkel um mich herum, versuchte ein erschrockenes Zusammenzucken zu verhindern, als unweit von mir die Badezimmertür aufgestoßen wurde. Kurz darauf schepperte es. Wollten die die gesamte Etage kurz und klein schlagen? Das konnten keine normalen Einbrecher sein, besonders nicht bei dem Lärm, den sie veranstalteten. Oder ihnen war alles egal. Minutenlang saß ich mit klopfendem Herzen und zusammengekniffenen Augen hinter dem Vorhang, die Regalbretter drückten schmerzhaft in meine Seite, und verfluchte mich selbst. Wieso tat ich nichts? Wieso hatte ich keine Waffe mehr oder hatte mir nie eine vom Schwarzmarkt besorgt? „Hier ist nichts!“, brüllte es mit einem Mal neben mir und diesmal zuckte ich deutlich zusammen. Doch die Dunkelheit des Flurs gab mir Schutz oder der andere hatte es einfach nicht bemerkt, denn seine Schritte entfernten sich schnell wieder. Plötzlich brachen die Geräusche ab, hektische Schritte waren zu hören, etwas Schweres landete auf dem Boden und wurde darüber geschleift. Ich wagte es nicht zu atmen, spitzte dafür die Ohren und versuchte über das Rauschen hinweg, die Stimmen zu verstehen. „Wo ist es?“ Etwas Hartes traf auf die Dielen. „Nochmal: WO IST ES?!“ Sekundenlang herrschte Schweigen, dann hörte ich etwas, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Frau Sumidas Stimme. „Das geht euch nichts an.“ Ein kurzes Auflachen erklang. „Alte, ich hätte dich ja eigentlich am Leben gelassen…“ „Das glaubst du doch selbst nicht.“ Ihre Stimme war fest und ruhig. Zu ruhig. „Zum letzten Mal: Wo hast du die Sachen versteckt?“ Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Langsam erhob ich mich in meinem Versteck. Was, wenn ich rausstürmte und Krach machte, um die Typen abzulenken? Oder doch einfach - Frau Sumida unterbrach meine rasenden Gedanken. „Fahrt doch zur Hölle und nehmt sie alle gleich mit.“ „Du hast es nicht anders gewollt!“ Ehe ich reagieren konnte, ertönte ein mir nur allzu bekanntes Klicken und ein ohrenbetäubendes Knallen zerriss die Luft. Ich hatte das Gefühl, die Zeit stand still. In meinen Ohren rauschte und klingelte es gleichzeitig. Die schweren Schritte, die die Treppe hinab polterten, das Krachen der Haustür registrierte ich kaum. Alles um mich herum war dunkel, mein Herz schien seinen Dienst quittiert zu haben. Dann war es totenstill. Für Minuten stand ich bewegungsunfähig da, konnte mich nicht rühren. Nur ganz langsam lichtete sich der Schleier um mich herum. Eine Ewigkeit verging, bis ich mich schließlich hinter dem Vorhang hervorwagte. Wie in Trance ging ich die wenigen Meter bis zur Wohnung, die Tür stand weit offen. Betäubt betrachtete ich das Chaos, das sich vor mir auftat. Alles zerstört. Es hingen nur noch wenige Bilder an den Wänden, die meisten lagen zertreten auf dem Boden inmitten der unzähligen Bücher, ausgerissene Seiten überall. Sie hatten das deckenhohe Regal umgeworfen. Die Sofapolster und Kissen lagen aufgeschlitzt und verstreut im Raum, Federn bedeckten die Möbel. Allmählich kam wieder Leben in mich. Die Zerstörung rutschte in den Hintergrund, nur ein Gedanke beherrschte mein Bewusstsein. Wo war Frau Sumida? Ich fand sie hinter dem Sofa: Seitlich auf dem Boden liegend, die Arme hinter dem Rücken an einen Stuhl gefesselt, auf dem sie gesessen hatte, bevor er umgekippt war. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich den Atem angehalten hatte, erst jetzt, als ich nach Luft schnappte, fiel es mir auf. Die Welt um mich herum, die eben noch erstarrt war, fing plötzlich an zu rasen. „Frau Sumida!“ Mit nur wenigen Schritten war ich bei ihr. Warum hatte ich nicht -? Die Augen waren geschlossen, ihr Gesicht sah beinahe friedlich aus. Nur die hässliche Wunde und das dunkelrote Rinnsal, das von ihrer Schläfe über ihre Stirn auf den Boden tropfte, zerstörten das Bild. „Frau Sumida…“ Ich hatte das Gefühl, mein Herz wurde aus der Brust gerissen, als ich mich neben ihr auf die Knie fallen ließ. Schmerz breitete sich langsam in meinem Körper aus. Wie Gift lähmte er mich, ließ alles andere verschwimmen. Nur Frau Sumida blieb klar vor meinen Augen, ihr lebloses Gesicht vermischte sich mit ihrem stets Lächelnden. Es passte nicht überein. Wieso nur -? Ich war zu sehr in mir selbst gefangen, als dass ich die Schritte bemerkte, die die Treppe nach oben kamen. Erst eine kräftige Hand, die nach meiner Schulter griff und mich halb herumdrehte, zerrte mich zurück in die Realität. „Hey, was tun Sie hier?“ Kapitel 6: ----------- Kapitel 6 „Hey, was tun Sie hier?“ Was? Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, in meinem Kopf herrschte Chaos. Verwirrt blinzelnd starrte ich auf den Mann vor mir, spürte die Hand auf meiner Schulter, die Tonnen zu wiegen schien und mich regelrecht an Ort und Stelle festnagelte. Ich verstand nicht. Wer -? Wie durch einen Schleier sah ich, dass er mit mir sprach, doch ich war unfähig zu reagieren. Nur ganz langsam klärten sich mein Blick und die Welt um mich herum und damit auch das Gesicht vor mir. Es kam mir vage bekannt vor. Wie kam er hierher? Ich brauchte etwas, um ihn zuordnen zu können. In meinem Kopf herrschte immer noch diese drückende Leere, die jeden sinnvollen Gedanken verbannte und es unangenehm in meinen Ohren rauschen ließ. Verständnislos sah ich ihn an, beobachtete, wie er sich mit einer Hand durch die dichten, schwarzen Haare fuhr, mich nicht aus den Augen ließ, während sich seine Lippen bewegten. Die Worte erreichten mich nicht. In meinem Kopf dröhnte es, mein Herz schlug hart von innen gegen den Brustkorb, während sich mein Körper so anfühlte, als gehörte er nicht mir. Die ganze Situation überforderte mich. Ich spürte, wie der Griff um meine Schulter stärker wurde. „Niikura-San?“ Leise wie aus weiter Ferne. Heftig blinzelte ich, versuchte das Brennen in meinen Augen und das Rauschen zu vertreiben. Was zur -? Nach und nach kehrte das Gefühl in meinen Körper zurück und mit ihm die Erkenntnis, dass hier gerade etwas ganz und gar falsch lief. Mein Herz setzte ein weiteres Mal aus, nur um anschließend weitaus schneller weiterzuschlagen als zuvor. Unbewusst hatte ich die Luft angehalten. Nun zwang sie sich krampfhaft zurück in meine Lungen. Ich konnte ein lautes Japsen nicht verhindern, während mir gleichzeitig kurz schwindlig wurde. Dabei starrte ich immer noch auf den Mann vor mir, der mir in diesem Moment wie ein Anker vorkam, in einer Welt, die an mir vorbeizurasen schien. Seine Konturen wurden schärfer, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Ich wusste, dass ich ihn kannte, immerhin hatte er mir vor über einer Woche unaufgefordert seine Karte in die Hand gedrückt. In meinem Hirn ratterte es, während die Welt um mich herum immer klarer und lauter wurde. Andou? Nein, das war der Braunhaarige gewesen. Hara? Ja, Hara. Der, der mich mit seinem dämlichen Grinsen beinahe auf die Palme gebracht hatte. Diesmal grinste er nicht. „Was machen Sie hier?“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Dennoch schaffte sie es, mich endlich gänzlich aus der Erstarrung zu holen. Die dunklen Augen musterten mich eingehend, dabei machte er keine Anstalten seinen Griff zu lösen. Der schien sogar noch fester zu werden, als wollte er verhindern, dass ich jede Sekunde aufspringen und abhauen würde. „Gegenfrage: Was machen Sie hier? Und was ist passiert?“ Er sprach ruhig mit dieser warmen, weichen Stimme, trotzdem war die letzte Frage wie ein Eimer eiskaltes Wasser. Das Gefühlschaos, die Bilder der vergangenen Minuten stürzten erneut auf mich ein, ließen mich erschrocken keuchen. Mein Blick schnellte zur Seite. Frau Sumida! Da lag sie – unverändert, regungslos, eine Armeslänge von mir entfernt. Mit einem Schlag wich die restliche Leere in mir etwas anderem: Wut. Eine Wut, die ich schon lange nicht mehr verspürt hatte und die mich komplett in die Realität zurückkatapultierte. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich geschrien, doch kein Laut kam über meine Lippen. Ich starrte auf ihr lebloses Gesicht, ein unkontrollierbares Zittern breitete sich in meinem Körper aus. Diese Schweine! Wenn ich die - Mit einem Mal zuckte ein heftiger Schmerz durch meine Schulter, gleichzeitig wurde ich herumgezerrt. „Niikura-San!“ Etwas blitzte in den dunklen Augen vor mir auf. „Nochmal: Was tun Sie hier?“ Die Weichheit war aus seiner Stimme verschwunden, machte einem Drängen Platz. Jetzt erst wurde mir das komplette Ausmaß der Situation bewusst und wie es auf Außenstehende wirken musste. Die verwüstete Wohnung, Frau Sumidas lebloser Körper, ich neben ihr inmitten des ganzen Chaos'. Und dann noch entdeckt von jemandem, für dessen Vorgesetzten ich schon seit Jahren ein Dorn im Auge war. Scheiße! „Ich…“, setzte ich an, aber unterbrach mich gleich wieder. Was sollte ich antworten? „Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, dass ich damit nichts zu tun habe?“, brachte ich tonlos hervor, versuchte gleichzeitig mein hämmerndes Herz und die Wut unter Kontrolle zu bekommen. Ich wollte nicht aufs Revier, wollte nicht in einer der Zellen bis zum Verhör versauern. Das kannte ich schon. Sie würden mich zappeln lassen. Auf eine mildere Behandlung, gerade weil ich hiermit nichts zu tun hatte, brauchte ich nicht zu hoffen. Dafür war ich zu vielen Leuten auf den Schlips getreten und dass sie es in den letzten fünf Jahren vergessen hätten, glaubte ich nicht. „Ja.“ Was? „Ja, ich glaube Ihnen.“ Dass ich überrascht war, war gar kein Ausdruck. Ich hatte schon die Handschellen um meine Handgelenke klicken hören. „Aber… Warum?“ Die Worte hatten meinen Mund schneller verlassen als ich über sie nachdenken konnte. Hara blickte mich nun seinerseits einige Sekunden lang überrascht an, ehe er ein Schnauben verlauten ließ. Sein Blick zuckte hinter mich, zu Frau Sumida. Ein bitterer Zug ließ seine Mundwinkel verhärten. „Das ist nebensächlich. Nennen Sie es Eingebung, Niikura-San.“ Die Hand verschwand von meiner Schulter, griff dafür nach meinem Oberarm und zog mich mit sich nach oben, als er aus seiner Hocke erhob. Noch bevor ich weitere Fragen stellen konnte, fuhr er fort: „Sie verschwinden jetzt. Noch hat Sie hoffentlich keiner gesehen, was das Ganze sonst unnötig kompliziert machen würde.“ Er ließ meinen Arm los und holte ein Handy aus der Jackentasche hervor. „Ich muss meine Kollegen anrufen, dann wird‘s unangenehm.“ Sein Gesicht verfinsterte sich, während er wählte und das Handy ans Ohr hob. Einen Moment lang sah er mich mit gerunzelter Stirn an, doch ehe er noch etwas sagen konnte, wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen. In wenigen Sätzen schilderte Hara die Situation – ohne mich mit nur einer Silbe zu erwähnen – und legte wieder auf. „Los jetzt! Gehen Sie nach Hause und warten Sie dort!“ * Wie ich es ins Büro geschafft hatte, wusste ich nicht. Kaum hatte ich Frau Sumidas Wohnung verlassen, war alles erneut auf mich eingestürzt. Die Bilder, die Geräusche hatten mir die Sicht vernebelt, die Gedanken getrübt und dazwischen immer wieder die Frage nach dem Warum. Warum hatte ich es nicht verhindern können? Warum war ich nicht hineingestürmt? Und warum überhaupt das Alles? Nun saß ich hier an meinem Schreibtisch und starrte auf die Wand, die an einigen Stellen bereits ihren Putz verlor. Dass Rina ihren großen Kopf auf meinen Schoß gebettet hatte, bekam ich nur unterbewusst mit. In mir kämpften hilflose Leere und Wut um die Vorherrschaft, meine Gedanken rasten, ich konnte keinen von ihnen richtig greifen. Was für eine verfluchte Scheiße! Und zwischen dem ganzen Chaos in meinem Kopf tauchte ständig das Bild von Frau Sumidas leblosem Körper auf, das mir die Kehle zuschnürte. Es war nicht das erste Mal, dass mir der Tod begegnete, bei weitem nicht. Nur war es das erste Mal seit langem, dass er mir so nahe ging. Seit fünf Jahren um genau zu sein. Gewaltsam versuchte ich die Erinnerungen an Ren und Saki, das kleine Mädchen, zurückzudrängen, die unwillkürlich wieder in mir aufzusteigen drohten. Und dann auch noch Frau Sumida… Nein! Es reichte! Mit einem Ruck stand ich auf, so plötzlich, dass Rina erschrocken aufbellte und sich unter den Schreibtisch verzog. Ich musste irgendetwas tun, mich ablenken, bevor mich die Bilder der Vergangenheit zu ersticken drohten. Automatisch trat ich an die Kaffeemaschine, drückte den großen, runden Knopf, in der Hoffnung, mit meinem geliebten Heißgetränk wenigstens etwas meine Nerven beruhigen zu können. Nur machte ein klägliches Piepen mein Vorhaben zunichte. Augenblicklich fing meine Hand an zu zittern, als ich auf die Anzeige starrte, die auf den leeren Bohnenbehälter hinwies. Scheiße! Bittere Galle stieg in mir auf, ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen, während Frau Sumidas milde lächelndes Gesicht vor meinem geistigen Auge auftauchte. Richtig, genau deshalb hatte ich mich ja erst auf den Weg zu ihr gemacht. So eine verfluchte Scheiße! Meine Augen brannten. Ich wollte nicht so reagieren, wollte nicht, dass mich jeder Gedanke daran aus der Bahn warf. Derart emotional war ich für gewöhnlich nicht, ich erkannte mich selbst kaum wieder. Bemüht tief durchatmend trat ich ans Fenster, riss es auf, um anschließend davor auf den Schreibtischstuhl zu sinken. Mein Blick irrte ziellos nach draußen. Für einen Moment erlaubte ich es mir, die Erinnerungen zuzulassen. Das Gefühl des Verlustes ließ mein Herz krampfen und machte mir das Atmen schwer. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie nah wir uns gestanden hatten. Frau Sumida war immer irgendwie dagewesen. Die ganzen Jahre über, seit ich hierhergezogen war. Auch wenn ich nicht viel über sie wusste, sie war eine Konstante in meinem Leben gewesen, wie ein Teil einer kleinen Familie. Und nun war sie weg. Mit einem Seufzen riss ich mich von dem grauen Regenwetter vor dem Fenster los und blickte auf Rina hinab, die leise winselnd neben mir saß und mich aus großen, treuen Hundeaugen ansah. Es war, als wüsste sie, was in mir vorging, und wollte mich nun trösten. Ein kleines, wehmütiges Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln, als ich mich etwas aufrichtete und ihr mit der Hand über den Kopf streichelte. „Ach, mein Mädchen… Du bleibst bei mir, oder?“ Das Winseln wurde lauter. Ich konnte nicht anders, als mich zu ihr hinab zu beugen, meine Arme um ihren Körper zu schlingen und das Gesicht dagegen zu drücken. Sie hielt ganz still, während ich die Augen schloss. Ach, das war doch alles Scheiße... * Es hatte länger gedauert, als ich gedacht hatte. Viel zu lange. Mittlerweile fing es bereits an, zu dämmern. Außer Atem blieb ich vor dem alten Backsteingebäude stehen und warf einen prüfenden Blick die Straße entlang, ehe ich die knarrende Eingangstür aufdrückte und mich schnell ins dunkle Treppenhaus schob. Erst jetzt gönnte ich mir ein paar Sekunden zum Durchatmen. Es hatte sich wie eine schiere Ewigkeit angefühlt, bis die Kollegen von der Mordermittlung und der Spurensicherung eingetroffen waren. Wenigstens hatte mir das genügend Zeit gegeben, Dai kurz über die neuesten Entwicklungen in Kenntnis zu setzen und meine Aufgekratztheit so weit wieder in Professionalität zu verwandeln, um Shiroyamas misstrauischen Blick zu entgehen. Hätte mir noch gefehlt, wenn der sich gleich als Erstes auf mich stürzte. Was musste der auch überall dabei sein? Glücklicherweise gab es am Tatort genug zu tun, um ihn zu beschäftigen und mich nicht zur Weißglut zu treiben. Seufzend löste ich mich von der Haustür, an der ich gelehnt hatte, und sah mich um. Bei meinem ersten Besuch hier hatte ich dafür kein Auge gehabt. Selbst im diffusen Licht, das durch die schmalen Fenster der Zwischenetage hineindrang, wirkte das Treppenhaus schäbig. Überall blätterte der Putz von der Decke. Dass die Lampen funktionierten, bezweifelte ich stark, weshalb ich gar nicht erst nach einem Lichtschalter Ausschau hielt. Hinter der Tür schräg links von mir klapperte es gedämpft, ansonsten war es still. Anscheinend der Vermieter, wenn ich mich recht erinnerte. Langsam setzte ich mich in Bewegung, nahm angespannt die ersten Stufen in die oberen Etagen. Da war selbst das Treppenhaus der alten Frau schöner gewesen. Automatisch glitten meine Gedanken wieder ab. Es war nicht der erste Tatort gewesen, zu dem ich gerufen worden war. Schließlich war das mein Job. Nur war das Ausmaß der Verwüstung ein anderes als üblich. Fast die komplette Wohnung war zerstört gewesen, kaum ein Möbelstück stand mehr dort, wo es hingehörte. Entweder hatte jemand große Freude an genereller Zerstörung gehabt oder nach etwas Bestimmtem gesucht, ohne Rücksicht auf Verluste. Blieb die Frage, ob er es gefunden hatte. Doch was mich im Moment viel brennender interessierte: Was um Gottes Willen hatte Niikura dort gemacht? Es war ein kleiner Schock gewesen, als ich ihn neben der Leiche hatte knien sehen und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Schlimmste angenommen. Diese Befürchtung hatte sich glücklicherweise schnell wieder verflüchtigt. Der Chief hätte sicher drauf bestanden, ihn sofort wegen Mordes festzunehmen. Für ihn hätte es gereicht, dass sich Niikura überhaupt am Tatort befunden hatte. Aber scheinbar hatte ihn niemand gesehen, wie die ersten Befragungen der wenigen Nachbarn ergeben hatten, und diese Tatsache nahm mir wenigstens in diesem Punkt eine Teil der Last von den Schultern. Er konnte es nicht gewesen sein, davon war ich fest überzeugt. Nicht mit diesem Gesichtsausdruck, mit dem er mich angesehen hatte, als ich ihn fand. Das war kein Theater gewesen. Die Dielen unter meinen Schuhen knarrten, als ich den dunklen Gang im ersten Stock entlangging. Rechts von mir befand sich eine unauffällige Tür, die anscheinend zu einer weiteren Wohnung führte. Dahinter war es still. Bedächtigen Schrittes hielt ich auf die Tür am Ende des Ganges zu. Es fühlte sich an, als wären Monate vergangen, seit ich hier gewesen war, dabei war es gerade einmal eine Woche her. Eine gewisse Unruhe machte sich in mir breit, je näher ich kam. Schwacher Lichtschein drang durch die milchige Scheibe, auf der in großen Lettern ‚Detektei Niikura Kaoru‘ stand. Wie würde er reagieren? Ich konnte ihn gerade überhaupt nicht einschätzen. Bei unserer ersten, offiziellen Begegnung hatte sich das Bild, das ich seit Jahren von ihm hatte, bestätigt. Er war eine Kämpfernatur, auch wenn er das wohl von sich selbst nicht sagen würde. Aber seine aufbrausende Art und sein fester Blick trogen nicht. Er wirkte in dem, was er tat, aufrichtig. Und obwohl er Dai und mich an dem Tag vermutlich am liebsten achtkantig rausgeworfen hätte, konnte ich nicht anders, als ihn sympathisch zu finden. Auch wenn das sicher nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Ein flüchtiges Schmunzeln zupfte an meinen Mundwinkeln, das augenblicklich wieder verschwand, als ein anderes Bild in meinem Kopf erschien. Wie er dort neben der alten Frau gekniet hatte, inmitten des ganzen Chaos', die Augen leer, der Körper komplett unbeweglich. Er hatte so anders gewirkt, ein Schatten seiner Selbst – etwas, das ich nicht erwartet hatte und das eigentlich nur zeigte, das er dem Opfer sehr nahe gestanden haben musste. Zögerlich hob ich die Hand und klopfte. Ich hatte vom letzten Mal gelernt und noch einmal wollte ich nicht unvorbereitet dieser großen, zähnefletschenden Bulldogge gegenüberstehen. Doch wider Erwarten antwortete mir nur Schweigen. Stirnrunzelnd klopfte ich noch einmal, doch als weiterhin keine Reaktion kam, drückte ich einfach die Klinke runter. „Niikura-San?“ Ein Schwall kalter Luft mit einem Hauch von abgestandenen Zigaretten kam mir entgegen, als ich die Tür öffnete. Noch im Eintreten sah ich mich flüchtig um, alles wirkte unverändert, auch wenn dieses Mal die Fenster sperrangelweit geöffnet waren. Der große Schreibtisch stand davor, dominierte den Raum, an den Wänden waren Regale angebracht, gefüllt mit allerlei Büchern und Ordnern. Von persönlichen Gegenständen fehlte jede Spur. Aber für gewöhnlich gehörte so etwas auch nicht in ein Büro und ich schätzte Niikura auch nicht so ein, dass er an solchen Dingen hing. Während ich die Tür umsichtig hinter mir schloss, blieb mein Blick an dem großen Hundekorb in der Ecke hängen, von wo aus mich die Bulldogge aus wachen Augen beobachtete und ein leises Winseln von sich gab. So ruhig hatte ich sie nicht in Erinnerung gehabt. Langsam – nicht, dass sie es sich bei einer unbedachten Bewegung noch einmal anders überlegte und doch über mich herfiel – ging ich auf den Schreibtisch zu, hinter dem mich Schweigen empfing. Etwas, dass mich noch eine Spur unruhiger machte. Von Niikura sah ich nur den Hinterkopf. Er hatte mir den Rücken zugedreht und starrte anscheinend aus dem Fenster. Die langen, dunklen Haare hingen wirr über die Stuhllehne, so als wäre er unzählige Male mit den Fingern hindurchgefahren. Die Stille, die im Raum herrschte, war drückend, doch wusste ich nichts Sinnvolles zu sagen, um sie zu brechen. Wäre ich zu einem offiziellen Hausbesuch oder Verhör hier aufgetaucht, wäre es etwas anderes gewesen. Nur war es das heute nicht – jedenfalls nicht in diesem Sinne – und mir fehlte gerade ein dazu passendes Konzept. Natürlich wollte ich herausfinden, was passiert war, wie Niikura in die nächste Sache, die ihm das Leben schwer machen konnte, hineingeraten war. Aber ich konnte ihn nicht wie einen Verdächtigen oder normalen Zeugen behandeln. Die letzten Tag und Monate hatten mir wieder einmal gezeigt, was in dieser Stadt nicht stimmte. Und dass ich das nicht mehr einfach so hinnehmen konnte und wollte. Und wenn das bedeutete, dass ich den offiziellen Weg verlassen musste, mich über meine Vorgesetzten hinwegsetzen oder ihnen bestimmte Details verschweigen musste, dann war das eben so. Sekundenlang stand ich unbeweglich herum, starrte auf Niikura Hinterkopf und wartete auf eine Reaktion. Doch entweder er war in seiner eigenen Welt gefangen und hatte mich gar nicht registriert, oder er ignorierte mich schlicht und ergreifend. Als nach einer kleinen Ewigkeit immer noch nichts geschah und ich mir schon langsam albern vorkam, gab ich mir einen Ruck und ging zu einem der Regale. Irgendetwas musste ich schließlich tun. Die etwas in Jahre gekommene Kaffeemaschine, die dort auf einem der Regalbretter thronte, war startklar für den nächsten Koffein Nachschub, eine Tasse stand bereits darunter. Doch als ich ungefragt die Rolle des Gastgebers übernehmen wollte und den An-Knopf betätigte, gab die Maschine nur ein klägliches Geräusch von sich und ein rotes Lämpchen blinkte auf. Die Bohnen waren leer. Da weit und breit kein Nachschub zu entdecken war, nahm ich alternativ zwei Gläser vom Brett darüber und eine halbleere Flasche Wasser und stellte sie geräuschvoll auf dem Schreibtisch ab. Das leichte Zucken, das durch Niikura ging, überging ich geflissentlich, schenkte uns dafür ein und ließ mich in einem der beiden Besuchersessel vor dem Schreibtisch nieder. Jetzt war er an der Reihe, etwas zu tun. Er konnte mich ja nicht ewig ignorieren. Es dauerte noch einige Herzschläge, ehe Niikura sich endlich umdrehte und mich aus matten Augen ansah. „Sie kommen spät.“ Ich konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken, als ich nach meinem Glas griff. „Hat etwas länger gedauert, als ich wollte.“ Das Wasser schmeckte warm und abgestanden, doch ich ließ mir nichts anmerken. Ruhig erwiderte ich seinen Blick über den Rand des Glases hinweg. Das schwache Licht der Schreibtischlampe konnte seine Erschöpfung nicht verbergen. Die Lippen waren zu zwei blutleeren Strichen zusammengepresst, unter den Augen lagen dunkle Schatten, die beim letzten Mal noch nicht da gewesen waren. Das „Tut mir leid“ verließ meinen Mund automatisch, ohne dass ich groß darüber nachgedacht hatte. Ob es auf seinen Zustand, die Verspätung oder den Tod der alten Dame, die ihm unübersehbar nahe gestanden hatte, bezogen war, konnte ich selbst nicht sagen. Vielleicht auf alles. Aber anscheinend verstand er auch ohne weitere Erklärung, denn er sah mich nur ernst an, bevor er nickte und selbst einen Schluck Wasser trank. Sein angewiderter Gesichtsausdruck brachte mich zum Schmunzeln. Gleichzeitig merkte ich, wie sich der angespannte Knoten, der sich seit meinem Eintreffen hier in meiner Brust gehalten hatte, allmählich zu lösen begann. „Ich glaube, ich brauch etwas Stärkeres“, hörte ich ihn murmeln, doch anstatt aufzustehen und seinen Worten Taten folgen zu lassen, lehnte er sich seufzend zurück und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Ungewollt blieben meine Augen an den dunklen Linien, die seine Handrücken zierten, hängen. Die Ärmel seines weiten Pullovers waren nach oben gerutscht und gaben noch mehr Muster und Bilder auf seiner Haut preis. Vorher waren sie mir nie bewusst aufgefallen, obwohl sie eigentlich kaum zu übersehen waren. Aber gut. Ich versteckte mein Schmunzeln hinter einem weiteren Schluck Wasser. Es passte zu ihm, verlieh ihm etwas rebellisch Verwegenes. Was meine bisherige Meinung von ihm verstärkte. Erst als er sich gänzlich zu mir wandte und mir einen langen Blick zuwarf, fuhr ich ertappt aus meiner Betrachtung. „Eigentlich hatte ich damit gerechnet, sofort Handschellen umgelegt zu bekommen, wenn Sie hier auftauchen.“ Ich stutzte. „Warum sollte ich? Ich habe doch bereits gesagt, dass ich Ihnen glaube.“ Er schnaubte. „Schon, aber Meinungen können sich ändern. Besonders wenn gewisse Vorgesetzte einen Einfluss draufhaben.“ Schweigend hielt ich seinem Blick stand, während ich überlegte, wie weit ich mich vorwagen sollte. Würde er mir überhaupt glauben? Gut, er wusste, wie es auf dem Revier lief und dass sich in den letzten fünf Jahren etwas geändert hatte, war eher unrealistisch. Aber das war kein Grund, dass er mir vertrauen würde – nicht, wenn ich seine Meinung über die Polizei richtig einschätzte. Aber wann sollte ich anfangen mit offenen Karten zu spielen, wenn nicht jetzt? „Die wissen ja auch nicht alles… und werden es nie erfahren, wenn es nach mir geht.“ Er wirkte überrascht. Seine linke Augenbraue zuckte, während er mich musterte. Es war, als würde er mich zum ersten Mal richtig wahrnehmen. Ich ließ seine Musterung gelassen über mich ergehen. Das trockene „Aha“, das nach einem Moment der Stille folgte, klang nicht sonderlich überzeugt, aber ich hatte auch nichts Anderes erwartet. Ich musste das Ganze langsam angehen, besonders nach den letzten Tagen. „Hören Sie, Niikura-San: Wie ich schon sagte, ich glaube Ihnen. Und ich will Ihnen nichts Böses“, fügte ich noch schnell hinzu, obwohl es selbst in meinen Ohren lahm klang, aber irgendwie musste ich ja voran kommen. Erneut zuckte seine Augenbraue nach oben. „Ich bin inoffiziell hier, vielmehr aus privaten als aus beruflichen Gründen. Also wenn Sie mich irgendwo anschwärzen wollen, bekommen Sie jetzt die Gelegenheit dazu.“ Den Ausdruck, der über sein Gesicht huschte, konnte ich nur schwer deuten. Irgendetwas zwischen Überraschung, Unglauben und Misstrauen. Dennoch löste sich der Knoten in mir weiter, denn bisher hatte er mich noch nicht rausgeworfen und hörte mir zu, was ich einfach als gutes Zeichen ansah. Nach einigen Sekunden Schweigen stellte er die Frage, die ich bereits erwartet hatte: „Wieso waren Sie eigentlich bei Frau Sumidas Haus? Das ist nicht unbedingt ein Ort, an dem Polizisten für gewöhnlich Streife laufen, oder nicht? Und Sie sind kein Streifenpolizist, richtig?“ Da hatte er recht. Unwillkürlich erinnerte ich mich an das ungute Gefühl, als ich diesen dunklen Wagen aus der Einfahrt hatte kommen und davonrasen sehen. Einen Wagen, der mir in seiner Art bekannt vorkam und in dieser Gegend für gewöhnlich nichts zu suchen hatte. Vielleicht war es eine Vorahnung oder auch sogenannter Polizisten-Instinkt gewesen. Egal, was es war, es hatte mich in diesen Hinterhof, durch die einzig offenstehende Tür bis in diese Wohnung geführt. „Nennen Sie es Zufall, aber ich hatte heute sowieso zu Ihnen gewollt.“ Kurz und knapp fasste ich das Geschehene zusammen. „Warum haben Sie mich nicht verhaftet? Ihre Kollegen hätten sicher nicht gezögert, sondern erst gehandelt und dann gefragt.“ Ich kam nicht umhin über seine Einschätzung zu schmunzeln. „Sicher, aber ich bin schließlich nicht meine Kollegen. Und ich brauche ihre Hilfe.“ Ich versuchte mir die aufkeimende Anspannung nicht anmerken zu lassen und schlug die Beine übereinander. Würde er darauf eingehen oder sofort abblocken? Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn es in diesem Moment draußen geblitzt und gedonnert hätte, so filmreif, wie wir uns gerade gegenübersaßen. Er starrte mich eine Weile an, ich merkte, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann wandte er sich ab und sah wieder aus dem Fenster. Sein „Die hätte Frau Sumida auch gebraucht“ war so leise, dass es im beginnenden Prasseln des Regens, der die Fensterscheibe traf, beinahe unterging. Der Boden vor dem geöffneten Fenster fing in kürzester Zeit an, dunkel zu glänzen. Da Niikura nicht den Eindruck erweckte, als würde ihn das im Geringsten interessieren, erhob ich mich schnell, um das Fenster zu schließen. Augenblicklich wurde das Prasseln leiser. Ich wusste nicht, was mich dazu brachte, mich derart offen in einem fremden Büro zu bewegen und ich war mir auch sicher, dass die meisten Anderen so eine Aktion als unangebracht und unhöflich empfunden hätten. Denn prinzipiell konnte es mir egal sein, ob der Boden unter Wasser gesetzt wurde oder nicht, ich war nur Gast. Aber anscheinend störte Niikura mein Verhalten herzlich wenig. Er saß mit dem Rücken zu mir, starrte weiter aus dem Fenster. Unschlüssig blieb ich hinter ihm stehen, ehe ich mich seufzend gegen die Schreibtischkante lehnte und ebenfalls nach draußen sah. Oder es vielmehr versuchte, denn es war dunkel und alles, was ich sah, war mein eigenes Spiegelbild. Ich hatte das Gefühl, mich im Kreis zu drehen. Die Mauer, die Niikura um sich herum errichtet hatte, wirkte undurchdringlich. Aber dass ich gerade nicht sonderlich vorankam, lag durchaus an mir. Natürlich hatten Dai und ich einige Male darüber gesprochen, den offiziell vorgegebenen Pfad der Polizei zu verlassen. Wir wussten, dass im Revier etwas falsch lief, verschiedene Leute im Hintergrund ihre eigenen Fäden zogen, mit unbekanntem Ziel. Nur waren wir beide noch nicht bis auf den Kern des Ganzen vorgedrungen, hatten nicht einmal an der Oberfläche gekratzt, es dafür immer wieder vor uns hergeschoben. Doch dieser Fall des vermissten Terachi Shinya hatte etwas in uns zum Rollen gebracht, weshalb wir uns auch so reinknieten, ungeachtet der widersprüchlichen Befehle und Aussagen der oberen Etagen. Womöglich würde das Ganze unser persönlicher Feldzug werden, denn eines war klar: Wir wollten nichts mehr einfach so hinnehmen, hatten genug von dem Netz aus Intrigen und Korruption. Aber alleine konnten wir das nicht schaffen, das hatten die letzten Tage gezeigt. Wir brauchten Unterstützung von jemandem, der aus diesem Netz ausgebrochen war. Jemandem wie Niikura Kaoru. Allerdings hatte ich nicht gedacht, den Plan gleich heute anzugehen, sonst hätte ich mir vorher bereits passende Worte und Erklärungen zurechtgelegt. So stand ich nun da und verfluchte mich selbst dafür, dass in meinem Kopf gähnende Leere herrschte und mir jeder Ansatzpunkt als ungenügend erschien. Ich gab mir einen Ruck und sah meinem Spiegelbild fest in die Augen. „Es bringt nichts, sich Vorwürfe zu machen, Niikura-San.“ Sein Schnauben klang zynisch. „Was wissen Sie schon?“ Er drehte sich so schnell in seinem Stuhl herum, dass ich nur mit Mühe ein Zusammenzucken verhindern konnte. „Waren Sie dabei, als sie erschossen wurde? Nein!“ Er war wütend, aber es schien, als würde sich die Wut vielmehr gegen ihn selbst richten. Finster sah er mich an und sah dennoch gleichzeitig durch mich hindurch. „Können Sie beurteilen, ob mich keine Schuld trifft? Nein! Also behaupten Sie nicht, dass ich mir keine Vorwürfe machen soll! Ich hätte eingreifen müssen, statt unbeweglich in einer dunklen Ecke zu hocken wie ein Feigling.“ Diese Worte spie er geradezu aus. „Ich hätte diese Kerle wenigstens ablenken sollen, dann wäre sie vielleicht noch am Leben." Ich ließ seine Wut an mir abprallen, schließlich war sie nicht für mich bestimmt. Stattdessen fragte ich ruhig: „Sie haben gesehen, was passiert ist?“ „Gehört.“ Er wandte den Blick ab, starrte nun ebenfalls auf sein Spiegelbild im Fenster. Ein harter Zug lag um seinen Mund, eine Hand war zur Faust geballt. „Ich hätte reinstürmen müssen, statt mich zu verstecken.“ „Niikura-San, Sie sind nicht mehr bei der Polizei. Sie waren unbewaffnet. Wie hätten Sie gegen – wie viele – Männer antreten wollen?“ „Drei… glaube ich.“ „Sehen Sie.“ Ich löste mich von meinem Platz an der Schreibtischkante und trat ein paar Schritte zur Seite, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Besser so, denn ich spürte, wie mich seine Emotionen einzunehmen drohten und das durfte nicht passieren. Nicht, wenn ich noch etwas Professionalität wahren wollte. Eine Armeslänge vom Hundekorb entfernt ließ ich mich in die Hocke sinken und streckte vorsichtig die Hand aus, um der Bulldogge die Möglichkeit zu geben, mich zu beschnüffeln. Sie hob zwar kurz den Kopf, wirkte aber reichlich uninteressiert an mir und blinzelte nur träge. Keine Ahnung, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Dennoch blieb ich hocken und fuhr fort: „Schon in der Polizeischule lernt man, keine Alleingänge zu starten, egal, ob bewaffnet oder unbewaffnet. Das sollten Sie doch noch wissen.“ „Sie haben sich über mich informiert.“ Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Schmunzelnd erhob ich mich, ging langsam um den Schreibtisch herum und ließ mich wieder auf meinen alten Platz fallen. Der Sessel gab gefährlich knarrende Geräusche von sich, die ich aber ignorierte und einfach hoffte, er möge mein Gewicht halten. „Nein, ich wusste es schon vorher.“ Erneut wanderte Niikuras Augenbraue nach oben. „Ach, hängt mittlerweile ein Steckbrief von mir im Revier oder wie?“ Ich musste grinsen. „Vielleicht beim Chief im Büro.“ Wider Erwarten zuckten seine Mundwinkel ebenfalls, als er nach dem Wasserglas griff. Sein Blick lag prüfend auf mir, während er einen Schluck trank. Die Wut schien verschwunden, er wirkte eher interessiert als misstrauisch, was mich innerlich aufatmen ließ. Obwohl ich die Wut und die vorherige Lethargie verstehen konnte, war ich dennoch erleichtert, dass diese Phasen anscheinend vorerst vorbei waren und ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Vielleicht war er sogar ein wenig neugierig darauf, wer hier wirklich vor ihm saß. Zumindest hoffte ich das. „Sie erinnern sich sicher nicht, aber wir sind uns vorher schon einmal begegnet.“ „An letzte Woche kann ich mich noch ziemlich genau erinnern.“ Ich lachte kurz auf. „Davon bin ich ausgegangen. Nein, ich meine, als Sie noch im Polizeidienst waren.“ Ratlos schaute er mich an, so fügte ich ein schnelles „Ich habe auch nicht erwartet, dass Sie sich erinnern.“ hinzu. Ich setzte mich ein Stück gerader hin und sah ihm fest in die Augen. „Vorschlag: Bevor ich Ihrer Erinnerung etwas auf die Sprünge helfe, warten wir auf Dai…“ Fragend sah er mich an, so ergänzte ich: „Andou Dai, mein Kollege. Und bis dahin finden Sie vielleicht etwas anderes in den Tiefen Ihrer Schränke als dieses abgestandene Leitungswasser." Ich schaute flüchtig auf meine Armbanduhr. „Ach und kurzer Tipp, ich bin für heute offiziell außer Dienst.“ Nachwort: Vielen lieben Dank zunächst an die liebe darkyamimaru, die sich der Korrektur der bisherigen Kapitel angenommen hat Dankööö. Und nun? Ich hoffe, das Kapitel war nicht zu langweilig. Ich kann das selbst immer so schlecht einschätzen. Könnt ihr dem Ganzen folgen? Ist Kaorus, aber auch Toshiyas Denken und Handeln bisher nachvollziehbar? Gibt's Vermutungen? Fragen über Fragen *lach* Es wäre wie immer ein Traum, wenn ihr mir eure Meinung als Feedback hinterlasst. Das ist immer sehr hilfreich ^^ Und ich stelle fest, Kaoru flucht sehr viel... aber sei's ihm in der Situation gegönnt. Wer würde da nicht fluchen? *lach* Liebe Grüße und bis zum nächsten Kapitel Luna Kapitel 7: ----------- Kapitel 7 Nachdenklich starrte ich auf die drei leeren Gläser auf meinem Küchentisch. Die Kerze war fast komplett heruntergebrannt und glomm nur noch milde vor sich hin. Ansonsten war es dunkel in der Wohnung, Hara und Andou waren vor einer Viertelstunde gegangen. Inzwischen war es kurz nach zehn. Die Zeit war wie im Flug vergangen, ohne dass es überhaupt einer von uns bemerkt hatte. Der ganze Abend war irgendwie seltsam… anders gewesen. Ich konnte das Gefühl nicht einordnen, das seit Stunden in mir zu toben schien. Es war lange her, dass ich mich derart lebendig gefühlt hatte. Etwas hatte sich verändert und ich merkte, wie sich meine Mundwinkel gerade dauerhaft oben halten wollten. Es hatte noch eine ganze Weile gedauert, bis Andou schlussendlich im Büro aufgetaucht war. In der Zwischenzeit hatten Hara und ich angefangen, eine meiner guten Bourbon-Whiskey-Flaschen zu leeren. Der Alkohol spülte mich immer auf eine angenehme Art weich, all die Probleme und Vorkommnisse lasteten dann weniger schwer auf meinen Schultern. Das erste Mal Durchatmen für diesen Tag. Warum ich Haras Anwesenheit einfach geduldet hatte, ihm sogar zuhörte und Glauben schenkte, konnte ich nicht sagen, aber es hatte sich richtig angefühlt. Von meiner generellen Abneigung gegenüber den Beiden war nicht mehr viel übrig geblieben und das war sicher nicht nur die Schuld des steigenden Alkoholpegels. So waren wir kurz nach Andous Eintreffen ein Stockwerk höher in meine Wohnung umgezogen. Das Büro war mir in diesem Moment einfach zu groß und unpassend vorgekommen – in meiner Küche ließ es sich besser reden. Mit jeder verstreichenden Minute war die Stimme in mir, die mich vor ihnen warnte und mir zuflüsterte, ihnen nicht zu trauen, leiser geworden und schließlich ganz verstummt. Im Gegensatz zu ihrem Überfall die Woche davor, hatten sie mich diesmal auch nicht zur Weißglut getrieben, im Gegenteil. Vielleicht lag es am Stress des Tages, meiner geistigen und emotionalen Erschöpfung. Doch plötzlich waren sie nicht mehr die beiden unsäglich nervenden Cops gewesen, die ich ignorieren und auf der Stelle rauswerfen wollte. Nein, vor mir hatten zwei junge Männer gesessen, in denen ich mich zum Teil selbst wiedererkannte. Oder vielmehr mein Ich vor fünf Jahren: Ernüchtert, frustriert, kurz davor alles hinzuwerfen. Und dennoch kämpften sie weiter und machten damit den ersten Eindruck, den ich von ihnen gehabt hatte, zunichte. Von der Überheblichkeit, die ich erwartet hatte und die ihren Berufskollegen überlicherweise so eigen war, war nichts zu spüren gewesen. Und auch wenn sie zugaben, ab und zu die Vorschriften so auszulegen, wie sie wollten und brauchten, so taten sie es in einer Art, wie ich es selbst getan hätte und nicht für den eigenen Profit. Womöglich war genau das der Punkt, warum ich ihnen Glauben schenkte, als sie meinten, sie wollten mit mir zusammenarbeiten und unter dem Radar ihrer Vorgesetzten ermitteln. Klar, theoretisch konnten sie mir etwas vormachen, mich um den Finger wickeln und dann auflaufen lassen. Wobei… was würde es ihnen bringen? Zum einen hatte ich nichts zu verbergen und war auch sonst kein besonderes wichtiges Tier in dieser Stadt. Gut, vielleicht würden sie dem Arsch von Takayama einen Gefallen tun, wenn sie etwas gegen mich in der Hand hätten. Dann bekäme er womöglich endlich seine Rache für die gebrochene Nase, die ich ihm bei meinem Abschied verpasst hatte. Aber das glaubte ich nicht. Außerdem: Etwas zu verlieren hatte ich nicht. Ich besaß nur eine kleine, unbedeutende Detektei am Rande der Stadt, lebte von der Hand in den Mund und kam damit irgendwie durch. Vielmehr wegnehmen konnte man mir also nicht. Und große Ziele hatte ich seit Jahren keine. Hauptsache über die Runden kommen, vielleicht hier und da mal jemanden helfen, etwas fürs Gewissen und das gute Gefühl tun und das war's. Alles andere hatte bisher für mich keinen Sinn mehr gemacht, dafür hatten mich die vergangenen Jahre zu sehr desillusioniert. Und nun? Auf einmal tauchten da diese beiden Typen auf und appellierten an mein Gewissen und meine Berufsehre und das mit Erfolg, was mich wohl selbst am meisten überraschte. Seufzend griff ich nach der fast leeren Whiskyflasche, füllte den letzten Rest ins Glas und trank ihn in einem Zug leer. Es brannte in meiner Kehle, während sich gleichzeitig die wohlige Wärme in meinem Inneren verstärkte. Ich war fertig – fix und alle und bereit fürs Bett. Gleichzeitig war ich wiederum zu aufgekratzt, um schlafen zu können. In meinem Kopf schwirrte es wie in einem Bienenstock und da gab es so viele Dinge zu verarbeiten. Ungewohnt. Sonst war mein Leben ziemlich ereignislos und konstant, doch nun war alles irgendwie aus den Fugen geraten. Angefangen hatte es mit dieser blöden Visitenkarte, die im Zimmer dieses verschwundenen Jungen gefunden worden war und von der ich immer noch nicht wusste, wie sie dorthin gekommen sein sollte. Ich vergrub die Hände in den Haaren und schloss für einen Moment die Augen. Und dann Frau Sumida. Ich konnte nicht verhindern, dass sich das hässlich schmerzende Gefühl des Versagens und des Verlusts in mir breit machte. Zwanghaft versuchte ich die Selbstvorwürfe zur Seite zu schieben. Es brachte nichts. Andou, Hara und ich hatten das Geschehene die letzten Stunden zur Genüge durchgekaut. Auch wenn ich wusste, dass sie recht hatten und ich ihren Tod vermutlich nicht hätte verhindern können, mein Herz sagte mir etwas anders. Es zwickte und zwackte, schien mich anzuschreien: „Hättest du nur…!“ Sich in diesen Schuldgefühlen zu verlieren, holte sie aber auch nicht wieder zurück. Dennoch würde es wohl noch eine Weile dauern, das Ganze wenigstens zum Teil hinter mir zu lassen. Vergessen wollte ich nicht, dafür war Frau Sumida ein zu wichtiger Teil meines Lebens gewesen. Mit einem leisen Ächzen erhob ich mich von meinem Stuhl und ging zum Fenster, wo meine Zigaretten griffbereit lagen. Trotz des mäßigen Regens, der gegen die Scheibe trommelte, öffnete ich es einen Spalt breit. Wann würde es in dieser elenden Stadt endlich einmal nicht regnen? Schnaubend stieß ich den Rauch durch die Nase aus und beobachtete, wie er in kleinen Schwaden hinauszog. Wie hatte dieser Tag nur so viele Wendungen nehmen können? Noch am Morgen hatte ich das Gefühl gehabt, meine Welt sei stehengeblieben und plötzlich raste sie einfach so weiter. Diese Beiden… Hara und Andou. Schon bei unserer ersten Begegnung hätte ich eigentlich ahnen müssen, dass sie keine gewöhnlichen Cops waren. Nein, nicht unsere erste Begegnung. Wie ich heute erfahren hatte, war das unsere zweite gewesen, wobei ich mich beim besten Willen nicht an die erste erinnern konnte. Was auch nicht verwunderlich war: Die Beiden waren kurz bevor ich gekündigt hatte, in den Polizeidienst eingetreten. Zu dem Zeitpunkt hatte ich anderes um die Ohren gehabt, als mich auf neue Kollegen zu konzentrieren. Allerdings hatte sich mein wortreicher Abgang voller Verwünschungen und Vorwürfen anscheinend so sehr in ihr Gedächtnis gebrannt, dass er auch heute noch einen gewissen Einfluss auf die beiden ausübte, was mich durchaus stolz machte und mich insgeheim triumphieren ließ. Also jedenfalls was korrekte Ermittlungsarbeit und die eigentlichen Ziele der Polizei anging. Dennoch hatte die unumgängliche Desillusionierung auch vor ihnen nicht Halt gemacht und sie recht schnell an die Abgründe dieser Stadt und dieses Systems geführt. Tja, wenn jemand von oben nicht wollte, dass man weiterkam, dann kam man nicht weiter – egal, wie sehr man kämpfte oder wie brisant die Angelegenheit war. Aber Hara und Andou überraschten mich. Sie wollten weitermachen – und das nicht nur bei dem aktuellen Vermisstenfall – und wenn es sein musste, dann eben abseits der offiziellen Wege. Und dass sie mich dabei haben wollten, ehrte mich auf eine gewisse Art. Ich wusste gar nicht, womit ich dieses Vertrauen verdient hatte, besonders nachdem ich so abweisend zu ihnen gewesen war. Vielleicht gab genau dieses Vertrauen mir wieder Auftrieb. Ja, ich wollte etwas tun. Obwohl mich niemand mit dem Vermisstenfall betraut hatte und obwohl ich nicht einmal ansatzweise wusste, warum Frau Sumida ermordet worden war – ich wollte etwas tun. Ich konnte nicht mehr abwarten, bis die Cops wieder auf meiner Matte standen, vielleicht diesmal mit schwereren Anschuldigungen. Dass da irgendetwas vor sich ging, konnte keiner von uns leugnen. Genauso wenig, dass Frau Sumida nicht rein zufällig ermordet worden war. Wir sahen nur die Zusammenhänge noch nicht. Aber das würde kommen, inzwischen war ich da zuversichtlicher. Ich drückte die aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und schloss das Fenster, ehe ich die Kerze löschte und die Küche Richtung Schlafzimmer verließ. Heute brauchte ich nicht mehr nachzugrübeln. Mit einem übervollen Kopf käme sowieso nichts Gescheites heraus. Im Schlafzimmer angekommen stutzte ich, nachdem ich den Schalter der Nachttischlampe betätigt hatte, und blieb neben meinem Bett stehen. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich auf Rina hinab, die es sich äußerst bequem auf meiner Decke gemacht hatte und mich nun aus treudoofen Hundeaugen anblickte. Hallo? Wo gab's denn sowas? Ihr Hundekorb stand nicht zur Dekoration herum und das wusste sie auch. Aber scheinbar galt die aufgestellte Regel „Niemals in Kaorus Bett“ heute nicht. Nur konnte ich ihr nicht böse sein, selbst wenn ich es versucht hätte. Vielmehr zupfte ein verstecktes Lächeln an meinen Mundwinkeln. Dieser Hund… Ach, was soll's… Theatralisch seufzend unterbrach ich das ungleiche Blickduell, zog Hemd und Hose aus und ließ mich auf die Bettkante sinken. Ich hatte heute keinen Elan mehr, um noch wegen irgendetwas Banalem zu diskutieren und sei es mit meinem Hund über seinen Schlafplatz. Vielleicht wäre auch ein wenig Kuscheln heute gar nicht mal so schlecht. „Los, rutsch mal.“ Nachdrücklich schob ich sie ein Stück zur Seite und kroch unter die Decke. * Ein paar Tage später Die Stimmlage, mit der der Pastor seine Trauerrede herunterleierte, war derart einschläfernd, dass ich mich bereits vor Minuten geistig verabschiedet hatte. Mein Blick schweifte abwesend umher, glitt mal über die Anwesenden, dann zur Straße, an der vereinzelt Autos parken und von wo einige Leute aus sicherer Entfernung die Zeremonie verfolgten, und schließlich immer wieder über die allzu vertraute Grasfläche, aus der aller paar Meter kleine Steintafeln mit teils unleserlichen Inschriften ragten. Überall hin, nur nicht zu dem kleinen, dunklen Loch, das zu Frau Sumidas letzter Ruhestätte werden sollte und die sie sich von nun an mit zig Anderen teilte. Es war nicht das erste Mal, dass ich vor den Sammelgräbern des städtischen Friedhofs stand. Und wie jedes Mal hatte ich das Gefühl, sofort wieder gehen zu müssen. Das war doch scheiße… und viel zu endgültig! Ich konnte nicht verhindern, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog und ein Seufzen sich den Weg nach außen bahnte. Es waren wenige zur Beisetzung gekommen: Einige Anwohner, die ich nur flüchtig vom Sehen kannte, und eine handvoll Stammgäste des Cafés. Wir hatten uns kurz zur Begrüßung zugenickt, ansonsten hüllte sich jeder der Anwesenden in Schweigen. Was hatten uns auch zu sagen? Jeder lebte sein Leben für sich, ab und zu kreuzten sich die Wege, aber sonst hatte man nichts miteinander zu tun. Traurig eigentlich, besonders wenn man bedachte, dass es noch weniger werden würde – jetzt, wo Frau Sumidas Café für immer geschlossen blieb. Ich unterdrückte ein erneutes Seufzen, während ich nur am Rande mitbekam, wie der Pastor salbungsvoll von Nächstenliebe und Güte sprach. Alles zwecklos und machte das Geschehene auch nicht rückgängig. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle umgedreht oder hätte mich zu Andou und Hara gesellt, die wenige Meter entfernt unter einem der Bäume standen und die Zeremonie aus der Position der Unbeteiligten beobachteten. Einige Minuten später landete die erste Schaufel mit Erde in dem schmalen Loch und nun konnte ich nicht mehr wegschauen. Mit jeder weiteren Schaufel wurde mein Herz schwerer und hatte ich das Gefühl, dass sich Frau Sumida immer weiter von mir entfernte, obwohl sie schon längst gegangen war. Aber vielleicht half es, wenigstens etwas abschließen zu können. Himmel, wie ich Beerdigung hasste! Schließlich zeugte vom Grab nur noch ein frischer Erdhaufen, von dem in wenigen Monaten auch nicht mehr viel zu sehen sein würde, wenn sich erst das Gras seinen Platz zurückerobert hatte. Ach, das war doch alles Mist! Auch wenn Frau Sumida nicht mehr die Jüngste gewesen war, so ein Ende hatte sie nicht verdient. Ich löste mich aus der Runde der Trauergäste, während der Pastor seine Abschlussworte sprach, und folgte langsam einer Reihe von Grabsteinen Richtung Straße. Mein Blick glitt über die vielen Inschriften. Neben den unzähligen Namen stand auf manchen Steinen wiederum nur „Unbekannt“ – dahinter Striche, als hätte jemand Freude daran gehabt, durchzuzählen, wie viele der Toten keinen mehr hatten, der sich an sie erinnerte. Beschissenes Gefühl. Irgendwann blieb ich stehen, starrte auf den von Wetter gegerbten Stein vor meinen Füßen. Eine einsame, vertrocknete Rose lag davor. Die zwölf Namen waren gerade noch so zu entziffern, allerdings interessierte mich nur einer. Schnaufend ließ ich mich in die Hocke sinken, wischte einige Blätter von der feuchten Oberfläche, ehe ich dagegen klopfte. „Hey, Ren. Lange her, was?“ Zu lange, wenn man es genau nahm, denn seit der Beisetzung war ich höchstens zwei- oder dreimal hier gewesen. Gleichzeitig kam ich mir etwas albern vor, dass ich mit dem Grabstein sprach, als würde mir jemand antworten. Ich war nicht gläubig. Da sah keiner auf mich herab, beobachtete mich auf meinem Lebensweg, stand mir bei und richtete am Ende über mich. Nein, wer tot war, war fort, egal wie sehr man sich das Gegenteil wünschte. Und dennoch brauchte ich von Zeit zu Zeit das Gefühl, einen Teil meines Lebens mit jemanden, der mich von früher kannte, zu teilen. „Wer ist das?“ Ich zuckte zusammen, als eine leise Stimme hinter mir erklang. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Hara und Andou mir gefolgt waren. Mühsam schluckte ich den bitteren Geschmack in meinem Mund herunter, blickte noch einen Moment lang auf den Namen, ehe ich mich erhob. „Ren. Masada Ren, mein alter Partner aus dem Polizeidienst.“ Angespanntes Schweigen antwortete mir, als ich mich zu meinen neuen, inoffiziellen Partnern herumdrehte. Sie wirkten überrascht, wenn nicht gar betroffen, und starrten still auf den Grabstein. Scheinbar war das eine Information, die sie noch nicht gekannt hatten. „Er ist während einer Razzia bei einer Waffenschieberbande erschossen worden. Etwa ein halbes Jahr, bevor ich gekündigt habe.“ Ich begegnete kurz Haras Blick, Verstehen lag darin. Ja, es gab für alles einen Auslöser – oder gar mehrere. „Tut mir leid.“ Zwar galten die Worte anscheinend mir, doch Andou sah mich nicht an, sondern seinen Partner, so als hätte er noch etwas anderes sagen wollen. Ich ahnte, was in ihm vor sich ging. Eines der schlimmsten Dinge, die einem im Dienst passieren konnte, war es seinen Partner zu verlieren, besonders wenn man ein so eingespieltes Team war wie die beiden. Blieb nur stets das Beste zu hoffen. Ich trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ist schon lange her. Aber Danke.“ Ein kurzes Lächeln huschte über Andous Gesicht, ließ ihn dabei jungenhafter erscheinen. „Wie habt ihr so schön gesagt? Es bringt nichts, sich den Kopf über Sachen zu zerbrechen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.“ Synchrones Nicken antwortete mir. „Ja, ist trotzdem beschissen.“ „Bestreitet auch keiner.“ Erneut sah ich auf den Stein hinab, ehe ich mich endgültig abwandte und an den Beiden vorbei Richtung Ausgang steuerte. „Lasst uns gehen, bevor es wieder anfängt zu regnen.“ * Ein schaler Geschmack machte sich in meinem Mund breit, als ich auf das gelb-schwarz-gestreifte Absperrband starrte. Es nahm die Hälfte von Frau Sumidas Haustür ein und schien sich regelrecht auf meine Netzhaut brennen zu wollen. Mühsam drängte ich die unerwünschten Erinnerungen, an das, was passiert war, als ich das letzte Mal durch diese Tür gegangen war, zurück. Es schien Ewigkeiten her zu sein, dabei waren es erst wenige Tage. Seither hatten die Cops anscheinend den gesamten, übrigen Hausstand auseinandergenommen und aus dem Fenster geschmissen. Es sah aus wie auf einer Müllhalde. Diverse Möbelstücke verteilten sich im Innenhof, lieblos weggeworfene Bücher weichten in den Pfützen vor sich hin, Geschirr lagen zerbrochen herum. Da fehlten mir glatt die Worte. Wie kamen sie dazu, so mit den Sachen Verstorbener umzugehen? Ich hatte nicht übel Lust, jedem, der an dieser Schweinerei beteiligt gewesen war, persönlich in die Fresse zu schlagen. Ich wusste nicht, ob Frau Sumida Familie hatte, sie hatte nie etwas in die Richtung erwähnt. Und selbst wenn nicht, gab es den Bullen kein Recht dazu, so mit ihren Besitztümern umzugehen. Ich spürte, wie es in mir brodelte, gleichzeitig versuchte ich mich zu beruhigen, denn es brachte nichts. Wir konnten froh sein, wenn wir drinnen überhaupt noch Hinweise fanden. Frustriert schnaubend wandte ich mich von dem Chaos ab und sah zu Andou, der seit einigen Minuten vor der Haustür hockte und versuchte das Schloss aufzubekommen. „So ein Scheiß! Wir hätten echt den Schlüssel anfordern sollen“, hörte ich ihn leise fluchen, während Hara unbeteiligt daneben stand und den Blick über die angrenzenden Häuser des Innenhofs wandern ließ. Das Schloss war nach Beendigung der Ermittlungsarbeiten von den Cops ausgetauscht worden, um Unbefugten den Zutritt zu verweigern – was auch herausragend funktionierte, wenn man Andous Gemotze Glauben schenkte. Vielleicht hätten Hara und Andou sogar einen Antrag für eine weitere Durchsuchung des Tatorts gestellt, wenn wir nicht von vornherein gewusst hätten, dass Chief Takayama ihn nicht mal mit dem Arsch anschauen würde. Einfach aus Prinzip. „Wir werden beobachtet“, murmelte Hara und nickte dabei in die entsprechende Richtung. Ich folgte seinem Blick und sah gerade noch, wie sich die Gardinen in einem der Fenster ruckartig bewegten, als wäre jemand in diesem Moment davon zurückgetreten. Das fehlte uns noch, dass einer der neugierigen Nachbarn sich plötzlich auf seine Bürgerpflicht besann und die Bullen rief, obwohl es sie Tage zuvor auch nicht interessiert hatte, wer hier ein und aus ging. „Vielleicht solltest du klingeln und ihnen deinen Ausweis unter die Nase halten, zur allgemeinen Beruhigung.“ Eigentlich war das eher ein schlechter Scherz gewesen, doch Hara sah mich einen Moment lang schweigend an, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. Schließlich stieß er sich sogar von der Hauswand ab und griff schulterzuckend und mit einem Schmunzeln auf den Lippen in seine Jackentasche. „Gute Idee, sollte ich wirklich tun. Nicht, dass wir demnächst hier unerwünschten Besuch erhalten.“ Bevor ich reagieren und ihn aufhalten konnte, ging er mit gezückter Marke an mir vorbei und auf den gegenüberliegenden Eingang zu. „Lass dir Zeit, es kann noch etwas dauern“, rief ihm sein Kollege hinterher, ohne seine verzweifelten Versuche, das Schloss zu knacken, zu unterbrechen. „Ach, und Toshiya, vergiss dein charmantestes Lächeln nicht. Damit wickelst du die alten Ladies doch immer um den Finger.“ Die Antwort folgte als erhobener Mittelfinger, ehe Hara im Hauseingang verschwand und mich verdutzt zurückließ. So wortwörtlich hatte ich das nicht gemeint, aber vielleicht verschaffte uns das wirklich Zeit bei unserem illegalen Vorhaben. An die unkonventionelle Art der Beiden musste ich mich noch gewöhnen und definitiv aufpassen, was ich sagte. Die handelten schneller, als ich denken konnte. Dass wir das Schloss aufbrechen sollten, hatte ich auch nur im Nebensatz fallen lassen, während ich überlegt hatte, ob wir nicht durch eins der Kellerfenster klettern könnten. Nun gut. Wenige Minuten später war Hara nach erfolgreicher Mission zurück und das Schloss endlich offen. Derjenige, der am meisten darüber überrascht zu sein schien, war Andou selbst. „Nochmal mach ich so nen Scheiß nicht. Da klau ich lieber persönlich den Schlüssel aus dem Chefbüro“, meckerte er vor sich hin, während wir das dunkle Treppenhaus betraten. „Ich bin einfach nicht fürs Schlösser knacken gemacht. Hatte immer andere berufliche Ziele. Und überhaupt -“ „Wenn wir eh schon vom rechten Wege ankommen, könntest du ruhig mehr üben, Dai“, unterbrach Hara seinen Monolog. „Wer weiß, wann wir deine nicht vorhandenen Fähigkeiten das nächste Mal brauchen.“ „Ey, mach's doch selbst besser. Oder, ach nein. Nicht, dass die gefeilten Nägel drunter leiden.“ „Sagt der, der letztens rumgeheult hat, weil ihm ein Nagel eingerissen ist.“ So ging es in gedämpfter Lautstärke im Treppenhaus weiter. Ich sparte mir meinen Kommentar. Keine Ahnung, ob die beiden untereinander immer so waren, ob sie gerade einen besonders guten Tag hatten oder ob sie einfach versuchten, mich zu unterhalten. War auch egal, denn es gelang ihnen, mir ein amüsiertes Grinsen aufs Gesicht zu zaubern. Ich kam mir beinahe wie der Dienstälteste vor, der auf die Neulinge aufpasste und dabei stand weder ich im Dienst, noch hatten die Beiden frisch angefangen. Wenn das unser erster, gemeinsamer Einsatz war, konnte das heiter weitergehen. Aber es war nichts, worüber ich mich beschweren würde, denn sie besserten gerade sehr meine Laune und machten den Anblick von Frau Sumidas zerstörter Wohnung etwas erträglicher. Es herrschte noch mehr Chaos darin als auf dem Innenhof, aber nichts anderes hatte ich erwartet. Was die Mörder nicht von den Wänden gerissen hatten, war den absolut unfähigen Händen der Ermittler zum Opfer gefallen. Seufzend trat ich über einen zerschellten Bildrahmen im Eingang zur Wohnung hinweg und sah mich um. Es wirkte nicht so, als hätte sich überhaupt jemand die Mühe gemacht, ernsthaft Beweise zu sichern. Zwar hatte man den Umriss von Frau Sumidas Körper nachgezeichnet, bevor er abtransportiert worden war, aber das war's auch schon. Es tat beinahe weh, sich hier umsehen zu müssen. Ob die ganze Aktion heute überhaupt etwas brachte? „Ich bezweifle ja arg, dass wir noch was finden werden, das uns weiterhilft“, sprach Hara laut aus, was ich dachte, während er an mir vorbei Richtung Küche ging. Dort sah es nicht besser aus. „Aber vielleicht entdecken wir irgendetwas. Wobei ich nicht einmal weiß, wonach wir suchen sollen“, gab ich zu. Ich hatte keinen Plan, keine Idee, nur die leise Hoffnung, wenigstens irgendwie voranzukommen und nicht alles den offiziellen Ermittlern zu überlassen – die sowieso keinen Finger für eine alte Frau aus einem der abgeschriebenen Stadtviertel rühren würden. „Schauen wir uns wenigstens um.“ * Eine halbe Stunde später waren wir keinen Schritt weitergekommen, jedenfalls was mögliche Hinweise anging. Wir hatten einige Unterlagen gefunden, die aber auf dem ersten Blick nicht sonderlich hilfreich waren, und einen Großteil der Fotos, die sonst an der Wand gehangen hatten, durchgesehen. Doch auch dort gab es nichts zu entdecken, allerdings wussten wir ja auch nicht, wonach wir Ausschau hielten. Und die Zeit rannte uns weg. Ich hatte wenig Lust, dass vielleicht doch noch einer von Andous und Haras liebsten Kollegen hier aufkreuzte. Das ganze Unterfangen entsprach der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Frustriert schob ich die Bilder auf dem Tisch zu einem Haufen zusammen. Ich würde sie mitnehmen, um sie später noch einmal in Ruhe durchzusehen. Außerdem waren sie bei mir allemal besser aufgehoben als hier. Denn spätestens, wenn die Wohnung geräumt wurde, kam alles auf den Müll und wenigstens eine kleine Erinnerung an Frau Sumida wollte ich behalten. „Ich glaube, wir sollten langsam aufbrechen. Vermutlich wurde das einzig Wichtige bereits mitgenommen.“ Andou stand im Durchgang zum Flur und wirkte ähnlich desillusioniert wie ich. „Hm, möglich. Dann hatten eure Kollegen wohl mehr Erfolg als die Schweine, die Frau Sumida auf dem Gewissen haben. Denn die sind mit leeren Händen gegangen, soweit ich mitbekommen hatte.“ Ich legte die Fotos in einer kleinen Kiste ab, wo sich schon einige andere Dokumente drin befanden, und warf einen letzten Blick in die Runde. Einfach Scheiße! Etwas anderes blieb nicht zu sagen. Ich konnte die Gefühlsmischung, die in mir brodelte, nicht beschreiben. Ernüchterung, Wut, Frustration? Irgendwas davon oder auch alles zusammen. Wenn das alles war, was man am Ende des Lebens hinterließ, war das einfach nur traurig. Nichts blieb. Und nicht mal – Ein Scheppern riss mich aus den Gedanken und ließ mich erschrocken zusammenfahren. Was –? „Das kam von unten.“ Hara war aus der Küche zu mir getreten, während Andou bereits die Wohnungstür erreicht hatte. Was, wenn einer der Nachbarn kam? Oder die Täter, um weiterzusuchen? Oder noch schlimmer: die Bullen? Mir wollte so spontan keine Ausrede, warum wir hier waren. Doch meine Überlegungen verebbten, als ich Andou am oberen Treppenabsatz entdeckte und der mich mit hochgezogener Augenbraue ansah. „Was ist los?“ „Ähm, sag mal, gehört die hierher?“ Verständnislos folgte ich seinem Fingerzeig und hielt mitten im Schritt inne. Ein kleiner, dunkler Schatten saß auf dem unteren Treppenabsatz und starrte mit leuchtenden Augen zu uns nach oben. „Mila!“ Ich bildete mir fast ein, dass mich Frau Sumidas Katze vorwurfsvoll ansah, während sie sich in Bewegung setzte und mit erhobenen Haupt die Stufen empor spazierte. Shit! An sie hatte ich gar nicht mehr gedacht, über die ganze Aufregung hinweg völlig vergessen. Mein schlechtes Gewissen schlug augenblicklich zu. War sie dünner geworden? Hoffentlich hatte sie sich bei den Nachbarn durchgefressen oder genügend Mäuse gefangen. Vorsichtig ließ ich mich in die Hocke sinken und streckte die Hand nach ihr aus. Mist… Warum hatte ich nicht mehr an den kleinen Stubentiger gedacht? Was sollte aus ihr werden – jetzt, wo ihr Frauchen nicht mehr da war? Im Zweifelsfall würde ich sie mit zu mir nehmen und sie und Rina vorerst in getrennten Räumen unterbringen. Aber auf der Straße sollte sie nicht bleiben. Wer wusste schon, in welches Tierheim man sie steckte, sollte sie eingefangen werden. Während ich mit mir selbst gedanklich diskutierte und versuchte mein schlechtes Gewissen der kleinen Katze gegenüber, etwas zu besänftigen, nahm mir diese die Entscheidung ab und lief, meine Hand vollkommen ignorierend, an mir vorbei, um sich laut schnurrend an Andous Beine zu pressen. „Ich glaube, die ist sauer auf dich.“ Das Grinsen in Haras Worten war nicht zu überhören, während ich verblüfft Milas Tun verfolgte, die mir hier gerade eindeutig die kalte Schulter zeigte. „Viel eher beleidigt, weil ich sie vergessen habe.“ Schnaubend erhob ich mich und starrte auf den Stubentiger, der sich geradezu theatralisch an Andous Hosenbein rieb. Hätte Mila gekonnt, hätte sie mir sicher die Zunge rausgestreckt. Sowas Launenhaftes und das, obwohl ich in den letzten Jahren immer nett zu ihr gewesen war. Ich wusste, warum ich Hunde bevorzugte. „Wem gehört die? Der alten Frau?“ „Ja.“ Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare, beobachtete das Schauspiel noch einige Sekunden lang, ehe ich mich abwandte und an Hara vorbei zurück in die Wohnung ging. „Ich könnte mir gerade in den Arsch beißen, dass ich sie vergessen habe.“ In der Küche angekommen, fing ich an, in dem ganzen Durcheinander nach Katzenfutter Ausschau zu halten. Irgendwo hier musste doch noch etwas sein. „Na ja, aber wie du siehst, lebt sie ja noch.“ Hara war mir gefolgt, stand in den Türrahmen gelehnt und beobachtete schmunzelnd meine Suche. „Was willst du jetzt mit ihr machen?“ Ha! Da! In den Tiefen eines Küchenschranks fand sich ein kleiner Beutel Trockenfutter. War anscheinend nicht interessant genug für die Bullen gewesen, um es rauszuholen und auf dem Boden zu verstreuen. „Ich würde sie ja mit zu mir nehmen, aber wie du richtig festgestellt hast, kann sie mich anscheinend gerade nicht mehr leiden.“ Schwungvoll drehte ich mich zu Hara um und hielt ihm triumphierend den Beutel entgegen. „Aber jedes Tier lässt sich mit Futter bestechen.“ Hara sah mich an, als würde er sagen wollen: ‚Na, wenn du meinst…‘ Gerade wollte ich mich an ihm vorbeischieben – denn er machte keine Anstalten auch nur einen Zentimeter zur Seite zu treten – da kam Andou in die Wohnung zurück. Mit Mila auf dem Arm. „Oder ich nehme sie.“ Ich war mir sicher, dass Hara und ich ähnlich überrascht aussahen, denn er fing an zu grinsen, als sein Blick von dem Fellknäuel zu uns wanderte. „Ich wollte schon lange wieder eine Katze haben. Und hey, ich weiß, wie man mit ihnen umgeht, Niikura-San. Schließlich hatte ich als Kind eine. Also schau mich nicht so an.“ Anscheinend war mein Blick misstrauischer gewesen, als ich beabsichtigt hatte. Schön und gut, aber es war Mila, Frau Sumidas Katze und ich – Eine Hand legte sich auf meine rechte Schulter und drückte leicht zu. „Dai macht das schon. Und wenn die Mieze demnächst keinen Bock mehr auf ihn hat, kannst du sie ja immer noch zu dir holen.“ In Haras Gesicht machte sich dasselbe wissende Lächeln breit wie in dem seines Partners. Mit einem Mal fühlte sich der Futterbeutel in meiner Hand unnatürlich schwer an. Prinzipiell sprach nichts dagegen, dass Andou sie bei sich aufnahm. Dann müsste ich Rina nicht erst für eine neue Mitbewohnerin begeistern. Aber – Ach, was soll's… Seufzend gab ich mich geschlagen. Würde schon gut gehen. Und eigentlich machte es das Ganze doch leichter, wie ich mir eingestehen musste. Ich zwang mir ein kleines Lächeln auf die Lippen, als ich auf Andou zu trat und ihm ungelenk den Futterbeutel unter die andere Armbeuge klemmte. „Na gut. Hier hast du schon mal etwas Startkapital für deine Adoption.“ Hara lachte leise, während Andou protestierend versuchte den Beutel vor dem Absturz zu bewahren. Mit einem erleichterten Gefühl in der Brust nahm ich die Kiste mit den Fotos und den Unterlagen, die wir noch genauer durchsehen wollten, vom Tisch. Dabei fiel mein Blick auf einen schmalen Zettelblock. Stirnrunzelnd starrte ich darauf. Irgendwoher kannte ich das Muster, aber ich konnte es nicht zuordnen. Also packte ich ihn erstmal mit zu den anderen Zetteln. Darüber nachdenken konnte ich auch später noch. „Kommt, lasst uns gehen.“ Kapitel 8: ----------- Kapitel 8 Krachend schlug die Tür gegen die alte Backsteinmauer meines Büros. Erschrocken sah ich von den Unterlagen, die ich gestern aus Frau Sumidas Wohnung mitgenommen hatte, auf, zu den beiden Eindringlingen, die gerade in mein Büro gestürmt kamen. Ich hatte das Gefühl, die Situation schon einmal erlebt zu haben. Nur waren die Umstände andere gewesen. Obwohl Rina auch dieses Mal wenig begeistert von dem spontanen und unsanften Eintreten der beiden war und kurz anschlug, ließen sich Hara und Andou nicht einschüchtern und fielen dafür synchron in die Besuchersessel. Ich war fast versucht, sie auf die offenstehende Tür hinzuweisen, doch als mein Blick auf ihre Gesichter traf, unterließ ich es lieber und stand selbst auf, um sie zu schließen. Rina lotste ich leise zu ihrem Körbchen zurück, ehe ich unaufgefordert drei Gläser auf dem Schreibtisch abstellte und dazu je eine Flasche Wasser und Wodka. Zum Kaffee kaufen war ich bislang nicht gekommen. Schweigend setzte ich mich wieder hin und beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während ich den Wodka einschenkte. Ich hatte das Gefühl, den könnten wir alle zeitnah gebrauchen. „Was für eine Scheiße!“, durchschnitt schließlich Andou die Stille. Von seinem sonst recht lockeren Auftreten war nicht mehr viel übrig. Mit einem finsteren Gesichtsausdruck, den ich bei ihm bisher noch nie gesehen hatte, starrte er auf die Tischplatte, schien sie direkt durchbohren zu wollen. Und sein Partner stand ihm da in nichts nach. „Streifendienst!“ Das Wort spie er mir regelrecht entgegen, als wäre ich dafür verantwortlich. Demonstrativ schob ich ihm eins der Gläser hin, das er in einem Zug leerte und sich anschließend schüttelte. Mir brannte schon vom Zuschauen die Kehle, weshalb ich nur vorsichtig an meinem Glas nippte und auf weitere Erklärungen wartete. „Was Dai sagen will, ist, dass wir vom Fall des vermissten Terachi Shinya abgezogen wurden und wir uns auch generell nicht mehr mit den Angelegenheiten um die Hanedas befassen dürfen.“ Auch wenn Hara ruhig sprach, die weißen Knöchel seiner linken Hand, mit der er sein Glas umklammerte, verrieten ihn. Ich befürchtete fast, dass er es zerbrechen wollte. „Und dann geben sie ihn auch noch an Shiroyama weiter, der eh keinen Finger krümmen wird!“ Im Nu war sein Glas ebenfalls leer, was ich mit erhobenen Augenbrauen registrierte. Da war die Kacke wirklich am Dampfen. Schnaubend schenkte ich ihnen nach, ehe ich mich im Stuhl zurücklehnte und sie aufmerksam ansah. „So und nun bitte nochmal von vorn.“ Jetzt sah Andou mir zum ersten Mal direkt in die Augen und fuhr sich frustriert stöhnend mit den Fingern durch die Haare. „Der Chief hat heute Morgen alle Akten einsammeln lassen und uns in den Streifendienst versetzt. In die Nordstadt.“ Die Nordstadt? Das lag von hier ausgesehen am anderen Ende von Gotamo City. Na, wenn das mal kein Zufall war. „Und scheinbar hat er alles hinterrücks einem Kollegen übergeben, obwohl er zu uns meinte, es gäbe nichts mehr zu ermitteln und wir sollen es ruhen lassen.“ Andou ließ seine Haare los, die nun dezent von seinem Kopf abstanden. Unter anderen Umständen hätte ich vermutlich geschmunzelt, heute nicht. „Aber ich hab's nicht richtig mitbekommen“, fügte er etwas ruhiger hinzu und warf seinem Partner einen Blick zu. „Einer von der Nachbarabteilung hat's erzählt.“ „Wenn das stimmt, kotz ich!“ Wobei Hara gerade so aussah, als würde er lieber etwas zerschlagen statt sich zu erbrechen. Auffordernd schob ich ihnen die Gläser erneut zu, vielleicht brachte sie das wenigstens etwas runter. Es verstrichen noch einige Minuten, bis sich die beiden so weit abgekühlt hatten, um wenigstens einigermaßen klar denken zu können. Die Gewitterwolken um ihre Köpfe waren verschwunden, nur die Frustration und Verbitterung waren geblieben. Und der Wunsch ihrem Chief gehörig in die Eier zu treten. Bei diesen Worten von Hara war sogar so etwas wie ein kurzes Grinsen über Andous Gesicht gehuscht. „Und nun? Was habt ihr vor?“ Ich wollte es nicht zugeben, aber eine gewisse Anspannung machte sich in mir breit, als ich daran dachte, dass sie den Fall wirklich ruhen lassen könnten. Beziehungsweise alles hinwerfen würden. Auch unsere Zusammenarbeit, denn gerade war ich mehr denn je auf ihre Unterstützung angewiesen, insbesondere was die Sache mit Frau Sumida betraf. Ich war wenig optimistisch, auch alleine etwas erreichen zu können, wenn die Polizei offensichtlich kein Interesse an Nachforschungen hatte und dicht machte. Denn als nichts anderes sah ich die Versetzung der beiden an. Sie sollten nicht tiefer graben. Ob mit dem Fall jetzt wirklich ein anderer beauftragt wurde oder nicht, blieb dahingestellt. Ich kannte die Gerüchteküche auf dem Revier noch aus meiner Zeit. Da gönnte keiner dem anderen auch nur ein kleines bisschen was. Von daher blieb ich diesbezüglich erstmal skeptisch. Es würde sich für uns sowieso damit nicht viel ändern. Mit einem Mal sah Hara eine Spur angriffslustiger aus, während er mich mit langen Blicken maß. „Weitermachen! Jetzt erst recht. Takayamas Meinung, ob der Fall abgeschlossen ist oder nicht, ist fürn Arsch! Solange dieser Terachi nicht wieder auftaucht, gebe ich keine Ruhe. Einfach aus Prinzip nicht. Und bei der alten Frau bleiben wir auch dran.“ Als sein Partner zustimmend murrte, konnte ich ein erleichtertes Lächeln nicht unterdrücken. Ich wusste doch, dass die beiden Feuer hatten, aber nun war ich wirklich froh, dass ich mit meiner Einschätzung richtig gelegen hatte. Da trat eine gewisse Sturheit in Haras Worten zutage, die ich nur zu gut von mir selbst kannte. „Aus Prinzip ist immer gut.“ Beinahe feierlich erhob ich mein Glas und prostete ihnen zu, ehe ich die klare Flüssigkeit hinunterstürzte. Es brannte widerlich im Hals, aber das war es wert. „Ich geh davon aus, ihr habt für heute Feierabend?“ Auf ihr bekräftigendes Nicken fuhr ich fort: „Dann würde ich vorschlagen, wir machen hiermit weiter.“ Ich schob einen Teil von Frau Sumidas Unterlagen in die Mitte des Schreibtisches und verteilte die Fotos obendrauf. Je schneller wir damit durch waren, desto besser. Aus irgendeinem Grund hatte ich das untrügliche Gefühl, dass die Fälle entfernt miteinander zu tun hatten. Oder warum sollte sich der Chief in alles einmischen, mit dem Andou und Hara zu tun hatten, und sie gleich noch ans andere Ende der Stadt verbannen? Ich konnte Takayama viel unterstellen, aber ich wusste noch von früher: Ganz blöd war er nicht. Und wer wusste schon, ob nicht doch jemand davon Wind bekommen hatten, dass die beiden momentan mehr mit mir zu tun hatten als üblich? Ich glaubte nicht an Zufälle und diese Versetzung war definitiv keiner. Vielleicht waren sie auch bei der Beerdigung gesehen worden. Wie dem auch sei – wir mussten weitermachen. Einfach aus Prinzip. Außerdem hoffte ich insgeheim, dass sie die Arbeit vorübergehend von ihrem Ärger ablenken würde, denn aktuell konnten sie sowieso nichts an der Versetzung ändern. Während sich jeder einen kleinen Stapel schnappte, informierte ich sie über alles, was ich im Laufe des Tages bezüglich Frau Sumida herausgefunden hatte. Was leider nicht so viel war, wie ich mir gewünscht hatte. „Egal, wie oft ich mir die Fotos anschaue, ich erkenne darauf niemanden. Gut, außer mich selbst.“ Ich wedelte mit einem beinahe drei Jahre alten Foto, das mich mit Frau Sumida im Café zeigte. Ehe mich die Erinnerungen einholen konnten, legte ich es zur Seite. „Es sind immer verschiedene Leute drauf, unterschiedliche Orte, nichts mit Wiedererkennungswert. Hintendrauf ist nichts notiert. Leider.“ „Und in den Unterlagen stand auch nichts Relevantes? Familie? Angehörige?“ Hara langte nach einem der oberen Blätter und überflog es flüchtig, während sein Kollege stirnrunzelnd auf die Zettel in seiner Hand starrte. „Nein. Zum einen kann ich mich nicht erinnern, dass sie jemals etwas in die Richtung erwähnt hat, zum anderen war nichts zu finden. Das einzig Interessante war bisher das Kaufzertifikat für ihr Café und einige ehemalige Arbeitsverträge, die teilweise aber schon über fünfzig Jahre zurückliegen. Warum auch immer sie die aufgehoben hat.“ Ich fischte zwischen den Zetteln nach meinen Notizen und lehnte mich seufzend im Stuhl zurück. „Angefangen hat sie anscheinend mal bei der Post und hat sich später als ‚Mädchen für alles‘ bei diversen Familie verdingt.“ Über die Stirn reibend überflog ich die lückenhafte Liste. „Vor gut dreißig Jahren ist sie dann als Kindermädchen von Familie zu Familie gezogen. Die letzte Anstellung hat sie anscheinend vor fünfzehn Jahren begonnen, bis sie das Café eröffnet hat.“ Mit erhobenen Augenbrauen sah ich von den Notizen auf und blickte zu Hara, der etwas ratlos wirkte. „Wenigstens wissen wir schon mal, dass sie mit diversen Leuten zu tun hatte. Standen Namen dazu?“ „Teils ja, teils nein. Einige der Verträge sind schon so sehr verblasst, dass kaum noch etwas darauf zu erkennen ist.“ „Nun gut. Und was haben wir noch?“ „Nicht viel. Vereinzelte Quittungen, Einzahlungen und ähnliches. Der Großteil wurde garantiert von euren Kollegen mitgenommen.“ „Gut möglich.“ Seufzend ließ Hara den Kopf nach hinten auf die Lehne fallen und fuhr sich durch die schwarzen Haare. „Ach, ist doch Mist. Ich hab das Gefühl, das bringt alles nichts. Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Da suchen wir doch ewig und schlussendlich war's ein willkürlicher Raub und die haben nur Bargeld gesucht!“ Ich musste ihm leider recht geben, denn das Gefühl war in den letzten Stunden auch immer wieder in mir aufgekommen. Doch ich wollte nicht glauben, dass Frau Sumida ihr Leben nur für einen schnöden Raub hatte lassen müssen. Danach hatte es an jenem Tag einfach nicht geklungen, wenn ich mir ihre Worte richtig in Erinnerung rief. Da war etwas gewesen, das nicht nach Zufall geklungen hatte und überhaupt – „Ich glaube, ich hab da was“, unterbrach Andou unsanft meine Gedankengänge. Haras Kopf zuckte hoch, er sah seinen Partner überrascht an. „Was meinst du?“ Andou rutschte etwas umständlich an den Schreibtisch heran, die unheilvollen Geräusche, die der alte Sessel dabei von sich gab, ignorierend, und legte seinen kleinen Stapel darauf. „Ich weiß nicht, ob es etwas mit der Sache zu tun hat und ob es überhaupt stimmt, aber das hier sagt mir was. Hab gerade nur eine Weile gebraucht, um draufzukommen.“ Ein verschmitztes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit, als er auf den oberen Zettel deutete. Mein Herz machte einen holprigen Satz. Es war der kleine Zettel, der vor einer gefühlten Ewigkeit plötzlich in meinem Büro aufgetaucht war und den ich völlig verdrängt hatte. Er musste sich in dem ganzen Chaos, das auf meinem Schreibtisch herrschte, zwischen die anderen Blätter gemogelt haben. „Ich kenne eine Bar, mit dem Namen Inosan im Ostteil der Stadt. Also, wenn mich nicht alles täuscht.“ Ernsthaft? Anscheinend sprachen unsere Blicke Bände, denn Andou ergänzte mit einem schiefen Grinsen: „Ist etwas her, dass ich dort gewesen bin.“ Hara reagierte als Erster, auch wenn sein „Aha?“ eher belustigt klang. Der Osten, besser bekannt als das in den letzten Jahren deutlich gewachsene Rotlichtviertel Sarita.Da brauchte man kein großes detektivisches Gespür, um sich vorzustellen, um was für eine Art Bar es sich dabei handelt. Ich musste mich zusammenreißen, nicht darüber zu lachen, wie nah ich mit meiner ersten, spontanen Idee zu dem ominösen Zettel gelegen hatte. „Was hast du denn dort getrieben?“ Andous Zögern war nicht zu übersehen, auch wenn sein Grinsen sich hielt. „Ermittlungsarbeit?“ „Ohne mich?“ „Ähm… ja?“ Ich konnte mir ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen, während ich dem Gespräch der beiden folgte. Was auch immer Andou für Ermittlungen in dieser Gegend betrieben hatte, im Moment waren sie für unseren Fall nicht relevant, auch wenn sein Partner das wohl anders sah. „Okay, Andou. Danke erstmal für den Tipp.“ Ich nahm den Zettel an mich und sah ihn mir noch einmal genauer an. „Die Sache ist die, dass der Zettel nicht zu Frau Sumidas Unterlagen gehört und mir nur aus Versehen da hineingerutscht ist.“ „Oh, okay.“ „Aber er ist letzte Woche unter meiner Bürotür durchgeschoben worden.“ Ich blickte in zwei ebenso überfragte Gesichter. Blöd, dass der einzige Hinweis, mit dem wir eventuell etwas anfangen konnten, nichts mit der eigentlichen Untersuchung zu tun hatte und wieder in eine andere Richtung führte. Es konnte sogar sein, dass auf dem Zettel nicht einmal die Bar gemeint war. Es war zum Haare raufen. „Schade. Hätte ja ein Hinweis sein können.“ Mit zusammengekniffenen Lippen starrte Andou auf den Zettel in meiner Hand, als könnte er ihm so sein Geheimnis entlocken. „Wobei ich mich dann frage, was das soll.“ Das war die Frage, die mich seit dem Auftauchen des Zettels beschäftigte. Schulterzuckend holte ich meine Zigaretten aus der Schreibtischschublade, bot den beiden ebenfalls welche an, ehe ich mir eine in den Mundwinkel klemmte. „Wir sollten den Zettel vorerst Zettel sein lassen und noch einmal die Fotos und Unterlagen durchgehen. Vielleicht stoßen wir doch auf etwas Hilfreiches.“ * Nach einer halben Stunde war mein Büro derart vom Zigarettenqualm vernebelt, dass ich das Fenster öffnen musste. Aber wenigstens half die Mischung auf Nikotin und frischer Luft, unsere Gehirnzellen so weit auf Touren zu bringen, um noch einige Informationen zu entdecken. Scheinbar gab es irgendwo in Frau Sumidas Umfeld eine Verwandte – unklar welchen Grades – was ich bei meinen ersten Sichtungen der Unterlagen vollkommen überlesen hatte. Aber mehr stand da auch nicht und ob die uns weiterhelfen konnte, war fraglich, selbst wenn wir herausfinden würden, ob und wo sie lebte. Nun ja, aber besser als nichts. Mittlerweile qualmten nicht mehr nur die Zigaretten, sondern auch unsere Köpfe, aufgrund der vielen Details, die dennoch alle so nebensächlich erschienen und uns keine heiße Spur lieferten. Eine wahre Suche nach der Nadel im Heuhaufen, welcher nicht einmal vollständig war, wenn wir davon ausgingen, dass die Bullen einen Teil mitgenommen hatten. Schnaufend lehnte ich mich zurück und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. Allmählich brauchte ich eine Pause und Rina wohl auch, denn obwohl sie die ganze Zeit in ihrem Korb gelegen hatte, wirkte sie unruhig. Sie wollte raus. Vielleicht konnte ich kurz mit ihr eine Runde gehen und Andou und Hara hier lassen, wenn sie denn wollten. Ich öffnete die untere Schreibtischschublade, um Rinas Leine daraus hervorzuholen, als ich mitten in der Bewegung stockte. Mein Blick fiel auf einen kleinen Block mit Blumenmuster, den ich gestern Abend frustriert wie ich war, dort hineingeworfen hatte, um mich gegebenenfalls später erneut damit zu beschäftigen. Und den ich völlig vergessen hatte. Ich Idiot! Denn jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Ich glaube, ich ziehe meine Aussage von vorhin zurück“, murmelte ich. Verständnisloses Schweigen antwortete mir. „Der eventuelle Bar-Zettel hat doch etwas mit Frau Sumida zu tun.“ Auf welcher langen Leitung hatte ich eigentlich wieder einmal gestanden? Über mich selbst den Kopf schüttelnd, holte ich den Block hervor und legte ihn demonstrativ neben den ominösen Zettel, damit die anderen Beiden wussten, was ich meinte. „Den hab ich gestern in ihrer Wohnung gefunden.“ Sie brauchten nicht halb so lange bis zur Erkenntnis wie ich. Die Muster darauf waren gleich. Selbst die Ecke, die dem Zettel fehlte, passte zu dem Schnipsel am Blockrand. „Ich behaupte jetzt tollkühn, dass die Gute dir damit etwas sagen wollte.“ Das Schmunzeln war in Andous Gesicht zurückgekehrt, als er die Zigarette im überquellenden Aschenbecher ausdrückte und den Zettel erneut an sich nahm. „Es bleibt zwar die Frage, was genau und warum sie nicht noch mehr darauf geschrieben hat, aber hey! Ich wollte schon lange mal wieder nach Sarita.“ * Die sanften Bässe drangen durch die marode Fassade bis auf die andere Straßenseite zu mir und schienen mich regelrecht zu sich locken zu wollen. Wäre da nur die Musik gewesen, hätte ich beinahe geglaubt, vor einem der wenigen, normalen Clubs der Stadt zu stehen. Allerdings befanden die sich ganz woanders und die düstere Fassade des Gebäudes, in dem sich die Bar befand, wirkte vielmehr so, als würden dahinter diverse Gangs ihre monatlichen Treffen veranstalten. Und der wenig einladende Eindruck wurde auch nicht von der eintretenden Dunkelheit gemindert. Das konnte ja was werden. Eigentlich hatte mein ursprünglicher Plan vorgesehen, mich ungesehen unter die Gäste zu schmuggeln und mich unauffällig umzusehen. Allerdings waren in der ganzen Zeit, in der ich hier stand und den Eingang beobachtete, erst eine handvoll Männer hineingegangen. So viel zum Thema ‚unauffällig umsehen‘. Ich ärgerte mich fast darüber, dass ich alleine nach Sarita hatte fahren müssen, um einen Blick auf unseren bisher einzigen Anhaltspunkt zu werfen. Andou und Hara waren just heute zu ihrem ersten Streifendienst verdonnert worden und damit war unser ursprünglicher Plan, gemeinsam die Bar zu inspizieren, hinfällig und ewig aufschieben wollten wir das Ganze auch nicht, da wir sowieso keine anderen Hinweise hatten. Misstrauisch beäugte ich das rötlich leuchtende Schild der Bar. Die kunstvoll geschwungenen Letter machten ihrer Bedeutung alle Ehre und hätten allerdings viel mehr zu einem kleinen, niedlichen und „unschuldigen“ Café gepasst. Einem wie Frau Sumidas beispielsweise. Kopfschüttelnd stieß ich mich von der Hauswand ab, an der ich eine Weile gelehnt und mit mir gerungen hatte, ob ich wirklich hineingehen sollte, und schlenderte langsam auf den Eingang zu. Während ich nach außen hin versuchte, möglichst gelassen zu wirken, war ich innerlich bis in die Haarspitzen gespannt darauf, was mich hier erwartete. Inzwischen war ich fest davon überzeugt, dass der ominöse Zettel eindeutig von Frau Sumida stammte. Wir waren gestern noch auf einige Unterlagen mit ihrer Handschrift gestoßen und jetzt, nachdem uns einmal die Vermutung gekommen war, von wem der Zettel stammte, war die Ähnlichkeit der Schriften nicht mehr zu übersehen. Blieb noch die Frage, was sie mir mitteilen wollte. Ob sie ihren Tod erahnt hatte und deshalb nur in Eile ohne nähere Erklärungen „Inosan“ darauf gekritzelt hatte, blieb ebenfalls eine Mutmaßung. Aber immerhin hatte sie noch Zeit gehabt, zu meinem Büro zu gehen und ihn unter der Tür durchzuschieben. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen taten sich auf. Ich konnte nur hoffen, dass Andous Idee, sie könnte wirklich diesen Ort hier gemeint haben, sich nicht als falsch herausstellte. Sonst stünden wir wieder am Anfang. Der Typ, der neben dem Eingang stand, war so hoch und breit wie ein Schrank und machte nicht den Eindruck, als sei er neuen Gästen sonderlich wohlgesonnen. Himmel, worauf hatte ich mich da eingelassen? Ich wusste nicht mal, um was für eine Art Bar es sich wirklich handelte. Andou hatte nur gemeint: „So eine typische Bar eben.“ Danke auch! Das konnte in dieser Gegend alles und nichts bedeuten. Vom Bordell, über Mafia-Treff zu einer gewöhnlichen Kneipe oder Diskothek war vieles vorstellbar. Ich setzte ein möglichst neutrales Gesicht auf, als ich vor dem Schrank stehen blieb und seine Musterung über mich ergehen ließ. Seine Augen schienen etwas länger als gewöhnlich auf den dunklen Linien meiner Hände zu verweilen. Doch anscheinend machte ich den richtigen Eindruck, denn wenige Sekunden später bekam ich ein Nicken und die Tür wurde für mich geöffnet. Sekunden später musste ich alle Erwartungen, die ich an diesen Ort gehabt hatte, über Bord werfen und mich neu sortieren. Unmittelbar hinter dem Eingang folgte ein kurzer Gang, der in einen weitläufigen Raum endete. Grelle Lichter irrten umher, malten diffuse Lichter an Wände und Decke, der Bass dröhnte in den Ohren und ließ meinen Brustkorb vibrieren. Wo bitte war ich hier gelandet? Auf den ersten Blick schien es ein gewöhnlicher Club zu sein. Es waren mehr Leute da, als ich gedacht hatte. Allerdings tanzte niemand, wie es sonst der Fall bei solchen Veranstaltungen war – es gab nicht einmal ansatzweise etwas, das wie eine Tanzfläche aussah. Dafür verteilten sich überall im Raum runde Tische, mit breiten Sesseln daran, die wesentlich komfortabler aussahen als die in meinem Büro. Das fanden anscheinend auch die überwiegend männlichen Gäste, denn fast jeder der Tische war besetzt. Hier und da lagen Spielkarten und Münzen darauf, nur erleuchtet von den kleinen Lampen, die jeweils über der Mitte der Platten angebracht waren. Es war seltsam und ich wurde nicht schlau aus diesem Laden. Es wirkte, als hätte sich jemand nicht entscheiden können, ob er lieber eine Spielhalle oder eine Diskothek eröffnen wollte. Irgendwie war es eine Mischung aus beidem und obendrauf mit ein wenig Mafia-Flair garniert. Und dazu kamen noch die leicht bekleideten Damen, die umhergingen und den Gästen Getränke brachten und somit einen Hauch Verruchtheit mit sich brachten. Ein echt seltsamer Laden, der überraschenderweise all meine Ideen, die ich dazu gehabt hatte, in sich vereinte. Langsam machte ich mich auf den Weg quer durch den Raum zum Tresen, hinter dem sich gut gefüllte Regale mit diversen Flaschen auftürmten. Was auch immer Andou unter einer „Bar“ verstand – das hier war definitiv keine gewöhnliche. Vielleicht war er auch einfach zu lange nicht hier gewesen. Lautlos schnaubend ließ ich mich auf einem der Hocker nieder und gab dem Barkeeper ein Zeichen. Auf diese Reizüberflutung brauchte ich erstmal etwas Härteres. Wo sollte ich denn bitte hier anfangen, etwas Brauchbares rauszufinden? Den Barkeeper brauchte ich sicher auch nicht fragen, ob er Frau Sumida kannte. Während ich auf meinen Whiskey wartete, sah ich mich weiter im Raum um. Rechts und links neben der Bar gingen weitere Durchgänge ab und soweit ich bei dem mir am nächsten erkennen konnte, standen dahinter Roulette-Tische. Vermutlich sah es in dem anderen Raum ähnlich aus. Also definitiv eine Spielhölle. Das machte sich auch in den Getränkepreisen bemerkbar. Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte ich auf den unscheinbaren Schnipsel neben meinem Whiskey und überlegte, ob ich nicht doch eine Brille bräuchte. Doch auch nach mehrmaligem Blinzeln änderten sich die Zahlen darauf nicht. Da konnte ich nur hoffen, dass der Whiskey diese horrende Summe wert war. Widerwillig und mit zusammengepressten Lippen schob ich dem Barkeeper das Geld über den Tresen und überlegte gleichzeitig, ob ich das Ganze nicht Andou und Hara in Rechnung stellen sollte. Als Betriebsausflug sozusagen. Wenigstens schmeckte der erste Schluck so, wie es der Preis versprach. Das war definitiv ein edlerer Tropfen, als ich zu Hause in meinem Schrank stehen hatte. Er brannte nur leicht im Hals und hatte einen angenehm torfigen Geschmack. Na ja, man gönnte sich ja sonst nichts. Über den Rand meines Glases hinweg musterte ich unauffällig die übrigen Gäste. Es wunderte mich, dass der Türsteher mich reingelassen hatte, denn man musste mich nicht einmal genau anschauen, um zu erkennen, dass ich hier nicht reinpasste. Abgesehen davon, dass ich keinen Anzug oder eine teuer aussehende Armbanduhr trug, hatte ich auch keinen Gorilla von Mann im Schlepptau, der wohl zur allgemeinen Grundausstattung eines Jeden gehörte. Allmählich konnte ich mir denken, was das für Gäste waren. Und je länger ich mich umsah, desto dubioser wirkte alles auf mich. Warum hatte Frau Sumida gewollt, dass ich hierherkam? Das machte doch gar keinen Sinn. An einigen Tischen wurden Münzen und Scheine getauscht und ich bezweifelte stark, dass es sich dabei um Spielgeld handelte. Ich sollte zusehen, dass ich austrank und ging, bevor noch jemand bemerkte, dass ich nicht zu den üblichen Stammgästen gehörte. Anlegen wollte ich mich mit keinem von denen. Während ich betont entspannt an meinem Glas nippte, um keinen falschen Eindruck zu erwecken, verfolgte ich aus den Augenwinkeln das Geschehen. Dubios war gar kein Ausdruck. Was hier abging, kratzte nicht mal mehr am Rande der Legalität. Wobei es mir eigentlich egal sein konnte. Ich wollte schließlich nur wissen, was ich hier sollte. Aber dennoch – der frühere Polizist in mir machte sich bemerkbar. Schöne Scheiße. Warum hatte ich ausgerechnet alleine herkommen müssen? Mein Blick blieb an einem Mann hängen, der langsam zwischen den Tischen umherging. Ich wusste nicht warum, aber irgendetwas an der Art wie er sich im Raum bewegte, stach mir ins Auge. Er wirkte nicht wie ein normaler Gast. Nein. Es schien, als würde er überall dazugehören und dennoch außen vor sein. Unbewusst setzte ich mich gerader hin, während mein Blick ihm folgte. Er trug einen dunklen Anzug, der sich nicht groß von denen der anderen unterschied. Trotz der anstrengenden Lichtverhältnisse hier drinnen meinte ich einige dunkle Muster und Linien an seinem Hals auszumachen, teils vom Hemdkragen verdeckt. Die hellen Haare waren streng zurückgekämmt und legten so die kurzgeschorenen Seiten frei. Dennoch alles keine Gründe, um ihn so direkt zu beobachten, wie ich es im Augenblick tat. Zwielichtig aussehende Typen gab es hier immerhin zuhauf. Nein. Es war sein düsterer und dennoch direkter Blick, mit dem er die Leute bedachte, jedes Detail erfasste – die Art, wie er umherging und dabei alles gleichzeitig zu überwachen schien. Als gehörte ihm der Laden. Ich konnte mir nicht helfen, doch das unweigerliche Gefühl von Bedrohung machte sich in mir breit, je näher er kam und das, obwohl er mich noch gar nicht bemerkt hatte. Mit dem Kerl war sicher nicht zu spaßen und da musste er nicht einmal einen dieser Gorillas an den Fersen kleben haben. Ich sollte wirklich gehen und das nächste Mal Andou mitnehmen. Der war schließlich schon mal hier gewesen. Plötzlich sah er auf, direkt in meine Richtung. Ich konnte gar nicht schnell genug wegschauen, da hatte er mich schon bemerkt und war stehengeblieben. Seine dunklen Augen schienen sich direkt in meine zu bohren, während ich unbewusst in meiner Bewegung einfror. Ich fühlte mich wie das Kaninchen vor der Schlange. Doch sofort aufzuspringen und zu gehen, wäre albern gewesen und alles andere als unauffällig. Besonders wenn ich vorhatte, noch einmal wiederzukommen. So zwang ich mich sogar zu einem kurzen Nicken in seine Richtung, ehe ich mein inzwischen leeres Glas auf dem Tresen abstellte. Er sah mich weiterhin an, selbst als er eine Zigarre aus der Innentasche seines Anzugs zog und sie sich fast schon provokativ in den Mundwinkel klemmte und anzündete. Es hatte etwas gefährlich Herausforderndes an sich, sodass mir ein Schauer über den Rücken rann, als ich aufstand. Dieser Mann hatte mich nicht nur bemerkt, sondern er würde mich ohne Zweifel wiedererkennen, sollte ich hier noch einmal auftauchen. Und ob das gut war, bezweifelte ich. Den wollte ich nicht zum Feind haben. Ich spürte seine Augen auch noch auf mir, als ich den Ausgang erreichte. Erst draußen bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten. Deshalb kam mein erster Atemzug auch mehr einem Japsen gleich. Ich nickte dem Türsteher flüchtig zu, trat ein paar Meter zur Seite und entzündete mit fahrigen Fingern eine Zigarette. Ich brauchte Nikotin. Himmel, warum brachte mich so etwas aus der Ruhe? Das war doch nur irgendein komischer Kerl in einem seltsamen Laden – das Wort ‚Bar‘ wollte ich gar nicht erst denken. Kein Grund sich so aus der Fassung bringen zu lassen – selbst wenn ihm der Laden gehörte. War ich schon so sehr aus der Übung? Ich musste definitiv nochmal her, denn der ganze Besuch hatte nichts gebracht, außer der Erkenntnis, dass sich das Inosan am Rande der Legalität befand und eben keine normale Bar war. Mit einem Mal wurde die Eingangstür neben mir heftig von innen aufgestoßen und drei breitschultrige Männer, die der Statur des Türstehers in nichts nachstanden, kamen lautstark fluchend herausgestürmt. „So eine verfluchte Scheiße! Drecksschuppen! Dass der Arsch uns von seinem Zweiten rauswerfen lässt! Der kann was erleben! Wenn wir dem Boss das berichten, dann macht der ihm die Hölle heiß!“ Zeternd überquerten sie die Straße, ohne sich umzusehen, und hielten auf einen dunklen Wagen zu. Sekunden später fuhr er mit quietschenden Reifen an und raste davon und ließ mich erstarrt zurück. Diese Stimme. Das war doch - Nachwort Und nun? Was sagt ihr? Gab's Überraschungen? Ist alles so eingetreten wie vermutet? Beziehungsweise gibt es überhaupt Vermutungen?^^ Ich verspreche, wir nähern uns allmählich der Hälfte. Feedback wäre wie immer großartig und hilfreich! Liebe Grüße Luna Kapitel 9: ----------- Kapitel 9 „Vielen Dank, dass Sie uns gerufen haben. Aber es gibt keinen Grund mehr zur Sorge, Ihre Nachbarn haben sich wieder vertragen. Sollte trotzdem noch einmal etwas sein, zögern Sie nicht, uns Bescheid zu geben.“ Ich konnte mich nur mühsam beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen, während Dai mit dem charmantesten Lächeln, das er auf Lager hatte, die alte Dame regelrecht um den Finger wickelte. Und der gefiel das natürlich außerordentlich gut, denn sie starrte ihn beinahe mit Herzchen in den Augen an, während ich versuchte, mich im Halbdunkel des Treppenhauses unsichtbar zu machen. Behauptete er nicht ständig, dass ich die ‚Ladies‘ gerne mit meinem Lächeln bezirzte? Und jetzt ließ er den weißen Ritter raushängen… Hach Mann. Ich wollte endlich hier raus. Es reichte doch, dass wir fast eine halbe Stunde gebraucht hatten, die beiden Streithähne aus dem vierten Stock soweit miteinander zu versöhnen, dass sie sich nicht mehr gegenseitig an die Gurgel gehen wollten. Anscheinend waren hier ständig zuknallende Türen ein Grund, einen Nachbarschaftskrieg vom Zaun zu brechen, weshalb sich die anderen Hausbewohner genötigt fühlten, die Polizei zu rufen. Natürlich. Aber wir waren unserer Arbeit nachgekommen und es herrschte wieder Friede. Allerdings fand ich es reichlich übertrieben, jetzt auch noch mit den restlichen Nachbarn zu sprechen, denn ich befürchtete, dass die uns nun bei jeder Kleinigkeit riefen, weil wir ja anscheinend so kompetent waren, wie uns der Herr aus dem dritten vorhin wohlwollend bezeichnet hatte. Wer waren wir denn? Die neue Nachbarschaftshilfe? Nein, wir waren immer noch Cops, wenn auch mittlerweile nur noch im undankbaren Streifendienst, weil unsere Vorgesetzten uns nicht leiden konnten. Aber theoretisch hatten wir Wichtigeres zu tun. Und dazu gehörte nicht, den alten Damen des Hauses schöne Augen zu machen, so wie Dai es gerade tat. Ich gab ein lautes Husten von mir, um meinen liebsten Kollegen wieder an unsere eigentliche Aufgabe zu erinnern. Er warf mir einen verschmitzten Blick zu, ehe er sich mit einer Verbeugung verabschiedet. „Bei so schicken, jungen Männern rufe ich doch gerne an.“ Bloß nicht. Die konnten ihre Angelegenheiten auch mal schön unter sich klären und nicht bei jeder Lappalie die Polizei rufen. Das würde sicher auch die nachbarschaftliche Harmonie fördern. Als wir fünf Minuten später endlich auf der Straße standen, konnte ich nicht anders, als ein langgezogenes Aufstöhnen von mir zu geben und meinen Partner böse anzuschauen. „Dir macht das eindeutig zu viel Spaß.“ Er grinste schulterzuckend, während er in der Jacke nach seinen Zigaretten fischte und mir eine anbot. „Ich versuche nur das Beste draus zu machen, da wir ja hier gerade sowieso nicht wegkommen.“ Auch wenn ich es nicht wollte, so musste ich ihm recht geben. Laut seufzend nahm ich die Zigarette entgegen und klemmt sie mir zwischen die Lippen. Der kalte Wind, der uns um die Nasen wehte, war so stark, dass das Anzünden erst beim fünften Versuch und mit gegenseitiger Hilfe gelang. Dafür kam mir der erste Zug umso verdienter vor. „Und wer weiß…“ Ein erneutes Grinsen umspielte Dais Mundwinkeln, als wir den Weg Richtung Hauptstraße einschlugen. „Vielleicht gewinnen wir hier so viele Fans, dass der Chief es mitbekommt und uns erneut versetzt wegen zu viel Freude am Arbeitsplatz oder so ähnlich. Das ist mein eigentlicher, geheimer Plan.“ Lachend schüttelte ich den Kopf. „Ganz toller Plan. Bin ja gespannt, ob das was wird und wohin er uns dann als nächstes verfrachten will. Vielleicht ins Archiv, mal zur Abwechslung. Damit wir ja niemandem begegnen. Soll ziemlich trostlos dort unten sein. Ich war bisher auch nur einmal, um Akten zu suchen.“ So vor uns hin scherzend folgten wir der Hauptstraße an unzähligen, kleinen Läden vorbei, bis ins Gassengewirr, das so typisch für diesen Stadtteil war. Wir hatten kein bestimmtes Ziel. Schließlich waren wir nur auf Streife, mussten uns nur hier und da blicken lassen und allgemein den Eindruck von Schutz und Ordnung erwecken. Wenigstens hatte man uns nicht genötigt, diese saublöden Uniformen zu tragen, die sonst zum Job gehörte. Die albernen Hüte gehörten verboten und waren definitiv ein Grund in Streik zu treten. Nach einiger Diskussion war nun die neue Maßgabe, dass wir unsere Marken und Pistolen sichtbar am Gürtel präsentierten. Und das war‘s. Ein kleiner Sieg für uns, aber immerhin. Den Anwohnern war es sowieso egal, wer Streife lief, Hauptsache, es war jemand da. Dass es Neuzuwachs gab, hatte dennoch verbreitet wie ein Lauffeuer, wenn ich die neugierigen Blicke, die uns seit vorgestern folgten, richtig deutete. Generell unterschied sich die Gegend, in die uns die überraschende Versetzung geführt hatte, stark von jener, in der wir in den letzten Wochen so oft unterwegs gewesen waren – und gleichzeitig auch nicht. Die Baustil ähnelte sich zwar, allerdings sahen hier die Häuser weniger so aus, als würde der nächste Sturm sie zum Zusammenstürzen bringen oder Banden darin Quartier beziehen. Alles hatte einen gewissen, kleinbürgerlichen Charme und wirkte lebendiger und bunter. Also prinzipiell entsprach das Ganze einen relativ ruhigen Arbeitsplatz, mal von Nachbarschaftsstreitereien abgesehen. Dennoch würde ich diese Gegend am liebsten sofort wieder gegen die wohlbekannten und heruntergekommenen Fassaden aus Niikuras Viertel eintauschen. Es fühlte sich so sinnlos an, was wir hier taten. Dummes Herumlaufen und wichtig Dreinschauen – pure Beschäftigungstherapie. Es war ja nicht mal so, dass es in diesem Stadtteil gar keine Ordnungshüter gab. Nein. Die beiden Herren standen zwar nur wenige Jahre vor ihrer Pensionierung, aber hatten, soweit ich es wusste, bisher ihren Job ganz gut gemacht. Und sollte irgendwer den Wunsch hegen, dass wir deren Nachfolge antraten, konnte er das ganz schnell vergessen. Niemals wollte ich hier länger bleiben als nötig. Alles in mir sträubte sich dagegen. Ich wollte dort sein, wo man uns wirklich brauchte und nicht aus Dekorationsgründen die Straßen schmücken. Und ich wollte das zu Ende bringen, was Dai und ich einmal angefangen hatten: den Vermissten finden und Niikura in allem, was anscheinend damit zusammenhing, unterstützen. Und natürlich verstehen, was sich hinter den Kulissen der oberen Etagen des Reviers abspielte. Denn wenn die Versetzung eines gezeigt hatte: Irgendetwas stimmte nicht und man wollte uns kleinhalten, was nur heißen konnten, dass wir anscheinend irgendwem unangenehm auf die Füße getreten waren und unsere Nasen zu tief in die Sache gesteckt hatten. Auch wenn wir noch nicht genau wussten, was es war. Umso mehr Zeitverschwendung war dieses sinnlose Herumspazieren. Aber immerhin konnte uns keiner verbieten, nach Feierabend ins Detektivbüro zufahren. Ging niemanden etwas an, was wir in unserer Freizeit taten. Gestern hatten wir es leider nicht mehr dorthin geschafft und dabei war ich echt gespannt darauf, ob Niikura mit dem sehr aufschlussreichen „Inosan“-Zettel vorangekommen war oder ob uns Dai mit seinem plötzlichen Geistesblitz auf den Holzweg manövriert hatte. „Wir werden verfolgt.“ Dais leise Stimme riss mich unsanft aus meinen Gedanken. „Hm?“ Ich unterdrückte erfolgreich den Impuls, stehenzubleiben und einen Blick über die Schulter nach hinten zu werfen. Dank jahrelangem Training hatte ich mich diesbezüglich gut im Griff. Langsam liefen wir weiter, während mein Blick scheinbar gelangweilt von den grauen Steinen des Gehwegs vor mir, zu den Schaufensterscheiben neben mir wanderte. Unauffällig sah ich hinein und doch gleichzeitig nur auf die Spiegelung, in der Hoffnung denjenigen zu entdecken, den Dai bemerkt hatte. Allerdings sah ich nur uns beide und im Hintergrund einige Passanten, die an den Geschäften vorbeieilten. So blieb ich schließlich stehen und betrachtete besonders intensiv die Auslage vor mir. „Wen meinst du?“ Dai trat dicht neben mich und musterte ebenfalls interessiert die Dekoration. „Wenn ich es richtig gesehen habe, ist er gerade in einem der Geschäfte auf der anderen Seite verschwunden.“ „Sicher, dass der uns verfolgt und nicht einfach nur einkaufen will?“ Ich sah, wie Dais Spiegelbild eine Braue hochzog und anschließend die Augen verdrehte. Ich schmunzelte. Er irrte sich in so etwas nie, aber man durfte ja wohl noch fragen. „Der läuft seit beinahe einer halben Stunde hinter uns her und hält immer denselben Abstand ein.“ Oh, da war ich wohl doch tiefer in meinen Gedanken versunken gewesen, als gut war. Ich hatte nichts bemerkt, obwohl das wirklich alles andere als unauffällig war. Aber wenigstens auf Dai war Verlass. „Vielleicht einer deiner neuen Fans?“ „Ey, jetzt bleib doch mal ernst.“ „Sorry.“ Wir setzten uns wieder in Bewegung, immer den Blick wachsam auf die Fensterscheiben gerichtet, um den Verfolger nicht zu übersehen. Es dauerte eine Weile, bis er mir endlich auffiel. Längerer, dunkler Mantel, ein tief ins Gesicht gezogener Hut und eine Zeitung unter den Arm geklemmt. Noch mehr Klischee ging ja wohl nicht. Hatte er sich von Gangsterfilmen inspirieren lassen? Meine Mundwinkel zuckten, während ich Dai bedeutete, dass ich unseren Verfolger ebenfalls entdeckt hatte, und dann in die nächste Querstraße abbog, nur um zu sehen, ob er an uns dran blieb. Blieb er. „Ich werde gerade immer neugieriger, wer da solches Interesse an uns hat.“ „Vielleicht hat den Takayama geschickt.“ Das war auch meine erste Eingebung gewesen. Dem Chief war es durchaus zuzutrauen, einen seiner Schoßhunde auf uns anzusetzen, nur um uns gegebenenfalls danach wieder zusammenfalten zu können, weil ihm irgendetwas nicht passte. Vielleicht wegen der Art, wie wir über die Straße gingen, beispielsweise. Wer wusste das schon? Aber der Typ wirkte in seiner Stümperhaftigkeit auch nicht wie ein Undercover-Cop. „Komm, lass uns an einer der nächsten Ecken warten. Vielleicht will er ja auch nur mit uns reden.“ * Wollte er nicht. Denn als er uns neben einem Ladeneingang hatte stehen sehen, war er regelrecht in der Bewegung erstarrt. Ich hatte ein triumphierendes Grinsen nicht verstecken können, ebenso wenig wie dem Drang, ihm übertrieben freundlich zu zunicken. Dafür hatte ich mir eine leichte Rüge von Dai eingefangen – ich solle die Leute nicht immer provozieren – aber das war es mir in diesem Moment wert gewesen. Das Ende vom Lied war, dass unser „neuer Fan“ die Beine in die Hand genommen hatte und um die nächste Ecke verschwunden war. Wir hatten es auch nicht unbedingt darauf angelegt, ihn zu erwischen. Vielmehr war das eine Warnung an ihn – und auch für uns. An ihn, damit er, oder wer auch immer ihn beauftragt hatte, wusste, dass sie nicht unbemerkt geblieben waren, und für uns selbst, damit wir auch in Zukunft immer die Augen offen hielten. Mittlerweile dämmerte es bereits, der Dienst war für heute beendet. Die altbekannten Straßenzüge zogen an uns vorbei, dann endlich parkte Dai das Auto vor Niikuras Haus. Das Lächeln erschien einfach automatisch auf meinem Gesicht, während mein Blick über die graue Fassade wanderte. Es fühlte sich ein bisschen an wie nach Hause kommen, obwohl der Gedanke eigentlich völlig übertrieben war. Aber hier wurden wir wenigstens gebraucht und es gab niemanden, der uns Vorschriften machte, was wir zu tun und zu lassen hatten. „Schraub dein Grinsen mal eine Spur runter, es ist trotzdem Arbeit.“ Ich schnitt ein Grimasse, während Dai aber nicht weniger grinsend auf die Haustür zusteuerte. Der freute sich doch genau wie ich darauf, endlich etwas Vernünftiges zu machen. Da konnte er mir nichts vormachen. Der Gang, der zur Detektei führte, wirkte überraschend dunkel. Anders als sonst fiel kein Licht durch die Milchglasscheibe der Tür, um den Flur zu erhellen. Stirnrunzelnd drückte ich die Klinke, doch nichts rührte sich. Abgeschlossen. Irritiert sah ich zu Dai, der ebenso ratlos wie ich dreinschaute und auf die geschlossene Tür starrte, als würde sie sich durch seinen Blick doch noch öffnen. Was war denn da los? Bisher war Niikura immer hier gewesen – er war ja regelrecht mit seinem Büro verheiratet. Außerdem wusste er, dass wir kamen. Ohne dass ich es wollte, stieg ein ungutes Gefühl in mir auf, als ich zurücktrat und einen prüfenden Blick den Gang entlang warf. Alles war ruhig. War ihm etwas dazwischen gekommen? „Lass uns oben nachschauen.“ Wir waren bisher nur einmal in der obersten Etage gewesen, die aus der überschaubaren Dachwohnung bestand, die Niikura sein Eigen nannte. Hier hatte er definitiv seine Ruhe – nicht, dass in diesem Haus mit seinen drei Bewohnern viel los war. Die Tür war nur angelehnt. Schwacher Lichtschein drang aus dem Inneren und erhellte die Stufen davor. Ich blieb stehen, darauf bedacht der altersschwachen Holztreppe keinen Laut zu entlocken, und lauschte. Aus der Wohnung drangen gedämpfte Geräusche und etwas, das wie ein Fluchen klang. Angespannt sah ich über die Schulter hinweg zu Dai, der mir mit einem Nicken zu verstehen gab, weiterzugehen. In diesem Moment schwang die Tür auf und ein dunkler Schatten stand plötzlich auf dem Treppenabsatz direkt vor uns. Schwanzwedelnd. Ein undefinierbarer Laut kam über meine Lippen, während mein Herz sich nach dem Schreck nur mühsam beruhigen wollte. Dai hinter mir war es nicht anders ergangen, wenn ich sein erschrockenes Japsen richtig deutete. Von unserer Anspannung schien die Bulldoggen-Dame nichts zu bemerken, denn sie blickte uns hechelnd entgegen und wirkte generell sehr erfreut über unseren Besuch. „Rina…“ Mehr als ein heiseres Flüstern bekam ich nicht heraus, sie beantwortete es mit einem Winseln und lief einige Schritte hin und her, ehe sie erneut erwartungsvoll stehen blieb. Seufzend ließ ich mich vor ihr auf die Knie sinken, um sie kurz zu streicheln, während Dai an mir vorbei die Wohnung betrat. Dafür, dass Niikuras Hündin bei unserer ersten Begegnung gewirkt hatte, als wollte sie uns zu zerfleischen, war sie mit jedem Besuch zutraulicher geworden und schien uns mittlerweile sogar zu mögen. Entgegen ihres doch recht furchteinflößenden Äußeren war sie eine ziemlich sanfte Seele. „Was ist denn hier passiert?“ Ruckartig sah ich auf und entdeckte Dai wenige Schritte hinter der Tür angewurzelt im Raum stehend. Schnell trat ich zu ihm. „Was -?“ Ich erstarrte ebenfalls. Im Wohnzimmer herrschte das reinste Chaos. Überall lagen Zettel und Fotos verstreut – und mittendrin hockte Niikura, eine Zigarette im Mundwinkel und einem Putzlappen in der Hand, und wischte leise fluchend den Boden. Würde mich der Anblick nicht so irritieren, hätte ich vermutlich laut losgelacht. Das übernahm Dai wenige Sekunden später für mich, was Niikura nun auch auf uns aufmerksam machte. Mürrisch sah er uns an, zwischen den Augenbrauen eine steile Falte. „Los, kommt rein. Bin gleich fertig.“ Und schon wischte er weiter. Langsam und immer noch reichlich irritiert von der Situation schloss ich die Tür hinter mir. Dai ließ sich derweil auf dem Sofa, das den Raum dominierte, nieder. Was trieb er denn da? Dai konnte scheinbar wieder einmal meine Gedanken lesen, denn er fragte Niikura einfach, während er ihn sichtlich amüsiert bei seinem Treiben beobachtete. Seufzend ließ sich unser Lieblingsdetektiv auf die Waden sinken, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, bevor er seiner Mitbewohnerin einen finsteren Blick zuwarf, die sich in ihren Korb unter dem Fenster verzogen hatte. „Mein Hund war anscheinend der Meinung, auf ihrer alten Tage noch einen gewissen Jagdtrieb zu entwickeln und hat beim Versuch eine Schnake zu erlegen, mein Abendessen auf den Boden verteilt.“ Das erklärte schon einmal die Putzaktion. „Und das Blätterchaos?“, hakte ich schmunzelnd nach. „Ich brauchte mehr Platz, um die Übersicht zu bewahren. Deshalb bin ich vom Büro in die Wohnung umgezogen. Außerdem, sollte sich doch mal ein Klient zu mir verirren, muss ich so nicht alles wieder wegräumen.“ ‚Übersichtlich‘ sah meiner Meinung nach anders aus, aber gut. Solange er noch durchsah. Mein skeptischer Blick wurde bemerkt, denn der finstere Ausdruck verschwand aus Niikuras Gesicht, dafür zuckten seine Mundwinkel ein wenig. Er stand auf und streckte sich kurz. „Ich erkläre es euch gleich. Aber erst nachdem ich endlich gegessen habe, sonst kann ich nicht denken. Wollt ihr auch etwas?“ * Das Essen schmeckte nicht halb so gut wie es aussah. An Niikura war definitiv kein Meisterkoch verlorengegangen. Hätten sich unsere Mägen nicht auf Kommando gemeldet, als wir gefragt worden, hätten wir wohl doch abgelehnt. So würgten wir nun die trockenen und geschmacklosen Nudeln hinunter. Die Hälfte der Soße war Rinas Jagdversuch zum Opfer gefallen, der Rest diente nur für die Farbe. „Entschuldigt, ich geh sonst meist außerhalb essen.“ Mit zusammengekniffenen Lippen lehnte Niikura sich zurück und sah düster auf seinen Teller. „Frau Sumida kann besser kochen als ich… konnte.“ Keine Ahnung, ob die leise gemurmelten Worte für unsere Ohren bestimmt gewesen waren, doch augenblicklich riefen sie uns unsanft ins Gedächtnis, warum wir uns hier eigentlich trafen. Ich wusste nichts zu antworten, wollte die immer noch frische Wunde des Verlustes nicht noch weiter aufreißen. Umso dankbarer war ich, dass Dai die trübe Stimmung, die aufzukommen drohte, sofort im Keim erstickte und sich betont gelassen auf dem Sofa zurücklehnte. „Wenigstens ist der Magen jetzt gefüllt und dafür war's ganz in Ordnung.“ Sein Lächeln war ansteckend, ich konnte regelrecht sehen, wie sich Niikuras verkrampfte Körperhaltung löste. So wie ich ihn einschätzte, wollte er selbst nicht jedes Mal wieder an seinen Verlust erinnert werden. Seufzend langte er nach der Schachtel Zigaretten, die auf dem Tisch lagen, und schüttelte eine davon heraus. „Hast ja recht. Sollte ich irgendwann mal wieder zu viel Zeit haben, kauf ich mir vielleicht ein Kochbuch.“ Dankend nahmen Dai und ich die angebotenen Zigaretten entgegen. So saßen wir in stiller Eintracht einige Minuten lang in Niikuras Wohnzimmer und rauchten entspannt. Es hatte bereits wieder angefangen zu regnen, das Rauschen des Regens wurde stetig stärker. Während die anderen Beiden ihren Gedanken nachhingen, blickte ich mich neugierig um. Beim letzten Besuch hatten wir die gesamte Zeit in der Küche gesessen, hatten wir auf unsere Zusammenarbeit getrunken, da war alles andere unwichtig gewesen. Doch jetzt war Zeit dafür. Prinzipiell sah die Wohnung so aus, wie ich erwartet hatte und nicht viel anders als sein Büro. Viel Persönliches besaß Niikura anscheinend nicht oder legte einfach keinen Wert darauf. Die Wände waren überwiegend kahl, der Putz nicht mehr vollkommen intakt. An einer Wand standen einige Regale mit Büchern darin und einer einsamen Pflanze, die sicher seit Monaten kein Wasser mehr gesehen hatte. Und das war's auch schon mit spannenden Entdeckungen. Mir gegenüber befand sich die große Fensterfront, die tagsüber sicher den Raum mit Licht flutete. Unmittelbar davor standen ein Sofa und ein kleiner Tisch mit Stühlen, auf denen sich wiederum Niikura und ich die Hintern platt saßen, weil sich mein werter Kollege auf dem Sofa breit gemacht hatte. Ich drückte den letzten Rest meines Glimmstängels im übervollen Aschenbecher aus, bevor ich mich an Niikura wandte. „So, und nun? Wie kam's jetzt dazu?“ Mit dem Kinn deutete ich auf das Blätterchaos. „Gibt's etwas Neues?“ Einen Augenblick lang wirkte es, als hätte er meine Frage nicht gehört, denn er reagierte gar nicht und rauchte weiter. Doch schließlich ging ein Ruck durch ihn. Ein undefinierbarer Blick wanderte von Dai zu mir, ehe er in Zeitlupe ebenfalls seine Zigarette ausdrückte und sich mit der Hand durch die langen Haare fuhr. Mit einem Mal wirkte er sichtlich erschöpft. Es war mir vorher nicht aufgefallen, aber dunkle Schatten zeichneten sich unter seinen Augen ab, zu seinem Kinnbart gesellten sich inzwischen weitere Stoppeln auf den Wangen. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen, dabei war unser letztes Treffen erst vorgestern gewesen und da hatte er nicht so derangiert ausgesehen. Irgendetwas musste vorgefallen sein. „Ich habe Frau Sumidas Mörder gesehen.“ Mit vielen hatte ich gerechnet, aber nicht damit. „Bitte was?“ Dai setzte sich sofort gerader hin, während ich versuchte das Gesagte schnellstmöglich zu begreifen. „Wann und wie?“ Die nächste Zigarette klemmte in Niikuras Mundwinkel. „Vorgestern. Vor der Bar.“ Er sah Dai bedeutungsvoll an. „Ich weiß nicht, ob es alle waren oder nur einer von ihnen.“ „Geht das auch genauer?“ Ich wusste, dass meine Frage an Unhöflichkeit grenzte, besonders einem älteren Berufskollegen gegenüber, aber ich platzte gerade vor Anspannung. Doch statt darauf einzugehen, wandte er sich an Dai. „Diese Bar… das Inosan. War die bei deinem letzten Besuch auch schon ein Treffpunkt für die Kriminellen dieser Stadt?“ „Ähm… nicht, dass ich wüsste. Ist bestimmt schon drei Jahre her, seit ich dort war.“ „Ah, okay.“ Niikura nahm einen Zug von seiner Zigarette, ehe er fortfuhr. „Eine klassische Bar sieht für mein Verständnis anders, aber egal. Jedenfalls als ich gerade gehen wollte, kamen drei Typen herausgestürmt und bei einem bin ich mir sehr sicher, die Stimme wiedererkannt zu haben.“ Das war ja mal ein Ding. „Denkst du, sie kommen öfters dorthin? Wenn das sowieso inzwischen zum Treffpunkt für Kriminelle geworden zu sein scheint?“ Nachdenklich kratzte er sich am Bart und sah an Dai vorbei zum Fenster. „Gut wär's ja, aber keine Ahnung. So wie ich es mitbekommen habe, waren sie ziemlich verärgert und sowieso schneller weg, als ich reagieren konnte.“ Auf diese Neuigkeiten brauchte ich erstmal Nikotin. Ungefragt angelte ich mir einen weiteren Glimmstängel aus der Schachtel. In meinem Kopf ratterte es. „Gotamo City ist anscheinend echt ein Dorf“, murmelte Dai, während er Niikura mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Laut fügte er hinzu: „Aber es ist ein Anfang. Wir müssen unbedingt nochmal hin, vielleicht tauchen sie ja wieder auf.“ „Ja, auf alle Fälle…“ Kurz sah Niikura meinen Kollegen an, ehe er sich ruckartig erhob, sich die Zigarette in seinen Mundwinkel klemmte und zu dem Zettel- und Bilderchaos in der Mitte des Raumes ging. Für einige Sekunden blieb er regungslos davor stehen, als würde er etwas Bestimmtes suchen, dann bückte er sich und nahm etwas an sich, das ich aus der Entfernung nicht erkennen konnte. „Und ich muss auch noch wegen dem hier dorthin.“ Der Stuhl knarrte, als Niikura sich wieder mir gegenüber niederließ und das Etwas auf den Tisch legte. Neugierig rückten Dai und ich näher heran. Es war ein Foto, schon etwas in die Jahre gekommen. Eine Ecke hatte einen Knick. Die Qualität war nicht besonders toll, aber dennoch waren die beiden Personen auf dem Bild gut zu erkennen. Das eine war unverkennbar die breit lächelnde Frau Sumida. Ich erkannte sie von den unzähligen, anderen Bildern, die wir in den letzten Tagen durchgesehen hatten, wieder. An ihrer Seite stand ein Junge, vielleicht zehn, elf Jahre alt – schwer zu schätzen, denn sein langer, dunkler Pony verdeckte einen Teil seines Gesichtes. Und dennoch… irgendetwas rührte sich in mir und ließ meinen Puls in die Höhe schnellen. Neben mir gab Dai ein Keuchen von sich. Diese Gesichtszüge, die Statur. Er war zwar hier wesentlich jünger als auf dem anderen Foto, aber… War das wirklich - ? Plötzlich erschien Niikuras Finger in meinem Blickfeld, er deutete auf etwas, das eher undeutlich im Hintergrund zu sehen war und dem ich bisher noch keine Beachtung geschenkt hatte. Ich versuchte mich zu konzentrieren, mich nicht von den neuen Informationen überrumpeln zu lassen. Ich kniff die Augen zusammen, versuchte zu erkennen, auf was er gerade deutete. War das eine Hausnummer? 35 vielleicht. Oder 32? Es war zu verschwommen. „Es ist die Nummer 33“, holte mich Niikuras Stimme aus meiner Betrachtung. „Es ist dasselbe Haus, in dem sich heute das Inosan befindet.“ Oh. „Und…“ Er nahm das Foto und drehte es schwungvoll um. Ich brauchte einen Moment, bis ich die inzwischen teils verblasste, aber dennoch fein säuberliche Schrift am unteren Bildrand entziffern konnte: April - jährliche Kirschblütenschau mit Shinya-kun. Nachwort Tja, nun habe ich fast ein halbes Jahr gebraucht, um ein neues Kapitel hochzuladen. Aber das Wetter war einfach nicht passend *lach* Irgendwie kann ich an dieser FF nur in der dunklen Jahreszeit schreiben, sonst komm ich nicht rein. Wobei ich auch zugeben muss, dass dieses Kapitel schon seit einem halben Jahr fertig war und ich es nur nicht hochladen wollte, weil ich eventuell noch etwas ändern wollte. Naja.^^" Ich hoffe, ich komm jetzt wieder zügiger voran. Feedback wäre wie immer super ^^ Liebe Grüße Luna Kapitel 10: ------------ Kapitel 10 Tief zog ich am letzten Rest meiner Zigarette, ehe ich sie austrat und zu dem Gebäude wenige hundert Meter entfernt blickte. Hatte es nachts schon heruntergekommen gewirkt, jetzt umso mehr. Im trüben Licht des Tages war deutlich zu erkennen, dass es mehr Stellen gab, an denen die steinerne Fassade bröckelte als an denen, wo sie noch intakt war. Jedes zweite Fenster in den obersten Etagen waren zerschlagen. Allerdings sah es nicht so aus, als würden sie überhaupt genutzt werden, weshalb es vermutlich niemanden interessierte, ob es reinregnete oder nicht. Das Einzige, was noch einigermaßen ansprechend wirkte, war das Schild über dem Eingang. „Irgendwie hatte ich das Inosan weniger… naja… schäbig in Erinnerung“, murmelte Andou neben mir.   „Wann war dein letzter Besuch hier nochmal?“ „Vielleicht vor so drei oder vier Jahren, denke ich.“ Plötzlich lachte er leise auf. „Eigentlich ist mir der Laden nur in Erinnerung geblieben, weil ich damals das Mädel an der Bar so heiß fand.“ Amüsiert schnaubend stieß ich die Luft durch die Nase aus. „Ich geh mal stark davon aus, dass in der Zeit der Besitzer gewechselt hat. Aber vielleicht arbeitet deine Bar-Dame ja doch noch hier. Hab letztes Mal nicht besonders auf die Damenwelt dadrin geachtet.“ Wieder lachte er. „Na, dann halten wir heute einfach beide die Augen offen.“ „Ja, sollten wir.“ Ich atmete noch einmal tief durch, ehe ich mich langsam in Bewegung setzte. Dann mal auf in die Höhle des Löwen. Ich konnte nicht verhindern, dass die Anspannung in mir wuchs, je näher wir dem Inosan kamen. Ob wir heute weiterkommen würden? „Wie gehen wir eigentlich vor? Hast du dir schon etwas überlegt?“ Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Andou mit den Schultern zuckte. „Ich würde sagen, wir krallen uns den Boss und hoffen darauf, dass der uns sagen kann, was Frau Sumida mit ihrem Zettel bezwecken wollte.“ Das klang nach einem zu simplen Plan als dass er funktionieren konnte – auch wenn ich es mir wünschte. Doch wenn ich mich an die finsteren Visagen vom letzten Mal erinnerte, bezweifelte ich stark, dass überhaupt jemand mit uns reden würde. Aber irgendwo mussten wir schließlich anfangen. Das Foto, das mir gestern wie ein zufällig gefundener Schatz in die Hände gefallen war, hatte ich sicher in der Jackentasche verstaut. Und vielleicht konnte das Foto einer alten, freundlichen Dame so manches harte Gangster-Herz erweichen und sie etwas gesprächiger machen. Aber erstmal mussten wir überhaupt reinkommen. Wir hatten keinerlei Befugnisse und Rechte und waren daher blöderweise auf das Wohlsinnen der anderen angewiesen. Vermutlich wäre es besser gewesen abends herzukommen, wiederum liefen wir tagsüber wenigstens nicht in Gefahr, dass, sollte doch etwas schief gehen, uns plötzlich zwanzig Typen gegenüberstanden und an den Kragen wollten, sondern vielleicht nur drei. Hoffentlich. Der Türsteher, der uns aus kleinen, misstrauischen Augen entgegenstierte und sich sogleich ein Stück gerader hinstellte, sah nicht mehr ganz frisch aus. Es war derselbe wie bei meinem ersten Besuch. Stand der etwa Tag und Nacht hier rum? Meine Unruhe wuchs. Was sollte ich sagen, wenn er uns fragte, was wir hier wollten? Ich konnte ja schlecht verkünden, dass wir einige Fragen zu bestimmten Personen hatten, die eventuell etwas mit dem Inosan zu tun hatten. Wobei… konnte ich schon, aber dann kämen wir sicher nicht mal einen Zentimeter über die Schwelle. Alles, was auch nur ansatzweise nach neugierigen Cops oder ähnlichem roch, stand bei diesen Leuten auf der Abschussliste. Deshalb hatte ich auch nur Andou mitgenommen, damit wir so etwas mehr wie normale Gäste wirkten, als wenn wir hier zu dritt aufgekreuzt wären. Außerdem war Andou ja schon einmal hier gewesen und kannte sich aus. So hatte zumindest meine ursprüngliche Überlegung  ausgesehen, die sich nun allerdings zerschlagen hatte, da sich in den letzten Jahren hier wohl einiges geändert hatte. Damit war Andous früherer Besuch irrelevant geworden. Noch während ich mir den Kopf zerbrach, wie wir reinkommen könnten, nahm der Türsteher mir die Entscheidung ab. Nachdem er Andou kurz kritisch  gemustert hatte und mir nur einen flüchtigen Blick schenkte, nickte er und zog die schwere Eingangstür auf. Dass ich verblüfft war, war gar kein Ausdruck. Beinahe wäre ich stehengeblieben, wenn Andou mich nicht unauffällig weitergeschoben hätte. Erst als die Tür hinter uns ins Schloss fiel und den kurzen Gang vor uns wieder in dämmriges Licht tauchte, hielt ich an und drehte mich zu meinem Begleiter um. Er wirkte nicht minder irritiert, überspielte es aber recht gut mit einem kleinen Schmunzeln. „Also entweder die lassen hier jeden rein oder die kennen dich bereits. Bist wohl doch Stammgast hier und hast es vergessen zu erwähnen“, scherzte er. Ich schwieg und versuchte stattdessen die Unruhe in meinem Inneren etwas in den Griff zu bekommen. Der große Hauptraum war, wie erwartet, deutlich leerer als vorgestern. An einer handvoll Tischen saßen zwar einige Männer und führten gedämpft Gespräche, aber dennoch hatte ich das Gefühl, man könnte hier eine Nadel fallen hören, wenn es drauf ankam. Alles hatte den Eindruck einer geschlossenen Gesellschaft und wir gehörten nicht hierher. Es war doch eine blöde Idee gewesen, um diese Uhrzeit herumkommen. Aber wie man es machte, machte man es sowieso verkehrt. Hinter mir hörte ich Andou leise „Definitiv anders als früher“ murmeln, während wir festen Schrittes auf die Bar zusteuerten, um nicht wie auf dem Präsentierteller inmitten des Raums zu stehen. Diesmal stand eine junge Frau mit einer auffällig roten Stachelfrisur und einer Menge Metall im Gesicht hinter dem Tresen. Erwartungsvoll blickte sie uns entgegen. „Hey, was darf's sein?“ Kurz sah ich noch einmal über die Schulter durch den Raum, ob mir irgendwer ins Auge stach, der wie der Chef des Ladens wirkte, ehe ich mich über die Theke zu ihr beugte. „Im Moment nichts, danke. Wir würden gerne mit dem Boss sprechen.“ Dabei versuchte ich mich an einem gelassenen Lächeln, um einen harmlosen Eindruck zu erwecken. Nur funktionierte das mehr schlecht als recht, denn ihr gerade noch freundlicher Gesichtsausdruck machte einem misstrauischen Platz und sie ging automatisch einen Schritt auf Abstand. „Und Sie sind…?“ Ich tauschte einen flüchtigen Blick mit Andou, der kaum sichtbar nickte, dann griff ich in meine Jackentasche, holte das Foto hervor und schob es ihr hin. Dumm stellen, brachte schließlich nichts. „Wir haben Fragen zu dieser Frau. Kennen Sie sie vielleicht?“ Hatte ich irgendeine Reaktion erwartet, wurde ich enttäuscht. Sie hatte sich sehr gut im Griff, in ihrem Gesicht zeigte sich keine Regung, als sie das Bild einige Sekunden lang betrachtete. „Nein…“ Ich wollte gerade nachhaken, als ich bemerkte, dass sie gar nicht mehr das Bild ansah, sondern die Tattoos auf meinen Händen musterte. Meist war es nichts Ungewöhnliches, wenn Leute meine Tattoos näher betrachten und mich darüber versuchten irgendwie einzuordnen. Aber die Art, wie sie es tat, ließ mich stutzen. Als würde sie nach etwas Bestimmten suchen. Stirnrunzelnd sah ich auf meine linke Hand, die bereits nach das Foto gegriffen hatte. Hatte ich was verpasst? Soweit ich wusste, waren über Nacht keine neuen Muster und Buchstaben dazugekommen. Alles wie gehabt. Was hatte sie? Plötzlich wandte sie sich ruckartig ab und ging durch eine schmale Tür auf der Rückseite davon. Etwas aus dem Konzept gebracht sah ich zu Dai, der mit gerunzelter Stirn auf die Stelle starrte, wo die Frau verschwunden war. „Ehm…“ „Ja, das lief jetzt nicht ganz so gut, würde ich sagen.“ Wohl wahr. „Vielleicht holt sie gerade die Rausschmeißer.“ Auf die konnte ich definitiv verzichten, trotzdem wollten wir jetzt erst recht warten, was als Nächstes folgte. Außerdem – warum hatte sie mich so angestarrt? „Übrigens, die war's damals nicht gewesen.“ Wider Erwarten stahl sich ein kleines Schmunzeln auf meine Lippen. Kurz darauf ging die Tür erneut auf, doch statt der Rothaarigen kam jemand anders heraus. Auch wenn es beim letzten Mal recht dunkel gewesen war, erkannte ich ihn sofort wieder. Die blondierten Haare waren unverändert streng nach hinten gekämmt, eine Zigarre hing fast schon demonstrativ im Mundwinkel. Beinahe wäre ich zusammengezuckt, als sein direkter Blick meinen traf. Doch ich riss mich zusammen und versuchte es Andou gleich zu tun und möglichst gelassen am Tresen gelehnt stehen zu bleiben. Hätte ich noch Zweifel gehabt, wer sich gerade trotz seiner geringen Größe vor uns aufbaute und jeden einer intensiven Musterung unterzog, spätestens die beiden Schränke, die nach ihm durch die Tür getreten waren und dort Stellung bezogen, gaben Aufschluss darüber. „Was wollt ihr?“ Seine Stimme klang überraschend weich und dennoch schaffte er es, ihr einen bedrohlichen Unterton zu verleihen, ohne dabei laut zu werden. Und er bestätigte meinen ersten Eindruck von sich: den wollte ich wirklich nicht zum Feind haben. Auf seine Art hatte er etwas Einschüchterndes, ohne dass ich sagen konnte, woran es genau lag. Dabei hatte ich schon mit mehr als „bösen Jungs“ zu tun gehabt, aber der hier war anders und das lag nicht nur in seinem Äußeren. Während ich noch mit mir rang , wie ich ihm unsere Fragen am besten vorbringen könnte, ignorierte Andou anscheinend die angespannte Situation und deutete auf das Foto, das unverändert auf dem Tresen lag. „Wir sind wegen dieser Dame hier. Und dem Jungen.“ Ohne überhaupt nur einen Blick auf das Bild zu werfen, starrte der Blonde Andou an und blies den Rauch in seine Richtung. „Kenn ich nicht.“ Sekunden später sah ich mich erneut mit den fast schwarzen Augen konfrontiert. „Du warst schon mal hier.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Das ist richtig.“ Da er nicht einmal das Mindestmaß an Höflichkeit an den Tag legte, entschloss ich mich ähnlich direkt zu sein. „Sicher, dass Sie die Frau nicht kennen? Ihr Name ist Sumida Kaede und der Junge neben ihr heißt Terachi Shinya.“ Er zuckte nicht einmal mit einer Wimper, als er mit einem trockenen „Kenn ich trotzdem nicht.“ die Frage abschmetterte und dafür an seiner Zigarre zog. Sein Blick schien mich regelrecht zu durchleuchten. „Seid ihr Bullen oder was?“ Die Art, wie er mit uns sprach, ging mir trotz seiner bedrohlichen Ausstrahlung gehörig gegen den Strich und beinahe wäre mir ein „Nein, aber besorgte Bürger.“ herausgerutscht, aber ich schluckte es im letzten Moment herunter. Stattdessen entschied ich mich für einen Teil der Wahrheit. Denn wenn er wirklich einer derer war, die überall im Hintergrund ihre Strippen zogen, dann flogen Lügen schneller auf, als wir wegrennen konnten. „Wir sind Privatdetektive.“ Dass Andou keiner war, war im Augenblick scheißegal, denn er arbeitete ja sowieso in seiner Freizeit an dem Fall und war somit mein unmittelbarer Kollege. „Der Junge auf dem Foto wird seit Wochen vermisst und einige Hinweise haben uns zu Ihrer… Hm… Bar geführt.“ Ich wusste immer noch nicht, wie ich das Inosan bezeichnen sollte. Außerdem war das mit den Hinweisen reichlich hochgestapelt, aber ich konnte ihm ja schlecht unter die Nase reiben, dass wir nur wegen eines Zettels mit dem Bar-Namen hier aufkreuzten und eben wegen jenes Fotos. Das war schon sehr dürftig, das wusste ich selbst. Aber was anderes hatten wir nicht. „Aha. Sagt mir trotzdem nichts. War's das?“ In meinem Kopf herrschte Leere. Was sollten wir tun? Wieder eine weitere Mauer, vor der wir standen. Und hier noch andere Mitarbeiter zu befragen, würde der Blonde sicher nicht zulassen. Also, was sollten wir tun? Wieder alles von vorn? Ich war ratlos… und frustriert. „Ja… danke.“ Es war einfach nur zum Kotzen. Wo sollten wir als Nächstes ansetzen? Ich hatte irrsinniger Weise die, wie sich jetzt herausstellte, lächerliche Hoffnung in mir getragen, dass, wenn schon niemand den Vermissten kannte, mir wenigstens jemand etwas zu Frau Sumida sagen könnte. Sie hatte den Zettel doch nicht nur als Werbezweck unter meiner Tür durchgeschoben, damit ich mich hier betrinken konnte. Aber nein, nichts. Es würde uns keiner was sagen, selbst wenn er Informationen hatte. Plötzlich vernahm ich Andous Stimme neben mir. „Eine Frage hätte ich noch.“ Er beschrieb die Männer, die ich letztens vor dem Inosan gesehen hatte und als die Mörder von Frau Sumida wiedererkannt hatte. Richtig, die musste er kennen, schließlich waren sie hier gewesen und hatten anscheinend irgendwelche Geschäfte abwickeln wollen. Doch der Blonde blickte Andou sekundenlang ausdruckslos an, ehe er seine Mundwinkel spöttisch nach oben zog. „Was glaubst du eigentlich, wie viele Leute mit der Beschreibung hier ständig ein und aus gehen?“ In mir erstarb das letzte Stück Geduld und Hoffnung. Es brachte einfach nichts. Schnaubend stopfte ich das Foto unsanft in meine Jackentasche zurück und wandte mich ab. Innerlich kochte ich, war sauer auf alles und jeden, weil nichts funktionierte und wir ständig auf Mauern des Schweigens stießen. Eigentlich konnten wir es auch gleich lassen. Scheiß drauf. Allmählich war ich bereit alles hinzuwerfen, wenn meine Berufsehre mich nicht noch irgendwo aufrecht halten würde. Doch als ich mich entfernen wollte, hörte ich die weiche Stimme des Blonden hinter mir, deren Worte mich erstarren ließen. „Sollte mir doch noch etwas einfallen, weiß ich ja, wo die Detektei zu finden ist.“ * Ein lautes Krachen und das Geräusch schneller Schritte über den Betonboden ließen mich von meinem Buch aufsehen und erwartungsvoll zur Zimmertür blicken. Wenige Sekunden später wurde sie aufgerissen. Das Erste, was ich sah, war das Glimmen einer Zigarre, ehe sich ein mürrisch dreinblickendes Gesicht aus dem Halbdunkel des Ganges abzeichnete. Ich unterdrückte ein Seufzen, als mir der mittlerweile vertraute Geruch von abgestandenen Rauch entgegenwehte. Widerlich. „Mach bitte die Zigarre aus, bevor du reinkommt, Kyo. Es reicht schon, dass der gesamte Gang danach riecht.“ Ein Schnauben antwortete mir, doch ich wusste, egal wie sehr ihn meine Forderung nervte, er würde ihr nachkommen. Schmunzelnd stand ich von dem schmalen Bett auf und ging zum Fenster, um wenigstens etwas Frischluft hereinzulassen. Ich warf einen kurzen Blick an den Gitterstäben, die von außen angebracht worden waren, vorbei, auf den kleinen Innenhof. Viel zu sehen, gab es nicht. Die Erde war völlig aufgeweicht, in den unzähligen Pfützen spiegelten sich die angrenzenden Häuser. Kaum vorstellbar, dass dieser trostlose Fleck früher einmal ein Garten gewesen war, der einer Oase zwischen steinernen Fassaden gleich gekommen war. Oder nein, nicht wie eine Oase, sondern vielmehr wie ein kleines Paradies. Denn dadurch, dass es von außen keinen direkten Zugang dazu gab und man nur durch ein Gewirr aus Gängen hinein gelangen konnte, war dieser Ort absolut geschützt gewesen. Jedenfalls war es mir als Kind so vorgekommen. Heute wäre es ein Leichtes den Zugang zu finden, ohne dabei Angst zu haben, sich zu verlaufen. Aber es gab keinen Grund mehr dorthin zu gehen. Vom einst großen, blühenden Kirschbaum in der Mitte des Hofes war nur noch ein Skelett übrig. Die grüne Wiese, auf der ich als Kind oft unter den wachsamen Augen meines Kindermädchen gespielt hatte, war einer braunen Schlammgrube gewichen. Es tat beinahe weh, diesen Ort, wo ich viele unbeschwerte Stunden verbracht hatte, nun so zu sehen. Aber es ließ sich nicht mehr rückgängig machen, generell hatte sich zu viel verändert. Seufzend riss ich mich von dem traurigen Bild los und drehte mich zu meinem Gast um, der es inzwischen auf einem der zwei Stühle im Raum gemütlich gemacht hatte und mich finster anstarrte. Das störte mich herzlich wenig, denn er sah die meiste Zeit so aus, selbst als Kind schon. Das war einfach seine Art. Ich ließ mich auf dem Bett nieder, das leise, knarrende Geräusche von sich gab. Das Zimmer war so klein, dass wir uns faktisch gegenübersaßen und ich ihn berühren konnte, wenn ich die Beine ausgestreckt hätte. Doch ich tat es nicht, sondern zog sie an und sah meinen Besucher abwartend an. „Es wurde nach dir gefragt.“ Ich konnte nicht verhindern, dass mein Herz einen aufgeregten Sprung machte. „Wer?“ Doch statt mir zu antworten, lehnte er seinen Kopf nach hinten gegen die Wand und betrachtete mich aus halbgeschlossenen Lidern. Würde ich ihn nicht schon so lange kennen, wäre ich sicher unruhig geworden, doch so wartete ich nur geduldig und hakte schließlich noch einmal nach, als es mir zu lange dauerte. „Wer, Kyo?“ Er verzog seinen Mund so, dass ein Teil seiner Zähne zu sehen waren, die ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Hai verliehen. „Dieser Detektiv… Nishikara oder so. Auf den du gehofft hattest. Hatte eigentlich gedacht, der kommt eher. Und da war noch ein anderer -“ Das kurze Lachen, das sich seinen Weg aus meiner Mitte brach, kam derart unerwartet, dass Kyo abbrach und mich verwirrt ansah, während ich für einen Moment die Augen schloss und tief durchatmete. Endlich. Ich hatte schon lange darauf gewartet. „Ich habe ihnen aber nichts gesagt“, hörte ich Kyo murmeln. „Das ist in Ordnung.“ War es wirklich. Ich konnte nicht anders als zu lächeln, während ich spürte, wie sich ein Knoten in mir löste. Niikura-San war hier gewesen und das gab mir mit einem Mal ein bisschen Hoffnung, dass sich vielleicht doch etwas in Bewegung gesetzt hatte – dass sich etwas ändern konnte. Ich hatte ihn bisher nie getroffen, kannte ihn nur aus Erzählungen, aber… Irgendwie hatte ich Vertrauen in ihn gesetzt. Dennoch war es gut, dass wir uns bisher nicht begegnet waren. Dafür war mir die Rolle, die die beiden Cops, die ständig mit ihm unterwegs waren, noch zu unklar. Aber Kyos Männer hatten sie im Auge und würden hoffentlich bald nähere Informationen bringen, wenn sie sich denn nicht ständig von ihnen erwischen ließen. Aber… er war hier gewesen, das hieß, er hatte die Spur zu mir aufgenommen. Blieb zu hoffen, dass er dran blieb. Denn egal, wie unsicher mir das Ganze bisher noch erschien, ich vertraute auf Frau Sumidas Menschenkenntnis und ihre jahrelange Freundschaft zu diesem Mann. Deshalb wollte ich ihn treffen. Kapitel 11: ------------ Kapitel 11 15 Jahre zuvor Schüchtern sah ich zu dem Jugendlichen, der wenige Meter entfernt vor mir stand, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, und mich aus schmalen Augen finster anstarrte. Seine kurzen, dunklen Haare standen vom Kopf ab, auch generell machte er eher einen wilden Eindruck, obwohl er sogar etwas kleiner war als ich. Beinahe wäre ich einen Schritt zurückgetreten, doch hinter mir stand mein neues Kindermädchen, das meinen Fluchtversuch erfolgreich verhinderte. „Shinya-kun, das ist Kyo. Mein Enkel.“ Nervös biss ich mir auf die Unterlippe. Der sollte ihr Enkel sein? Frau Sumida sah immer so nett und freundlich aus – ganz anders als der dort. Und was wollten wir überhaupt hier? Obwohl mich der andere einschüchterte, gab ich mir einen Ruck, straffte die Schultern, so wie ich es von Mama gelernt hatte, und ging einen kleinen Schritt auf ihn zu, um mich zu verbeugen. Als ich wieder aufsah, stand er immer noch ungerührt da, nur seine fast schwarzen Augen lagen auf mir und folgten jeder meiner Bewegungen. „Kyo!“, hörte ich Frau Sumidas Stimme hinter mir. „Sei höflich.“ Endlich löste sich sein Blick von mir. Seine Kiefer war fest zusammengepresst, während er zu Frau Sumida sah. Alles an ihm zeugte von seinem Widerwillen, dass ich hier war. Hätte sie mich nicht vorgewarnt, dass ihr Enkel etwas schwierig war, wäre ich noch mehr in mich zusammengeschrumpft und am liebsten weggerannt. Das konnte ja was werden. Das Lächeln hatte sich automatisch auf meine Lippen geschlichen, während ich in Erinnerungen schwelgte. Schmunzelnd nahm ich einen Schluck aus meiner Teetasse und beobachtete meinen Freund aus Kindheitstagen, der wiederum seinen düsteren Blick auf die Zeitung vor sich gerichtet hatte. Viel hatte er sich seit unserem ersten Aufeinandertreffen nicht verändert – jedenfalls was die Art und Weise seines Auftretens anging, das auf viele durchaus abschreckend wirkte. Und das war pure Absicht, denn ich wusste, er konnte auch anders sein, wenn er denn wollte. Meistens wollte er nur nicht. Es war früher Morgen und damit die einzige Zeit, in der das Inosan leer war und ich mich aus meinem Versteck wagte. So sehr ich die Abgelegenheit der Hinterzimmer schätzte und die damit eingehende Ruhe und Sicherheit, desto sehr erdrückte sie mich auch. Eigentlich war es fast das Gleiche wie in meinem Elternhaus – auch wenn es hier dennoch besser war. Wie gerne wäre ich raus auf die Straße gegangen, um etwas anderes zu sehen als diese vier Wände und den kargen Innenhof. Aber es ging nicht. Die Gefahr, dass mich irgendjemand erkannte und an meinen Stiefvater verpfiff, war einfach zu groß. Der ganze Aufwand sollte nicht umsonst gewesen sein. „Was starrst du so?“ Die harschen Worte rissen mich aus meinen Gedanken. Blinzelnd ließ ich die Tasse sinken und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. „Entschuldige bitte. Das war nicht beabsichtigt.“ Ein Murren antwortete mir, ehe er zu seiner Kaffeetasse griff und einen kräftigen Schluck daraus nahm. Unwillkürlich musste ich wieder schmunzeln. Ich war froh darüber, dass wir wenigstens morgens zusammen frühstückten, solange die Bar noch geschlossen war. Das bedeutete zwar, dass Kyo noch weniger Schlaf bekam, da die Bar meist bis 3 Uhr in der Früh geöffnet hatte, aber ich war ihm unheimlich dankbar für unsere kleine Tradition, die sich in den letzten Wochen eingeschlichen hatte. Obwohl seine Laune durchaus zu wünschen übrig ließ, aber damit konnte ich leben. Es war ja nicht so, dass ich ihn dazu zwang. Außerdem wollte er mich vermutlich auch nicht in meinem winzigen Zimmer versauern lassen und freute sich insgeheim über Gesellschaft. Nicht, dass er das jemals zugeben würde. „Ich habe mich übrigens vorhin an unsere erste Begegnung erinnert.“ Wie erwartet rutschten Kyos kaum vorhandene Augenbrauen nach oben. „Bist du gerade auf einen nostalgischen Trip?“ Lächelnd schüttelte ich den Kopf. „Nein, keine Angst.“ Trotz seiner manchmal recht rüden Art wusste ich mittlerweile nach all den Jahren, wie ich ihn zu verstehen hatte. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten waren wir dann doch zu so etwas wie Freunden geworden. Ob es ausschließlich Frau Sumidas Beharrlichkeit zu verdanken war, mich immer wieder zu ihrem Enkel mitzunehmen, damit ich mal etwas anderes als das Familienanwesen zu sehen bekam und mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen konnte, wusste ich nicht. Irgendwann war es wie selbstverständlich gewesen, einmal in der Woche im Hof zusammenzuhocken und zu spielen, obwohl Kyo einige Jahre älter war. Es hatte sich für mich normal angefühlt, einfach nur einem Ball hinterherrennen zu dürfen, ohne die finsteren Blicke der Gärtner zu befürchten, die den Rasen auf den elterlichen Grundstück mit ihrem Leben verteidigten. Hier war ich zum ersten Mal frei gewesen. Keine kritischen Bemerkung, wenn etwas nicht der Etikette entsprach, keine Forderungen, keine Angst etwas falsch zu machen. Da waren nur Frau Sumida, Kyo und ich gewesen. Und auch wenn die Wohnung, in der Frau Sumida mit Kyo, nach dem Tod von dessen Mutter lebte, sehr klein war und bei weitem nicht dem entsprach, was ich gewohnt war, hatte es sich wie ein Zuhause angefühlt. Dass diese wöchentlichen Besuche ohne die Erlaubnis meines Stiefvaters stattfanden, war mir damals als Kind nicht klar gewesen. Es war selbstverständlich gewesen, diese Ausflüge zu verschweigen und nur etwas von Spaziergängen zu erzählen, wenn ich gefragt wurde. Frau Sumida hatte es immer »unser kleines Geheimnis« genannt und das war es bis heute geblieben. Und es war meine Rettung gewesen, denn sonst hätte mein Stiefvater mich vermutlich schon längst aufgespürt. Leider war diese kleine, heile Welt irgendwann für mich zerbrochen. Mit 15 Jahren war ich schließlich zu alt für ein Kindermädchen geworden. Frau Sumida wurde entlassen und der Kontakt beschränkte sich nur noch auf vereinzelte Briefe, die auf wundersame Weise, an den wachsamen Augen meines Stiefvaters vorbei, zu mir gelangt waren. Umso größer war meine Bestürzung, als ich nach meiner Flucht vor knapp einem Monat das erste Mal wieder einen Fuß in dieses Gebäude gesetzt hatte, das mir früher wie ein zweites Zuhause vorgekommen war. Die Wohnungen waren inzwischen alle leergezogen oder waren komplett zur Bar umgebaut worden. Kyos Bar. Die nun, wie schon Jahre zuvor, zu meinem persönlichen Unterschlupf wurde. Seufzend stand ich auf, griff nach meiner Tasse. „Möchtest du auch noch einen?“ Augenblicklich wurde mir die leere Kaffeetasse entgegengestreckt. Erneut zuckten meine Mundwinkel, als ich mich abwandte, um an der Bar für Nachschub zu sorgen. Obwohl wir uns jahrelang nicht gesehen hatten und ich auch ein wenig Furcht davor gehabt hatte, Kyo wieder zu treffen, war alles recht gut vorlaufen. Zwar hatte er mich nicht unbedingt freudestrahlend empfangen, aber dennoch nie das Gefühl gegeben, anders zu sein als die anderen, obwohl ich der Adoptivsohn einer seiner Widersacher war. „Hier, bitte schön.“ Mit einem leisen Klonk setzte ich die Tasse auf ihren Unterteller. Kyos „Danke.“ war wie immer unhörbar, wurde aber dieses Mal von einem „Was willst du jetzt eigentlich wegen Nikawa… Niikaru… also wegen dieses Detektivs machen?“ ergänzt. Mir einen Kommentar verkneifend schob ich mich auf die Sitzbank zurück. Kyo würde sich den Namen wohl nie merken, beziehungsweise er wollte einfach nicht. Aber generell war es eine gute Frage, auf die ich keine Antwort wusste. Seit Niikura-San hier gewesen war, waren drei Tage vergangen. Kyos Männer war es inzwischen wenigstens gelungen an diesen beiden Polizisten, die ständig in der Detektei vorbeikamen, dranzubleiben ohne entdeckt zu werden. Doch schlauer waren wir nicht geworden. Sie liefen Streife in der Nordstadt, erstatten anscheinend dreimal die Woche im Revier Bericht und das war's. Wären sie nicht jeden Abend in Niikuras Büro zugegen, hätte ich sie nicht mal beachtet. Aber da jener anscheinend viel mit ihnen zu tun hatte und sie duldet und ich obendrein auf Frau Sumidas Menschenkenntnis vertraute, war ich allmählich soweit, sie nicht als unmittelbare Bedrohung zu sehen – wie so viele andere aus ihrem Berufsstand. Niikura-San schien ihnen schließlich auch etwas abgewinnen zu können. „Ich würde ihn gern treffen.“ Kyos Lippen wurden zu einem schmalen Strich. „Willst du direkt zu dieser Detektei?“ Ich sah ihm an, wie wenig ihm dieser Gedanke gefiel. „Ich hatte eher daran gedacht, ihn hierher einzuladen. Oder was meinst du?“ Begeisterung sah definitiv anders aus, verübeln konnte ich es ihm nicht. „So wenig ich irgendwelche Schnüffler in meinem Laden sehen will, so schlecht werden wir wohl drum rum kommen, wenn du nicht ewig im Hinterzimmer hausen willst. Und wenn ich mir den Scheiß in der Zeitung angucke…“ Mit einer unwirschen Geste schob er sie zu mir hinüber, damit ich einen Blick darauf werfen konnte. Allerdings wusste ich schon, was darin stand. „… sollten wir langsam mal etwas tun.“ Ich fuhr mich seufzend durchs Haar und schloss für einen Moment die Augen. Einen konkreten Plan, wie es weitergehen sollte, hatte ich nicht, nur eine vage Ahnung. Irgendwie mussten wir schließlich weitermachen. Generell war meine Flucht eher überstürzt gewesen, aber eine weitere Chance hätte ich nicht bekommen. Nachdem ich mich vor zwei Jahren geweigert hatte, in das Geschäft meines Stiefvaters einzusteigen, war die Stadtvilla zu meinem persönlichen Gefängnis mutiert. Ich hatte gar nicht mehr nach draußen gedurft, meine zwischenmenschliche Kontakte waren auf das Nötigste reduziert worden. Bis schließlich meine Chance gekommen war, zu verschwinden. Und seither war ich eigentlich nur damit beschäftigt gewesen, herauszufinden, wem ich vertrauen konnte, wer nicht für meinen Vater und dessen Freunde arbeitete und mir irgendwie helfen könnte. Kyo und Frau Sumida waren meine einzigen Vertrauenspersonen. Letztere war es auch gewesen, die mir in einem Brief kurz vor meiner Flucht, Niikura-Sans Karte geschickt hatte, für weitere Unterstützung. »Auch wenn er mal bei der Polizei gewesen ist, kannst du ihm vertrauen können.« Das waren ihre Worte gewesen, nur leider hatte sie mir nicht mehr darüber erzählt. Nach meiner Flucht hatte ich sie nur zweimal getroffen und dann – Wir hatten es nicht verhindern können. Es war ein Schock gewesen, als die Nachricht über ihren Tod im Inosan angekommen war. Für alle, schließlich kannte sie hier jeder als die gute Seele zwischen all den dubiosen Gestalten. Für mich war sie immer ein fester Bestandteil meines Lebens, unabhängig davon, wie sporadisch der Kontakt in der Zwischenzeit gewesen war. Und Kyo – er hatte nur kurz das Gesicht verzogen, ansonsten keine Schwäche nach außen hin gezeigt. Nur in einem kurzen, ruhigen Moment, als wir nachts wieder einmal in meinem Zimmer zusammen hockten und jeder seinen Gedanken nachhing, da war die Wut über den Verlust aus ihm herausgebrochen. Wir wussten inzwischen, wer sie ermordet hatte und sobald wir alle Details beisammen hatten, würde derjenige kein sonderlich langes Leben mehr haben. Kyos Worte und diese waren niemals nur eine leere Drohung. Bevor ich weiter in düstere Gedanken versinken konnte, holte mich ein leises „Hey.“ zurück. Blinzelnd sah ich auf, begegnete Kyos dunklen Augen, die ruhig und warm auf mir lagen. „Ich werde Enzo mit einem Brief bei Niika-, dem Detektiv eben, vorbeischicken, okay? Dann entscheiden wir weiter.“ Ich schluckte, spürte, wie sich mein Puls nervös beschleunigte. Dennoch nickte ich. * Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich den großen Kerl, der beinahe den ganzen Türrahmen zu meiner Detektei einnahm. Niemals hätte ich mit ihm hier gerechnet, dennoch hatte ich ihn gleich erkannt: Es war der Türsteher des Inosans. Warum tauchte der plötzlich in meinem Büro auf? Mein Herz machte einen kleinen Spruch, als ich mich an die Worte erinnerte, mit denen mich dieser kleine, blonde Kerl das letzte Mal verabschiedet hatte. Wollte der etwa -? Ich setzte mich ein Stück weit gerader hin und verfluchte mich im Stillen dafür, heute Rina in der Wohnung gelassen und sie nicht mit ins Büro genommen zu haben. Doch anscheinend war meine Sorge unbegründet, außer ich ging davon aus, jemand wollte mich mit einer persönlich überbrachten Briefbombe in die Luft sprengen. Irritiert blickte ich von dem etwas zerknitterten Umschlag, der mir wortlos entgegengestreckt wurde, zu dem Koloss, der sich unaufgefordert vor meinem Schreibtisch aufbaute. „Was ist das?“ Seine linke Augenbraue zuckte. „Ein Brief.“ Ach ne… „Soll ich Ihnen geben.“ Ich schnaubte über die detaillierte Aufklärung und nahm zögerlich den Umschlag entgegen. Er war eindeutig zu flach, um irgendetwas anderes außer Papier darin zu verstecken. Es stand kein Absender darauf, aber ich konnte es mir schon denken. „Und wieso -“ Ich hatte noch nicht einmal zu Ende gesprochen, da hörte ich die Tür ins Schloss fallen. Mit offenem Mund starrte ich sie an und war im ersten Moment zu perplex, um mich über diesen rüden Auftritt ernsthaft aufzuregen. Dass die Leute auch ständig in mein Büro stürmen mussten! Gedanklich zählte ich langsam bis zehn, um mich so etwas zur Ruhe zu zwingen, während ein kleiner Teil in mir darauf wartete, ob erneut die Tür aufgestoßen wurde und irgendwer hereinpolterte. Doch alles blieb ruhig. Tief durchatmend klemmte ich mir einen Glimmstängel zwischen die Lippen, ehe ich den Umschlag öffnete und ein schmales Blatt Papier herauszog. Unwillkürlich machte sich wieder eine gewisse Nervosität in mir breit. Mittlerweile klammerte ich mich an jedes kleinste Zeichen, denn in den letzten Tagen waren wir wie erwartet kein bisschen vorangekommen. Und das hier war doch so etwas wie ein Zeichen, oder nicht? Die Schrift war ordentlich und fein geschwungen und umfasste nur wenige Zeilen. Stirnrunzelnd las ich sie erneut, während meinen Puls einen ungesunden Zahn zulegte. War das -? »Kommen Sie bitte morgen früh, halb vier, allein zum Inosan.« Kein Absender. Mit leicht zitternden Fingern wendete ich das Blatt, doch es war nichts weiter zu entdecken. Dennoch - Ich konnte nicht verhindern, dass der kleine Funken Hoffnung, den ich schon für erloschen erklärt hatte, wieder neu entfacht wurde. Ich wollte nicht zu viel hineininterpretieren oder gar mehr Informationen erwarten, aber es gelang mir nur schwer. Diese Ausdrucksweise und Schrift traute ich dem kleinen Blonden nicht zu, aber wer hatte diese Nachricht dann geschrieben? Kurz überlegte ich, Hara und Andou Bescheid zu sagen, damit sie mitgingen, aber verwarf den Gedanken gleich wieder Schließlich stand dort »allein« und ich wollte nicht gleich wieder diese überraschende Chance verspielen, nur weil ich diese Anweisung ignorierte. Dann würde ich wohl oder übel dort im Alleingang aufkreuzen. Blieb zu hoffen, dass ich zu dieser unsäglichen Uhrzeit nicht auch noch überfallen wurde. * Wurde ich nicht. Vermutlich schliefen selbst die letzten Gangster zu dieser Uhrzeit, mal abgesehen von den beiden Schnapsdrosseln die gerade durch die Tür des Inosans nach draußen wanken. Irgendwo schlug eine Uhr. Halb vier Uhr morgens. So fühlte ich mich auch: wie gerädert. Ich hatte gerade einmal zwei Stunden geschlafen, ehe ich mich wieder aus dem Bett gequält hatte. Meine Augen juckten und meinem Kopf herrschte dröhnende Leere. Keine Ahnung, ob ich überhaupt aufnahmefähig war. Doch gleichzeitig hielt mich die Aufregung auf den Beinen, die seit Stunden durch meinen Körper jagte. Ich wollte nicht hoffen, aber tat es dennoch. Wehe, ich käme hier nicht wenigstens ein bisschen schlauer raus. Sonst würde ich ausrasten. Gleichzeitig fragte ich mich, wie tief ich gesunken war, sofort zu springen, nur weil irgendwer mich ohne Begründung zu einer dubiosen Bar rief und ich nicht mal in Erwägung gezogen hatte, dass diese Einladung eine Falle sein könnte. Aber warum sollte man mich dafür extra einladen, wenn man doch wusste, wo ich arbeitete? Ich trat die Zigarette aus und ging langsam über die Straße auf den Eingang zu. Ein bekanntes Gesicht sah mir entgegen und nickte mir nur schweigend zu, bevor er die Tür aufzog. Der Kerl schlief wohl wirklich nie. Erst stattete der mir am Vormittag einen Besuch ab, nun stand er hier die halbe Nacht. Gedämpftes Licht und der Geruch von abgestandenen Qualm begrüßte mich hinter der Tür. Selbst ich als ambitionierter Raucher musste kurz die Nase rümpfen. Bei meinen letzten Besuchen hatte ich den Geruch nicht als dermaßen penetrant empfunden. War heute einfach mehr los gewesen oder lüfteten die sonst den ganzen Tag über durch? Prüfend sah ich mich um. Bis auf die Mitarbeiter hinter der Bar war niemand mehr zu sehen. Auf unangenehme Weise fühlte ich mich plötzlich unfreiwillig in den Mittelpunkt. Ich ging langsam weiter, sah mich immer wieder um, in der Hoffnung denjenigen zu entdecken, der mich hierher eingeladen hatte. Doch die rothaarige Frau hinter dem Tresen warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, die anderen ignorierten mich völlig. Ob ich fragen sollte? Plötzlich nahm ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr und blieb unwillkürlich stehen. Mit klopfenden Herzen beobachtete ich den Blonden, der sich langsam von einer der Sitzecken erhob und auf mich zu kam. Mein Fluchtinstinkt meldete sich, doch ich blieb standhaft. Seine Haare waren diesmal nicht so streng nach hinten gekämmt, die Zigarre vom letzten Mal war einer Zigarette gewichen. Wenige Schritte vor mir blieb er stehen, musterte mich auf eine Art, die die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Äußerlich blieb ich gelassen, während ich mich bemühte, diesem Blick standzuhalten. Keine Ahnung, ob es ein Test war oder was er damit bezwecken wollte, aber anscheinend bestand ich. Denn schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit, bildete sich so etwas wie ein Grinsen in seinem Mundwinkel und er wandte sich ab. „Los, komm mit. Wir haben nicht ewig Zeit.“ Kapitel 12: Kapitel 12 ---------------------- Kapitel 12 In der Ferne hörte ich leise eine Tür zuschlagen, mein Herzschlag beschleunigte sich und ich setzte mich noch ein Stück gerader hin. Sie kamen. Erneut wurde eine Tür geöffnet, die alten Dielen im Gang knarrten. Ich hatte das Gefühl, die Zeit lief plötzlich langsamer. Wie gebannt starrte ich auf die Türklinke, immer in Erwartung, sie möge sich endlich bewegen. Gleichzeitig drückte ich mich auf meinem Stuhl noch etwas dichter an die Wand, um den Hereinkommenden nicht sofort ins Auge zu fallen. Solange hatte ich auf diesen Moment gewartet und dennoch war ich nicht wirklich bereit für dieses Treffen.  Der Erste, der hereinkam, war Kyo. In seiner Hand glomm eine Zigarette. Doch ich hatte keine Zeit, ihr Beachtung zu schenken, denn schon erschien eine zweite, dunkle Gestalt im Türrahmen hinter ihm. Unwillkürlich stieß ich die angehaltene Luft aus.  Trotzdem der schwachen Beleuchtung erkannte ich ihn sofort. Niikura-San. Seine Haare waren etwas länger und dunkler, als ich sie mir vorgestellt hatte. Seine Augen wanderten unruhig durch den Raum, der die meiste Zeit als Lager genutzt wurde.  Kyo war gegen ein Treffen in der eigentlichen Bar gewesen, zu groß war die Gefahr, dass plötzlich jemand hineingestürmt kam, der von mir nichts wissen durfte. Und mein Zimmer dafür zu nutzen, wollte ich nicht, schließlich war es mein einziger Rückzugsort. Glücklicherweise gab es noch genug leerstehende Räume in diesem Gebäude. Noch hatte Niikura-San mich nicht entdeckt. Er wechselte seine Jacke von einem Arm in den anderen, dunkle Linien und Muster blitzten auf seiner Haut und den Händen hervor. Ich verkniff mir ein Lächeln und war einmal mehr froh über Frau Sumidas Beschreibungsfähigkeit, die so detailliert gewesen war, dass selbst die Angestellten des Inosans auf den ersten Blick wussten, um wen es sich handelte.  Sie musste ihn wirklich gut gekannt haben. Ehe das Gefühl des Verlustes in mir aufsteigen konnte, löste ich meine verkrampften Finger voneinander und räusperte ich mich verhalten. * Misstrauisch folgte ich dem Blonden durch das Gebäude. Bereits nach dem dritten Abbiegen in einen der dunklen Flure hatte mich das Gefühl beschlichen, dass das Inosan doch deutlich größer war als bisher gedacht. Vermutlich würde ich hier erstmal eine Weile herumirren, bis ich wieder nach draußen fände, sollte der Blonde plötzlich abhauen. Wo brachte der mich eigentlich hin? Und warum folgte ich ihm überhaupt widerstandslos? Ja, richtig, ich wollte endlich Antworten.  Knarrend wurde die nächste Tür geöffnet. Diesmal blieb mein Begleiter allerdings wenige Schritte dahinter stehen. Anscheinend hatten wir unser Ziel erreicht. Ich war immer noch überrascht, dass wir nur zu zweit, ohne seine beiden Schränke von unserer ersten Begegnung, unterwegs waren. Entweder waren die nicht da oder er sah in mir schlicht und einfach keine Gefahr. Ich wusste nicht, ob ich darüber nicht insgeheim etwas beleidigt sein sollte, schließlich war ich mindestens einen halben Kopf größer als er und mal bei der Polizei gewesen. Aber nun gut. Die Luft roch abgestanden. Im schwachen Licht, das von einer Lampe aus dem hinteren Teil des Raumes kam, sah ich Staubpartikel herumwirbeln. Mit Mühe unterdrückte ich ein reflexartiges Husten.  Überall standen Kisten und Paletten herum, von denen ich momentan nicht so genau wissen wollte, was drin war, schließlich wollte ich hier auch irgendwann wieder raus. Ein leises Räuspern brach die Stille, die sich über uns gelegt hatte und ließ mich zusammenzucken.  Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich die schmale Gestalt, die unweit der einzigen Lampe des Raumes an einem Tisch saß und sich nun langsam erhob. Das war - Nein. Ich hatte mit einigem gerechnet, aber nicht damit. Er sah zwar anders aus als auf dem Foto, das mir Hara und Andou vor vielen Wochen unter die Nase gehalten hatten, die Haare waren länger und deutlich heller, aber die feinen Gesichtszüge waren unverkennbar. Irgendwo in meinem tiefsten Inneren war mir klar gewesen, dass Terachi Shinya noch lebte, aber dass er nun so plötzlich vor mir stand, kam dann doch überraschend.  Ich wusste nicht, wie lange ich sprachlos dagestanden hatte und ihn anstarrte, schließlich war es der Blonde, der mich mit einem semi freundlichen „Los jetzt.“ zum Weitergehen antrieb. Terachi Shinya war anders, als ich erwartet hatte. Wobei, wenn ich ehrlich war, hatte ich bisher noch gar nichts erwartet, außer ihn vielleicht irgendwann einmal zu finden. Und nun saß er mir gegenüber an dem alten Holztisch, die Schultern leicht hochgezogen, die Hände im Schoß vergraben. Er war schmal, geradezu dünn, auch wenn der weite Pullover, den er trug, es halbwegs kaschierte. Der lange Pony verbarg einen Teil seines Gesicht, doch bei der kurzen Begrüßung war mir erneut aufgefallen, wie fein, fast schon androgyn seine Gesichtszüge wirkten. Ungewöhnlich.  Ungeduldig wartete ich darauf, dass einer der beiden das Gespräch begann, denn irgendwie tat sich nichts.  Die Unsicherheit, die mein Gegenüber ausstrahlte, schien dem Blonden dafür gänzlich fern. Lässig saß er zurückgelehnt auf dem Stuhl und wippte mit dem Fuß, seit er vorhin nach einem kurzen vorwurfsvollen Blick seitens Terachi, die halb aufgerauchte Zigarette an der Tischkante ausgedrückt und sie achtlos auf den Boden geworfen hatte. Nun ja… seine Bar, sein Abstellraum. Mit einem lauten Murren stieß er mit Fuß gegen den Tisch. „Willst du jetzt mal anfangen oder soll ich?“ Erschrocken, als hätte er sich gerade erst wieder darauf besonnen warum wir hier waren, sah Terachi auf, erst zu dem Blonden, dann zu mir. Ein sichtlicher Ruck ging durch ihn, automatisch zuckten meine Augenbrauen nach oben. Er räusperte sich. „Ja, Entschuldigung vielmals.“ Ein wackeligen  Lächeln huschte über seine Züge. „Ich – ich bin sehr froh, dass Sie hier sind, Niikura-San.“ „Hm… Danke für die Einladung.“ Himmel, klang das dämlich, als wären wir bei dem Geschäftsessen. Ich konnte regelrecht spüren, wie der Blonde neben mir die Augen verdrehte, sein abfälliges Schnauben war unüberhörbar. Doch irgendwie hatte Terachis Art etwas an sich, dass ich einfach eine gewisse, lang versteckte Höflichkeit auskramen musste. Wenn ich nicht aufpasste, machte ich nachher noch einen Diener. Innerlich rief ich mich zur Ordnung, verkniff mir ein Grinsen, während unser ehemaliger Vermisster endlich zu sprechen begann. „Es tut mir sehr leid, dass die Umstände für ein Treffen keine besseren sind und –“ „Was er sagen will, ist, dass hier aktuell der einzige, sichere Platz für ihn ist. Denn draußen hätten ihn die Schergen seines Alten schneller geschnappt als wir bis fünf zählen könnten und damit wäre er dann wohl tot.“ „Kyo!“ Der Blonde hieß als Kyo. Jener reagierte nicht auf den empörten Einwurf, sondern sah mich nur ernst an, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. Schweigend erwiderte ich seinen Blick, während mein Hirn versuchte das Gesagte zu verarbeiten. „Ähm. Okay.“ Und begriff dennoch nichts. Ich atmete tief durch, ehe ich mir mit der Hand durchs Gesicht fuhr und dann von einem zum anderen blickte. „Und nun bitte noch einmal von vorne, damit ich es auch verstehe.“ * Bereits nach wenigen Minuten saß ich mit rauchenden Schädel da, während Terachi mit leiser Stimme erzählte. Das war ganz schön viel auf einmal. Dafür dass ich bisher gefühlt von nichts gewusst und nur an der Oberfläche vor mich hin gekratzt hatte, wirkte das jetzt wie eine wahre Springflut, die auf mich einstürzte. Schließlich unterbrach ich ihn. „Kurzen Moment mal. Nur damit ich das richtig verstehe: Haneda hat dich gefangen gehalten, weil du nicht in seine Geschäfte einsteigen wolltest. Nicht legale Geschäfte, um genau zu sein. Und was für Geschäfte handelt es sich da genau?“ Terachis Blick huschte zu dem Blonden, ehe er mir antwortete. „Soweit ich weiß Waffen und Drogen.“ „Das Übliche also.“ Nichts Neues in dieser Stadt. Dennoch… „Und wir reden hier von dem Haneda, der gerade für den Stadtrat kandidiert?“ Schweigen antwortete mir, aber das reichte. „Oh Mann. Und weiter? Wieso will er dich umbringen?“ „Weil er ein geldgieriger Arsch ist.“ „Kyo! Das kannst du doch nicht so sagen.“ „Natürlich kann ich. Und jetzt tu nicht so, als würde dir noch etwas an ihm liegen. Wer hat dich als Kind immer ignoriert und sich erst an dich erinnert, als klar wurde, dass es keinen leiblichen Nachwuchs von ihm geben würde?“ Schweigend hielt Terachi dem Blick des Blonden stand, während dieser fortfuhr. „Und schöne Nebensache, dass deine Mutter damals noch ein kleines Vermögen mit in die Ehe gebracht hat, das du netterweise mit 22 erbst, weshalb er dich dann doch am Leben lassen musste, als du dich klar gegen ihn gestellt hast. Wirklich schöne Sache. Da reicht es ja, dich als Gefangener im eigenen Haus am Leben zu lassen.“ Er redete sich immer weiter in Rage, während seine dunklen Augen Terachi regelrecht durchbohrten. Dieser hielt sich aber erstaunlich gut, erwiderte nur ruhig seinen Blick. Als ein kurzer Moment des Durchatmens eintrat, sah ich meine Chance. „Und wie pass ich da rein?“ Die Augen des Blonden – ich blieb gewohnheitsgemäß bei der Bezeichnung, denn er hatte sich mir nicht offiziell vorgestellt – schnellten zu mir und sagten so viel wie „gar nicht.“ Stattdessen antwortete Terachi. „Frau Sumida hat Sie empfohlen.“ „Frau Sumida?“ Ich sollte nicht so überrascht sein, wie ich klang, schließlich hatte ich bereits herausgefunden gehabt, dass sie irgendwie mit in der Sache verwoben war. „Ja, ich kenne sie schon sehr lang. Kannte.“ Ein flüchtiger Schatten huschte über die Gesichter der beiden, auf Terachis mehr als auf dem des Blonden. Also wussten sie es. Was wenig überraschend war. „Und Kyo auch.“ Gut, das war eher überraschend, da in meiner Vorstellung dieser kleine, grimmig dreinblickende Kerl wenig mit der gutmütigen Frau Sumida gemein hatte. „Sie war jahrelang mein Kindermädchen gewesen und so haben wir uns kennengelernt.“ Verstehend nickte ich. Irgendetwas in meinem Gedächtnis meldete sich, bezüglich Frau Sumidas früherer Beschäftigungen. Ja, das passte zusammen. „Als ich deutlich gemacht hatte, dass ich mit den ganzen Geschäften nichts zu tun haben möchte, hat mich mein Stiefvater, wie Kyo schon sagte, weggesperrt. Vermutlich, um an das Erbe zu kommen, wenn ich alt genug bin.“ „Nicht nur vermutlich.“ Der Einwurf des Blonden kommentierte Terachi nur mit einem traurigen Lächeln.  „Ja… jedenfalls war der Kontakt zu Außenwelt komplett unterbunden und zu dem Zeitpunkt war Frau Sumida leider auch nicht mehr da, da ich zu alt für ein Kindermädchen geworden war.“ Und es Haneda wohl sowieso egal war, was aus seinem Stiefsohn wurde. Doch das behielt ich für mich, es war offensichtlich genug. „Glücklicherweise haben wir es dennoch irgendwie geschafft, in Kontakt zu bleiben.“ Ein sanftes Lächeln zierte die glatten Gesichtszüge. „Und dann?“ „Irgendwann kam der –“ Der Blonde unterbrach ihn. „Ich mach's jetzt mal kurz, weil ich nachher noch ins Bett will.“ Fast hätte ich aufgelacht, über seine grobe Direktheit. Er wurde mir sympathisch, schließlich sagte er einem, woran man war. „Shinya hat Kopien mit Überweisungen, Kontakten und so weiter als Pfand für sein Leben mitgehen lassen.“ „Bitte?“ Mein Blick schnellte überrascht zu dem Jüngeren, der etwas verlegen auf die Tischplatte sah. Das hätte ich seiner unscheinbaren Art und Weise gar nicht zugetraut. „Ist ja wohl klar, dass Haneda ihn, sobald er das Geld hätte, nicht mehr braucht. Somit war das eine Chance, wenigstens etwas in der Hand zu haben.“ „Und was wolltest du damit machen? Du warst doch gefangen und mit den Zetteln vor der Nase deines Stiefvaters rumzuwedeln,  hätte vermutlich nicht viel gebracht.“ „Das war uns klar, deshalb hat Shinya die Unterlagen ja auch aus dem Haus schmuggeln lassen.“ „Ah ja?“ Meinen überraschten Blick beantwortete der Blonde nur mit einem kurzen, schiefen Grinsen, während Terachi weiter verlegen schwieg. Der hatte ja einiges auf den Kasten und war nicht unterschätzen. „Der Plan war gewesen, im Fall der Fälle die Informationen der Öffentlichkeit zu zuspielen. Dumm nur, dass Haneda und die Presse in einem Boot sitzen.“ Okay, etwas, das bei der aktuellen Lage nicht verwunderlich war. „Und kleinere Verlage?“ Der Blick, der mich traf, sagte mir wenig blumig, ob ich nicht doch bescheuert war. „Auf die Idee wären wir ja niemals gekommen. Ich hab genug Kontakte und ich kann dir sagen, die meisten unabhängigen Herausgeber sind mittlerweile aufgekauft oder haben zu viel Schiss.“ „Jaja, ist ja in Ordnung. Man wird ja mal noch laut denken dürfen.“ Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Terachi leicht schmunzelnd unsere Diskussion verfolgte. „Und was hab ich jetzt damit zu tun? Ich bin weder Journalist, noch hab ich sonderlich viel was zu sagen. Und meine Detektei hält sich auch nur geradeso über Wasser.“  Ich ahnte die Antwort auf meine nächste Frage bereits, dennoch musste ich sie stellen. „Und was ist mit der Polizei?“ Kurz herrschte Stille, dann brach der Blonde in Gelächter aus. Meine Nackenhaare stellten sich auf. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Bist doch selbst jahrelang bei dem korrupten Haufen gewesen, da kannst du dir ausrechnen, dass der ein oder andere Name in den entsprechenden Unterlagen auftaucht. Und ich werd da definitiv nicht reinspazieren. Die warten doch nur drauf, dass ich mich aus meinem Gebiet wage, um mir dann meine Geschäfte zu vermiesen.“ Ich fragte nicht nach, um was es sich bei diesen Geschäften genau handelte, viele verbleibende Möglichkeiten in diesem Milieu gab es nicht.  Während der Blonde mit den Worten „Sorry, ich brauch jetzt erstmal eine Zigarette.“ ein Päckchen aus seiner Jacke holte, blickte ich Terachi fragend an. Es war mir nicht ganz klar, wie sie weitermachen wollten. Prinzipiell machte es Sinn, etwas gegen denjenigen in der Hand zu haben, der einen in naher Zukunft vermutlich beseitigen wollte. Schlecht, nur wenn man mit den Informationen auch nicht weiterkam, denn so hatte sich die Situation nicht grundlegend verändert. Er konnte von Glück reden, dass sich der aus Versehen entfachte Brand beim Vernichten der Briefe als perfekte Fluchtmöglichkeit erwiesen hatte. Wobei ihm das durchaus bewusst war, so wie Terachi es zu Beginn des Gespräches hatte anklingen lassen. Und nun? „Frau Sumida hatte erzählt, dass Sie bei der Polizei gewesen waren und man Ihnen dennoch vertrauen kann.“ Ich hatte nicht bemerkt, dass ich die letzten Worte laut ausgesprochen hatte. „Wir hofften, dass Sie vielleicht aus dieser Zeit noch weitere Informationen hätten. Ähm… also um gegebenenfalls noch mehr Druck aufbauen zu können bei den richtigen Leuten, verstehen Sie? Oder vielleicht kennen Sie noch jemanden Unabhängigen, der helfen könnte.“ Ich wollte das hoffnungsvolle Leuchten in den Augen des jungen Mannes nicht sofort wieder im Keim ersticken, aber ich hatte das Gefühl, dass sie sich dafür den Falschen ausgesucht hatten. Ich kannte weder Presseleute, noch hatte ich irgendwelche dubiosen Sachen als Druckmittel auf Lager. Die einzige, wirkliche Verbindung, die ich momentan zum Polizeiapparat hatte, waren meine beiden Lieblingsbullen. Seufzend lehnte ich mich zurück und schloss für einige Sekunden die Augen. Mein Kopf dröhnte und allmählich war meine Aufmerksamkeitsspanne erschöpft. Leise hörte ich Terachis Stimme: „Anfangs hatte ich nur frei und leben wollen. Doch inzwischen will ich einfach nur, dass das alles aufhört. Dass mein Stie-, dass Haneda wegkommt, bevor er wirklich noch die Wahl gewinnt. Denn ich glaube, danach wird er wirklich überall mitmischen wollen.“ So wie das klang, gab es noch mehr zu Haneda berichten, doch inzwischen war ich zu fertig, um nachzuhaken. Ich wollte helfen, definitiv. Dafür war ich bereits zu tief in der Sache drin, besonders jetzt nach dieser Wendung. Nur aktuell herrschte Leere in meinem Kopf, wo ich am besten ansetzen könnte, denn ich zweifelte nicht daran, dass der Blonde genug Verbindungen hatte, um irgendwas zu drehen. Aber wenn er das schon nicht schaffte, wie sollte ich dann…?  Träge öffnete ich die Augen und blickte von einem zum anderen. „Und warum seid ihr euch so sicher, dass ihr mir vertrauen könnt?“ Frau Sumidas Vertrauen in allen Ehren, aber war das nicht etwas zu leicht? Während Terachi nur unsicher dreinschaute, zeigte der Blonde sein Haifischgrinsen. „Ach komm, ich hab dich lang genug beobachten lassen, um zu wissen, was du den ganzen Tag so anstellst und deine beiden Kumpane übrigens auch.“ Ich war inzwischen wenig überrascht, dass er selbst Hara und Andou hatte überwachen lassen. Gründliche Arbeit, was mir ein anerkennendes Schmunzeln entlockte. Das erklärte auch, warum sie sich jetzt erst gemeldet hatten. „Okay, ich sag's ganz ehrlich: Ich habe keinen Plan und ich fürchte, Frau Sumidas und eure Erwartungen sind vielleicht etwas hoch in mich gewesen.“ Terachis Schultern sackten nach vorne.  „Aber ich werde drüber nachdenken. Und wenns recht ist, würde ich meine beiden ‚Kumpane‘ mit ins Boot holen, da sie noch mehr in der Materie stecken. Ich glaub, die freuen sich sogar, wenn sie ein bisschen in den eigenen Reihen schnüffeln dürfen.“ Kurz verengten sich die dunklen Augen des Blonden. „Du weißt, wenn hiervon irgendetwas –“ „Jaja, ich pass schon auf, denn ich habe keine Lust, dass du mir meine Detektei kurz und klein schlagen lässt und mich gleich mit. Noch hänge ich an meinem Leben.“ Das bestätigende Grinsen genügte mir als Antwort.  Auch wenn noch längst nicht alles gesagt worden war, erhob ich mich schwerfällig vom Stuhl. „Ich muss jetzt erstmal alle Informationen ordnen, dann reden wir weiter.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)