Be my One and Only - 私の唯一無二になりなさい von Mina_Tara (**KageHina**) ================================================================================ Prolog: Prologue ---------------- Es war eine Minute gewesen. Ein einziger Moment, der zwischen Leben und Tod entschieden hätte. Eine einzige verflixte Minute, die hätte alles verhindern können – die dich hätte aufgehalten können. Ein einziger Moment, der dich hätte retten können….   [..] „Weißt du, Tobio-Chan, lebe jeden Tag so, als ob jeder kommende Moment dein Letzter sein könnte.“ [..]   Das waren genau deine Worte gewesen. Worte, die ich bis zu jenem Schicksalstag nicht verstanden habe. Damals standest du vor mir, hast mir noch ins Gesicht gelächelt. Deine braunen Haare standen in alle Richtungen, weil der Wind sie zuvor durcheinandergeweht hatte. Deine strahlend braunen Augen hatten meine Seele aufleben lassen. Dein Lächeln hatte mir den Schutz und die Sicherheit gegeben, die ich damals so dringend gebraucht hatte. Ich hatte schließlich nur dich. Wir waren glücklich. Zwei Jahre lang standest du an meiner Seite. Du hast mir stets das Gefühl gegeben geliebt zu werden – jenes Gefühl, das mir bislang familiär verwehrt geblieben war. Das Wort Liebe war für mich damals, bis ich dich traf, ein Fremdwort gewesen.   [..] „Ich liebe dich, Tobio-Chan. Vergiss das niemals.“ [..]   Hätte ich nur damals schon gewusst, was dich so bedrückt und dich schließlich zu dieser Tat getrieben hatte - ich hätte Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um dich aufzuhalten. Ich hätte meine helfende Hand nach dir ausgestreckt. Leider stand dir dein Stolz immer im Weg. Ich kannte deinen Charakter nur zu gut. Du hättest die Hilfe niemals freiwillig angenommen. Deine Rolle hast du immer perfekt gespielt. Da du älter warst, dachtest du wohl, du müsstest alles mit dir selbst ausmachen. Trotzdem hätte ich mir mehr Mühe geben müssen. Du hättest geheilt werden können – hätte ich dich eher durch deine Schutzmauer, die du um dich herum errichtet hast, besser durchschauen können. Wir hätten weiterhin glücklich sein können. Ich hätte gewartet – ich hätte auf dich gewartet – egal wie lange deine Genesung gedauert hätte. Du hättest von diesen Dämonen, die dich heimgesucht hatten, befreit werden können. Ich wäre bereit gewesen für dich die Sterne vom Himmel zu holen.   Aber leider war ich zu spät gewesen. Ich konnte dich nicht mehr retten – meine helfende Hand konnte dich nicht aus der Dunkelheit befreien. Alles was mir blieb, war zuzusehen, wie du gesprungen bist – ohne dich einmal zu mir umgedreht zuhaben. Für mich war in diesem Moment die Zeit stehen geblieben. Ich hatte dich Stunden später noch in meinen Armen gehalten, deinen zerstörten-leblosen Körper nah an meinen gedrückt, während ich aus Leibeskräften aufgeschrien habe. Meinen Kopf hierbei Richtung Himmel gewandt hatte, der ebenfalls in dieser Nacht seine Tränen vergossen hatte. Meine Tränen hatten sich mit dem Regen vermischt. Dennoch war mir alles egal gewesen. Mir war es egal gewesen, dass dein Blut mein Oberteil beschmutzt hat. Alles war mir egal. Es wirkte alles so surreal – so unecht. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte dich nicht gehen lassen – selbst dann nicht, als die Polizei und der Krankenwagen eingetroffen waren. Ich konnte es nicht begreifen. Ich wollte es auch nicht begreifen. Erst sehr langsam konnte ich realisieren was geschehen war. Ich hatte in dieser Nacht so vieles verloren, was mir wichtig gewesen war – doch am Schlimmsten: ich hatte dich verloren.   Kennt ihr das Gefühl, wenn man von heute auf morgen vor dem nichts steht? Wenn die Welt um euch herum wortwörtlich aufgehört hat sich zu drehen? Die Zeit für einen einzigen Moment stillsteht? Ihr nur noch das Pochen eures eigenen Herzens vernehmen könnt, ehe es für diesen einen Moment zum Stillstand kommt? Wenn gerade die Person, die euch alles bedeutet, einfach vor euren Augen ihr Leben aushaucht – sogar schlimmer: es selbst beendet?   Mein Innerstes ist ins Wanken geraten. Wie ein Spiegel, der in tausend kleine Splitter zerschellt ist. Splitter, die sich tief in meine Seele gebohrt haben. Die Schlinge, die sich immer mehr um mein Herz geschlungen hatte, drohte mich zu ersticken. Sie raubte mir die Luft zum Atmen. Der Boden wurde komplett unter meinen Füßen weggezogen. Ein Kartenhaus, das sich über Jahre mühvoll aufgebaut hatte, fiel in nur einem einzigen Moment in sich zusammen. Ich wollte einfach nur, dass dieser Schmerz aufhört. Dass diese Trauer und das Leid endlich ein Ende haben sollte. Ich wusste nicht mehr wie oft ich geschrien habe und meine Tränen den Boden benetzt hatten. Wie oft ich im Schlaf deinen Namen gerufen habe. Allerdings wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass das alles erst der Anfang sein sollte. Dass die Finsternis schleichend und langsam ihren Schatten über mich warf.   Meine Traurigkeit und Verzweiflung hatten sich Monate später in Wut umgewandelt. Ich war einfach so unendlich wütend. Wütend auf mich selbst und meine Unfähigkeit. Es fing mit Geschirr an, das gegen die Wand flog und zerschellte. Dann waren es die Türen, die aus den Ankern gerissen wurden. Leider hatte mich die Tragödie so sehr gezeichnet, dass ich auf die falsche Bahn geraten bin. Ich hatte mein Leben komplett aus den Augen verloren – habe sogar die Schule abgebrochen. Meine Aggressionen nahmen mehr und mehr zu. Als ich schließlich keinen anderen Ausweg mehr wusste, hatte ich meine aufgestaute Wut an fremden Gegenständen ausgelassen. Briefkästen, Straßenschilder, Mülltonnen und auch Autos fielen mir zum Opfer. Als mir das schließlich nicht mehr genug war, steckte ich diese Gegenstände auch noch in Brand. Allein die Flammen zu beobachten, wie diese nach und nach alles zerstörten, beruhigten mich. Ließen mich für einen Moment zur Ruhe kommen. Dann stieß ich auch noch zu allem Übel zu einer kleinen Straßengang. Zusammen machten wir in der Nacht die Stadt unsicher – wobei ich meine Wut immer nur an Gegenständen ausließ. Köperverletzung kam für mich nie in Frage. Das Ganze erinnerte mich an ein Playstation-Spiel, das ich früher immer gern gespielt hatte. Wie hieß es doch gleich? Genau – GTA…da gab es doch ein spezielles Motto:   Starte deine kriminelle Karriere: Sachbeschädigung und Brandstiftung – Check! Herzlichen Glückwunsch – du hast soeben deine kriminelle Karriere gestartet!   So wirklich stolz darauf war ich natürlich nicht. Aber wer konnte das schon von sich behaupten, wenn ein Schicksalsereignis einen dazu getrieben hatte? Wenn man keinen mehr an seiner Seite hatte, der einem den richtigen Weg hätte weisen können? Ich hatte die Realität komplett aus den Augen verloren. Mir war zu dieser Zeit alles egal gewesen, ich wollte einfach nur meine Wut im Keim ersticken. Man könnte sagen, ich war nicht Herr meiner Sinne gewesen.   Die Delikte zogen sich über ein Jahr hin bis man unsere Gruppe schließlich fasste und der Polizei übergab. Allerdings hatte ich mich schon komplett aufgegeben. Schließlich konnte nicht jeder mit gerade mal 20 Jahren behaupten eine Verbrecherkarriere gestartet zu haben. Das fanden die Beamten natürlich alles andere als witzig. Zur Strafe hatte man mir doch tatsächlich Sozialstunden und ein Anti-Aggressions-Training in einer Anstalt aufgebrummt. Um ehrlich zu sein, fiel das Urteil für mich noch sehr milde aus. Wobei ich wirklich keinen Bock auf die ganze Scheiße hatte. Was hatte ich überhaupt noch auf dieser Welt verloren? Mein Leben war für mich hier an dieser Stelle schon zu Ende. Zudem ich mir geschworen habe, nie wieder jemanden so nah an mein Herz heran zu lassen. Ich wollte nie wieder so etwas Schreckliches durchmachen. Nie wieder wollte ich, dass man mir wieder so sehr das Herz bricht. Mein Leben glich einem Scherbenhaufen. Die Schutzmauer, die ich um mich herum geschaffen habe, ließ mich kalt werden. Meine Emotionen wurden komplett hinter einem dicken Mantel verborgen. Niemand sollte wissen, wie es mir ging. Man sollte mir nicht ansehen, wann es mir schlecht ging. Das alles diente zu meinem eigenen Selbstschutz.   Aber naja, es kommt eben doch immer anders als man denkt, nicht wahr? Wer hätte auch erahnen können, dass sich mir doch noch eine Chance eröffnen würde mein Leben wieder in den Griff zu bekommen? Dass ich all meine Fehler wieder wett machen könnte? Dass ich wieder einen Grund finden sollte an meinem schäbigen Leben festzuhalten?   Alles begann damit, dass ich wieder zur Schule gehen und meinen versäumten Abschluss nachholen sollte. Das war die Bedingung gewesen, weshalb man mich überhaupt frühzeitig und auf Bewährung aus der Anstalt entlassen hatte. Dass ich allerdings auf jemanden treffen sollte, der mein Herz wieder zum Schlagen bringen und meiner Welt wieder einen Sinn geben sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar gewesen. Dass es tatsächlich jemanden geben sollte, der meine Schutzmauer mit einem Mal zum Einsturz bringen konnte. Ich erinnere mich noch genau an diesen einen Moment, der alles in die Wege geleitet hatte:   Orangene Haare, die wegen dem Wind zerzaust in alle Richtungen standen. Braune leuchtende Augen, die durch die goldene Brille und dem Kontrast der untergehenden Sonne perfekt im Einklang standen. Eine kleine Person, die mir gerade mal bis zur Brust reichte, aber von ihrem Charakter her meine körperliche Größe bei weitem übertraf.   Und ab da wusste ich – ich wollte weiterleben.   Ach ja, am besten ich stelle mich erst einmal nach dem ganzen Gelaber vor. Mein Name ist Tobio Kageyama und das hier ist unsere Geschichte. Wie zwei verlorene Seelen, die die Einsamkeit auf unterschiedlichste Art und Weise erfahren haben, zueinander finden und der rote Faden des Schicksals unsere Herzen miteinander verbindet. Kapitel 1: Akt I: Part I – dear agony ------------------------------------- Tick-Tack. Tick-Tack.       Immer wieder folgte dieses monotone, gleichmäßige, total nervende Geräusch der tickenden Uhr, die sich an der gegenüberliegenden Wand des Besprechungsraums befand. Wie langsam die Zeit doch verging. Der Zeiger bewegte sich nur sehr zäh auf die erlösende Uhrzeit zu. Nur noch 15 Minuten! Nur noch 15 verdammte Minuten! Durchhalten! Immer wieder tippte Tobio mit seinem Zeigefinger den Rhythmus des tickenden Zeigers mit. Es beruhigte ihn zumindest ein bisschen. Ruhe, er musste einfach nur Ruhe bewahren. Neben ihm vernahm er schon ein Tuscheln. Schließlich war er leider nicht allein im Raum.   „Nun denn meine lieben Inhaftierten. Widmen wir uns heute noch einmal euerer persönlichen Entfaltung und Entwicklung“, ein älterer Mann saß vor ihnen und rückte gerade seine viel zu große Brille zurecht. Die Seestärke dieses alten Knackers musste echt mehr als miserabel sein, wenn die Brille aufgrund der schweren Gläser schon andauernd vom Nasenrücken rutschte. Warum musste sich der Schwarzhaarige dieses ganze Theater hier noch mal genau geben? Stimmt, es war schließlich seine Pflicht!   Gerade im Moment fand wieder die nervtötende Selbsthilfegruppe statt, bei der der Schwarzhaarige nun schon seit drei geschlagenen Monaten beiwohnen musste. Man ließ ihm hier keine Wahl, das hier war eine seiner Hauptaufgaben neben dem dazugehörigen JVA-Aufenthalt. Seit 3 Monaten saß er hier schon fest. Genervt grummelte Tobio vor sich hin und lehnte seinen Kopf in den Nacken. Was sollte er überhaupt hier? Es war einfach nur total nervig. Es war die reinste Folter. Murrend biss sich Tobio daraufhin auf die Unterlippe und bohrte seine Fingernägel in seinen Oberarm, während er weiterhin diese vor seinem Oberkörper verschränkt hatte.   Von ihm aus konnte man ihn gerne hierbehalten. Aber konnte man ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Dieses nervtötende Gelabber von Entwicklung und Entfaltung, das diese Psychoheinis von sich gaben, war verdammt nochmal zum Kotzen!   „Kageyama? Wie sieht es mit dir aus? Erzähl uns einfach mal etwas aus deiner Gefühlswelt?“   Oh nein. Warum ausgerechnet jetzt? Er hatte sowas von keinen Bock auf diesen Scheiß. Zu allem Überfluss waren auch noch alle Augenpaare auf ihn gerichtet. Verdammt nochmal! Grummelnd hob Tobio seinen Kopf und funkelte den alten Herrn vor sich genervt an. Sollte dieser Störenfried doch augenblicklich umfallen! Warum konnte dieser nicht jemand anderes nerven?   „Warum sollte ich? Könnt ihr mich mit dem ganzen Gelabber nicht einfach in Ruhe lassen? Dieser Psychoscheiß zieht bei mir nicht, alter Knacker!“   Empört zogen alle Beteiligten daraufhin scharf die Luft ein. Die Temperatur sank auf den Nullpunkt – innerhalb von Sekunden. Total entgeistert und geschockt sahen seine Mitinhaftierten den jungen Mann an. Besonders sein Bewährungshelfer, der neben dem Schwarzhaarigen saß, schüttelte fassungslos seinen Kopf und schlug sich die flache Hand gegen die Stirn. Es handelte sich hierbei um einen kleineren Mann mit leicht pummeliger Statur. Seine lockigen roten Haare waren zur Seite gekämmt.   „Nicht schon wieder, Tobio… musste das denn wirklich wieder sein?“   Der Psychologe jedoch widmete sich seelenruhig seinen Notizen, die er währenddessen mitschrieb. Der alte Mann war nicht aus der Fassung zu bringen. Mit funkelndem Blick sah er den Zwanzigjährigen vor sich an.   „Aber aber, mein lieber Kageyama, das war aber nicht gerade nett. Du bist schon seit 3 Monaten hier, hast dich aber kein einziges Mal uns gegenüber geöffnet. Wie sollen wir dich denn wieder auf die Höhe bekommen? Du bist erst 20 Jahre alt - du hast dein ganzes Leben schließlich noch vor dir.“   „Und weiter, wen interessierts?“, genervt blies der Schwarzhaarige daraufhin die Backen auf und schaute mehr als angefressen zur Seite. Seine Zündschnur war heute wieder besonders kurz. Er wollte einfach nur weg von hier. Das wussten auch alle Anwesenden, weshalb sie kein einziges Kommentar dazu abgaben. Die Aura, die Tobio ausstrahlte, war erdrückend – fast schon beängstigend. Der ältere Mann jedoch schüttelte nur den Kopf.   „Das Ganze hat dich aber zu interessieren, junger Mann. Du sollst eines Tages mal wieder in unserer heutigen Gesellschaft Fuß fassen. Denkst du ernsthaft, wenn du heute oder morgen entlassen wirst, wird man dich mit offenen Armen empfangen? Mein Junge, das ist ein Irrglaube! Man wird dir die kalte Schulter zeigen! Auch wenn es in deinem Fall nur Sachbeschädigung und Brandstiftung gewesen war, das interessiert die Gesellschaft da draußen wenig. Einmal Krimineller - immer krimineller. Und mit dieser Einstellung, die du an den Tag legst, untermauerst du das Ganze auch noch. Willst du etwa?“   Knirschend biss der junge Mann seine Zähne aufeinander, ehe er den Psychologen regelrecht mit seinen Blicken weiter erdolchte.   „Ich sags noch einmal, damit es auch in dein Spatzenhirn reingeht! Ich scheiß drauf! Nerv jemand anderen mit deinem Psychogeschwätz!“   Eine Zornader bildete sich daraufhin auf Tobios Schläfe - seine Finger bohrte er noch fester in seine Oberarme. War das wirklich ihr fucking Ernst? Ihn wieder auf die Höhe bekommen? Am Arsch! Ihm war nicht mehr zu helfen und er wollte es verdammt noch mal auch nicht!   Der Ältere hingegen räusperte sich kurz, ehe er mit seiner Ansprache weiterfortfuhr.   „Ohje, ohje, wir haben bei dir noch einen sehr langen Weg vor uns. Wirklich Schade, dabei bist du doch gar nicht so. Du versteckst dich hinter einer Schutzmauer. Das alles hier tust du doch nur um dich selbst zu schützen. Dabei schadest du dir dadurch eigentlich mehr damit als dir lieb ist. Denkst du wirklich dein Freund T-“   „WAG ES JA NICHT UND ERWÄHNE AUCH NUR EINMAL SEINEN NAMEN!!!“, die blauen Iriden fackelten erzürnt auf. Die anderen Teilnehmer sahen entgeistert den Schwarzhaarigen an. Der Schock stand ihnen ins Gesicht geschrieben.   Die Wut in Tobios Innern stieg ins Unermessliche. Seine Hände ballte er daraufhin zu Fäusten. Er war so wütend - so unendlich wütend. Wie konnte dieser Psychotagenichts es nur wagen!? Seine bedrohliche Aura schlug weiter um sich.   Sein Bewährungshelfer schluckte währenddessen schwer. Der Rothaarige wusste genau, dass ausgerechnet dieser Name ein Tabu-Thema bei seinem Schützling war und er dadurch richtig ausrasten konnte. Er musste schnell eingreifen, sonst würde die Runde heute im totalen Chaos enden. Zudem Tobio erst vor kurzem einen einwöchigen Strafarrest absitzen musste. Vor zwei Wochen hatte sich der junge Mann erst mit der Geschäftsleitung angelegt. Es ging nur um eine kleine simple Sache, doch dies war schon Anreiz genug, dass der Schwarzhaarige wortwörtlich ausgetickt war und die Obersten angeschrien und beleidigt hatte. Normalerweise war sein Schützling die Ruhe in Person, aber sobald auch nur der Name einer bestimmten Person fiel, war es aus und vorbei. So war es auch vor zwei Wochen gewesen. Kurz zuvor hatte man Tobio auf jenen Tag angesprochen und schon war die Wut in seinem Innern entfacht. Soweit durfte es heute nicht kommen!   „Tobio, beruhige dich doch…denk bitte dran, was letztens erst passiert ist. Reiß dich bitte zusammen“, beruhigend platzierte der Rothaarige daraufhin seine Hand auf Tobios Faust, die inzwischen mehr und mehr anfing zu zittern. Der Psychologe, der ihnen gegenübersaß, zuckte daraufhin mit den Achseln und rückte sich erneut die Brille zurecht.   „Nun denn, wenn du dir nicht helfen lassen willst, dann mach nur so weiter. Ich kann dich leider nicht dazu zwingen. Der innere Heilungsprozess beginnt erst, wenn du selbst es auch akzeptierst und zulässt. Dein Trauma lässt sich nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen. Es benötigt Jahre hierfür. Solange du allerdings uneinsichtig bist, kann dir auch nicht geholfen werden. Aber ich kann dir eines sagen, Kageyama. Wenn dein Freund wüsste, was aus dir geworden ist – er würde sich im Grab umdrehen!“, nach diesen Worten wand sich der Psychologe von Besagtem ab und widmete sich den anderen Beteiligten zu.   Das war definitiv zu viel. Nun war das Maß endgültig voll. Tobio spürte, wie sich ein schmerzlicher Stich durch seinen Oberkörper zog. Ein eiskalter Schauer jagte über seinen Rücken – brachte sein Innerstes ins Wanken. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen – schnürte ihm die Luft zum Atmen ab. Verdammt nochmal! Warum zog dieser Psychoheini ausgerechnet seinen Freund mit hier rein? Konnte man ihm nicht einfach seine letzte Ruhe lassen? Musste diese Provokation wirklich sein? War es wirklich nötig noch mehr Salz in die Wunde zu streuen? Ein letztes Mal schaute der Schwarzhaarige zu dem alten Mann rüber. Seine blauen Augen funkelten bedrohlich auf – strahlten aber gleichzeitig Schmerz und Hoffnungslosigkeit aus. Ihm war nicht mehr zu helfen! Wann ging das endlich in deren Köpfe rein?   „Sagt mal, habt ihr keine Hobbys? Lasst mich doch alle mit eurem Scheiß in Frieden! Mir ist nicht mehr zu helfen, verdammt! Warum ziehe ich mir hier den ganzen Müll überhaupt rein?! Ich verschwinde!“, daraufhin erhob sich Tobio von seinem Klappstuhl, der zeitgleich zur Seite kippte. Schnaubend schritt der Schwarzhaarige daraufhin auf die Tür zu, öffnete diese und ließ diese mit einem lauten Knall zurück ins Schloss fallen. Auf die Rufe seines Bewährungshelfers reagierte er kein bisschen. Sie alle konnten ihm sowas von gestohlen bleiben. Ohne auf rechts oder links zu achten, sprintete er los. Hauptsache weg von hier.               Nach mehreren Minuten erreichte der Schwarzhaarige schließlich seine Zelle und kam vor dieser zum Stehen. Hier hatte er zumindest seine Ruhe. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb und seine Lunge schmerzte bereits. Von seiner angestauten Wut war fast nichts mehr übrig. Total entkräftet, öffnete er die Stahltür und betrat seinen kleinen Rückzugsort.   „Scheiße…“, flüsternd lehnte Tobio seine Stirn gegen die Wand und schlug mit seiner Faust dagegen. Sein ganzer Körper zitterte. Knirschend biss er sich auf die Unterlippe. Sein Atem ging ungleichmäßig.   Es tat so schrecklich weh. Sein Herz tat so schrecklich weh. Tränen bahnten sich aus seinen Augenwinkeln hervor. Wütend trat er daraufhin mit seinem Fuß gegen das Gemäuer, ehe er an Ort und Stelle zu Boden sank. Das war alles zu viel gewesen. Warum musste dieser alte Sack bloß mit ihm anfangen? Warum wurde er immer wieder mit ihm konfrontiert? Er wollte seinen Namen nicht mehr hören.   „FUCK!!!!“, schreiend schlug Tobio mit seiner Faust wieder gegen die Wand – immer und immer wieder. Den Schmerz blendete er hierbei komplett aus. Körperliche Schmerzen machten ihm inzwischen nichts mehr aus – aber der seelische Schmerz, dieser war tiefgründiger und konnte nicht einfach so ignoriert werden.   Obwohl seit jenem Tag inzwischen schon über 1 1/2 Jahre zurücklagen - es fühlte sich alles noch so frisch und real an, als sei es erst gestern gewesen. Schluchzend drehte sich Tobio um und kauerte mit dem Rücken zur Wand gelehnt am Boden. Seine Hände krallte er hierbei in seine Haare. Tränen liefen an seinen Wangen hinunter. Gleichzeitig biss er seine Zähne auf einander um ein Schluchzen zu unterdrücken.   „Hör auf..“, flüsterte der Schwarzhaarige und zog sich an den Haaren, während er weiterhin am Boden kauerte und immer mehr in sich zusammenkrampfte. Ein Bild blitzte vor seinem inneren Auge auf. Es zeigte einen jungen Mann, der vor ihm stand und ihn herzlich anlächelte. Seine braunen Haare wehten im Wind, während beherzte braune Rehaugen ihn ansahen.   „LASS MICH ENDLICH IN RUHE!!“, Tobios Schrei hallte von den Wänden seiner Zelle wider. Wie ein Mantra fegte es durch seine Gedanken – immer und immer wieder. Einige Minuten herrschte Stille. Wenige Minuten, die ihn wieder innerlich zur Ruhe kommen ließen.   „Finde endlich deine letzte Ruhe….“, es war schließlich nur noch ein Wimmern, das seine Lippen verließ. Inzwischen hielt sich Tobio mit seinen Händen die Ohren zu und ließ seinen Kopf auf seine Knie sinken.   Es sollte aufhören. Es sollte verdammt nochmal aufhören! Er wollte das alles nicht mehr! Es fühlte sich inzwischen so an, als ob die Vergangenheit ihn eingeholt hätte. Dieser allzu bekannte Schmerz – diese Trauer. Als der Schwarzhaarige bis vor wenigen Monaten seine Wut noch durch Sachbeschädigung und Brandstiftung besänftigen konnte, hatte er auch seine Trauer hierdurch untergraben können. Aber bekanntlich heilen solche Wunden nie, indem man sie einfach nur verdrängt – und Tobio hatte alles verdrängt – 1 Jahr lang. Wie eine Lawine prasselten alle Erinnerungen auf den Schwarzhaarigen ein und er konnte nichts dagegen tun. Man zwang ihn hier regelrecht dazu, dass er sich seinen traumatischen Erlebnissen stellte – dass er sich mit seinem Tod auseinandersetzen musste!   Total entkräftet erhob sich Tobio daraufhin und schlurfte auf sein Bett zu. Dort angekommen, ließ er sich vorwärts auf die Matratze fallen. Immer fester krallte er seine Finger in die Decke und griff schließlich nach dem Kissen. So laut er konnte, schrie er in dieses hinein. Nur gut, dass kein Ton durch das Material durchdringen konnte. Seine Schreie konnte niemand hören, aber seinen innerlichen Schrei vernahm Tobio dahingegen sehr wohl klar und deutlich. Irgendwann musste das alles hier doch ein Ende haben!   Wie lange sollte er sich noch im Kreis drehen?   Gab es überhaupt eine Möglichkeit aus dem Teufelskreislauf jemals auszubrechen?               Was der Schwarzhaarige allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste – sein Leben sollte sich von heute auf morgen schneller umkrempeln als ihm lieb war. Kapitel 2: Akt I: Part II – no way?! ------------------------------------ Seit dem missglückten Therapieversuch waren inzwischen weitere vier Wochen vergangen. Immer wieder hatte man versucht auf den jungen Mann einzugehen, doch Tobio erwies sich weiterhin als Sonderfall und tat alles, um die Therapiestunden zu sabotieren. Ihm war es egal auf welche Art und Weise. Sei es durch Auslösen vom Feuermelder oder Umstellen der Uhren. Er war sogar schon so dreist und ist während der Gruppensitzung einfach eingeschlafen – sehr zum Missfallen von dem Psychoheini, der ihn so oder so schon auf dem Kicker hatte. Tobio war alles recht – Hauptsache man ließ ihn endlich in Ruhe! Die Rebellion, die er hierdurch zur Geltung bringen wollte, kam nach langem hin und her endlich bei der obersten Chefetage an. Wenn die Deppen immer noch nicht verstehen wollten, dass er keinen Bock auf die Scheiße hatte, war auch der Schwarzhaarige mit seinem Latein am Ende. So hinterbelichtet und verblödet konnte doch echt niemand sein!   In den letzten Tagen hatte man ihn auch in Ruhe gelassen, aber für Tobio kam es vor wie die Ruhe vor dem Sturm. Gerade lag er auf seinem Klappbett und starrte die Decke über sich an. Eigentlich müsste er sich als Sieger fühlen – tat er aber nicht. Warum war das bloß so? Nachdenklich legte der Schwarzhaarige seine Stirn in Falten und verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf. Ein leises Klopfen riss ihn schließlich aus seiner Gedankenwelt.   „Herein?“, er klang so monoton wie immer – sehr gut.   Die Tür ging daraufhin auf und sein Bewährungshelfer betrat die Zelle. Als er über die Türschwelle getreten war, schloss er die Tür hinter sich zu, schritt nach vorne und zog sich einen Klappstuhl bei, auf dem er Platz nahm. Seufzend rieb sich der Rothaarige daraufhin die Stirn. Der junge Mann ahnte bereits, was sein Nachbar wollte.   „Tobio… was sollen wir bloß mit dir machen? So kann das doch nicht weitergehen…“   Der Schwarzhaarige hingegen ignorierte sein Gegenüber und sah aus dem Fenster. Wollte dieser wieder das Gespräch mit ihm suchen? Ernsthaft jetzt? Erst als Tobio ein Rascheln hörte und mit seitlichem Blick dabei zusah, wie der Rothaarige seufzend ergebend eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche zog, lag seine volle Aufmerksamkeit auf dem Kippenpäckchen.   „War mir klar, dass du nur darauf reagierst. Pass aber auf, dass keiner der Gefängniswärter es in die Finger bekommt, klar soweit?“, nach diesen Worten warf der Ältere dem Schwarzhaarigen das Päckchen rüber. Schnell zog Tobio eine Zigarette heraus, zündete sich diese an und nahm einen tiefen Zug. Endlich – genau das hatte ihm die ganze Zeit gefehlt. Wohlig seufzend atmete er den Nikotinrauch aus und umwarb sich damit.   „Schieß los, Kota, was willst du?“, der Schwarzhaarige hielt den monotonen Ton weiterhin bei. Der Angesprochene rieb sich währenddessen die Schläfe.   „Die Gefängnisleitung beratschlagt sich gerade im Moment wie sie mit dir weiterverfahren soll. So ein Sonderfall wie du sei ihnen noch nie untergekommen.“   Irritiert hob Tobio daraufhin eine Augenbraue und nahm einen weiteren Zug seiner Zigarette. Egal was sie auch versuchten, es würde sich nichts ändern.   „Und weiter?“   „Mensch, Tobio! Nimmst du aktuell überhaupt deine Lage ernst? Du schlägst auf keine Therapiemaßnahme an! Findest du das etwa komisch?“   Daraufhin konnte der Schwarzhaarige sich tatsächlich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Idioten hatten es also immer noch nicht aufgegeben – war ja klar. Es war einfach zu amüsant. Der Ältere hingegen sah seinen Schützling mehr als verstört an.   „Warum lachst du jetzt bitte? Im schlimmsten Fall wird man dich zwangseinweisen, willst du das etwa?“   „Wenn ich dadurch endlich vor euch Deppen meine Ruhe habe, ja! Ich sage es noch einmal Kota! Mich braucht man nicht zu retten, klar? Von mir aus kann ich hier verrecken! Das interessiert mich nicht…“, nach diesen Worten schaute Tobio wieder aus dem Fenster und nahm einen weiteren Zug seiner Zigarette. Seine Augen jedoch strahlten eine andere Sprache aus.   „…nicht mehr.. zumindest…“   Fassungslos sah der Ältere seinen Schützling an. So schlimm stand es also um ihn schon? Er hatte sich tatsächlich komplett aufgegeben. Daraufhin krallte der Rothaarige seine Finger in seine Kniekehle. Es war aussichtslos.   „Wenn dem so ist, kannst du dich freuen. Ich werde ab nächster Woche zwangsversetzt. Da ich noch in Ausbildung bin, ist meine Zeit hier leider zu Ende. Also wird zukünftig jemand anderes für dich zuständig sein. Wer es allerdings sein wird, steht noch in den Sternen.“   Nach diesen Worten erhob sich der Ältere und sah traurig auf den Schwarzhaarigen herab, der weiterhin gedankenverloren aus dem Fenster schaute. Der Jüngere reagierte erst gar nicht auf die eben gesagten Worte. War es ihm wirklich so gleichgültig? Der Rothaarige wusste, dass in Tobio eigentlich ein ganz anderer Charakter steckt. Er war nett, zuvorkommend – eigentlich das komplette Gegenteil von dem, was er hier zur Show stellte – genau, es war eine Art Showeinlage, mehr nicht. Sein Schützling hatte den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen. Vielleicht konnte ihm jemand anderes helfen. Der Rothaarige hoffte inständig, dass die Geschäftsleitung eine sinnvolle Lösung finden wird.                     [einige Tage später]   „WAS?? VERARSCHEN SIE MICH NICHT!!“   Der Gefängnisleiter saß an seinem Schreibtisch und rückte sich die Brille zurecht, die soeben von seinem Nasenrücken nach unten gerutscht war. Gleichzeitig hatte er sich bis eben noch beide Ohren zugehalten. Unbeeindruckt widmete sich dieser dem Papierstapel, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.   „Wie ich eben schon erwähnt habe, Herr Kageyama. Sie lassen uns keine andere Wahl. Wenn Sie hier auf keine Therapie anschlagen, dann muss es auf die harte Art und Weise sein. In Ihrem Fall wird es die bittere Realität sein – anders kommen wir Ihnen nicht bei. Das haben Sie sich selbst vorzuschreiben!“   Tobio sah sein Gegenüber fassungslos an. Das war nicht deren Ernst, oder? Das musste ein übler Scherz sein. Genau dieses Szenario wollte er doch durch seine Rebellion verhindern. Sie mussten ihn doch gerade übelst auf die Schippe nehmen – anders konnte es sich der junge Mann nicht erklären.   „Sie wissen schon, dass Sie einen Schwerverbrecher auf die Straße lassen? Was sollen denn die Einwohner hier von Ihnen denken!“   „Herr Kageyama, bei Ihnen sprechen wir von Sachbeschädigung und Brandstiftung in geringem Ausmaß. Dachten Sie ernsthaft, dass wir Sie Ihr Leben lang hier festhalten? Eigentlich war nur geplant, dass Sie hier Ihre Therapie durchziehen - aber da diese leider nicht bei Ihnen anschlägt, ziehen wir härtere Geschütze auf.“   Tobio saß da wie angewurzelt – unfähig etwas zu sagen. Er konnte es immer noch nicht realisieren. Was soll dieser ganze Mist hier überhaupt? Ehe der Schwarzhaarige weiter darüber nachdenken konnte, klopfte es an der Tür.   „Ah, da ist er ja schon. Herein“, daraufhin erhob sich der Gefängnisleiter und schritt zum Fenster. Als die Tür sich öffnete, trat ein junger Mann herein. Er besaß braunes lockiges Haar und trug zudem eine eckige Brille. Tobio drehte sich um und sah den Braunhaarigen eindringlich an. Was war das denn für einer? Fragend hob er daraufhin eine Augenbraue.   „Sie hatten nach mir rufen lassen, Herr Ido?“   „Ah, Herr Takeda. Schön, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.“   Der Gefängnisleiter schritt an Tobio vorbei und reichte dem jungen Mann die Hand, der sich daraufhin verlegen am Hinterkopf kratzte. Irgendwie wirkte er hier verloren im Raum. Kurz darauf sah der Braunhaarige zu Tobio hinunter.   „Ist er das?“   Irritiert runzelte der Schwarzhaarige die Stirn.   //Hat der es gerade mit mir?!//   „Ja, das ist er. Herr Kageyama, darf ich vorstellen, der junge Mann hier ist Herr Takeda. Er ist Vertrauenslehrer an der Karasuno Oberschule in der Präfektur Miyagi.“   Sofort hielt Tobio den Atem an. Karasuno? Miyagi?   „Ehm..“, ehe der Schwarzhaarige darauf etwas erwidern konnte, wurde ihm auch schon eine Hand zum Gruß gereicht. Der Vertrauenslehrer lächelte den Jüngeren herzlich an.   „Hallo, ich habe schon einiges über dich gehört. Freut mich, dich kennenzulernen, Tobio.“   //Toll… mir doch egal…und warum dutzt du mich bitte???//   Spielerisch legte Tobio daraufhin ein Grinsen auf und erwiderte die Geste. Machte er eben gute Miene zum bösen Spiel – war ihm doch egal. Das war der nächste Trottel, der auf ihn hereinfallen würde.   „Die Freude ist ganz meinerseits~“   //Bäh… ist ja ekelhaft…//   Der Gefängnisleiter hingegen nahm wieder Platz und Herr Takeda gesellte sich zu ihm.   „Nun denn, Herr Kageyama. Sie werden auf Bewährung freigelassen. Allerdings ist die Bedingung, dass Sie Ihren Schulabschluss nachholen. Wir dachten hier an das letzte Abschlussjahr. Da wir allerdings allesamt der Meinung sind, dass Sie am besten außerhalb Tokios auf die Menschheit losgelassen werden, haben wir die Karasuno High um Hilfe gebeten. Ihr Schulleiter dort ist bereit Sie aufzunehmen. Sie werden somit Tokio verlassen und Miyagi wird ihre neue Heimat werden. Es wird ein kompletter Neuanfang für Sie werden – von daher nutzen Sie gefälligst diese einmalige Chance. Sollten Sie wieder Mist bauen, landen Sie wirklich im Gefängnis und werden zudem zwangseingewiesen … und glauben Sie mir, dass wollen Sie nicht! Sie gehören dort nicht hin!“   Fassungslos starrte Tobio die beiden Männer vor sich an. Er soll wieder die Schulbank drücken?! Wie stellen diese Deppen sich das bitte vor? Er war nicht in der Lage etwas zu erwidern. Ihm fehlten die Worte.   „Außerdem bekommen Sie einen neuen Bewährungshelfer an Ihre Seite gestellt.“   //Hä? Neuer Bewährungshelfer??//   Plötzlich erinnerte sich der Schwarzhaarige an die letzten Worte von Herrn Kota. Fluchend klatschte er sich daraufhin die Handfläche an die Stirn. Verdammt, dass hatte er ja ganz verdrängt! Aber wer soll denn nun seinen Posten übernehmen? Wo sollte er außerdem wohnen? Kam er in eine Wohngruppe oder soll er auf der Straße leben? Tobio kannte niemanden in diesem Kaff! Währenddessen griff Herr Ido nach dem Hörer.   „Schicken Sie ihn rein!“   Nachdem der Gefängnisleiter den Hörer aufgelegt hatte, ging die Tür erneut auf und ein weiterer junger Mann betrat den Raum. Seine blonden Haare waren durch einen Haarreif nach hinten gekämmt und ein freches Grinsen lag auf seinen Lippen. Lässig trat er an den Schreibtisch heran – seine Hände befanden sich in den jeweiligen Hosentaschen.   „So hier bin ich, wo ist mein kleiner neuer Schützling~“   Allein diese Stimme jagte Tobio schon einen Schrecken ein. Sie klang so siegessicher. Was war das bitte für eine Aura? Langsam drehte sich der Schwarzhaarige zur Seite um und erstarrte augenblicklich. Funkelnde braune Augen sahen auf ihn herab. Wie ein Raubtier – das seine Beute im Blick hatte. Dann die Tatsache, dass der Blondhaarige eine Zigarette im Mund hatte, wirkte auf den ersten Blick surreal. Auch sein Outfit – er trug einen normalen roten Trainingsanzug. Trugen die Bewährungshelfer nicht spezielle Uniformen? Aus welcher Gosse kam der denn bitte her?   Herrn Ido ist die Reaktion des Schwarzhaarigen nicht entgangen und lächelte diesen freundlich an. Auf Tobio hatte es allerdings den Anschein, als ob er ihn gerade auslachen würde.   „Also …. Das hier ist Herr Keishin Ukai. Er ist vor wenigen Tagen aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt und wird nun hier wieder seiner Arbeit nachgehen. Demnach ist er härteres Kaliber gewohnt und er schreckt auch nicht davor zurück auch mal leicht handgreiflich zu werden. Herr Kota war leider noch zu jung und unerfahren. Herr Ukai hier wird Sie allerdings nicht mit Samthandschuhen anfassen, soviel kann ich Ihnen schon einmal versprechen.“   Die Worte kamen nur sehr langsam bei Tobio an. Was war das bitte für ein Monster? War das deren beschissener Ernst? Wieder sah der Schwarzhaarige zu seinem neuen Bewährungshelfer hoch, der ihn frech angrinste. Was war das bitte für ein Typ?!   Ehe Tobio etwas auf die Worte erwidern konnte, spürte er schon eine Hand auf seiner Schulter. Der Druck, der ausgeübt wurde, ließ den jungen Mann noch mehr im Sitz einsinken.   „Ach was, Herr Ido. Ich passe auf den kleinen Fratz hier schon auf! Der wird nichts Unartiges anstellen! Dafür werde ich schon sorgen – er wird auch schön brav die Schule besuchen und keinen Ärger bereiten“, daraufhin lächelte der Blondhaarige den Jüngeren freundlich an.   „- nicht wahr, Tobio-kun?“   Nun war das Maß endgültig voll. Was nahm sich dieser Penner eigentlich heraus? War er noch bei Sinnen? Nicht mit ihm! Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.   „SAG MAL WAS FÄLLT DIR E-“, genau in diesem Moment spürte Tobio einen harten Schlag auf seinem Hinterkopf. Ungläubig hielt er in seinen Worten inne. Hat dieser Penner ihm gerade wirklich eine runtergehauen? Entsetzt sah der Schwarzhaarige zu dem Älteren hoch. Blaue Iriden trafen auf dunkelbraun. Die Miene des Blonden hatte sich innerhalb von Sekunden verfinstert. Ein eiskalter Schauer lief über Tobios Rücken.   „Was ist denn los, Kleiner? Hat es dir die Sprache verschlagen? Wie bereits schon erwähnt, ich fasse dich nicht mit Samthandschuhen an. Wenn du mir auf die Tour kommst, können wir das auch wie richtige Männer regeln, findest du nicht auch?“, dabei knackte der Blonde grinsend seine Fäuste.   Tobio hielt sich seinen Hinterkopf fest. War das denn überhaupt legal? Was ist das bitte für ein Irrer? Sollte dieser nicht hier eingesperrt sein? Die Blitze, die zwischen den beiden Augenpaaren hin und her schlugen, sprachen Bände.   Der Gefängnisleiter hingegen beobachtete das Szenario und lachte amüsierend auf, während Herr Takeda beschämt zur Seite sah und dabei den Kopf schüttelte. Zu allem Überfluss setzte Herr Ido dem Ganzen noch endgültig die Krone auf.   „Ach ja, ehe ich es vergesse – Herr Ukai hat im Übrigen angeboten, dass Sie während Ihrer Bewährungszeit bei ihm wohnen können. Seine Familie besitzt einen kleinen Laden, also wird Ihnen hier keinesfalls langweilig werden.“   Der Blitz traf genau ins Schwarze. Tobio spürte wie er nach und nach fiel. Er fiel zu Boden – zumindest kam es ihm so vor. Das war doch nicht deren beschissener Ernst? Er soll auch noch zusammen mit dem Irren unter einem Dach wohnen?! Ihn 24 Stunden am Tag um sich haben?   „Ihr… verarscht mich doch….“, seine Stimme klang zittrig und war auch um einige Oktaven höher als sonst. Kalter Schweiß lief an seiner Schläfe hinunter. Die Erkenntnis traf den jungen Mann innerhalb von Sekunden. Das hier war die schlimmste Folter, die man ihm antuen konnte!!   All seine Mühe – all die Pläne, die er wochen- wenn nicht sogar monatelang geschmiedet und umgesetzt hatte – alles war umsonst.               „WAHHHHHHHHH!!!!!! WAS IST DAS HIER FÜR EIN SAFTLADEN !!!!!“ Kapitel 3: Akt I: Part III – shine bright ----------------------------------------- Shoyo P.o.V.   Der darauffolgende Tag brach heran. Die ersten Sonnenstrahlen blitzten hinter den Bergen bereits hervor und tauchten die Landschaft Miyagis in tiefrotes Orange. Der Nebel stieg von den Feldern auf und die ersten Personen waren bereits auf den Straßen unterwegs. Die Meisten gingen ihrem Arbeitsalltag nach – andere nutzten die Zeit zum Shoppen oder um Freunde zutreffen. Unter ihnen war auch schon in aller Frühe ein junger Mann unterwegs, der auf seinem Fahrrad in Blitzgeschwindigkeit über die Straßen fegte. Teilweise wich er den Leuten aus und fuhr einen großen Bogen um sie. Dort wo es knapp wurde, versuchte er noch rechtzeitig die Klingel zu betätigen – allerdings ging das Kling-Geräusch durch die hohe Geräuschkulisse unter. Die Leute schreckten stattdessen teilweise auf und sprangen noch rechtzeitig zur Seite.   „Hey, was ist denn hier los?“   „Mach mal halblang, junger Mann!“   „Pass doch auf!“   Orangene Haare wehten im Wind und hellbraune Augen sahen entschuldigend zur Seite – das Gestell seiner runden Brille leuchtete golden auf.   „Tut mir leid, ich bin in Eile“, nach diesen Worten richtete der junge Mann sein Gesicht wieder nach vorne und bog um die Ecke ab.   Immer schneller trat er in die Pedale und rollte den kleinen Berg hinunter. Während der Fahrt erhob sich der Orangehaarige, sodass er nicht mehr im Sattel saß. Er trug einen beigen Pullover und schwarze enganliegende Jeans, die an den Kniekehlen aufgerissen waren. Um seinen Hals gewickelt, befand sich ein schwarz-rot karierter Schal, der aufgrund des Seitenwinds hin und her wehte.   Als der Berg schließlich hinter ihm lag, bremste er ab und stieg von seinem Fahrrad runter. Er brauchte eine Pause – schließlich war er schon seit einer Stunde unterwegs. Kurz darauf streckte der junge Mann seine Arme in die Höhe und gähnte herzhaft aus. Dann nahm er seine Brille ab und fuhr mit dem linken Handrücken über seine Augen. Er war noch verdammt müde. Schließlich setze er daraufhin seine Brille wieder auf und überquerte die Straße. Sein Fahrrad schob er neben sich her. Es war bereits reges Treiben auf den Straßen. Da der Frühling langsam sein Gesicht offenbarte, lockte er die Leute aus ihren Häusern hinaus. Selbst die Stubenhocker trauten sich an die Öffentlichkeit.   Während der junge Mann weiterhin die Straße überquerte, fiel ihm eine ältere Frau ins Auge, die nach ihrem Gehstock greifen wollte, der vor ihr auf dem Boden lag. Er musste ihr wohl hingefallen sein. Schnell tapste der Orangehaarige zu ihr und lehnte sein Fahrrad an das Gemäuer.   „Warten Sie bitte, ich helfe Ihnen“, nach diesen Worten ging der junge Mann auf die Knie, hob den Gehstock auf und reichte ihn an seine Besitzerin weiter, die den Orangehaarigen daraufhin herzhaft anlächelte.   „Ach vielen Dank, mein Junge. Meine alten und müden Knochen sind nicht mehr die selben.“   „Gern geschehen, keine Ursache. Wollen Sie zum Sakanoshita Laden?“, das braune Augenpaar hatte den Eingang des Ladens erfasst, vor dem sie gerade standen. Der Jüngere war schon lange nicht mehr hier gewesen. Vielleicht sollte er dem Geschäft mal einen Besuch abstatten. Die ältere Dame hingegen richtete den Gehstock und lächelte ihr Gegenüber freundlich an.   „Ja, ich wollte meinen Reiswein dort abholen.“   „Warten Sie, ich halte Ihnen die Tür auf“, schnell schritt der junge Mann nach vorne und hielt der alten Dame die Tür auf, die daraufhin etwas wackelig auf den Beinen den Laden betrat. Sie versuchte trotz der Anstrengung dem Jüngeren weiterhin ein herzliches Lächeln zu schenken.   „Ach, dass es noch so zuvorkommende junge Menschen gibt – ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“   „Nicht doch – das ist selbstverständlich“, behutsam ließ er daraufhin die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Wenige Sekunden später trat auch schon eine Frau mittleren Alters hinter dem Tresen hervor, die sich zur Begrüßung vor ihnen verneigte.   „Guten Morgen Frau Sawitori, schön dass Sie uns besuchen. Warten Sie bitte. Ich bringe Ihnen sofort den Wein“, und schon war die Blondhaarige in der angrenzenden Abstellkammer verschwunden.   Der junge Mann hingegen sah sich währenddessen im Laden um. Er war wirklich schon lange nicht mehr hier gewesen – das Sortiment stand nicht mehr in der üblichen Reihenfolge in den Regalen. Neugierig zog er eine Dose Minzen-Limonade hervor – er liebte dieses Getränk einfach. Die braunen Augen begannen vor Freude zu Strahlen.   Als die Inhaberin zurückkam, übergab sie der alten Dame den Reiswein und öffnete zum Abschied die Tür.   „Vielen Dank, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Oh-“, erst jetzt fiel der Inhaberin des Geschäfts auf, dass sich noch jemand im Laden befand.   „Na sowas, Shoyo, lange nicht gesehen.“   Plötzlich schreckte der Orangehaarige auf und blickte über seine Schulter. Er war so sehr in seinen Gedanken vertieft gewesen, dass er die Inhaberin erst gar nicht bemerkt hatte, die sich grinsend hinter die Verkaufstheke gestellt hatte.   „Hallo Frau Ukai. Ja, ich komme eigentlich selten in diese Gegend – aber dieses Mal lag es gerade auf dem Weg“, lächelnd trat der junge Mann an die Kasse und bezahlte die Limonade, die er daraufhin in seiner Hängetasche verstaute. Die Blondhaarige hingegen ließ ihren Blick über ihr Gegenüber schweifen.   „Wie lange ist es bloß her – 2 Jahre? Ich muss zugeben, aus dir ist echt ein hübscher junger Mann geworden“, dabei zwinkerte sie ihm freundlich zu.   „Ach was, nicht doch.“, verlegen kratzte sich Shoyo daraufhin am Hinterkopf und errötete um die Wangen.   Er kannte die Inhaberin. Während seiner Kindheit waren er und seine Schulkameraden oft hier gewesen und hatten auf dem Spielplatz, der sich direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite befand, gespielt. Frau Ukai hatte immer ein wachsames Auge auf sie alle gehabt und aufgepasst, dass sie keinen Unsinn anstellten.   Die Inhaberin hingegen kicherte auf die Antwort hin und reichte dem Orangehaarigen das Wechselgeld.   „Nein, jetzt ernsthaft. Du bist zwar nicht besonders groß – aber es kommt ja schließlich auf die inneren Werte an, nicht wahr? Wenn wir schon gerade beim Thema sind, was macht eigentlich die Frauenwelt? Hast du schon eine Freundin?“, oh ja – diese Frau war sehr direkt. Das war sie damals bei ihrem Sohn schon gewesen.   „Ehm…“, diese Frage warf Shoyo komplett aus der Bahn. Warum wurde er ausgerechnet auf dieses Thema angesprochen?   Wieder kratzte sich der junge Mann verlegen am Hinterkopf und schulterte daraufhin seufzend seine Hängetasche. Es stimmte – er war mit seinen gerade mal 1,68 m nicht wirklich groß. Immerhin war er schon 19. Die Meisten aus seiner Klasse überragten ihn mit über 1,80 m und größer. Sein Kumpel Tsukishima war sogar über 1,90 m – da bekam er schon beim Hochschauen eine Genickstarre. Es jagte Shoyo jedes Mal einen Schrecken ein, wenn ein solcher Kollos vor ihm stand. Was Frauen anbelangte, so war sich der Jüngere nicht sicher. Mit diesem Thema hatte er sich noch nie auseinandergesetzt – es war ihm ehrlichgesagt auch egal. Generell war das ein Thema, womit er nicht viel anfangen konnte.   „Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mich mit dem Thema noch nie wirklich beschäftigt. Wie geht es eigentlich Keishin? Ist er noch in Amerika?“, geschafft – schnell das Thema wechseln. Shoyo hatte keine Lust auf das vorherige Thema näher einzugehen.   Die Blondhaarige hob daraufhin eine Augenbraue und sah zur Decke hoch.   „Ach ja, dem Rotzbengel geht es wirklich hervorragend. Er ist vor wenigen Tagen aus den vereinigten Staaten zurückgekehrt und wird hier wieder seiner Arbeit bei der Polizei nachgehen. Aktuell ist er in Tokio – dort wartet ein neuer Fall auf ihn.“   Die braunen Augen weiteten sich vor Erstaunen.   „Was wirklich? Er ist wieder da? Cool, da werden sich Tanaka und Noya bestimmt freuen. Die Beiden hatten mich letztens schon gefragt, ob ich wüsste, wann er wieder im Lande ist“, nun hatte Shoyo doch die Neugier gepackt und lehnte sich seitlich an den Tresen. Seine Hände ließ er in seinen Hosentaschen versinken, während sein Blick zur Decke gerichtet war.   „In Tokio also, das klingt aufregend“, ein zartes Lächeln zierte daraufhin Shoyos Lippen. Er hatte damals mitbekommen, dass Keishin eine Ausbildung bei der Polizei gemacht und danach für drei Jahre ein Auslandstudium in Amerika absolviert hatte. Wobei es nicht verwunderlich war, dass der Blonde diese Karriere anstrebte. Sein Großvater war bis vor einem Jahr selbst Polizeikommissar in Tokio gewesen und galt dort als sehr hohes Tier.   Die Inhaberin seufzte daraufhin aus und zog eine Zigarette aus ihrer Schürze hervor.   „Ja, ich bin auch gespannt. Er soll sich als Bewährungshelfer um einen dortigen Insassen kümmern, der frühzeitig entlassen werden soll. Der Häftling sitzt seit über vier Monaten in der JVA und sorgt dort nur für Probleme. Es soll sich um einen jungen Mann handeln – möglicherweise seid ihr sogar im selben Alter. Er rebelliert aktuell wo er nur kann. Keiner kommt so wirklich an ihn heran. Er hat sich komplett verschlossen – schade eigentlich. Etwas muss ihn wohl sehr erschüttert haben. Das Verhalten passt nicht zu einem richtigen Kriminellen – finde ich zumindest“, daraufhin zündete sie sich die Zigarette an.   Shoyo hingegen hatte seinen Blick gesenkt. Erneut stahl sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. Er kannte Keishin noch von früher – er war wie ein großer Bruder für sie alle gewesen.   „Dann kann er sich wirklich glücklich schätzen jemanden wie Keishin an seiner Seite zu haben. Wenn es jemanden gibt, der einem den rechten Weg weißen kann, dann ist er es. Er lebt schließlich dafür. Das war damals schon so.“   „Oh ja – da gebe ich dir vollkommen Recht. Er bringt den Rebellen mit hierher. Ich bin echt mal gespannt was der junge Mann für ein Typ ist. Wobei es mich auf der einen Seite auch abschreckt. Wird er überhaupt den Weg zurück in die Gesellschaft finden? Die Leute verurteilen ja immer einen ganz schnell. Somit wird allein aus diesem Grund schon seine Wiedereingliederung schwieriger verlaufen. Wie denkst du darüber, Shoyo?“   Es war eine Frage, die den jungen Mann schon immer beschäftigt hatte – was genau trieb einen Menschen dazu an kriminell und bösartig zu werden? Waren sie überhaupt von Grund auf böse? Wurde man schon so geboren? Oder wurde das Leben aufgrund eines Schicksalsschlags aus dem Gleichgewicht gerissen?   Das braune Augenpaar war immer noch zu Boden gerichtet. Den Erzählungen nach musste es sich wohl um eine arme Seele handeln. Eine Seele, die ihren rechten Weg verloren hatte. Leider hatten nicht viele das Glück wieder zurückzufinden. Wenn der Orangehaarige ehrlich zu sich selbst war, hätte es ihn genau treffen können. Ein trauriges Lächeln zierte seine Lippen. Welch Ironie des Schicksals?   Während der Orangehaarige noch weiterhin in Gedanken versunken war, erhob er sich schließlich und öffnete daraufhin die Tür. Ein letztes Mal blickte er über seine Schulter zu der Blondhaarigen, die ihn immer noch im Blick hatte.     „Ich bin der Meinung, dass man einen Menschen für so etwas niemals vorverurteilen sollte - “   Seine braunen Augen funkelten auf und wurden von der goldenen Brille aufgrund der Sonnenstrahlen, die durch die Fensterscheibe schienen, reflektiert.   „Jeder Mensch besitzt eine Geschichte – jede Geschichte hat ihren Anfang und ihren Ursprung. Erst wenn man diesen Ursprung kennt, kann man sich ein Bild und ein Urteil bilden.“                       Tobio P.o.V.   [fünf Tage später]   Nun war es soweit – sein neuer unfreiwilliger Lebensabschnitt stand bevor. Tobio hätte diesen Tag am liebsten noch weiter hinausgezögert – aber es half alles nichts. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, als er der Anstalt den Rücken gekehrt hatte und nun wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Der Weg zum Bahnhof verlief schweigend. Wobei die ganze Situation dem Schwarzhaarigen jetzt schon gegen den Strich ging. So ganz wollte er sein Schicksal nicht akzeptieren. Widerwillig stieg er in den Wagon, dicht gefolgt von Keishin.   Murrend saß er nun mit seinem neuen „Freund“ im hinteren Zugabteil und funkelte den Blondhaarigen böse an, der genau gegenüber von ihm saß und sich bisher der Tageszeitung gewidmet hatte. Seufzend hob dieser eine Augenbraue und schaute seinen neuen Schützling unbeeindruckt an.   „Meine Güte, selbst wenn du mich weiterhin mit diesen Blicken versuchst zu erdolchen – es bringt dir rein gar nichts!“   „Ein Versuch war es immerhin wert!“, knirschend biss der Schwarzhaarige die Zähne aufeinander, während Keishin sich achselzuckend und kommentarlos wieder der Zeitung widmete. Eine Zornader bildete sich daraufhin an Tobios Schläfe. Das war doch jetzt nicht sein beschissener Ernst, oder? Ist dieser Kerl überhaupt aus der Fassung zu bringen?   „Im Übrigen wird deine erste Aufgabe, sobald wir angekommen sind, ein Friseurbesuch sein. So gehst du mir nicht unter die Leute, damit wir uns schon einmal klar und deutlich verstehen, Bürschchen!“, unbeeindruckt schlug der Blondhaarige eine Seite weiter. Fassungslos starrte Tobio seinen Bewährungshelfer an. Was sollte denn das werden? Hatte dieser keine anderen Probleme?   „Warum sollte ich…“, knurrte der Jüngere und betrachtete seine Frisur im Fenster, in dem sich sein Spiegelbild durch das Glas widerspiegelte. Kurz darauf griff er nach mehreren Strähnen seines zweigespaltenen Ponys, das ihm ins Gesicht ragte. Klar, hatte er längere Haare – sie bedeckten schon fast seine Ohren, aber ihm gefiel es so. Warum störte sich der Wichtigtuer daran?   Sein Gegenüber hingegen warf dem Jüngeren einen eisernen Blick zu und zog einen Zahnstocher aus der roten Jackentasche hervor, auf dem er seelenruhig hin und her kaute. Beruhigte ihn das etwa?   „Ganz einfach – weil du aktuell wie ein Gruftie auf zwei Beinen aussiehst und solche Gestalten gehen mir einfach übelst auf den Sack!“   „Und weiter?“, der Vollidiot konnte Tobio echt langsam mal kreuzweise!   „Nichts und weiter – merk dir eins, Kleiner: Mein Haus – meine Regeln – kapiert?“, verdammt – warum mussten Erwachsene immer mit der Masche kommen. Dem konnte der Schwarzhaarige leider nichts entgegensetzen.   „Ach und noch etwas, wenn wir bei mir zuhause ankommen, gelten genau drei Regeln für dich!“   „Hä?“, irritert hob der Jüngere eine Augenbraue. Was kam denn jetzt bitte noch? Daraufhin begann auch schon die Aufzählung, die Tobios Lage nicht im Geringsten erleichtern sollte.   „Erstens - Leg dich nicht mit mir an, dass könnte böse ausgehen! Dann bleibt es nicht nur bei einem kleinen Klaps auf den Hinterkopf!“       //Sein Ernst? Verarscht der mich gerade??//   „Zweitens - Leg dich erst recht nicht mit der alten Schachtel an, die ist noch schlimmer drauf als ich. Hüte dich vor ihr – sie ist echt ein Drachen und- “   //Von was redet der denn da bitte? Welcher Drache??//   „- Drittens und die wichtigste Regel von allen - Rauchverbot im gesamten Haus! Wenn ich nur ein einziges Mal  Zigarettengeruch in deinem Zimmer rieche, fliegst du hochkant raus und pennst in der Kammer, kapiert?!“   //Oh Kami – was hab ich bloß verbrochen, dass du mich so bestrafst?!//   Fassungslos saß der Schwarzhaarige vor dem Älteren und konnte kein Wort herausbringen. Womit hatte er das bloß verdient? Das würde die pure Hölle werden – was stimmte bloß mit diesem Irren nicht?! Wieder bildete sich eine Zornader an seiner Schläfe. Tobio war nicht bereit das alles auf sich sitzen zu lassen.   „Sag mal bist du ein Sadist, oder so?! Was sollen das bitte für Regeln sein?!“   Wütend knüllte Keishin daraufhin die Zeitung zusammen. Nun war die Geduld des Älteren am Ende. Zornig biss er auf den Zahnstocher, sodass dieser zerbrach. Funkelnde braune Augen durchbohrten den Jüngeren, der nicht wusste wie ihm geschah. Es war das erste Mal, dass er den Blonden so erlebte. Die erhobene Stimme klang endgültig – ließ ihm keinen Spielraum.   „Regeln, die dich in die Schranken weisen werden, Tobio! Bei allem Verständnis, aber das Maß ist voll! Ich verstehe deine Wut und ich verstehe deine Trauer! Aber irgendwann ist es genug! Es reicht langsam mit deiner Rebellion!! Bei mir bist du hier an der falschen Adresse! Ich bin nicht so wie meine Vorgänger, die dich verhätschelt haben! Merk dir das du unverschämter Rotzbengel!“, nun starrten schon die anderen Gäste entsetzt zu ihnen rüber. Das Gebrüll musste man bis in die vorderste Reihe gehört haben.   Der Schwarzhaarige hatte dem Ganzen nichts mehr hinzuzufügen. Bekanntlich gab der Klügere doch nach, oder?   „Tsk“, genervt zog Tobio daraufhin die Kapuze seines dunkelblauen Hoddies noch mehr ins Gesicht und lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Wälder und Ländereien zogen an dem dunkelblauen Augenpaar vorbei. Sie hatten Tokio bereits hinter sich gelassen – ums klar und deutlich auszudrücken – sie befanden sich irgendwo im nirgendwo.   Tobio wusste nur, dass sich seine neue Heimat laut den bisherigen Erzählungen neben dem Bezirk Wakano befindet. Im Vergleich zu Tokio glich diese Stadt seiner Meinung nach einem Kuhkaff. Er hoffte innerlich, dass er mit seinem Gedanken unrecht behalten sollte – auf diese Einöde hatte er erst recht keinen Bock! Vor allem nicht auf diese Dorfdeppen!   Kurz darauf zog der Schwarzhaarige einen Ipod aus seinem Rucksack hervor, der neben ihm stand und steckte sich die Kopfhörer in die Ohren. Gedankenversunken öffnete Tobio die Playlist und ließ sich einfach von der Musik treiben – zumindest etwas, was ihm im Moment Ruhe verschaffte. Ruhe, die er brauchte, um tief in sich zu gehen.   Sein Blick war gegen Horizont gerichtet. Er musste sich wohl oder übel langsam mit dem Gedanken anfreunden, dass sich sein Leben von nun an von Grund auf ändern würde.             Eine neue Präfektur..     Eine neue Stadt..     Eine neue Familie, die ihn aufnehmen würde..     Eine neue Schule, die er von fort an besuchen sollte..     Neue Leute, die er kennenlernen würde…               War er dem Ganzen wirklich schon gewachsen?     Kapitel 4: Akt I: Part IV – family ---------------------------------- Der Mittag brach langsam heran. Die ganze morgige Zugfahrt verbrachten sie mit Schweigen. Tobio hatte nach dem ganzen Theater wirklich keine große Lust mit dem Deppen, der immer noch gegenüber von ihm saß und sich wieder der Tageszeitung gewidmet hatte, auch nur ein Wort zu wechseln. Stattdessen sah der Schwarzhaarige aus dem Fenster und beobachtete die unterschiedlichen Landschaften, die an seinen Augen vorbeizog. Mit den Gedanken war er bereits bei seiner neuen Heimat.   Dass sich sein heutiger Tag noch als sehr spektakulär herausstellen sollte, konnte der Jüngere zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen.           [2 Stunden später, Bahnhof]   „WAS ZUM??!!!“   Tobio hätte es wissen müssen – warum hatte er auch jemals nur einen Gedanken daran verschwendet, dass er einmal mit seinen Vermutungen falsch liegen könnte? Fassungslosigkeit zeichnete sich in seinen Gesichtszügen ab, während Keishin neben ihm stand und ihn seitlich angrinste.   „Das ist jetzt …nicht wahr….??“, das Zittern in Tobios Stimme war eindeutig.   Was der Jüngere zu sehen bekam, als er aus dem Wagon ausstieg, war ein menschenleeres Dorf – überall Natur und wenn mal Menschen auf den Straßen unterwegs waren, waren es hauptsächlich ältere Leute – ansonsten Einöde – ein Kaff, wie es im Buche stand. Die Stimmung des Schwarzhaarigen sank innerhalb weniger Sekunden noch mehr auf den Tiefpunkt, als es ohnehin schon der Fall gewesen war.   //Ihr wollt mich doch alle verarschen?!//   Wo um Kamis Namen war er bloß gelandet? Ungläubig sah Tobio zu Keishin rüber, der friedlich vor sich hin pfeifend an ihm vorbeispazierte. Ohne auch nur einen Laut von sich zu geben, folgte der Jüngere dem Blondhaarigen bis dieser nach 10 Minuten stehen blieb. Beinahe wäre Tobio in seinen neuen Bewährungshelfer reingelaufen, hätte er nicht rechtzeitig in seiner Bewegung inngehalten. Was er allerdings dann erblickte, ließ den Schwarzhaarigen schwer schlucken. Vor ihnen lag ein Berg – nicht ein kleiner, sondern ein steiler, der ein gutes Stück nach oben führte. Das war jetzt nicht sein verdammter Ernst?   „Auf geht’s, Kleiner. Nur noch den Berg hinauf und dann weitere 15 Minuten, dann sind wir am Ziel. Dann wird dein kleines Gehirn mal mit frischem Sauerstoff geflutet.“   //Bla…bla… bla… du kannst mich mal kreuzweise…//   Murrend und ohne auf den spitzigen Kommentar zu antworten, schlurfte der Schwarzhaarige hinter dem Älteren her. Kami sei Dank hatte sein Koffer, den er hinter sich herzog, Rollräder. Seine Pechsträhne sollte allerdings an diesem Tag auch kein Ende nehmen. Zu allem Überfluss gingen auch noch unterwegs die Rollräder an seinem Koffer kaputt, sodass der Jüngere das Gepäck tatsächlich den Berg hochtragen musste. Es war verdammt nochmal zum Kotzen. Eine Zornader hatte sich bereits auf seiner Schläfe gebildet und seine linke Augenbraue zuckte bereits – kein gutes Zeichen.   //Ruhig bleiben, Tobio … ganz ruhig…//   Der Schwarzhaarige hatte jetzt schon die Schnauze gestrichen voll. War es schlechtes Charisma? War es Schicksal? Es war schlimm genug, dass er nun in einem Kuhkaff leben musste, wo bestimmt schon ab 8 Uhr abends die Bordsteine hochgeklappt werden. Hier war doch wirklich tote Hose – wie sollte er das bloß überleben?   Nachdem der Berg endlich hinter ihnen lag, durchquerten sie Felder. Die Menschen waren bereits dabei ihre Arbeit für heute zu beenden. Einige winkten ihnen oder eher Keishin freundlich zu, woraufhin der Blonde auch direkt die Gesten erwiderte. Tobio schritt immer noch mehr als angefressen hinter seinem Bewährungshelfer her. Inzwischen hatte er sich seine Pullover-Kapuze noch mehr ins Gesicht gezogen. Schließlich kamen sie nach weiteren 5 Minuten vor einem kleinen Laden zum Stehen. Unbeeindruckt hob Tobio daraufhin seinen Kopf und las das Geschäftsschild. Das sollte also zukünftig sein neues Zuhause darstellen? Sah eigentlich ganz in Ordnung aus – zumindest auf den ersten Blick. Keishin hingegen drehte sich zu dem Jüngeren um.   „So da wären wir.“   Ohne weitere große Worte miteinander zu wechseln, betraten sie den Laden. Tobio ließ währenddessen seinen Blick durch das Geschäft schweifen. Es handelte sich um einen kleinen Drogeriemarkt. Nun packte ihn doch etwas die Neugier. Als er die Minzen-Limonade erblickte, blieb er stehen und schaute sich das Sortiment genauer an. Da stand sogar sein Lieblings-Jogurt-Getränk. Währenddessen warf der Blonde erneut einen prüfenden Blick auf seinen Schützling.   „Willst du dir nicht mal langsam die Kapuze vom Kopf ziehen? Sieht wirklich dämlich aus!“   „Kannst du auch mal was anderes außer meckern?“, mehr als genervt erdolchte der Schwarzhaarige seinen Bewährungshelfer mit seinen Blicken. Dieser jedoch seufzte aus und kam auf den Jüngeren zu, der sich daraufhin ihm entgegenstellte.   „Du siehst aus wie ein Emo! Das ist uncool!“   „Lass mich doch einfach in Ruhe!“, beleidigt blies Tobio daraufhin die Backen auf und verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper. Keishin hingegen verlor langsam die Geduld.   „Das sieht sowas von scheiße aus! Mach mal was aus dir!“   „Ja und? Bist du mein Vater oder was? Schau mal lieber nach dir selbst! Deine Haare sehen im Übrigen auch beschissen aus! Und was soll das überhaupt mit dem Haarreif, bist du ein Mädchen?“, brüllte Tobio und zeigte dabei mit dem Zeigefinger auf sein Gegenüber. Dieser jedoch grummelte bereits und sein Gesicht lief vor Wut knallrot an. Hämisch grinsend, knackte der Ältere daraufhin seine Fäuste.   „WIE WAR DAS?! Du unverschämter R-“   Plötzlich schlug von hinten etwas hartes gegen Keishins Hinterkopf, sodass dieser nach vorne umkippte. Tobio konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite treten, ehe der Blonde in Zeitlupe den Absturz seines Lebens hinlegen konnte. Verdutzt schaute das blaue Augenpaar auf den Gegenstand, der neben Keishin mit schepperndem Geräusch landete. Es handelte sich um einen metallischen Gegenstand.   //Das ist jetzt nicht wahr, oder?//   Wo kam auf einmal die Bratpfanne her? Ungläubig blickte der Schwarzhaarige in die Richtung, aus der das Küchenutensil geflogen kam. Auf dem Tresen saß eine Frau, die ungeduldig mit dem Zeigefinger gegen ihren Oberarm tippte. Ihr Gesicht war zu Boden gerichtet – die Aura, die sie jedoch versprühte, ließ den Jüngeren augenblicklich innehalten.   „Meine Güte… langsam frage ich mich ernsthaft, was für einen unverschämten Satansbraten ich aufgezogen habe!“   Daraufhin sprang sie vom Tresen herunter und schritt auf die beiden Männer zu.   „Das ist wieder mal typisch. Aufbrausend wie eh und je. Von wem hat er das bloß nur?“   Tobio blieb wie angewurzelt stehen. Die Aura, die ihm entgegenschlug, ließ ihn erzittern. Die Frau erhob schließlich ihren Kopf. Braun traf auf Blau. Ein eiskalter Schauer jagte über Tobios Rücken. Er konnte sich nicht rühren – er war festgefroren.   //Was ist das bitte für ein Monster?!//   Keishin hingegen hatte sich in der Zwischenzeit erhoben und griff nach der Bratpfanne, die neben ihm lag. Ungläubig schaute er die Frau vor sich an und auf einmal brach der Sturm auch schon los – und Tobio befand sich mittendrin.   „SAG MAL DU ALTE SCHACHTEL!! IST DAS DEIN VERFICKTER ERNST??!!!“   „WIE HAST DU MICH GERADE GENANNT? ICH BIN IMMER NOCH DEINE MUTTER DU UNVERSCHÄMTER BENGEL! HÜTE DEINE ZUNGE!“   „DAS IST EINE VERDAMMTE BRATPFANNE!! BIST DU VON ALLEN GUTEN GEISTERN VERLASSEN?! DU HÄTTEST MIR DEN SCHÄDEL BRECHEN KÖNNEN!!“   „ACH WAS - DEIN DICKSCHÄDEL IST UNZERSTÖRBAR! DA BRAUCHT ES MEHR UM DIESEN ZU SPALTEN!!“   „DARUM GEHT’S DOCH JETZT GAR NICHT!! UND SOWAS SCHIMPFT SICH MUTTER?? DU BIST EINE HEXE! WO HAST DU DENN DEINEN BESEN GELASSEN?!“   „WIE WAR DAS? KEISHIN DU UNDANKBARER VOLLIDIOT!“   „LALALA~ ICH KANN DICH NICHT HÖREN! ICH VERSTEHE KEIN HEXISCH! LALALA~“   „KEISHIN!!!“   Tobios Augen weiteten sich vor Schreck. Ungläubig sah er zwischen den Beiden hin und her. Was ging hier vor sich? Wo war er bloß gerade reingeraten? Sie bemerkten nicht einmal, dass er noch anwesend war und der ganzen Diskussion beiwohnte. Sie waren in ihrer komplett eigenen Welt.   //Hilfe, was ist das bloß…. für eine Familie?!//   Der Jüngere wurde je aus seinen Gedanken gerissen, als ihm schließlich eine Hand zum Gruß gereicht wurde. Herzlich braune Augen schauten den Schwarzhaarigen an. Von ihrem Wutanfall von eben war nichts mehr zu spüren. Zu so etwas waren echt nur Frauen in der Lage. Sie waren richtige Biester – kein Wunder, dass er an ihnen keinerlei Interesse hatte.   „Du musst wohl der junge Mann sein, der zukünftig bei uns wohnen soll. Mein Name ist Kira Ukai, ich bin die Mutter von dem verzogenen Nichtsnutz hinter mir. Es freut mich deine Bekanntschaft zu machen. Nenn mich bitte Kira. Ich hoffe mal, dass Kei dir keine großen Schwierigkeiten bereitet hat?“   Verdutzt erwiderte Tobio die Geste und schaute Keishin hierbei an, der immer noch hinter seiner Mutter stand und mehr als angefressen zur Seite blickte. Daraufhin setzte der Schwarzhaarige ein charmantes Lächeln auf.   „Mein Name ist Tobio Kageyama, die Freude ist ganz meinerseits und nein – dein Sohn ist ein hervorragendes Vorbild. Das Beste, was man sich vorstellen kann~“, hierbei grinste Tobio den Blondhaarigen hämisch an, der sich daraufhin knirschend auf die Zähne biss.   Oh ja - Tobio genoss es. Zumindest im Moment konnte er den Ruhm genießen, das ganze ging ihm runter wie Öl. Endlich rächte sich alles und der Anblick des kochenden Keishin war ein Bild für alle Kami.   Die darauffolgenden Stunden verliefen soweit friedlich ohne weitere Zwischenfälle. Die Mutter seines Bewährungshelfers war sehr direkt und quetschte den Schwarzhaarigen regelrecht aus. Ob er Single sei? Welche Träume er verfolge? Was er später mal beruflich machen will? Wie gutaussehend er doch sei. Die typischen Fragen, die eine Mutter einem stellen konnte. Es war schon unangenehm, doch Tobio spielte seine Rolle perfekt.   Kira war das komplette Gegenteil von seiner Mutter. Auf die Frage hin, was mit seiner eigenen Familie sei, verstummte Tobio allerdings. Seine Eltern waren ein weiteres Thema, das er nie gern zur Ansprache brachte. Ein weiteres rotes Tuch in seinem Leben. Kami sei Dank gingen sie auch nicht näher darauf ein und akzeptierten seine Distanz. Der restliche Nachmittag verlief normal – falls man es normal nennen konnte. Zwar schrien sich Mutter und Sohn immer noch gegenseitig an, aber Tobio hatte inzwischen das Gefühl, dass sie einfach nicht anders miteinander umgehen konnten. Der Apfel fiel hier im wahrsten Sinne des Wortes nicht weit vom Stamm. Erst am Abend wurde dem Schwarzhaarigen sein neues Zimmer gezeigt, dass sich im 1. Obergeschoss befand. Die Blondhaarige hatte den Jüngeren noch hoch begleitet und hatte ihm die Tür geöffnet.   „Wenn du etwas brauchst, sag einfach Bescheid, ja?“, Kira lächelte den Jüngeren herzlich an und klopfte ihm hierbei auf die Schulter, ehe sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.   „Vielen Dank“, nach diesen Worten war Tobio allein. Ein Blick aus dem Fenster ließ vermuten, dass es bald anfangen würde zu regnen. Der Himmel hatte sich bereits verdunkelt.           Gedankenversunken sah sich der Schwarzhaarige daraufhin im Raum um. Das Zimmer war doppelt so groß wie seine Zelle in der JVA. Vorsichtig legte Tobio seinen Koffer vor sich ab und öffnete den Reißverschluss. Die Dinge, die sich dort drin befanden, waren sein größter Schatz. Seit seiner Inhaftierung hatte er den Inhalt nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er diese Dinge auch schmerzlich vermisst. Sie enthielten so viele Erinnerungen – traurige als auch schöne. Ein Lächeln zierte daraufhin Tobios Lippen.   Das Erste, was ihm entgegenstrahlte, war ein Kuscheltier. Es handelte sich hierbei um eine schwarze Krähe. Sie war sehr fluffig und ähnelte mehr einem runden Kissen. Wortlos hob Tobio das Stofftier auf und schritt damit auf sein Bett zu, das sich direkt am Fenster befand und ließ sich in die weiche Matratze sinken. Sachte und vorsichtig fuhr er mit seinen Fingerkuppen über den weichen Stoff, der das Gefieder darstellen sollte. Danach griff Tobio nach seinem Ipod und steckte sich die Stöpsel in die Ohren.   Musik war alles, was er im Moment brauchte – sie ließ ihn innerlich abschalten - ließ ihn für eine Weile alles um sich herum vergessen. Zu allem Überfluss lief auch gerade noch „sein“ Lied. Tobio wollte den Song damals aus der Playlist löschen, doch er brachte es einfach nicht übers Herz. Aus irgendeinem Grund wollte er diese Erinnerung nicht löschen. Er konnte es nicht. Sein Herz hatte ihn daran gehindert. Knirschend biss sich Tobio daraufhin auf die Unterlippe.   Plötzlich flimmerten Bilder vor seinem inneren Auge auf. Bilder aus längst vergangener Zeit – einer Zeit, der er niemals hinterhertrauern würde. Er hatte schließlich vor Jahren schon seinen Weg und seine Entscheidung getroffen.                   *****Flashback: 4 Jahre zuvor*****   „WAS SOLL DAS HEIßEN, DU HAST DICH IN EINEN JUNGEN VERLIEBT?“, ein großer grauhaariger Mann saß vor Tobio, der ihm soeben sein Outing offenbart hatte. Sein braunhaariger Freund stand neben ihm und gab ihm Rückhalt. Der Größere war extra mitgekommen, damit Tobio nicht allein vor seine Eltern treten musste. Seine Schwester und auch seine Mutter waren mehr als geschockt. Ihre Blicke sagten mehr als tausend Worte.   „So wie ich es gesagt habe, Vater. Es ist mir egal, wie viele Dates du noch für mich organisierst - ich werde keine Frau heiraten! Akzeptier das bitte.“   „Ist dir eigentlich klar, was das für unser Familie bedeutet? Von Akzeptanz kann hier keine Rede sein!“, ein fester Schlag auf den Glastisch folgte, woraufhin Tobio zusammenzuckte. Sein alter Herr versuchte wieder auf diese Art seine Macht und Überlegenheit zu demonstrieren. Dennoch nahm der Jüngere all seinen Mut zusammen.   „Was es bedeutet? Ich werde euch keinen Enkel schenken können und ich werde auch meinen Traum verfolgen! Ich habe kein Interesse an euerer Politikerkarriere! Meine Leidenschaft liegt in der Kunst!!“   „Tobio! Was fällt dir eigentlich ein! Du bist mein Fleisch und Blut! Ich lasse nicht zu, dass du dich blenden lässt! Deine Schwester war nie so! Nimm dir an ihr ein Beispiel, Junge!“, daraufhin erhob sich der Grauhaarige und schritt auf Tobio und seinen Partner zu.   „Lass es endlich gut sein, Vater. Ich sage es noch einmal – ich liebe Tooru und ich werde mich deinem Willen nicht mehr länger beugen! Ich lasse mich von dir nicht mehr verbiegen! Das bin nicht ich!“, hilfesuchend suchte Tobio nach der Hand seines Partners, der daraufhin die Geste erwiderte.   „WIE KANNST DU ES NUR WAGEN…“, sein Vater hingegen erhob daraufhin die Hand, um zum Schlag auszuholen.   „DU VERDAMMTER NICHTSNUTZ, du bist eine Schande für unsere Familie!!“, ehe die flache Hand Tobios Gesicht treffen konnte, warf sich sein Freund dazwischen. Ein lauter Knall und anschließendes Gepolter hallte durch das Wohnzimmer, in dem sich die ganze Diskussion abspielte. Fassungslos sah Tobio zu seinem Partner herunter, der vor ihm auf dem Boden lag und sich schmerzlich zischend die Wange rieb.   „Tooru!“, sofort ging der Jüngere auf die Knie und half dem Braunhaarigen hoch, der sich immer noch die pochende Wange rieb. Gefährlich funkelnde braune Augen durchbohrten sein Gegenüber, der einfach nur fassungslos dar stand und seine Hände betrachtete.   „Wagen Sie es ja nicht und erheben noch einmal Ihre schäbige Hand gegen Ihren eigenen Sohn!! Wie erbärmlich kann man bitte sein! So gehen Sie also mit Ihrem Fleisch und Blut um? Die einzige Schande, die ich hier gerade sehe, sind Sie! Als Politiker sollten Sie sich was schämen!“   „Du bist doch erst Schuld an der ganzen Lage hier! Du hast meinen Sohn verführt, streit es gefälligst nicht ab, Oikawa!“, brüllte der Ältere und zeigte mit dem Zeigefinger auf den Braunhaarigen, der ihm immer noch gegenüberstand. Dieser jedoch musste laut auflachen.   „War ja klar, dass Sie mit so einer Rede um die Ecke kommen. Ich sag Ihnen jetzt mal was. Tobio ist 16. Er ist alt genug, um seine eigenen Entscheidungen treffen zu können. Homophobe Kreaturen wie Sie finde ich einfach nur zum Kotzen!“, nach diesen Worten griff Tooru erneut nach Tobios Hand und richtete ein letztes Mal seinen Blick auf den Grauhaarigen, der vor Wut kochte. Es war ihm äußerlich klar anzusehen – die Fäuste zitterten bereits.   „Ich nehme Tobio mit. Er bleibt nicht länger hier! Wenn Sie auch nur einen Mucks von sich geben, gebe ich einen anonymen Tipp an das Jugendamt und die Polizei ab. Ein gewalttätiger Politiker und Vater wird in unserer heutigen Gesellschaft nicht gerne gesehen! Ich bin gespannt wie sich die Medien hierüber das Maul zerreißen werden!“, Tobio sah daraufhin zu seinem Freund hoch. Er konnte nicht glauben, dass sich der Braunhaarige gerade ernsthaft gegen seinen Vater stellte. Er bewunderte seinen Freund dafür, er war so stark – so mutig. Er hatte all die Eigenschaften, die ihm bislang gefehlt hatten. Er war sein Vorbild.   Aber dennoch war der Schwarzhaarige froh, dass Tooru an seiner Seite war – er hatte ihn beschützt. Beschützt vor seiner eigenen Familie, die in diesem Moment ihr wahres Gesicht präsentiert hatte. Intoleranz und Abscheu. Tobio war es schon lange klar gewesen - dass sie allerdings ihre Masken auch vor Tooru fallen ließen, machte ihn mehr als fassungslos. Es war schon schlimm genug, dass sie ihn nicht akzeptieren wie er war – dass sie allerdings auch noch seinen Freund in die Misere mitreinzogen, war zu viel. Es war genug – ein für alle Mal!   Während sie Tobios Sachen zusammenpackten und das Haus daraufhin verließen, konnten sie immer noch die Beschimpfungen und Wutanfälle seines Vaters mitanhören. Es zerriss Tobio von innen heraus. Es tat so schrecklich weh, dass seine eigene Familie ihn so ablehnte. Der Schwarzhaarige hatte sich an jenem Abend folgendes geschworen:   Er hasste seine Eltern – er hasste seine Schwester. Sie alle konnten ihm gestohlen bleiben. Nie wieder würde er zu diesen zurückkehren – da schlief er lieber unter einer Brücke. Sie alle waren ein für alle Mal für ihn gestorben.   *****Flashback Ende*****         Ein trauriges Lächeln zierte daraufhin Tobios Lippen, als er das Stofftier noch näher an sich drückte und seinen Kopf senkte. Tränen bahnten sich an seinen Wangen hinunter. Gerade im Moment prasselten die Erinnerungen erneut auf ihn ein. Es tat immer noch weh – sein Herz zog sich immer noch schmerzlich zusammen, wenn er an Tooru dachte. Er war sein Stützpfeiler gewesen, hatte ihn immer unterstützt. Der Braunhaarige hatte ihn so akzeptiert wie er war – mit all seinen Stärken und Schwächen. Er hatte ihn dazu gebracht, sich selbst zu akzeptieren und zu lieben – diese Liebe aber auch weiterzugeben. Tooru war seine erste große Liebe gewesen.   Allerdings fühlte sich der Schmerz auf seltsame Art und Weise erträglicher an als sonst. Langsam erlangte Tobio die Erkenntnis, das sich etwas ändern musste. So wie es aktuell lief, konnte es nicht weitergehen. Wieso der Schwarzhaarige ausgerechnet jetzt diese Gedanken zuließ, wusste er selbst nicht. Sein Kopf war merkwürdigerweise freier als sonst. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Es war auch das erste Mal, dass er innerlich die Trauerbewältigung zuließ. Seine Dämme brachen – allerdings ohne Wut. Er verspürte aktuell keine Wut oder sonstige negative Emotionen, die ihn innerlich zerrütteten. Traurigkeit, aber auch Dankbarkeit waren alles was er fühlte. Sollte er jemals wieder auf den rechten Weg kommen? War er bereit diesen Weg, der vor ihm lag, allein zu beschreiten? Was genau würde ihn am anderen Ende erwarten? Daraufhin hallten die Worte seines verstorbenen Freundes erneut durch seine Gedanken.   „Versprich mir bitte eines Tobio…“   Als der Schwarzhaarige seinen Kopf erhob, bemerkte er, dass es angefangen hatte zu regnen. Die Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe und bahnten sich ihren Weg an dieser hinunter. Es sah so aus, als ob der Himmel mitweinen würde. Ein beruhigender Anblick, der Tobio friedlich stimmte.   „… bleib dir selbst treu… und geh deinen eigenen Weg….“   Vorsichtig öffnete Tobio daraufhin das Fenster und hielt seine rechte Hand nach draußen in den Regen. Der Wind wehte ihm entgegen- allerdings war ihm das im Moment herzhaft egal.   „….egal wie dieser Weg aussehen und wie schwierig er auch sein mag…“   Gedankenversunken beobachtete das blaue Augenpaar daraufhin wie der Regen seine Handfläche berührte - sich dieser erst dort wie ein kleiner Bach ansammelte und wie die einzelnen Tropfen sich dann langsam einen geschmeidigen Weg an seiner Hand hinunterbahnten.   „…ich werde immer an deiner Seite stehen..“   Kapitel 5: Akt I: Part V – sparkle ---------------------------------- Seit Tobios Einzug waren bereits mehrere Wochen vergangen. Anfangs war es noch ungewohnt gewesen wieder eine Art Familie um sich herum zu haben. Vor allem aber der Trubel war so eine Sache, an den sich der Schwarzhaarige erst wieder gewöhnen musste. Morgens schon das Geschrei im Flur mitzuerleben, ließ den Jüngeren mehr als nur einmal kerzengrad im Bett sitzen. Er brauchte gar keinen Wecker – wozu auch, wenn sich Mutter und Sohn schon morgens in aller Frühe gegenseitig an die Gurgel sprangen. Das Geschrei war nerviger als jeder Klingelton! Und diese Prozedur wiederholte sich jeden Morgen – vor allem war es jedes Mal ein anderes Streitthema. Tobio hatte sich schon das Hirn darüber zermahlen, wie man bloß wegen solchen Kleinigkeiten direkt an die Decke gehen konnte. Diese Familie stammt definitiv nicht von dieser Welt! Dabei wäre der Schwarzhaarige froh gewesen, zumindest einmal normal ausschlafen zu können – aber es war ihm nicht vergönnt gewesen – wozu auch? Zu Keishin hatte sich das Verhältnis seitdem kein bisschen verändert, er und sein Schützling gifteten sich immer noch gegenseitig an – es gab auch schon Situationen, in denen sie sich beinahe die Köpfe eingeschlagen hätten, wäre Kira nicht dazwischen gegangen. Die Mutter seines Bewährungshelfers hingegen war stets freundlich gegenüber dem Zwanzigjährigen gestimmt. Ob es daran lag, dass ihre mütterlichen Instinkte sie dazu verleiteten? Tobio wusste die Antwort bis heute nicht, doch es gefiel ihm, dass es zumindest eine Person im Haushalt gab, die ihm so etwas wie Rückhalt gab – mehr oder weniger. Zumindest erklärte sie ihm genau was zu tun war – nicht so wie der Depp, der ihn immer erst anbrüllte, bevor er überhaupt ein ordentliches Wort mit dem Jüngeren wechselte. Seit zwei Wochen wurde der Schwarzhaarige nun auch in die Arbeiten mit eingespannt. Anfangs war es nur im Haushalt gewesen, seit heute allerdings wurde er auch in der Gartenarbeit eingesetzt. Normalerweise kümmerte sich der Großvater seines Bewährungshelfers um den Garten. Da sich dieser allerdings seit über zwei Monaten in Kur außerhalb der Präfektur befand, blieb die Arbeit wohl oder übel nun an Tobio hängen. Unkraut jäten, Rasenmähen und Holz hacken gehörten zu seinem heutigen Aufgabengebiet. Die Sonne schien ihm bereits seit Stunden auf den Nacken. Es war verdammt warm, dafür das erst Ende April war. Schweißperlen liefen an Tobios Schläfe hinunter – es war anstrengend. Das Rasenmähen hatte er Kami sei Dank schon direkt morgens erledigt, das Unkraut war auch schon aus den Beeten entfernt – momentan nahm er sich eher das Leben am Hacken. Der Schwarzhaarige war diese Art von Arbeit nicht gewohnt. Bei seinen Eltern früher hatten sie hierfür extra Gärtner angestellt, die sich regelmäßig um das Anwesen kümmerten. Keuchend und erschöpft seufzend, wischte sich Tobio den Schweiß von der Stirn und warf einen Blick auf sein Werk. Immerhin ist er doch ein gutes Stück weitergekommen – der Berg an gehacktem Holz konnte sich sehen lassen. Wenn man ihm schon eine Aufgabe übertrug, führte er diese auch meistens zu 100% aus. In dieser Hinsicht war er ein Perfektionist. Nachdem die Arbeit erledigt war, begab sich der Schwarzhaarige nach oben in sein Zimmer, nahm sich frische Kleidung aus dem Schrank und verschwand im Badezimmer. Der heiße Wasserstrahl, der aus dem Duschkopf kam, ließ ihn erschöpft zusammensacken. Seinen Kopf lehnte er hierbei an die kalten Fliesen und genoss das Gefühl des Wassers, das auf ihn niederprasselte und sich seinen Weg an seinem Körper hinabbahnte. Genüsslich schloss Tobio seine Augen. Ruhe, er hatte zumindest einen Augenblick für sich. Das kam die letzten Wochen auch eher selten vor. Normalerweise stand Keishin schon mit der nächsten Aufgabe in den Startlöchern. Doch anscheinend hatte der Jüngere seine Arbeit endgültig für heute getan. Als der Schwarzhaarige aus der Dusche stieg, wickelte er sich das Handtuch um die Hüfte und schritt auf den Badezimmerspiegel zu, der aufgrund der Hitze beschlagen war. Nachdenklich wischte Tobio mit seiner Hand über die beschlagene Fläche und legte sein eigenes Spiegelbild frei. Wasserperlen tropften an seinen langen schwarzen Strähnen herab. Bislang konnte er sich erfolgreich vor einem Friseurbesuch drücken – doch langsam wurde es Zeit für einen neuen Haarschnitt. Vorsichtig stützte sich der Schwarzhaarige am Waschbecken ab und sah sich genau an. Obwohl er nur einen halben Tag in der Sonne verbracht hatte, hatte er sich doch tatsächlich einen leichten Sonnenbrand zugezogen. Behutsam fuhr Tobio die Hautstellen an Hals und Nacken nach. Dadurch, dass er ein sehr heller Hauttyp war, neigte er zu Sonnenbränden. Das war schon damals in seiner Kindheit so gewesen. Aus diesem Grund mied er auch die Sonnenstrahlen und verbrachte die meiste Zeit unter dem Sonnenschirm. Als Tobio sich allerdings genauer seiner Statur widmete, musste er hart schlucken. Er war viel zu dünn gebaut - normalerweise hatte er früher Sport getrieben und besaß auch eine entsprechend gut definierte Figur. Vielleicht sollte er sich langsam mal wieder dem Joggen widmen und eine gesunde Ernährung wäre auch von Wichtigkeit. Tobio musste zugeben, dass es ihm, seit er hier auf dem Land angekommen war, besser ging als vorher. Es verblüffte ihn ja schon selbst - dass sie alle recht behalten sollten. Allerdings setzte ihm der Gedanke an die vergangenen Tage mit Tooru immer noch schwer zu, aber es wurde besser – Tag für Tag. Das Erste, was Tobio damals nach seinem Einzug machte – er widmete sich seinem Laptop, der vor seinem JVA-Aufenthalt mindestens ein Jahr lang zuvor ohne Akku im Schrank vor sich hinvegetiert hatte. Es tat weh, wenn er die Bilder sah, die ihn zusammen mit seinem Freund zeigten. Wie sie zusammen in die Kamera gelacht hatten. Sein Herz schmerzte immer noch sehr, wenn er die schönen Augenblicke vor sich sah. Wie sehr sehnte sich Tobio nach dieser Zeit zurück. Wo alles noch normal war und sie unbeschwert ihr Leben führten. Es hätte alles anders kommen können, hätte er nur eher hingesehen. Aber der Schwarzhaarige realisierte inzwischen, dass es keinen Weg mehr zurückgab – er musste weitermachen, wie auch immer er das anstellen sollte. Nachdem Tobio seine frische Kleidung angezogen hatte, betrat er erneut sein Zimmer und ließ sich auf sein Bett sinken. Er trug einen dunkelblauen Hoodie und schwarze enganliegende Jeans. Kurz saß er einfach nur da und schaute zur Decke auf. Sein Kopf war wie leergefegt. Wenige Minuten später widmete Tobio die Aufmerksamkeit seinem Nachtischschrank und öffnete die erste Schublade. Hervor kam ein schwarzes Notizbuch, das er vorsichtig hochhob und durchblätterte. Ein weiterer Gegenstand, der wie sein Laptop, ewige Zeiten vor sich hin gestaubt hatte. In dessen Inneren befanden sich seine Bilder. Zeichnungen von einzelnen Gegenständen, Landschaften und auch Tieren. Es befand sich auch ein Portrait von Tooru darin. Behutsam fuhr er mit seinen Fingerkuppen über die Bleistiftzeichnung. Tobio erinnerte sich noch genau an diesen Moment - wie der Braunhaarige damals gedankenversunken aus dem Fenster geschaut hatte, als sie Sonntagsmorgens am Küchentisch saßen. Es war ein Bild, das sich tief in Tobios Netzhaut gebrannt hatte, woraufhin er einfach nicht anders konnte, als diese Szene auf Papier zu verewigen. Der Schwarzhaarige tat es, weil es ihm Freude bereitete. Die Kunst generell ließ ihn aufleben. In der Schule waren alle Lehrer von seinem Talent mehr als begeistert gewesen. Sie rieten ihm auf eine Künstlerschule zu gehen - dass er sein Hobby zum Beruf machen sollte. Seine Eltern allerdings machten sich daraus nichts, sie unterstützten ihn kein bisschen dabei. Sie waren fest auf die Politikerkarriere aus. Er sollte wie seine Schwester auch politisch arrangiert sein. Allerdings wusste Tobio damals schon, dass er anders war und dass das Leben, das ihm seine Eltern vorschrieben, nicht seine Erfüllung war. Er war totunglücklich gewesen. Tief in Gedanken versunken, erhob sich der Schwarzhaarige wenige Sekunden später und ließ das Notizbuch in der Bauchtasche seines Hoodies verschwinden. Der Pullover war ihm etwas zu groß, aber das kam dem Jüngeren gerade recht. Bevor Tobio erneut das Zimmer verlassen wollte, griff er nach dem Mäppchen, das sich auf dem Sideboard befand. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, schritt der Schwarzhaarige die Treppen hinunter und betrat erneut den Garten. Inzwischen lag das Anwesen komplett im Schatten des großen Tannenbaums, der sich nah am Gemäuer befand. Als das blaue Augenpaar die Hängeschaukel ausfindig machen konnte, steuerte er direkt darauf zu und ließ sich nieder. Dann zog Tobio erneut sein Notizbuch hervor und griff nach dem Bleistift, der sich zuvor im Mäppchen befand. Nachdenklich ließ sich der Schwarzhaarige zurück in die weiche Rückenlehne sinken. Sein Blick war gegen Himmel gerichtet, an dem wenige weiße Wolken vorbeizogen. Eine leichte Brise wehte ihm entgegen. Danach widmete er sich wieder der leeren weißen Seite. Seine Hoodie-Kapuze zog er sich währenddessen tief ins Gesicht. Er wusste nicht, wie er beginnen sollte, es fehlte etwas. Als Tobio Gezwitscher neben sich vernahm, entdeckte er einen kleinen Vogel, der sich am Wasserspender niedergelassen hatte, der sich direkt neben der Schaukel befand. //Na sowas, du kommst mir gerade recht, Kleiner~// Ein zärtliches Lächeln zierte Tobios Lippen, als er sein Notizbuch näher zu sich zog und die ersten feinen Striche ansetzte. Genau das hatte ihm gefehlt – Inspiration! Immer wieder wanderte das blaue Augenpaar zu dem kleinen Piepmatz, der friedlich im Wasser hin und her planschte. Freudig hob dieser seine Flügel in die Luft und tauchte immer wieder ab. Sobald der Vogel wieder auftauchte, schüttelte er sein Gefieder. Diesen Vorgang wiederholte er mehrmals hintereinander. Tobio war komplett in seiner eigenen Welt, als er die Szene vor sich aufs Papier brachte. Er war durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Linie für Linie – Schattierung für Schattierung folgte. Das Bild nahm langsam erste Züge an. Immer wieder leckte sich Tobio über die Lippen – eine Angewohnheit, die ihn ständig begleitete, wenn er hoch konzentriert war. Er genoss die Stille und die Ru - „HEY BAKAYAMAAAAA~!“ und schon war die Ruhe dahin und der kleine Vogel ebenfalls, der sich vor lauter Schreck in die Lüfte erhoben hatte und davongeflattert war. Ein Murren entwich aus Tobios Kehle, als er das Nachsehen hatte. Da flog sie dahin – seine Inspiration! Tobio hätte vor lauter Wut beinahe den Bleistift in der Mitte durchgebrochen. Mehr als angefressen, sah er zu dem Blondhaarigen rüber, der am Türrahmen stand und ihm zuwinkte. Warum tauchte dieser Depp immer zum ungünstigsten Zeitpunkt auf? War das denn die Möglichkeit? „Was ist?!“ „Wäh~ was ist?! Das geht auch höflicher, Gruftie! Beweg deinen faulen Arsch!!“, äffte Keishin den Jüngeren nach und schritt auf ihn zu. Bevor sein Bewährungshelfer bei ihm ankam, verstaute Tobio das Buch direkt wieder in der Bauchtasche. Gerade er sollte die Bilder nicht zu Gesicht bekommen – nur über seine Leiche. „Was hast du überhaupt hier gemacht?!“, prüfend sah sich der Blondhaarige um. „Die Ruhe genossen, ist das etwa verboten, Herr Kommandant?“, wütend verschränkte Tobio wieder seine Arme vor seinem Oberkörper. Was wollte der Idiot bloß von ihm? Er hatte doch alles getan, was er von ihm verlangt hatte. „Rasen gemäht?“ „Ja..“ „Unkraut entsorgt?“, auf die Frage hin zündete sich der Blonde eine Zigarette an und sah zu seinem Schützling hinunter. Tobio schluckte daraufhin schwer. Er war schon komplett auf Entzug. Seine letzte Zigarette war vor einer Woche gewesen, als er sich heimlich nachts rausgeschlichen hatte. Leider war sein Vorrat komplett aufgebraucht und er musste sich bei der nächsten Gelegenheit neue besorgen. „Ja..“, murmelte der Schwarzhaarige in seinen nicht vorhandenen Bart und wand den Blick ab. Am liebsten hätte er Keishin die Zigarette wie eine diebische Elster aus dem Mund geklaut. Er musste der Versuchung widerstehen. „Holz gehackt?“ Nun war doch endlich gut – oder? Hatte dieser Depp keine Augen im Kopf? „SAG MAL BIST DU BLIND?! Wie denkst du wohl ist der Holzstapel dort hinten zustande gekommen? Und Wusch~ es war Zauberei Mister Ich-will-Chef-sein-und-steh-unter-Mamas-Schlappen!!“, mehr als angepisst, deutete Tobio auf den Holzhaufen, der wenige Meter von ihnen weg stand. „WIE WAR DAS?!“, und schon war der Blondhaarige wieder auf 180. Sofort packte Keishin Tobio am Kragen und zog ihn zu sich. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Das Blickduell, das sich die beiden Streithähne daraufhin lieferten, sprach Bände. Die Blitze schlugen hin und her. Jedoch schlich sich ein siegfreudiges Lächeln auf Keishins Gesichtszüge, als er wieder von dem Jüngeren abließ und ihm einen Einkaufszettel und Scheine entgegenhielt. „Mach dich nützlich und besorg uns was zum Essen. Ma ist heute auf einem ihrer Ladiestreffen und kommt erst sehr spät nach Hause. Ich denke Ramen dürfte genügen, oder?“ Irritert hob Tobio eine Augenbraue und nahm den Einkaufszettel genauer unter die Lupe. Tatsächlich – nur Ramen und Kleinzeugs. War wohl für den Haushalt gedacht – also nichts was im eigenen Laden zum Verkauf angeboten wurde. Danach widmete der Schwarzhaarige seine Aufmerksamkeit wieder dem Blonden, der ihn immer noch abwartend anschaute. „Mehr nicht?“ „Mehr nicht… na los, bevor ich verhungere!“ „Ja… ja.... wie ihr befielt eure Majestät~“ „HALT EINFACH MAL DEN RAND DU GRÜNSCHNABEL!!!“ [am selben Tag, etwa 15 Minuten später] „Wie der Typ mir auf die Eier geht, unglaublich ..“, knurrte Tobio und kickte einen Kieselstein, den er zuvor auf der Straße entdeckt hatte, vor sich her. Was bildete sich dieser Fatzke eigentlich ein? Seit er den Blonden vor fast zwei Monaten kennengelernt hatte, hat dieser es mit Rekord auf Platz 1 seiner roten Liste geschafft. Und das innerhalb weniger als 24 Stunden! Hatte der Typ keine Hobbys? War es vielleicht auch sexuelle Frustration? Was auch immer es war – es war nervig - sogar nerviger als nervig! Tobio brodelte innerlich. Seine Hände hatte er hierbei in seinen Hosentaschen verborgen und seine Haltung war gekrümmt. Eine Abwehrhaltung, wie sie im Buche stand – keiner sollte ihn auch nur ansprechen! Es waren kaum noch Leute unterwegs – immerhin war es schon 18 Uhr. Ein erleichtertes Seufzen verließ Tobios Lippen. Er hatte seine Ruhe – Kami sei Dank. Der Supermarkt, den der Jüngere einmal zusammen mit Kira besucht hatte, war nur 700 Meter entfernt. Er musste hierfür nur einen kleinen Park durchqueren und schon war er im richtigen Viertel. Als Tobio dort angekommen war und alles zusammengesucht hatte, griff er noch nach einer kleinen Zigarettenschachtel und bezahlte alles bar an der Kasse. Den Kassenzettel verlangte der Schwarzhaarige erst gar nicht – die Dumpfbacke musste ja nicht wissen, dass Tobio sich auf seine Kosten eine Packung Zigaretten gegönnt hatte. Nachdem er alles in der Tüte verstaut hatte, machte er sich zurück auf den Heimweg. Währenddessen steckte er sich seine Kopfhörer in die Ohren und lief seelenruhig den Weg entlang. Unterwegs zog er sich noch eine Zigarette aus der Packung und genoss das Nikotin, das ihn umgab. Endlich kam er wieder zur Ruhe. Er musste sich seinen Vorrat gut einteilen. Wer wusste schon, wann er das nächste Mal per Zufall die Gelegenheit erhalten sollte. Tief in Gedanken versunken, schritt er erneut durch den Park. Die Sonne ging bereits am Horizont unter und ein frischer Frühlingswind wehte ihm entgegen. Als Tobio feststellte, dass sich unterwegs seine Schnürsenkel selbständig gemacht hatten, blieb er stehen und ging in die Hocke. Während er seine Schnürsenkel zuband, war ihm ein Hörer aus dem Ohr gefallen. Gerade als sich der Schwarzhaarige erhoben hatte und den Stöpsel wieder einstecken wollte, erreichte ihn eine zarte Melodie. Augenblicklich hielt Tobio in seiner Bewegung inne. Ruhige Klänge eines Keyboards drangen an sein Ohr. Immer wieder wiederholten sich die zarten rythmischen Töne. Vielleicht ließ jemand gerade auch nur ein Radio laufen. Gerade als sich Tobio achselzuckend den Hörer wieder platzieren wollte, hielt er erneut inne. Zarte Töne erreichten erneut sein Ohr – allerdings waren diese anders als zuvor. Sie klangen so sanft – eine Gänsehaut kroch sein Rückgrat hoch. Es fühlte sich an wie ein Flüstern, das vom Wind davongetragen wurde. Seine Augen weiteten sich. Neugierig sah sich Tobio um. Nein – diese Töne klangen echt. Die Melodie musste von einer Violine stammen. Wieder suchte das blaue Augenpaar die Umgebung ab. Doch nirgends war die Quelle ausfindig zu machen. Schließlich nahm Tobio den zweiten Hörer ebenfalls aus dem Ohr und steckte diese in seine Bauchtasche. Immer noch fasziniert von diesen schönen Klängen, die ihn umgaben, suchte er erneut den Park ab. Es waren kaum noch Menschen unterwegs - also wo genau befand sich der Musiker, der diesem Streichinstrument solch schöne Töne entlockte? Neugierig folgte der Schwarzhaarige der Musik und konnte im unteren Tal des Parks einen Pavillion ausfindig machen. Dahinter befand sich ein großer See, in dem sich bereits das Spiegelbild der untergehenden Sonne widerspiegelte. Es wirkte auf den ersten Blick wie ein Gemälde eines Künstlers. Vorsichtig schritt Tobio den Abhang hinunter und bewegte sich auf das Gemäuer zu, das bereits von Efeu und Sträuchern umwachsen war. Die Pflanzen hatten das komplette Mauerwerk in Beschlag genommen. Je näher Tobio kam, desto lauter und klarer wurde die Musik. Der Schwarzhaarige hatte das Gefühl, das sich sein Herz im Takt zur Melodie mitbewegt – wie war so etwas nur möglich? Schließlich konnte er die Silhouetten von zwei Personen erkennen. Bei der ersten Person handelte es sich um eine junge Frau, vielleicht in seinem Alter – oder ein - zwei Jahre jünger. Sie besaß blondes Haar, das ihr bis zur Schulter reichte - ihr Pony war mit einem Klipp an der Seite befestigt. Sie saß auf einem kleinen Hocker und ließ ihre zierlichen Finger über die Tasten des Keyboards gleiten, das sich vor ihr befand. Sie trug einen beigen Rock und eine weiße Bluse zierte ihren Oberkörper an dessen Dekolleté sich auch eine beige Schleife befand. Auf den ersten Blick wirkte das Outfit wie eine Schuluniform. //Das ist also Person Nummer 1…// Neugierig lief Tobio an den Sträuchern vorbei, die den Pavillion umgaben und versteckte sich hinter einem Baum, der sich direkt nebendran befand. Er stand mindestens drei Meter von ihnen weg. //Und wo haben wir Nummer 2?// Als Tobio wieder seinen Blick nach vorne richtete, erstarrte er. Das blaue Augenpaar weitete sich. Auf dem Mauergeländer saß ein junger Mann. Er trug einen schlichten grauen Pullover, der ihm wohl etwas zu groß war. Um seinen Hals gewickelt, befand sich ein schwarz-rot karierter Schal, der ein gutes Stück seines Oberkörpers bedeckte. Zudem trug der junge Mann eine dunkelblaue enganliegende Jeans, die an den Kniekehlen aufgerissen war. Eine weiße Violine befand sich auf seiner linken Schulter und immer wieder strich er zart mit seinem Bogen über die Saiten. Sein Kopf war zu Boden gerichtet und seine Augen waren geschlossen – er befand sich in höchster Konzentration. Immer schneller zog er den Bogen durch, wodurch die Klänge immer heller und die Takte schneller wurden. Die letzten Sonnenstrahlen trafen schließlich dessen Haarschopf, woraufhin der junge Mann seinen Kopf anhob. Das war der Moment, in dem Tobio dachte einen Herzstillstand zu erleiden. Orangene Haare wehten im Wind, während leuchtend - glänzende braune Augen in die Ferne blickten. Die Sonnenstrahlten trafen genau auf das goldene Metall des Brillengestells, das das Gesicht des jungen Mannes schmückte. Der Orangehaarige erstrahlte regelrecht im Antlitz der untergehenden Sonne – er wirkte wie ein Engel, wie er dasaß und dem Streichinstrument weiterhin diese wunderschöne Melodie entlockte. Ein zärtliches Lächeln zierte dessen Lippen. Der kleine Kerl strahlte so viel Hoffnung und Leidenschaft aus. Aber dennoch lag auch ein Hauch von Sehnsucht in seinen braunen Iriden. Total gefangen von dem Bild, das sich wenige Meter vor ihm bot, ließ der Schwarzhaarige die Einkaufstüte zu Boden fallen. Er konnte die aktuelle Lage kein bisschen beschreiben – war regelrecht gefesselt von dem Anblick. Was war das bloß für ein Gefühl? //Wunderschön … // Ein eiskalter Schauer jagte über seinen Rücken, während sein Herz in diesem Moment wieder angefangen hatte zu schlagen. Zudem sich eine wohltuende Wärme in seinem Körper ausbreitete. Schnell wand Tobio den Blick ab und versteckte sich wieder hinter dem Baum. Sein Herz schlug schneller. Er hatte das Gefühl, das seine Beine augenblicklich nachgeben würden. Bevor der Schwarzhaarige den Halt verlieren konnte, lehnte er sich gegen den Baumstamm und platzierte seine Hand auf seiner linken Brust. Danach wand er sich wieder dem Orangehaarigen zu, der immer noch in seiner eigenen Welt vertieft war. Wie er einfach dasaß und seinen Blick auf den Horizont gerichtet hielt. Wie diese wunderschönen braunen Augen im Sonnenlicht aufleuchteten. Wie die Kirschblütenblätter durch dessen Haare wehten. Tobios Herz schlug immer schneller – es drohte ihm bereits aus dem Brustkorb zu springen. Verdammt nochmal – was war bloß in ihn befahren? //Erde an Tobio.. was stimmt bloß nicht mit dir?// Der Schwarzhaarige war unfähig sich zu rühren. Er war an Ort und Stelle wie festgefroren – gefangen in diesem Traum, den er nicht so schnell beenden wollte. Tobio konnte einfach nicht wegsehen. Er war so fasziniert von diesem Anblick. Es war das erste Mal seit fast zwei Jahren, dass er sich so lebendig fühlte – dass er das Gefühl hatte keine leblose Hülle seiner Selbst zu sein.     Was war bloß geschehen? Sollte dieser kleine Kerl etwa dafür verantwortlich sein?         Das war genau der Augenblick, in dem Tobio langsam realisierte, dass sein Leben weitergehen und ein neues Abenteuer seinen Lauf nehmen sollte. Was er allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte - es sollte sich um ein Abenteuer handeln, das seine Gefühlswelt gehörig auf den Kopf stellen wird.   Kapitel 6: Akt I: Part VI – straight ahead ------------------------------------------ Da saß er nun – vor seinem Ramen – mitten in der Küche. Eigentlich war das Knurren seines Magens unüberhörbar, doch etwas hinderte ihn daran die Suppe in einem zu verschlingen. Tobio würde es nicht direkt Appetitlosigkeit nennen – Hunger hatte er schließlich. Es fühlte sich so an, als ob ihm jemand in den Magen geboxt hätte – nur nicht so schlimm. Verdammt nochmal! Tobio konnte nicht einmal annährend beschreiben, was mit ihm los war.   Es war bereits 19 Uhr und Keishin hatte die Ramen-Suppe vorbereitet. Nun saßen sie zusammen am Tisch. Anfangs durfte sich der Jüngere natürlich noch anhören, warum er so lange gebraucht hatte. Meckern gehörte definitiv zu Keishins Lieblingsaktivitäten. Es ging einfach nicht ohne.   Stimmt - warum hatte er eigentlich so lange gebracht?   Musik. Die Melodie hatte sich tief in seinem Innern verankert und wiederholte die Takte immer wieder. War es wirklich die Musik? Oder war es der kleine Wuschelkopf, der einfach nicht aus seinem Kopf gehen wollte? Das Portrait, das sich vor ihm abgespielt hatte – der Sonnenuntergang – diese atemberaubende Atmosphäre – und diese Augen. Tobio war nicht einmal sicher, ob seine Anwesenheit überhaupt bemerkt wurde. Er wusste nur, dass sein Herz Purzelbäume schlug und seine Beine wie Gummi nachgegeben hatten. Er war so überfordert mit der gesamten Situation gewesen, dass er einfach weggelaufen war. Plötzlich traf ihn zu allem Übel noch die bittere Erkenntnis.   //Was bin ich bloß für ein Depp! Ich bin einfach weggerannt und habe nicht einmal nach seinem Namen gefragt! Scheiße!//   Seufzend ließ Tobio seinen Kopf auf die Tischplatte knallen. Die Suppe hatte er hierbei nur sehr knapp verfehlt. Verdammt nochmal – was stimmte bloß nicht mit ihm?!   Keishin, der immer noch gegenüber vor dem Schwarzhaarigen saß und seine Suppe schlürfte, hatte die Aktion genau beobachtet und schob wie immer eine Augenbraue nach oben. Die Reaktion des Jüngeren war mehr als ungewöhnlich.   „Meine Güte, kein Wunder, dass du einen Sprung in der Schüssel hast, wenn du jedes Mal deinen Schädel so aufschlagen lässt!“   Doch anstatt, dass der Jüngere, wie immer, auf den spitzigen Kommentar ansprang, hob dieser nur seinen Kopf und rührte mit den Stäbchen in der Suppe umher, während er seinen Kopf auf seiner linken Hand abstützte. Die blauen Iriden starrten ins Leere. Keishin legte seine Stirn in Falten. Was stimmte bloß nicht mit diesem Bengel? War dieser gedanklich überhaupt anwesend? Eine Zornader bildete sich bereits an seiner Schläfe.   „Erde an Mister-ich-bin-komplett-neben-der-Spur! Die Suppe wird kalt!“   „Ja, ja ….“, murrte der Jüngere und zwang die Nudeln in sich hinein. Er hatte ja Hunger, aber dann auch wieder nicht. Aber eine Konversation wollte er nicht führen. Dieser Depp musste nicht wissen was los war. Er selbst verstand es ja auch nicht – es war zum Haare raufen.   Als sie fertig zu Abend gegessen hatten, hatte Tobio ohne zu Murren das Spülen übernommen. Keishin hatte den Jüngeren hierbei nur entgeistert beobachtet. Der Blonde war irritiert, dass sein Schützling so ruhig war, dabei war er, bevor er ihn zum Supermarkt geschickt hatte, noch auf 180. Fragend hob Keishin erneut eine Augenbraue nach oben und schaute Tobio über die Schulter.   „Machst du auch alles richtig sauber? Wehe ich sehe später auch nur einen Fleck!“   Es kam wieder keine Reaktion. Meine Güte, dem Jungen war echt nicht mehr zu helfen. Stattdessen ließ der Ältere von Tobio ab und wuschelte ihm durchs Haar. Auch darauf folgte keinerlei Reaktion. Kopfschüttelnd wand sich Keishin schließlich der Tür zu und warf einen letzten Blick auf den Jüngeren, ehe er lächelnd die Küche verließ. Von alle dem bekam der Schwarzhaarige nichts mit.   Als auch diese Arbeit erledigt war und das Geschirr wieder in den Schränken verstaut war, betrat Tobio sein Zimmer und ließ sich seufzend vorwärts auf die Matratze fallen. Eine Weile lag er einfach nur da und wand sich schließlich der Decke zu. Es war stockfinster und ruhig – seine Gedanken waren es allerdings nicht. Mehrere Minuten vergingen, während nur das gleichmäßige Ticken der Wanduhr zu vernehmen war. Es half alles nichts, er kam einfach nicht zur Ruhe. Seufzend erhob sich der Schwarzhaarige, zog sich seine Pyjamahose an und warf seinen Hoodie auf den Stuhl, der im hinteren Ecken des Zimmers stand. Obenrum trug er nichts, er mochte die Enge nicht. Seit seinem JVA-Aufenthalt, wo er gezwungen war, entsprechende Nachtkleidung zu tragen, hatte er eine Abneigung gegen die Oberteile entwickelt. Er rückte danach noch die großen Kissen an seinem Kopfende zurecht, griff nach seinem Laptop, der sich auf dem Nachtschrank neben dem Bett befand, und startete diesen. Während der Laptop hochfuhr, sah Tobio gedankenversunken aus dem Fenster. Hierbei lehnte er seinen Kopf gegen die Glasscheibe. Es war eine sternklare Nacht.   Nachdem der Laptop hochgefahren war, öffnete Tobio das Foto-Menü. Viele Bilder von früher blitzten vor dem blauen Augenpaar auf. Einige stammten noch aus seiner Mittelschulzeit, als er noch in der Kunst-AG gewesen war – andere stammten wiederum von der letzten Abschlussfahrt und auch Fotos von seinem 18. Geburtstag wurden geladen. Tobio wusste nicht genau, warum er gerade diese Bilder aufrief, doch er wollte, dass seine Gedanken endlich zur Ruhe kamen. Seit Wochen war dies ein tägliches Ritual geworden. Einfach abends vor dem Schlafen gehen noch einmal die Fotoalben von früher durchstöbern. Auch, weil der Jüngere so das Gefühl hatte, dass Tooru weiterhin bei ihm war – auch wenn er den Brünetten nicht sehen konnte. Es hatte inzwischen etwas beruhigendes an sich und es hatte Tobio in den letzten Wochen viel geholfen. Er ließ seine Gedanken einfach treiben – zumindest kam er für wenige Minuten zur Ruhe. Nach einer viertel Stunde steckte er sich die Stöpsel in die Ohren und legte den Laptop beiseite. Mit den Armen hinter seinem Kopf verschränkt, sah der Schwarzhaarige wieder aus dem Fenster und schaute zum Himmel hinauf. Der Vollmond trat bereits hinter den Gebirgen hervor. Genau in diesem Moment wanderten Tobios Gedanken wieder zu dem Orangehaarigen.   Erneut packte ihn die Inspiration, woraufhin sich der junge Mann erhob. Aus der Schublade zog er sein Notizbuch und seinen Bleistift hervor, betätigte den Nachtschalter von seiner Lampe, die über seinem Bett hing, nahm im Schneidersitz Platz und ließ sich gegen die Kissenwand hinter ihm fallen. Wie von selbst wanderten die Linien auf das weiße Stück Papier. Tobio hatte hierbei genau ein Bild vor Augen. Wie der Orangehaarige auf dem Gemäuer saß und diese von Leidenschaft und doch von Sehnsucht geprägten Seelenspiegel in die Ferne blickten. Die Atmosphäre war einfach atemberaubend gewesen – aber da war noch etwas anderes – etwas vertrautes. Es war eine Aura, die dem Schwarzhaarigen mehr als bekannt vorkam. Tobio versuchte dieses Gefühl genauer einzuordnen. Das Portrait nahm inzwischen Gestalt an und gerade war er dabei die Augen des Kleineren detailliert darzustellen. Allerdings war das gar nicht so einfach. Da war etwas in seinen Iriden, was nicht so genau wiedergegeben werden konnte. Wieder leckte sich Tobio konzentriert über die Unterlippe. Wäre doch gelacht, wenn er das nicht hinbekommen sollte. Immer wieder versuchte er sich genau daran zu erinnern. Was genau war so besonders an diesen braunen Augen gewesen? Was hatte ihn so gefesselt und fasziniert? Auf der einen Seite strahlte der Kleinere Hoffnung aus, aber auf der anderen Seite war diese Einsamkeit zu spüren. Der Schwarzhaarige hatte es genau bemerkt – auch das Stück, das er auf seiner Violine gespielt hatte. Es war wunderschön und doch so traurig. Was war diesem jungen Mann bloß widerfahren? Währenddessen warf Tobio einen genauen Blick auf sein Kunstwerk und in diesem Moment fasste er einen Entschluss:   Er musste ihn wiedersehen! Er würde nach ihm suchen – egal wie lange es auch dauern mag. Er wollte ihn kennenlernen!   Mit diesem felsenfesten Entschluss legte Tobio die Malutensilien zur Seite, legte sich wieder hin und driftete nach mehreren Minuten schließlich ins Land der Träume ab.               Die darauffolgenden Wochen vergingen wie im Flug. Es waren Sommerferien und in weniger als zwei Wochen sollte das neue Schuljahr beginnen. Die neue Schuluniform und Bücher hatte Kira bereits besorgt und für den großen Tag bereitgelegt. Tobio hatte sich in den letzten Wochen währenddessen einen genauen Tagesplan zurechtgelegt. Morgens joggen – mittags Hausarbeit und Aushelfen im Laden – nachmittags Lernen und abends wieder joggen. Inzwischen hatte er wieder in seine alte Körperstatur zurückgefunden und er fühlte sich wohl. Endlich hatte er das Gefühl nicht mehr wie dünnes Lauch zu wirken, das beim nächsten Windstoß weggepustet werden könnte. Er hatte zumindest etwas an Muskelmasse zugelegt. Zudem es den Anschein hatte, dass er der einzige Bewohner dieses Hauses war, der sich gesund ernährte. Kira und Keishin aßen zwar auch gesund, aber dennoch war zu viel Fleisch bei den Gerichten vorhanden. Tobio war Vegetarier, weshalb er den Vorschlag brachte, sich selbst etwas zu kochen. Seine Gerichte konnten sich sehen lassen – ab und an aß selbst Kira mit – nur Keishin stellte sich wie immer quer. Dem Schwarzhaarigen war es jedoch herzlich egal. Sollte dieser Sturkopf doch machen was er wollte – es interessierte ihn nicht die Bohne.   Vor wenigen Tagen war auch Keishins Großvater von seiner Kur aus den Bergen zurückgekehrt. Es handelte sich hierbei um einen älteren Mann, der Keishin von den Augen her, sehr ähnlich sah. Wenn Tobio genauer darüber nachdachte, waren sich Großvater und Enkel generell in vielen Dingen so ähnlich – die selbe Dickköpfigkeit – das selbe Temperament. Tobio fragte sich inzwischen ernsthaft was er falsch gemacht hatte – nun war er gleich von drei tickenden Zeitbomben umgeben. Wobei der Schwarzhaarige bislang noch kein richtiges Gespräch mit dem alten Herrn führen konnte. Meistens war Herr Ukai unterwegs, wo genau, wusste der Jüngere allerdings nicht. Zumindest hatte sich so die Gartenarbeit für ihn erledigt, da der alte Mann nun wieder seinem Hobby nachgehen konnte. Diesbezüglich besaß der Senior einen grünen Daumen.   Allerdings war Tobios Suche nach dem orangehaarigen jungen Mann bislang leider erfolglos geblieben. Er lief seine Runden jedes Mal durch den Park in der Hoffnung wieder auf den Wuschelkopf zu treffen – doch Pustekuchen! Der Orangehaarige war unauffindbar! Wohnte er überhaupt hier in diesem Kaff? Der kleine Sonnenschein war für Tobio wie ein Licht am Horizont – ein rettender Anker, an dem er sich festhalten wollte. Allein wegen dem niedlichen kleinen Kerl wollte er dem Kuhdorf überhaupt erst eine Chance geben! Aufgeben kam für den Schwarzhaarigen jedoch nicht in Frage – er musste weitersuchen.   Am frühen Nachmittag befand sich Tobio wieder im Laden und sortierte die neuen Konservendosen in die entsprechenden Regale ein – anschließend putzte er mit dem Wischmopp den Boden. Er war in höchster Konzentration. Keishin befand sich zu seinem Leidwesen ebenfalls im Laden und saß an der Theke. Immer wieder lugte der Ältere zu dem Jüngeren hinüber.   „Na? Hast du dich mit Frau Wischmopp und Herrn Eimer gut angefreundet?“, ein fettes Grinsen zierte Keishins Lippen, während er die Zeitung weiterlas.   Auf die Frage hin folgte ein genervtes Seufzen.   //Meine Güte…der Hornochse kann es einfach nicht lassen!!//   „Hey, Bakayama, ich hab dich was gefragt!“, und da war er wieder. Die kurze Zündschnur dieses Grobians war mit nichts zu toppen. Wieder seufzte der Schwarzhaarige genervt aus.   „Halt die Klappe, du Grinseaffe auf zwei Beinen..“, murrte der Jüngere und widmete sich wieder dem Boden zu. Da es geregnet hatte, war der Boden nicht einfach zu reinigen. Tobio war immer noch der Perfektionist wie er im Buche stand. Der Boden musste erstrahlen. Dem Älteren hingegen gefiel diese Antwort ganz und gar nicht.   „Wie bitte? Grinseaffe?“, empört erhob sich der Blondhaarige und erdolchte seinen Schützling mit seinen Blicken. Dieser hingegen sah seinen Bewährungshelfer mit einem gelangweilten Blick an.   „Hast du mal in den Spiegel geschaut? Mit dieser Frisur siehst du auch aus wie ein Affe!“, nun konnte sich Tobio ein Lachen nicht verkneifen. Oh Kami, wie er es liebte den Deppen auf die Schippe zunehmen. In den letzten Wochen hatte er das Ganze wahrlich perfektioniert. Es grenzte an ein Wunder, dass sich Blondi noch nicht vor lauter Wut selbst in die Luft gesprengt hatte. Allein dieser Gedanke war schon höchst amüsant.   „Das sagt gerade unser Gruftie! Immerhin warst du endlich mal beim Friseur, aber viel verändert hat sich nicht! Du siehst immer noch aus wie ein Emo! Schlimm genug, dass die Weiber auf genau diese Art von Typen stehen! Ich verstehe es einfach nicht!! “, wutentbrannt stapfte Keishin auf Tobio zu und blieb wenige Meter vor ihm stehen. Der Schwarzhaarige hingegen legte seinen Kopf schief und sah sein Gegenüber verdutzt an. Litt dieser Hornochse an irgendwelchen hormonellen Komplexen? War das ernsthaft der Grund, weshalb er ihn nicht leiden konnte?   //Was interessieren mich denn bitte die Weiber? Ich bin homosexuell, du Spast!!//   „Hast du nicht an der Kasse zu stehen? Ziemlich unachtsam von dir einfach die Theke unbeaufsichtigt zu lassen, findest du nicht?“, hierbei wackelte der Jüngere weiterhin grinsend mit seinen Augenbrauen. Keishin hingegen ballte seine Fäuste und knirschte mit den Zähnen. Er wusste, dass der Kleinere zu seinem Leidwesen leider Recht hatte. Zudem ihm auch auffiel, dass der Schwarzhaarige ruhiger geworden war und anders auf seine spitzigen Kommentare reagierte. Sein Schützling hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert.   „Du mieser, kleiner …“   „Ehm, entschuldigen Sie bitte?“   Eine kindliche Stimme riss die beiden Streithähne aus dem Konzept. Augenblicklich starrten beide jungen Männer zu der Person hinunter, die vor ihnen stand. Es handelte sich um ein kleines Mädchen. Sie trug ein langes Kleid und schulterte eine seitliche Hängetasche. Ihr orangenes Haar war seitlich zu zwei Zöpfen geflochten. Auf ihrem Kopf befand sich zudem ein großer Strohhut. Strahlende braune Augen schauten zu ihnen hinauf. Tobio hielt augenblicklich inne. Sie sah einer gewissen Person sehr ähnlich. War das Zufall?   Keishin hingegen ging vor dem Mädchen auf die Knie.   „Ach, na sieh mal einer an. Na, wenn das mal nicht unsere kleine Natsu ist. Du bist groß geworden, Kleine. Wie geht es Shoyo?“, hierbei hielt der Blonde seine Hand über das Kind, um so ihre Größe zu demonstrieren. Zum Gruß verbeugte sich die Orangehaarige vor dem Älteren.   „Hallo Keikei. Ja, uns geht es soweit gut. Jetzt wo Ferien sind, muss mein Bruder viel im Restaurant arbeiten und kommt erst abends spät nachhause. Dann lernt er noch und schläft regelmäßig vor seinen Schulunterlagen ein. Aber ich bin tagsüber bei Tante Mura, also passt alles.“   „Ach herrje, dieser Wirbelwind hat auch immer viel um die Ohren, er sollte sich mal eine Pause gönnen..“, nachdenklich kratzte sich Keishin daraufhin am Hinterkopf und sah zur Decke auf. Tobio, der immer noch vor ihm stand, sah diese Art von Reaktion bei dem Älteren zum ersten Mal.   „Hihi, du kennst ihn doch. Aber leider muss ich dir Recht geben. Mein Bruder gibt sich so viel Mühe und tut so viel für mich, dass er alles andere um sich herum vergisst. Manchmal wünsche ich mir einfach, dass er mal mehr Zeit mit seinen Freunden verbringt.“, nach diesen Worten sah das Mädchen traurig zur Seite und schob den Strohhut tiefer ins Gesicht.   Keishin widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Grundschülerin, legte seine rechte Hand auf ihre Schulter und lächelte sie herzlich an.   „Richte ihm mal liebe Grüße aus und dass er ja halblang machen soll. Der Streber soll sich endlich mal ein nettes Mädchen suchen! “, hierbei zwinkerte er der Jüngeren zu und zeigte ihr den Daumen nach oben.   „Ja, danke, das mache ich. Was das Thema angeht, ist mein Bruder echt ein Spätzünder. Ach ja, ehm…“, kurz darauf sah die Orangehaarige zu Tobio hoch. Große braune Augen blickten in sein blaues Augenpaar.   „Wären Sie bitte so nett und geben mir zwei Dosen Minzen-Limonade?“, hierbei deutete das Mädchen auf das entsprechende Regal. Tobio hob erst eine Augenbraue, kam der Bitte aber umgehend nach. Sie „siezte“ ihn – sah er denn wirklich so alt aus?   „Vielen Dank, hier das müsste passen“, die Orangehaarige reichte Keishin das Geld und winkte zum Abschied. Ihr Lächeln allerdings wirkte anders als zuvor, selbst Tobio war es aufgefallen – es wirkte gestellt, nicht echt. Der Ausdruck in ihren Augen kam ihm ebenfalls so bekannt vor.   //Sie sehen seinen Augen so ähnlich..//   Der Blondhaarige sah ihr noch hinterher und winkte ihr ebenfalls zu. Tobio hingegen hatte die Reaktion des Älteren genau beobachtet. Etwas in seinen Augen war anders – aber warum? Es lag ein merkwürdiger Ausdruck in ihnen inne - fast so etwas wie Mitleid. War das wirklich bei diesem Deppen möglich?   „Was ist denn mit dir los? So kenne ich dich gar nicht..“   Keishin sah eine Weile noch in die Richtung, in die das kleine Mädchen vor wenigen Minuten verschwunden war und widmete daraufhin seine Aufmerksamkeit wieder seinem Schützling, der ihn immer noch abwartend musterte. Der Blonde wusste, dass der Jüngere vor ihm nichts dafür konnte. Niemand konnte etwas dafür, aber trotzdem spürte der Ältere immer noch die Gänsehaut auf seiner Haut, wenn er an jenen Tag vor drei Jahren zurückdachte.   „Ich sag dir jetzt mal was, Kleiner…“, dabei setzte sich der Blondhaarige in Bewegung und lief an Tobio vorbei, vorher jedoch flüsterte er ihm noch folgende Worte zu:   „Du bist nicht der Einzige,-“   Seine Stimme war leise, aber dennoch von tiefster Trauer geprägt. Mit dieser Reaktion hatte Tobio nicht gerechnet. Er spürte, wie ein unwohler Schauer über seinen Rücken jagte. Allein die Art und Weise, wie Keishin den Rest des letzten Satzes aussprach, ließ sein Innerstes zu Eis gefrieren. Seine blauen Iriden weiteten sich vor Entsetzen.         „- der von einem harten Schicksalsschlag getroffen wurde…“ Kapitel 7: Akt I: Part VII – shooting star and wishes ----------------------------------------------------- Am darauffolgenden Tag war Tobio morgens wieder in aller Frühe unterwegs. Der Nebel stieg aus dem Tal empor und hüllte die Hügel in eine gasförmige Substanz, die von den Sonnenstrahlen nur schwer durchdrungen werden konnte. Da der Sommer bereits vor der Tür stand, war es auch Ende Mai um diese Tageszeit schon sehr warm. Laut Aussage des Wetterthermometers betrug die Außentemperatur bereits um die 20 Grad. Dem Schwarzhaarigen machte diese Temperatur allerdings wenig aus. Er war früher im Hochsommer auch bei über 30 Grad joggen gewesen, wobei er sich danach von Tooru immer eine Standpauke anhören durfte. Diese war ja auch nicht unbegründet gewesen – bei so warmem Wetter musste man sehr auf seinen Kreislauf achten. Ein erleichtertes Seufzen verließ seine Lippen. Es tat so verdammt gut sich zu Bewegen. Nur, wenn seine Beine nach dem Joggen schmerzten, hatte Tobio das Gefühl etwas getan zu haben. Tief in Gedanken versunken, joggte er wieder durch den Park. Es waren kaum Leute unterwegs, hauptsächlich ältere Paare, die sich auf den Holzbänken niedergelassen hatten.   Als Tobio eine kurze Pause einlegte, lehnte er sich gegen einen Baumstamm und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Danach griff er in seine Tasche und setzte die Wasserflasche an. Die kühle Flüssigkeit war eine Wohltat für seinen trockenen Hals. Es war schließlich ziemlich drückend. Ein Blick gegen Himmel ließ schon erahnen, dass eine geladene Stimmung in der Luft lag. Ein Hitzegewitter war auf dem Vormarsch, schließlich wurde es im Wetterbericht schon vorausgesagt. Währenddessen ließ der junge Mann seinen Blick durch die Gegend schweifen. Von dem kleinen Wuschelkopf fehlte immer noch jede Spur. Langsam aber sicher stand der Schwarzhaarige am Rande der Verzweiflung.   „Arg! Ich bin doch so ein Idiot!“, genervt fuhr sich Tobio durch die Haare und lehnte seinen Kopf gegen den Baumstamm. Die blauen Augen blickten zum Himmel hinauf. Wie lange sollte das Spiel bitte noch so weitergehen? War er denn von allen guten Geistern verlassen? Er lief seit mehr als 4 Wochen einem Phantom hinterher! Wie weit musste er noch sinken?   Nachdenklich packte Tobio die Flasche wieder in seinen Rucksack und sah wieder zum Tal hinunter, in dem sich der große See befand. Inzwischen war die Natur komplett ergrünt und die Vögel zwitscherten ihr Morgenlied. Es tat gut an der frischen Luft zu sein, auch wenn er noch sehr müde war. Seine Gedanken waren bis eben leergefegt gewesen, immerhin hatte die Lauferei so etwas Gutes bewirkt. Zumindest fand er für eine Stunde Ruhe. Es war hauptsächlich eine Sache, die ihm momentan neben dem kleinen Sonnenschein, nicht aus dem Kopf gehen wollte.       „Du bist nicht der Einzige, der von einem harten Schicksalsschlag getroffen wurde…“       Aufgrund Keishins gestriger Aussage konnte Tobio nachts keinen Schlaf finden. Der Satz hatte ihn sehr beschäftigt. Stimmt, er war nicht der Einzige auf der Welt, dem etwas Tragisches widerfahren war. Es gab sogar noch schlimmere Schicksale – eine Tatsache, über die sich Tobio eigentlich nie groß die letzten zwei Jahren Gedanken gemacht hatte.   Was passierte, wenn er tatsächlich einer solchen Person mit Hintergrundgeschichte begegnen sollte? Würde er sein Leid teilen? Würden sie einander verstehen? Einander Halt geben? Könnte diese Person möglicherweise sogar in der Lage sein, sein gebrochenes Herz zu heilen? Allein, wenn Tobio nur darüber nachdachte, spürte er wieder dieses schmerzliche Ziehen in seiner linken Brust. Der Gedanke schmerzte. Vorsichtig platzierte der Schwarzhaarige seine rechte Hand auf seiner linken Brust, während sein Blick immer noch gegen Himmel gerichtet war.   War es überhaupt möglich eine andere Person, als Tooru, an seiner Seite zu haben? Konnte er jemals wieder diese Liebe weitergeben, wie er sie dem Brünetten gegeben hatte? War er bereit jemals wieder diesen Schritt zu gehen? Sich neu zu verlieben – sich auf eine neue Partnerschaft einzulassen?   Momentan zumindest fühlte sich das alles noch so weit weg an – für ihn nicht greifbar. Es klang nach einem schönen Wunschdenken, doch Tobio musste der bitteren Realität leider ins Auge sehen. Wunden dieser Art verheilen nur sehr langsam – manchmal verblassen sie auch nur und lassen Narben zurück. Es brauchte Zeit und der Schwarzhaarige würde sich diese Zeit auch nehmen. Erst musste er wieder mit seinem Leben klarkommen und der erste Schritt lag darin in weniger als zwei Wochen den ersten Schulbesuch hinter sich zu bringen.   Auf der einen Seite verspürte er so etwas wie Vorfreude. Endlich wieder die Normalität zu erleben, wie es früher gewesen war. Neue Leute kennenlernen – neue Freundschaften knüpfen – das Leben genießen. Hätte man dem Schwarzhaarigen vor mehr als drei Monaten erzählt, dass er mal wieder in der heutigen Gesellschaft Fuß fassen würde, hätte Tobio diesen für bescheuert und verrückt erklärt. Aber da war noch zusätzlich diese Angst und Ungewissheit. Was passierte, wenn die Leute von seiner Vergangenheit erfahren sollten? Nein, daran durfte er momentan erst gar nicht denken! Kopfschüttelnd setzte sich der Schwarzhaarige wieder in Bewegung.         Plötzlich flog etwas schwarz-weißes an ihm vorbei, wodurch der junge Mann die Notbremse einlegen musste. Verdutzt sah er dem Gegenstand nach, der neben ihm zum Erliegen kam. Es handelte sich um einen Fußball. Irritiert schob Tobio eine Augenbraue nach oben und hob den Ball auf.   „Oh! Hey! Gomen! Der Tritt war etwas zu fest!“   Der Schwarzhaarige sah in die Richtung, aus der die Stimme zu vernehmen war. Ein junger Mann rannte auf ihn zu. Er besaß kurzes graues Haar und trug ein weites Sweatshirt. Hinter ihm erschien noch eine zweite Person, die allerdings um einiges kleiner war. Es handelte sich hierbei ebenfalls um einen jungen Mann. Dieser besaß kurzes braunes Haar, das mit Haargel nach oben frisiert war. Eine helle blonde Strähne zierte seine Stirn, während braune Iriden den Grauhaarigen regelrecht anfunkelten.   „Mensch, Tanaka! Pass doch auf, wo du den Ball hinschisst! Am Ende schießt du noch ein älteres Ehepaar ab! Bei deinem Glück brechen die sich dann noch alle Knochen!“   Die Augen des Angesprochenen blitzten auf und erdolchten den Kleineren regelrecht. Seine Mimik erinnerte an einen Drachen, zumindest konnte sein Gebiss dem eines Hais Konkurrenz machen.   „Warum bist du auch so ein beschissener Torwart, Noya! Da bekomm ich sogar bessere Blocks von meiner Oma!“   „Wie war das? Pass auf, dass ich dir für diese Frechheit nicht in den Arsch trete, du Vollidiot!“   „Was willst du halbe Portion schon gegen mich ausrichten?“   „Die halbe Portion zeigt dir gleich schon, wo der Hammer hängt! Spiel dich nicht so auf!“   Tobio stand einfach nur da und schaute die beiden jungen Männer entsetzt an. Nicht noch so Streithähne – von diesen hatte er definitiv die Schnauze voll. Der Grauhaarige sah schließlich wieder geradeaus und schaute direkt in das blaue Augenpaar. Ein freches Grinsen schlich sich auf die Lippen des jungen Mannes.   „Vielen Dank, dass du unseren Ball gefunden hast. Ich dachte schon, er wäre wieder oben irgendwo in den Bäumen gelandet.“   „Keine Ursache, hier“, nach diesen Worten übergab Tobio den Ball wieder seinem Besitzer. Dieser hingegen nahm den Schwarzhaarigen genauer unter die Lupe. Prüfend ließ der Grauhaarige seinen Blick über ihn schweifen.   „Dich sehe ich hier heute zum ersten Mal, bist du neu hier?“   Ein schweres Schlucken folgte. Wie lange war es bloß her, wo er sich jemand anderem vorstellen musste. Der Schwarzhaarige musste so ruhig wie möglich bleiben. Es war nur ein Small-Talk. Er durfte erst gar nicht groß darüber nachdenken.   //Tobio, verhalt dich so natürlich wie möglich….//   „Ja, ich bin vor wenigen Monaten erst hergezogen. Mein Name ist Tobio Kageyama, nett dich kennenzulernen“, zum Gruß streckte der Schwarzhaarige seine Hand seinem Gegenüber entgegen, der den Händedruck lächelnd erwiderte.   //Puh.. Schwein gehabt…//   „Ich bin Ryuunosuke Tanaka und der Zwerg, der sich uns gerade nährt, ist Yu Nishinoya.“   „Ich geb dir gleich Zwerg, du Dorftrottel!“, ein fester Seitenhieb folgte, sodass der Größere schmerzlich zischend in die Knie ging. Der Brünette hingeben verneigte sich vor Tobio und lächelte ihn herzlich an.   „Nett dich kennenzulernen, Kageyama. Ignorier den Glatzkopf am Besten. Er redet viel, wenn der Tag lang ist. Schlimm genug, dass er noch in meine Klasse geht und ich ihn somit wirklich täglich mehr als 8 Stunden um mich herum habe. Dabei kann er froh sein, dass ich mich heute Morgen überhaupt erst aus meinem gemütlichen Bett erhoben habe um mit ihm zu Trainieren!“   „Du bist so taktvoll, Noya – das ist wieder typisch.. Du verletzt meine Gefühle“   „Ach quatsch, so etwas wie ein Herz und Gefühle besitzt du doch gar nicht, also hör auf zu schmollen!“   Tobio schaute immer noch zwischen den Beiden hin und her. Konnte es sein, dass er diese Art von Menschen regelrecht magisch anzog? Warum war er immer von irgendwelchen Irren umgeben, die sich gleich angifteten? Als er einen Blick auf seine Armbanduhr warf, zeigte diese bereits 10 Uhr.   //Verdammt schon so spät?!//   Er musste los – in einer Stunde fing seine Schicht im Laden an. Wenn er zu spät kommen sollte, drehte der Grinseaffe durch und machte ihm wieder eine Szene. Auf das Gebrüll konnte er echt verzichten. Entschuldigend kratzte sich Tobio am Hinterkopf. Er hätte sich gern länger mit ihnen unterhalten, doch leider rief die Arbeit.   „Tut mir leid ihr Zwei, aber ich muss los. Vielleicht läuft man sich nochmal über den Weg. Viel Spaß noch beim Fußballspielen“, zum Abschied winkte er den beiden jungen Männern noch zu, die sich daraufhin ebenfalls von ihm verabschiedeten. Danach sprintete der Schwarzhaarige auch schon los.   Während er joggte, dachte Tobio noch einmal über die vergangenen Minuten nach. Gerade eben hatte er seine erste Konversation außerhalb des Hauses Ukai geführt – so ganz realisieren konnte es der junge Mann noch nicht. Ein freudiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Der erste Schritt in die Außenwelt war getätigt.               So zogen noch weitere Tage ins Land und schließlich hatte Tobio nur noch eine Woche bis die Sommerferien zu Ende waren. Die Zeit war sehr schnell vergangen. Am letzten Abend vor Schulbeginn saß er auf seinem Bett und starte die Schuluniform an, die an einem Kleiderbügel am Kleiderständer hing. Rabenschwarz – eigentlich genau seine Farbe. Nachdenklich schritt Tobio auf das Kleidungsstück zu und fuhr über den Stoff drüber. Der Stoff war weich – zumindest waren die Fasern nicht so grob, dass sie auf der Haut kratzten. Mit dem Lernen ging es hingegen nur schleppend voran. Es war schwer wieder in den Lern-Rhythmus zu kommen, wenn man zuvor fast zwei Jahre draußen war. Möglichweise kam Tobio um eine Nachhilfe nicht herum – am besten jemanden, der ganz oben an der Streberspitze stand, wobei ihm das deutlich widerstrebte. Aber diesbezüglich musste er wohl in den sauren Apfel beißen. Das hier war schließlich seine letzte Chance.   Danach sah Tobio aus dem Fenster – es war bereits dunkel und ein klarer Sternenhimmel erleuchtete die Nacht. Ein zärtliches Lächeln schlich sich auf Tobios Lippen – solche Nächte waren ihm am Liebsten. Es war der letzte Abend vor Schulanfang – seine Gedanken kreisten wieder umher. Ob er heute Nacht vor Aufregung überhaupt Schlaf finden würde? Vielleicht sollte er der frischen Luft mal einen kurzen Besuch abstatten.   Leise schlich er die Treppen hinunter. Keishin und Kira lagen bereits in den Betten, da die Beiden früh aufstehen mussten. Was Rücksicht auf seine Mitmenschen anging, so hatte sich der Schwarzhaarige die letzten Wochen sehr arrangiert. Vorsichtig schob Tobio die Gartentür zur Seite und betrat den Garten, der von kleinen Lampen erleuchtet wurde. Vereinzelt waren auch kleine Glühwürmchen zu sehen, die um den Wasserspender ihre Kreise zogen. Langsam setzte sich der junge Mann in Bewegung. Es war ruhig – nur das Zirpsen der Grillen durchdrang die nächtliche Stille. Während Tobio durch den Garten schritt, flogen einige Glühwürmchen an ihm vorbei. Neugierig sah das blaue Augenpaar ihnen nach. Währenddessen streckte der Schwarzhaarige den Zeigefinger in die Luft, woraufhin eine Lichtkugel dort landete. Eine Weile verweilte das Insekt an Ort und Stelle, ehe es seine Reise fortsetzte. Tobio sah dem Glühwürmchen nach und wand seinen Kopf Richtung Himmel. Eine nächtliche Brise wehte ihm entgegen.   „Eine wunderschöne Nacht, findest du nicht auch?“   Tobio drehte sich daraufhin fragend um und erkannte eine Person, die genau gegenüber von ihm auf der Holzbank saß. Vorsichtig schritt der Schwarzhaarige auf die Bank zu. Als er schließlich vor dieser zum Stehen kam, hob die Gestalt ihren Kopf. Kurz darauf reagierte der Bewegungsmelder der Nachtlampe, die sich neben der Bank befand und offenbarte die Gestalt, die auf dieser verweilte. Es handelte sich um niemand geringeren als Ukai Senior.   „Herr Ukai? Sie sind so spät noch wach?“   „Haha, ja sicher. So eine schöne Sternennacht will ich doch nicht versäumen - zudem heute auch noch Sternschnuppennacht ist, hast du das nicht gewusst?“   „Nein, wusste ich nicht“, der junge Mann schüttelte verneinend den Kopf und nahm neben dem Älteren Platz. Eine Sternschnuppennacht also? Nachdenklich sah der Schwarzhaarige wieder Richtung Himmel. Hieß es nicht sogar, dass Wünsche in Erfüllung gehen sollen, wenn man sich in dieser Nacht etwas wünschen sollte?   Der ältere Mann hingegen behielt den Jüngeren die ganze Zeit im Auge.   „Du scheinst dich inzwischen gut eingelebt zu haben, wie ich sehe. Freust du dich schon auf Morgen?“   Tobio widmete seine Aufmerksamkeit wieder seinem Nachbarn und zog seine Knie nah an sich heran. Stimmt – freute er sich überhaupt? Ein Teil von ihm freute sich tatsächlich darauf endlich wieder unter normale Menschen treten zu können, aber da war noch etwas anderes – etwas Undefinierbares. Etwas, was ihm sogar Angst in die Glieder fahren ließ. Sein Körper versteifte sich.   „Auf der einen Seite ja… aber… nun ja-“   „Du hast Angst, dass sie dich verurteilen, wenn sie von deiner Vergangenheit erfahren sollten, habe ich Recht?“   Das blaue Augenpaar weitete sich. Wenn Tobio genauer drüber nachdachte, waren das tatsächlich seine Bedenken. Ungläubig sah der Jüngere wieder zu seinem Nachbarn.   „Wie denken Sie eigentlich über mich? Seien sie bitte ehrlich.“   Der Ältere verschränkte auf die Frage hin seine Arme vor seinem Oberkörper und sah wieder zum Himmel auf.   „Ich kannte dich bereits, bevor du überhaupt hier angekommen bist. Wir sind uns vor ca. zwei Jahren schon einmal begegnet.“   Tobio konnte nicht glauben, was er gerade zu hören bekam. Ukai Senior kannte ihn bereits vorher schon. Aber woher? Währenddessen fuhr der ältere Mann weiterfort.   „Wenn ich deine Reaktion gerade richtig interpretiere, denkst du drüber nach, habe ich Recht? Aber ich glaube kaum, dass du dich an mich erinnern kannst. Damals standest du komplett neben der Spur – was auch nicht verwunderlich war, du hattest Minuten zuvor einen wichtigen Menschen verloren.“   Der Schwarzhaarige dachte nach. Er erinnerte sich an jenen Abend, an dem sich alles verändert hatte – wo sein Leben von heute auf morgen aus den Ankern gerissen wurde. Es war wie ein Film, der sich vor seinem inneren Auge abspielte. Er sah die Szenen genau vor sich – als sei er als dritte Person mit anwesend. Als Tooru ohne ein letztes Mal zu ihm zuschauen, einfach vom Dach gesprungen war. Wie die Zeit für einen Augenblick stehen geblieben war – er konnte damals nicht glauben, was wenige Minuten zuvor geschehen war. Es geschah alles so plötzlich. Wie er die Treppen runtergerannt war und den leblosen Körper vor sich auf dem Boden gesehen hatte. Er daraufhin immer wieder an ihm gerüttelt hatte, ihn versucht hatte zu wecken – sein anfänglicher Schrei regelrecht im Keim erstickt wurde, weil kein Laut seine Kehle verlassen konnte. Immer wieder hallte sein Flehen durch seine Gedanken.     [..]     „Tooru, bitte wach auf. Komm zu dir!“     [..]     Wie er den Körper des Brünetten schließlich in seinen Armen hielt und erneut aufgeschrien hatte – immer und immer wieder. Sogar der Himmel hatte in jener Nacht Unmengen an Tränen vergossen.     [..]     „BITTE VERLASS MICH NICH!! TOORU!!!“     [..]     Allein der Gedanke daran, ließ Tobio innerlich zu Eis erstarren. Seine eigenen Schreie brachten sein Innerstes immer noch ins Wanken – ließen ihn erschaudern. Tobio versuchte sich weiter zu erinnern. Da war noch etwas anderes gewesen – Sirenen und Blaulicht und eine Person, die vor ihm gekniet hatte. Durch die von Tränen getränkte Sicht konnte der Schwarzhaarige die Gestalt nur verschwommen wahrnehmen, wenn überhaupt. Plötzlich traf Tobio jedoch die erschütternde Erkenntnis – scharf zog er die Luft ein.   „Sie..“, mehr brachte Tobio in diesem Moment nicht heraus. Der Schock stand dem Jüngeren ins Gesicht geschrieben.   „Genau - ich war der Polizeikommissar, der damals euren Fall bearbeitet hat. Es war mein letzter Fall gewesen - ich stand schließlich damals kurz vor der Pensionierung. Dass ich allerdings mit einem solchen dramatischen Schicksalsschlag betraut wurde, hätte ich mir als Abschiedsfall nicht erdacht.“, traurig senkte der Senior seinen Kopf und warf einen seitlichen Blick auf den Jüngeren, der immer noch wie erstarrt dasaß.   „Wie bereits eben erwähnt, ich kannte dich vorher schon. Ich weiß, welche Last und Bürde auf dir gelegen hat. Welche Schmerzen und welches Leid du ertragen musstet – du warst schließlich ganz allein – und das tut mir einfach nur Leid. Du warst so jung und musstest schon so früh diese Grausamkeit des Lebens kennenlernen. Ich muss zugeben, ich war erstaunt, als ich erfahren habe, dass Keishin sich deiner angenommen hat.“   Tobio befreite sich schließlich aus der Schockstarre und sah den Älteren entgeistert an.   „Warum ausgerechnet ich…?“, flüsterte der Schwarzhaarige.   „Ich weiß, dass mein Enkel sehr stürmisch sein kann und wie ein Elefant im Porzellanladen auftritt, aber der Junge hat das Herz am rechten Fleck. Gib ihm also bitte eine Chance, ja? Keishin will schließlich in meine Fußstapfen treten und wurde demnach über meine alten Fälle aufgeklärt und dadurch hat er auch von deinem Schicksal erfahren. Danach war er von seinem Vorhaben dir zu helfen nicht mehr abzubringen. Er wollte sich unbedingt deiner annehmen – er war Feuer und Flamme.“   Wehmütig sah der Ältere daraufhin wieder zum Himmel hoch.   „Du musst wissen, junger Kageyama - dein Fall hat ihn sehr an einen anderen Fall erinnert, der drei Jahre zuvor hier vorgefallen war.“   Tobio hörte den Worten des älteren Mannes weiter zu und senkte seinen Blick. Sein Bewährungshelfer hat sich freiwillig für ihn entschieden? Aber wieso? Und was hat er selbst mit diesem alten Fall zu tun?   „Weißt du mein Junge, ich vertrete immer die Auffassung, dass man einen Menschen aufgrund seiner kriminellen Vergangenheit niemals vorverurteilen sollte. Man wird schließlich nicht böse geboren, meistens ist es ein schwerer Schicksalsschlag, der uns vor die Wahl stellt, welchen Weg wir einschlagen. Wählen wir den Part der Dunkelheit und Einsamkeit? Oder versuchen wir mit allen Mitteln wieder auf den rechten Weg zurückzufinden? Diese Lehre habe ich aus jahrelanger Berufserfahrung gezogen – ich bin so vielen Menschen begegnet. Jeder von ihnen erzählte seine ganz eigene Gesichte. Haha, was für ein Zufall aber auch – vor fast drei Jahren saß ich hier zusammen mit einem jungen Mann, dem ich genau das Selbe erzählt hatte….Er stand wie du vor der Entscheidung, welchen Weg er wählen sollte.“, Tobio bemerkte die Traurigkeit, die sich in Ukais Stimme geschlichen hatte.   „Was war geschehen?“, der Schwarzhaarige hob seinen Kopf und sah nun ebenfalls zu den Sternen auf. Es interessierte ihn sehr um welchen Fall es sich gehandelt hatte - schließlich war dieser auch der Grund, warum sich Keishin für ihn entschieden hatte. Der Blonde hätte auch anderen Häftlingen den rechten Weg weisen können. Aber warum traf es ausgerechnet ihn?   Der ältere Mann hingegen lächelte traurig und griff nach seinem Gehstock, der sich neben der Holzbank befand. Nachdenklich wand er diesen in seinen Händen hin und her. Die braunen Iriden waren auf den Gegenstand gerichtet.   „Er besaß alles, was sich ein junger Mann in seinem Alter nur wünschen konnte: eine intakte Familie, genoss die beste Erziehung, wohlgehütet aufgewachsen mit so viel Liebe und Geborgenheit. Es handelte sich um eine Bilderbuchfamilie, kannst du dir das vorstellen?“   „Das klingt traumhaft“, erwiderte Tobio. Wie oft hatte er selbst nach Liebe und Aufmerksamkeit in seiner eigenen Familie gesucht? Wie oft wurde er weggestoßen? Die Art und Weise wie der Senior von dieser Familie sprach, weckte in ihm das Gefühl von Wehmut.   Die Augen des Seniors begannen zu glänzen, als er wieder zum Himmel aufsah.   „Ja, da gebe ich dir Recht und desto größer war der Schock, als diese Familie von heute auf morgen auseinandergerissen wurde,“   Tobio spürte, wie sein Herzschlag einen Augenblick aussetzte. Ein eiskalter Schauer jagte seinen Rücken hinunter. Ungläubig sah er wieder zu dem Älteren, der immer noch seinen Blick Richtung Himmel gewidmet hatte.   „Es war ein Autounfall, der innerhalb von Sekunden das Schicksal der Familie besiegelt hatte. Der Junge war damals gerade mal 16 und stand von heute auf morgen vor einem Trümmerhaufen. Von heute auf morgen Vollwaise. Er war ein guter Freund von Keishin, man könnte sagen, mein Enkel war schon immer wie ein großer Bruder für ihn gewesen. Es war einfach nur schrecklich. Das gesamte Dorf war erschüttert.“   Der Schwarzhaarige blickte auf seine Handflächen herab. Wie schrecklich muss dieses Ereignis bloß gewesen sein?   „Welchen Weg hat er gewählt?“, Tobio interessierte es brennend, was mit dem jungen Mann geschehen war. Anhand der Erzählungen konnte der Schwarzhaarige nur erahnen, welche Hölle dieser jemand durchlebt haben musste.   Herr Ukai sah wieder von seinem Gegenstand auf und schaute genau in das blaue Augenpaar.   „Er stand wie du an der besagten Kreuzung. Allerdings hatte er keine andere Wahl und wählte den zweiten Weg.“   „Wieso hatte er keine andere Wahl?“   Der ältere Mann wand den Blick ab und sah wieder zum Himmel hoch. In diesem Moment flog eine Sternschnuppe über ihnen vorbei. Das blaue Augenpaar sah dem Lichtschweif nach.   „Grund hierfür war seine kleine Schwester. Er war nicht allein – er musste Verantwortung übernehmen. Erst wollte das Jugendamt die Beiden voneinander trennen. Schließlich war er erst 16 und sie gerade mal 6. Rein gesetzlich wäre das nicht machbar gewesen, doch da hatte die Behörde die Rechnung ohne meinen dickköpfigen Enkel gemacht. Keishin war der Grund gewesen, weshalb die beiden Geschwister doch zusammenbleiben durften. Natürlich wurden dementsprechend hohe Auflagen gestellt, doch der junge Mann hat diese bis heute mit Bravour gemeistert. Er ist einer der besten Schüler seines Jahrganges und geht neben dem Lernen und Haushalten noch zusätzlich arbeiten. Seiner kleinen Schwester mangelt es an nichts. Allerdings sind es sehr wichtige Lebensjahre, die gerade an ihm vorbeiziehen. Andere in seinem Alter gehen weg, gehen Partnerschaften ein und genießen ihr Leben – er hingegen lebt für seine Schwester und vergisst somit sich selbst.“   Tobios Blick war immer noch gegen Himmel gerichtet. So hätte er seinen Bewährungshelfer gar nicht eingeschätzt – er setzte sich also auch für Jüngere ein. Der Blonde war in dieser Hinsicht seinem verstorbenen Freund so ähnlich. Ein Lächeln zierte sein Gesicht. Vielleicht sollte er wirklich dem Grinseaffe eine zweite Chance geben. Auch musste Tobio zugeben, dass er den älteren Mann neben sich von Anfang an falsch eingeschätzt hatte – Ukai Senior war schwer in Ordnung. Manchmal musste man genauer hinsehen. Meistens beherbergte eine harte Schale in den meisten Fällen einen weichen Kern. Das traf hier im wahrsten Sinne des Wortes wohl auf die gesamte Familie Ukai zu. Zum ersten Mal hatte Tobio endlich das Gefühl komplett angekommen zu sein – endlich ein Zuhause gefunden zu haben.   Der Schwarzhaarige ging daraufhin tief in sich und bemerkte so viele Parallelen zwischen ihm und dem geheimnisvollen jungen Mann, von dem der Senior soeben gesprochen hatte. Sie waren einander so ähnlich – war das wirklich denn die Möglichkeit? Wenn Tobio gerade richtig gerechnet hatte, musste diese Person etwa in seinem Alter sein. Zusätzlich lebte er auch noch hier im Dorf? War das alles Zufall?   „Auf welche Schule geht er denn, wenn ich fragen darf?“   Ein freudiges Lächeln zierte die Lippen des älteren Mannes, als er wieder zu dem Schwarzhaarigen blickte, der immer noch zu den Sternen aufsah. Das Gespräch musste wohl die Neugier des Jüngeren geweckt haben – schließlich war das auch Ukais Absicht gewesen. Nun wand der Ältere ebenfalls seine Aufmerksamkeit dem Sternenzelt zu.   „Er geht auf die Karasuno High – so viel ich mitbekommen habe, ist er sogar in deiner Jahrgangsstufe-“   Erneut flog eine Sternschnuppe über sie hinweg. Der Lichtschweif glänzte in dem blauen Augenpaar auf. Fasziniert sah Tobio dem Stern nach, während der ältere Mann weitersprach und somit einen Funken Hoffnung in dem Jüngeren entfachte:           „Es könnte also gut möglich sein, dass sich euere Wege eines Tags kreuzen werden, junger Kageyama. Aber bis dahin, halte deine Augen auf den Horizont gerichtet.“   Kapitel 8: Akt I: Part VIII – the way we choose I ------------------------------------------------- Unsicher stand Tobio vor seinem Kleiderschrank und richtete seine Krawatte – zumindest versuchte er es. Das Kleidungsstück wollte einfach nicht dort sitzen, wo es hingehörte. Er hasste Krawatten – schon damals hatte er die Dinger zutiefst verabscheut. Sie raubten ihm den letzten Nerv. Meistens war es Tooru gewesen, der sie ihm schlussendlich gebunden hatte, wenn er mal wieder die Nerven verloren hatte. Warum mussten diese Dinger bloß zu einer klassischen Schuluniform gehören! Es war verdammt nochmal zum Kotzen!   Am liebsten hätte Tobio den schwarzen Schlips in die nächstgelegene Ecke seines Zimmers befördert und nie wieder angerührt. Aber zumindest heute wollte er zivilisiert vor seine Klasse treten. Er wollte nicht wie der letzte Penner dort auftauchen und sich dann direkt schon einen schlechten Ruf zulegen. Wer weiß schon, wie die Leute hier in diesem Kaff ticken! Ganz vorsichtig legte Tobio die Schlaufe um. Ein schweres Schlucken folgte – seine Hände zitterten wie Espenlaub. Warum war er bloß so nervös? Ein abschließend prüfender Blick in den Spiegel, der sich innerhalb der Schranktür befand, genügte, um ihm endgültig die Fassung zu rauben.   „VERDAMMTE SCHEISSE – SO WIRD DAS NIE WAS!!!!“, langsam aber sicher verlor der Schwarzhaarige die Geduld. Das blöde Ding, das er sich um den Hemdkragen binden wollte, wollte einfach nicht an Ort und Stelle verweilen. Immer wieder löste sich der Knoten, den der junge Mann vor wenigen Sekunden so mühevoll zustande gebracht hatte. Tobio stand nun endgültig am Rande der Verzweiflung – so konnte der erste Schultag erst richtig starten!   Nicht nur, dass er die Nacht kein Auge zumachen konnte und die halbe Nacht wachgelegen hatte – nein, dann hatte er zumindest für immerhin eine Stunde Schlaf gefunden und wurde durch den Wecker direkt wieder in die Realität befördert. Dann hatte er zu allem Überfluss auch noch verschlafen und stand nun zusätzlich unter Zeitdruck.   Der junge Mann bemerkte gar nicht, dass er zwischenzeitlich beobachtet wurde. Kira stand im Türrahmen und beobachtete den Jüngeren dabei, wie er immer mehr und mehr zu einem Nervenbündel mutierte. Kichernd trat sie an den Schwarzhaarigen heran.   „Ganz ruhig, das haben wir gleich“, die Blondhaarige band die Schlaufe und zog den Schlips zurecht. Bei ihr sah es so einfach aus. Tobio hingegen sah verlegen zur Seite.   „Danke… das ist mir jetzt schon etwas peinlich,“ die Situation war dem Jüngeren sehr unangenehm. Schließlich wollte er nicht wie der letzte Depp dastehen, der nicht einmal in der Lage war, sich die Krawatte richtig zu binden.   Kira hingegen schlug ihm stattdessen mit der Faust auf den Oberarm und grinste den Größeren frech an. Dabei ließ sie ihren Blick über ihn schweifen. Die Uniform der Karasuno war klassisch schwarz. Sie bestand aus einer schwarzen engen Hose, einem schwarzen Gakuran und einem normalen weißen Hemd, zu dem auch eine schwarze Krawatte gehörte. Normalerweise trugen die Schüler immer noch einen cremefarbigen Pullunder über dem Hemd. Allerdings hatte sich Tobio von Anfang geweigert mit diesem Outfit durch die Gegend zu laufen. Ihm reichte das Hemd und der Gakuran aus – etwas anderes akzeptierte der Jüngere nicht. Schwarz war immer noch seine Farbe! Widerworte prallten regelrecht an ihm ab! Sein Wille blieb eisern. Ein freches Grinsen legte sich währenddessen auf Kiras Lippen als sie wieder zu Tobio aufsah.   „Damit mal eins klar ist – in dieser Sache bist du Keishin sehr ähnlich. Er hat die Dinger früher immer mit dem Küchenmesser bearbeitet. Ich bin also schlimmeres gewohnt, mein Lieber. Du siehst im Übrigen gut aus. Und nun auf – Kei wartet bereits auf dich!“, mit ihren Händen signalisierte sie dem Jüngeren, dass sich dieser auf den Weg machen sollte. Zuvor griff Tobio noch nach der schwarzen Hängetasche und stieg die Treppen hinunter.   Bevor er jedoch über die Türschwelle trat, hielt die Blondhaarige dem Größeren noch eine Bentobox entgegen. Etwas verdutzt legte der Schwarzhaarige seinen Kopf schief und nahm das Päckchen entgegen. Es war akkurat und sorgfältig verpackt. Fragend hob Tobio eine Augenbraue nach oben und schaute Kira an, die ihn die ganze Zeit über herzlich angelächelt hatte.   „Ja, was denn? Dachtest du etwa, ich lasse dich an deinem ersten Schultag ohne Mittagessen aus dem Haus? Ich denke, dass hier ist dir lieber als die Schultüte, die ich ursprünglich im Sinn hatte. Aber das ist heute nur eine Ausnahme. Gewöhn dich also nicht dran!“, hierbei zwinkerte die Blondhaarige Tobio zu und verschränkte ihre Arme vor ihrem Oberkörper.   Tobios Augen hingegen begannen zu Glänzen. Diese Geste hatte er von der Älteren nicht erwartet. Nicht einmal seine eigene Mutter hatte ihm eine Bentobox zubereitet. Irgendwie machte ihn diese kleine Geste glücklich.   „Danke – ich werde es in Ehre halten,“ verlegen verneigte sich der junge Mann vor Kira.   Keishin, der bereits am Auto stand, verdrehte genervt die Augen und stöhnte auf, woraufhin er mit einem zornigen Blick seiner Mutter bestraft wurde. Ihr Blick sagte wieder mehr als tausend Worte. Die Art und Weise, wie seine Mutter den Jüngeren immer in Schutz nahm, regte den Bewährungshelfer besonders auf. Allerdings wusste er, dass er bei der Älteren auf Granit biss und gab nach. Ergebend drehte sich der Blonde um und stieg ins Auto – Tobio tat es ihm daraufhin gleich.           Die Autofahrt verlief still und irgendwie …. seltsam? Normalerweise hatte Tobio wieder mit spitzig blöden Kommentaren gerechnet – doch Keishin blieb zur Abwechslung still. Seine braunen Augen waren starr auf die Straße vor ihnen gerichtet. Seufzend sah der Schwarzhaarige aus dem Fenster. Es war ein wunderschöner Morgen – ein hellblauer Himmel thronte über ihnen und nur ab und an zog eine weiße Wolke ihre Bahn. Seine Hände verkrampften sich und umklammerten das Päckchen, das sich auf seinem Schoß befand. Diese Stille machte ihn noch nervöser. Zusätzlich biss er unruhig auf seiner Unterlippe herum. Keishin warf mehrmals einen seitlichen Blick auf seinen Schützling, als dieser nicht hinsah.   „Damit eins klar ist, Gruftie. Benimm dich und mach keinen Ärger, ok? “, die Art und Weise wie der Ältere ihn ansprach, ließ Tobio die Luft anhalten. Unglaube spiegelte sich in dem blauen Augenpaar wider. Seit wann konnte der Grinseaffe ein normales Wort mit ihm wechseln? Klar, war der Satz immer noch taktlos, aber der Ton spielte bekanntlich die Musik und diesen Ton kannte Tobio bislang nicht. Das blaue Augenpaar sah kurz auf, ehe es den Blick wieder senkte.   „Werde ich nicht … keine Sorge …“, Tobios Worte wirkten schon fast wie ein Flüstern, doch der Blonde hatte sie vernommen. Der Jüngere bekam nicht mit, wie sich ein ehrliches Lächeln auf Keishins Lippen schlich.   Die Autofahrt dauerte wenige Minuten. Das Schulanwesen kam am Horizont langsam in Sicht. Tobio sah auf und schluckte wieder schwer. Je näher er dem Gebäudekomplex kam, desto mehr lag die Last auf ihm.   //Das hier ist meine letzte Chance…//   Tief in Gedanken versunken, ließ der Schwarzhaarige den Blick über das Gemäuer wandern. Die Schule war riesig und er konnte die ersten Schüler dabei beobachten, wie sich diese in Gruppen zusammenfanden und gemeinsam das Schultor passierten. Wieder verkrampften sich seine Hände in das Päckchen – gleichzeitig senkte Tobio seinen Blick zu Boden. Sein Herz schlug im Sekundentakt. Er war aufgeregt. Angespannt biss er die Zähne zusammen. Er hatte sich schließlich für diesen Weg entschieden – sich den Weg zurück in die Gesellschaft zu erkämpfen.   Tobio wusste, dass er diesen Weg allein bestreiten musste – es lag an ihm, ob er scheitern oder ob er wieder Anschluss finden würde. Die letzten zwei Jahre und die Zeit in der JVA hatten ihre Spuren hinterlassen. Sie wirkte wie ein tiefer Spalt, der sich schmerzlich in seine verletzliche Seele eingebrannt hatte – ein Lebensabschnitt, der seine Gedankenwelt verdunkelt und vergiftet hatte. Eine dunkle Vergangenheit, die langsam mehr und mehr in den Hintergrund geriet. Eine Zeit, der der Jüngere nicht mehr hinterhertrauen wollte. Inzwischen schämte sich der Schwarzhaarige dafür so früh aufgegeben zu haben. Die letzten drei Monate hatten so viel verändert – in positiver Hinsicht. Das wurde Tobio gerade wieder in diesem Moment bewusst.   Sein Wunsch nach einem normalen Leben war anfangs in einem kleinen Korn eingeschlossen gewesen. Es wirkte so verloren und wurde von einem dunklen Schatten heimgesucht. Dass dieses kleine Korn jedoch schneller gedeihen sollte, geschah schneller, als ihm lieb war. Es war dieser eine Moment gewesen, der wie ein Sonnenstrahl die Knospe zum Leben erweckt hatte. Gedanklich sah Tobio immer wieder den jungen Mann vor sich. Wie dieser mit seinen leuchtenden Seelenspiegeln dem Horizont der untergehenden Sonne entgegengesehen hatte – regelrecht im Licht des Sonnenuntergangs erstrahlte und sein Licht auf ihn geworfen hatte. Dieser junge Mann war sein persönlicher Hoffnungsschimmer – mit ihm hatte alles erst seinen Lauf genommen. Seit diesem Moment war dieser Wunsch aufgekeimt und schlug nach und nach seine Wurzeln. Fest entschlossen sah Tobio wieder auf und richtete seine Aufmerksamkeit nach vorne. Sein Wunsch soll Realität werden – das hatte sich der junge Mann fest vorgenommen. Bevor Tobio ausstieg, verabschiedete er sich mit einem stummen Nicken, das sein Bewährungshelfer erstaunend erwiderte, und erhob sich.   Nun stand Tobio da – vor dem Schultor. Nervös verstaute er, nachdem er aus dem Auto ausgestiegen war, die Bentobox in seiner Tasche und setzte sich langsam in Bewegung. Schritt für Schritt – seinen Blick starr geradeaus gerichtet. Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen – wollte so normal wie nur möglich wirken. Die Nervosität versuchte er, so gut es ging, zu verbergen.   Als er das Schulinnere betreten hatte, wechselte er seine Straßenschuhe gegen Pantoffeln aus, die die Schule für sie bereitstellte. In dieser Hinsicht waren alle japanischen Schulen gleich. Nachdenklich schritt der Schwarzhaarige in die Aula und begutachtete die Klassenlisten, die sich an einem großen schwarzen Brett befanden. Er war nicht der Einzige, eine ganze Gruppe an Schülern tummelte sich dort. Das Flüstern und Gerede versuchte er weitestgehend zu ignorieren. Als sich Tobio zwischen den Reihen hindurchgekämpft hatte, warf er einen prüfenden Blick auf die Liste. Es gab insgesamt drei Oberschulklassen. Mehrere Minuten vergingen, bis der junge Mann schließlich seinen Namen ausfindig machen konnte.   //3B//   Zumindest wusste er schon einmal in welche Klasse er überhaupt musste. Währenddessen schaute sich Tobio um. Die Schule war riesig, es gab so viele Gänge. Schnell musste der junge Mann feststellen, dass er gar nicht wusste, in welche Richtung er überhaupt gehen musste. Verloren stand er einfach nur da. Es war so nervig. Tobio spürte, dass seine Ungeduld langsam in ihm aufstieg.   //Verdammt…. Was mache ich denn jetzt? //   Sollte er einfach nach dem Weg fragen? Ein schweres Schlucken folgte. Dass er seine Komfortzone jetzt schon verlassen musste, behagte dem Schwarzhaarigen ganz und gar nicht. Aber was blieb ihm schon anderes übrig. Ehe Tobio diesen Gedanken weiter vertiefen konnte, wurde er plötzlich innerhalb von Sekunden aus seiner Gedankenwelt gerissen.   „Hey, hey, hey! Wen haben wir denn da???“   Tobio zuckte aufgrund des lauten Schreis zusammen. Was war das denn? Entgeistert sah der junge Mann rechts und links neben sich. Da war mal keiner. Wer war das? Als sich der Schwarzhaarige schließlich komplett umgedreht hatte, kamen zwei Schüler auf ihn zu. Bei der ersten Person handelte es sich um einen jungen Mann – etwa in seiner Größe. Seine weiß-grauen Haare waren nach oben frisiert und goldene Augen sahen ihn eindringlich an. Auf den ersten Blick erinnerten die Iriden an eine Eule. Ungläubig starrte Tobio sein Gegenüber an.   //Was zum? Meint der etwa mich? //   Irritiert stand Tobio einfach nur da wie angewurzelt und zeigte schließlich mit seinem Zeigefinger auf sich selbst. Ein Grinsen zierte daraufhin das Gesicht seines Gegenübers, ehe er nickend zustimmte.   „Haha! Genau dich meine ich. Was stehst du so verloren da rum?“ nach diesen Worten schob sich der Grauhaarige ein Sandwich in den Mund. Genüsslich biss er ein Stück ab und schmatzte fröhlich. Sein Gesichtsausdruck wirkte mehr als zufrieden. Währenddessen erklang eine weitere Stimme.   „Bokuto…. Wir stehen mitten auf dem Schulgang! Wenn dich ein Lehrer beim Essen erwischt, dann gibt es wieder Strafarbeit! Denk bitte daran, was letztens erst passiert ist…“, hinter dem Grauhaarigen kam ein weiterer junger Mann zum Vorschein, der seinen Nachbarn entgeistert anstarrte. Er besaß schwarzes lockiges Haar und trug eine dunkle Brille. Seine blauen Augen waren um einen Ton tiefer als Tobios und wirkten auf den ersten Blick leicht furchteinflößend. Den Grauhaarigen störte dies jedoch nicht im Geringsten. Schmatzend wand sich der Angesprochene seinem Klassenkameraden zu, der zwischenzeitlich seine Arme vor seinem Oberkörper verschränkt hatte.   „Aber Akaashi, ich habe doch so einen Hunger… Ohne ein zweites Frühstück überlebe ich den Morgen nicht…“   „Du hast immer Hunger! Das ist bei dir ja nichts neues. Zudem das hier schon dein drittes Frühstück darstellt…“, nach diesen Worten wand sich der junge Mann kopfschüttelnd schließlich Tobio zu und setzte ein freundliches Lächeln auf.   „Du bist neu hier, oder? Ich bin Akaashi Keiji. Tut mir leid, dass dich der Grobian hier so überfallen hat“, zum Gruß reichte der Schwarzhaarige Tobio die Hand.   „Ach was, nicht doch. Kageyama Tobio, freut mich“, verlegen kratzte sich Tobio am Hinterkopf und erwiderte den Händedruck seines Gegenübers.   „Wo genau musst du denn hin?“, immer wieder warf Akaashi einen seitlichen Blick auf den Grauhaarigen, der zwischenzeitlich endlich sein Sandwich verspeist hatte.   „Ich suche die 3B… wo befinden sich denn die Klassen der Oberstufen?“   „Ahh.. dann bist du in Kuroos Klasse! Dann sind wir ja sowas wie Nachbarn!“, freudig sprang der Grauhaarige auf und ab. Tobio hingegen verstand erst nur Bahnhof. Er konnte sich die imaginären Fragenzeichen schon genau vorstellen, die sich über seinem Kopf bildeten.   //Kuroo…wer?//   Irritiert hob Tobio eine Augenbraue. Der Typ war doch definitiv hyperaktiv. Vor allem aber, wie konnte man bloß morgens schon solch eine gute Laune haben? Akaashi, der immer noch neben seinem Klassenkameraden stand, schüttelte lachend den Kopf. Ehe Tobio jedoch auf die Aussage reagieren konnte, packte der Grauhaarige den Schwarzhaarigen am Arm und zerrte ihn mit sich mit.   „Ach, dann sag das doch gleich! Keine Sorge, Bokuto Koutarou zeigt dir den richtigen Weg! Also meine Wenigkeit~“   Tobio dachte in diesem Moment echt er sei im falschen Film. Das konnte doch nicht dessen Ernst sein! Hilfesuchend wand er sich Akaashi zu, der lachend neben ihnen herlief. Eine verlegene Röte hatte sich auf dessen Wangen gebildet.   „Tut mir leid, so ist Bokuto nun mal eben. Aufbrausend wie eh und je ..“, verlegen kratzte sich der Kleinere am Kopf.   Der Schwarzhaarige seufzte daraufhin genervt aus. Das war ihm dann doch wieder zu viel des Guten. Er hasste Körperkontakt – vor allem zu fremden Menschen! Aber dennoch ließ er die Wanderung stillschweigend über sich ergehen. Dass Bokuto die ganze Zeit redete, überforderte den jungen Mann noch zusätzlich. Wenn der Grauhaarige einmal anfing zu reden, hörte er einfach nicht mehr auf. Er laberte über Kami und die Welt – ohne Punkt und Komma. Er konnte einem regelrecht das Ohr abkauen. Seine eigenen Ohren hatte Tobio bereits nach mehreren Minuten auf Durchzug geschaltet.   //Oh Kami… was habe ich bloß verbrochen?!//   Als sie im Obergeschoss angekommen waren, hob Bokuto schließlich die Hand und winkte einem Schwarzhaarigen zu, der einige Meter vor ihnen stand.   „Hey Kuroo! Schau mal, wen ich in der Aula aufgelesen habe! Ich glaube er gehört zu euch!“, schließlich ließ Bokuto den Schwarzhaarigen los und schlug ihm daraufhin grob auf die Schulter.   Tobio rollte genervt mit den Augen, während sich eine Zornesader auf seiner rechten Schläfe bildete. Wie peinlich konnte sein erster Schultag bitte noch werden? Er hatte jetzt schon die Schnauze gestrichen voll. Akaashi, der neben ihm zum Stehen kam, klopfte ihm ebenfalls ermunternd auf die Schulter. Wobei sein Druck eher zaghaft war und Tobio die Berührung kaum bemerkte. Akaashi war die Lage wohl ebenfalls etwas unangenehm – zumindest ließ sein Gesichtsausdruck es so vermuten.   Der Angesprochene, der zuvor mit seinem Klassenkameraden gesprochen hatte, hob eine Augenbraue und kam auf sie zu. Seine schwarzen Haare standen zu Berge und nur ein seitlicher Pony verdeckte ein Teil seines Gesichts. Sein Gesichtsausdruck wirkte zuerst mehr als gelangweilt, während er auf sie zuschritt. Je näher er kam, desto mehr fiel Tobio auf, wie groß der Typ war. Der Schwarzhaarige musste mindestens um die 1,90 Meter sein. Tobio selbst war gerade mal 1,85 Meter groß.   „Bokuto… sei doch nicht immer so laut!“, nach diesen Worten wand sich der Größere Tobio zu, der seinen Blick zwischenzeitlich gesenkt hatte. Die aktuelle Situation war ihm immer noch mehr als peinlich.   „Du musst wohl Tobio Kageyama sein. Ich wurde schon darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir ab heute einen neuen Mitschüler haben. Nimm es Bokuto nicht krumm – er ist so wie er nun mal ist. Aufbrausend und immer voller Tatendrang. Dennoch hat er das Herz am rechten Fleck. Ich bin im Übrigen Tetsurou Kuroo und Klassensprecher der 3 B. Der junge Mann hier neben mir ist Asahi Azumane.“   Der Brünette, der neben Kuroo stand, verneigte sich vor dem Schwarzhaarigen. Seine langen braunen Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden und ein drei-Tage-Bart zierte sein Kinn. Herzlich sah ein braunes Augenpaar auf Tobio herab. Dieser schluckte hingegen schwer. Der Braunhaarige war ebenfalls größer als er.   „Danke, die Freude ist ganz meinerseits .. “, verlegen kratzte sich Tobio am Hinterkopf und verneigte sich zum Gruß.             Wenige Minuten standen sie alle vor dem Klassenraum und unterhielten sich über ihre Sommerferien. Es wurde herzlich gelacht und Tobio stand einfach mittendrin. Mehrmals sah er zwischen den Beteiligten hin und her. Bis jetzt schienen alle Schüler, denen er bislang begegnet war, in Ordnung zu sein. Selbst Bokuto war auf seine Art aushaltbar – auch, wenn er anfangs eher wie das genaue Gegenteil gewirkt hatte. Inzwischen hatte der Grauhaarige eine normale Haltung eingenommen und konnte auch ein normales Gespräch führen. Auch seine Stimme war um einiges entspannter und wirkte nicht mehr so hysterisch und energiegeladen. Akaashi war allerdings immer noch der Ruhigere von den Beiden. Die Art und Weise wie die Beiden miteinander umgingen, ließen Tobio nachdenklich werden. Sie mussten wohl auch privat miteinander zu tun haben. Allein wie sie einander immer wieder ansahen – die Situation weckte etwas Vertrautes in ihm. Gedankenverloren hatte Tobio sie eine Weile beobachtet. Wie standen die Beiden zueinander? Während er tief in Gedanken versunken war, wand sich Tobio wieder Kuroo und Asahi zu. Er selbst beteiligte sich nicht an den Gesprächen, er hörte ihnen einfach nur zu. Lieber behielt er die Lage erst einmal genau im Auge. Bevor sie schließlich die Klasse betraten, verabschiedeten sich die drei noch von Bokuto und Akaashi, die daraufhin im benachbarten Klassenraum verschwanden.   Als Tobio, Kuroo und Asahi die Türschwelle überschritten hatten, kehrte innerhalb von Sekunden Ruhe ein. Alle Augenpaare sahen neugierig nach vorne. Alle Blicke waren auf den Neuling gerichtet. Tobio wäre am liebsten im Erdboden versunken – er hasste es im Mittelpunkt zustehen. Als zu allem Übel auch noch das Geschrei der Schülerinnen losging, war es aus und vorbei. Das war dann doch wieder zu viel für den jungen Mann.   „Aww, wie niedlich ist der denn~“   „Endlich mal wieder ein Hingucker, da nehme ich die Ehrenrunde gern in Kauf!“   „Den würde ich nicht von der Bettkante stoßen, Mädels!“   //Oh nein… bitte nicht schon wieder …..//   Tobio hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Vor Scham waren seine Wangen schon rot angelaufen – peinlicher ging es wohl nicht! Dieses Verhalten ging ihm einfach nur auf die Nerven. Warum konnte er nicht einfach unbemerkt bleiben? Diese Art von Aufmerksamkeit behagte ihm überhaupt nicht. Anscheinend hatte sich an seiner Anziehungskraft gegenüber dem weiblichen Geschlecht in den letzten Jahren nichts verändert. In der Mittelschule war er auch schon ein Mädchenmagnet gewesen. Egal wo er hinging, die Hexen – wie er sie nannte - verfolgten ihn auf Schritt und Tritt. Wobei Tooru damals immer noch den Rekord hielt. An seiner Schule wurde sogar ein extra Fan-Club gegründet, was den Schwarzhaarigen damals immer extrem genervt hatte. Tobio würde es nicht direkt Eifersucht nennen, aber die Art und Weise wie sie den Brünetten immer umgarnt hatten, war mehr als penetrant und aufdringlich. Sie wussten, dass er vom anderen Ufer war, aber trotzdem konnten sie von ihrer Schwärmerei einfach nicht ablassen. Tobio ergab sich in diesem Moment seinem Schicksal. Er hoffte innerlich, dass ihm dieses Theater erspart blieb – sonst konnte er wirklich für nichts mehr garantieren. Kuroo, der immer noch neben ihm stand, grinste den Neuling hämisch an und legte seinen Arm um ihn.   „Am besten du ignorierst sie einfach. Unsere Hühner hier machen alles an, was bei drei nicht auf dem Baum ist!“   „Wie war das Kurroo?“   „Mensch, Kuroo und du willst unser Klassensprecher sein? Gönn uns doch den Spaß!“, die Blondinne, die in der hintersten Ecke der Klasse saß, zwinkerte Tobio daraufhin zu. Der Schwarzhaarige hingegen wand den Blick schnell ab und blickte angespannt zu Boden. Wie er es einfach hasste, dass er eine solche Aura auf das weibliche Geschlecht ausübte. Konnte er nicht einfach innerhalb von Sekunden im Erdboden versinken?   Kuroo lachte laut auf und gesellte sich zu den anderen in der ersten Reihe. Als er bemerkte, dass Tobio immer noch wie fest angewurzelt dastand, winkte er ihn zu sich.   „Kageyama – ich möchte dir noch Daichi Sawamura und Koushi Sugawara vorstellen. Mit Asahi zusammen sind wir das Vierergespann hier in der Klasse.“   Tobio setzte sich in Bewegung und gesellte sich zu den Anderen. Sawamura war ein großer junger Mann mit kurzem braunen Haar und braunen Augen.   „Hallo Kageyama, willkommen im Chaos!“   „Mensch, Daichi! Der arme Kerl ist schon geschockt genug!“, der Silberhaarige, der neben ihm saß, schlug seinem Nachbarn mit der Faust an die Schulter. Der Angesprochene hingegen lachte laut auf.   „Ach was, Suga! Da wird er gleich abgehärtet, nicht wahr Kuroo?“   „Glaub mir eins, Daichi. Kageyama hat schon Bekanntschaft mit Bokuto gemacht! Ich denke, den größten Schreck hat er bereits hinter sich – abgesehen von unseren Furien hier“, hierbei deutete der Schwarzhaarige Richtung hintere Reihe, woraufhin er schon die Proteste hören konnte. Schließlich brach die Männerrunde in helles Gelächter aus.   Tobio saß einfach nur mittendrin und sah zwischen den Beteiligten umher. Was seine Klasse anbelangte, schien er immerhin schon einmal Glück gehabt zu haben. Auf den ersten Blick wirkten alle superfreundlich und nahmen ihn herzlich in der Gruppe auf. Aber dennoch nagte weiterhin die Unsicherheit an ihm.   Der erste Schritt war getätigt, aber was folgte danach? Nachdenklich sah der Schwarzhaarige aus dem Fenster und widmete die Aufmerksamkeit einem Schmetterling, der gerade an der Scheibe vorbeiflog. Tobio wusste nur eines: ab heute würde ein neues Abenteuer beginnen. Ein Abenteuer, dessen Weg er selbst gewählt hat.       Was würde ihn ab heute erwarten?   Wem würde er hier noch alles begegnen?   Könnte es möglicherweise sein, dass er hier dem geheimnisvollen jungen Mann begegnen wird, von dem der alte Ukai gesprochen hatte?       Seufzend sah der Schwarzhaarige schließlich auf seine Hände herab. Nachdenklich rief er sich währenddessen wieder die Worte des alten Mannes ins Gedächtnis.   […] „Er geht auf die Karasuno High – so viel ich mitbekommen habe, ist er sogar in deiner Jahrgangsstufe ….Es könnte also gut möglich sein, dass sich euere Wege eines Tags kreuzen werden.“ […]   Schließlich ballte der junge Mann seine Hände zu Fäusten. Tobio würde alles in seiner Machtstehende tun, um den geheimnisvollen jungen Mann zu finden. Auch hatte er die Suche nach dem Wuschelkopf noch lange nicht aufgegeben. Seine Suche war noch lange nicht am Ende. Seine letzte Hoffnung war diese Schule - vielleicht würde er hier sogar beiden Personen begegnen.   Tobio war normalerweise keineswegs abergläubig, aber aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass all die Geschehnisse der letzten Wochen nicht umsonst geschehen waren. Als ob eine höhere Macht im Spiel war, die ihre Fäden gesponnen hatte. Wie sehr der Schwarzhaarige mit seiner Vermutung Recht behalten sollte, sollte sich noch am selben Tag bestätigen.       Kapitel 9: Akt I: Part IX– the way we choose II ----------------------------------------------- Die ersten Stunden des Vormittags waren sehr schnell vergangen. Neben Daichi, Sugawara und Kuroo hatte Tobio auch nach und nach seine anderen Klassenkameraden kennengelernt und musste sich noch zusätzlich im Unterricht vor der gesamten Klasse noch einmal vorstellen. Jeder Lehrer wollte eine eigene Vorstellungsrunde und Tobio leierte immer wieder das selbe runter. Dass er aus einer anderen Stadt zugezogen sei und er hier seinen Abschluss machen würde. Er hatte es noch am Abend zuvor immer wieder einstudiert, sodass er die eingeprägten Sätze in und auswendig aufsagen konnte. Der Schwarzhaarige wusste nicht, warum er immer wieder nach vorne treten musste – möglicherweise hofften die Lehrer so Zeit sparen zu können. Ein Gedanke, der gar nicht so weit hergeholt war, wenn man bedachte, dass die Motivation teilweise sehr zu wünschen übrigließ. Gelangweilt saß der junge Mann in der zweiten Reihe und versuchte dem Unterricht zu folgen, was sich als sehr schwierig erwies. Es war schließlich fast zwei Jahre her, wo er das letzte Mal die Schulbank gedrückt hatte. Es war ungewohnt. Aber dennoch gab Tobio weiterhin sein Bestes und versuchte dem Unterricht so gut es ging zu folgen.   Als die Klingel wenige Stunden später endlich die Mittagspause einläutete, versuchte Tobio zusammen mit seinen Kollegen so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Grund hierfür waren immer noch die Hexen, die sich wie ausgehungerte Hyänen um ihn scharen wollten. Leider wurde ihm schon an der Türschwelle der Fluchtweg abgeschnitten. Warum ließen diese Biester ihn nicht einfach in Ruhe?   „Ach komm schon, Kageyama-Kun… gibst du mir deine Nummer?“   „Hey, wenn dann gibt er sie mir, oder?“, und schon ging das Gequengel los. Die Mädels fingen doch jetzt nicht ernsthaft an wegen ihm zu streiten? Fassungslos stand Tobio zwischen ihnen und sah mehrmals hin und her. Wo war er bloß wieder reingeraten? Er zog das Unglück regelrecht magisch an.   „Moment mal! Ich habe ihn zuerst gesehen, du dumme Kuh!“, bevor der Schwarzhaarige wusste wie ihm geschah, wurde er am Arm gepackt.   //Was zum?!//   „Wie war das?? Sag das nochmal!!!“, und schon war sein anderer Arm ebenfalls im Beschlag.   //Hilfe…//   Die Augenbraue des Schwarzhaarigen zuckte verräterisch auf und ab. Langsam, aber sicher wurde die Zündschnur immer kürzer. Wenn Tobio etwas mehr als alles andere hasste, dann waren es Weiber, die sich um einen Kerl stritten. Sein altes Schultrauma kam wieder ans Tageslicht. Was hatte er bloß verbrochen? Die Überforderung stand ihm ins Gesicht geschrieben.   „Meine Güte, jetzt lasst den armen Kerl mal ankommen! Ihr seid ja schlimmer als kleine Kinder, denen man Süßigkeiten geschenkt hat!“, endlich bekam Tobio Hilfe. Ein junger Mann, der kurze goldblonde Haare besaß, zwängte sich durch die Reihe und befreite Tobio aus deren Klauen.   „Was soll das denn werden, Atsumu?! Bist du eifersüchtig?“, prallte die Blondhaarige, die Tobio schon am Morgen schöne Augen gemacht hatte und stellte sich aufrecht vor ihren Mitschüler.   „Mika, als ob mein Bruder eifersüchtig werden müsste!“, hinter dem Blonden tauchte ein Grauhaariger auf, der unterstützend seinen Oberarm auf der Schulter seines Bruders ablegte. Die beiden jungen Männer sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Hämisch grinste er die junge Frau an. Diese wiederum starrte ihren Klassenkameraden entgeistert an.   „Was willst du denn hier, Osamu??!!“   „Mal nichts von dir, du Klappergestell auf zwei Beinen!“   „Wie war das? Du hast echt null Frauengeschmack!“, empört verschränkte die Blonde ihre Hände vor ihrem Oberkörper und versuchte den Störenfried mit ihren Blicken zu erdolchen. Dieser hingegen fing laut an zu lachen, während er belustigt den Kopf schüttelte.   „Was will ich denn mit einer wie dir! Eine Frau braucht Kurven und die hast du definitiv nicht! Also spiel dich nicht so auf!“, mit einer Handbewegung, die Osamu hinter seinem Rücken ausführte, signalisierte er seinem Bruder, dass er und Tobio verschwinden sollen. Atsumu verstand sofort und zog den Schwarzhaarigen mit sich.   „Komm, wir verschwinden, solange sie abgelenkt sind...“, flüsterte der junge Mann, packte Tobio am Arm und zog ihn aus der Klassentür. Schnell rannten die Beiden den Korridor entlang und blieben einige Meter vor der Mensa stehen, in der Daichi, Kuroo und Sugawara bereits auf sie warteten.   „Das war vielleicht knapp“, schnaufte der Blonde und wischte sich den Schweiß von der Stirn.   „Das stimmt, danke Atsumu... “, Tobio, der direkt neben ihm zum Stehen kam, ging kurz in die Hocke, um sich zu sammeln.   „Mach dir nichts draus, die bekommen sich wieder ein. Warte noch ein paar Tage ab, dann haben sie ihr nächstes Opfer gefunden“, lächelnd betrat Atsumu die Mensa und signalisierte Tobio mit einer Kopfbewegung, dass er ihm folgen soll.   Gemeinsam durchschritten sie die Mensa und stießen zu den anderen, die bereits einen Tisch für die Klasse reserviert hatten.   „Da seid ihr ja endlich. Wir wollten schon eine Vermisstenanzeige aufgeben.“, Daichi sah zu den Beiden hoch.   „Furienalarm, ich denke da ist alles gesagt“, erwiderte Atsumu und nahm neben dem Brünetten Platz.   „Ich fasse es nicht … Kageyama ist bei dir alles in Ordnung?“, besorgt sah Sugawara zu Tobio rüber, der genau gegenüber vor ihm Platz genommen hatte.   „Ja…“, murrte der Schwarzhaarige und widmete sich seiner Bentobox, die Kira für ihn vorbereitet hatte. Als er den Deckel hob, hielt er inne. Sie hatte sich mit der Deko so viel Mühe gegeben, es wirkte wie ein Portrait, das man nicht zerstören wollte. Irgendwie tat es Tobio schon leid, aber sein Hunger siegte. Genüsslich nahm er einige Bissen zu sich und merkte, wie er langsam wieder runterkam.   Kuroo, der die Runde im Blick hatte, sah sich zwischenzeitlich um. Die Mensa war gut gefüllt, es waren fast alle Tische besetzt. Das Essen hier soll sehr gut sein – zumindest wurde hier täglich frisch gekocht und man hatte auch ein großes Angebot an unterschiedlichen Gerichten. Seine haselnussbraunen Augen wanderten weiter. Schließlich blieb Kuroos Blick an einem großen olivbraunhaarigen Kerl haften, der zusammen mit drei weiteren Mitschülern zwischen den Tischreihen der Mensa entlanglief. Er war groß und sehr muskulös gebaut. Sein störrischer Blick war starr geradeaus gerichtet – teilweise sprangen die anderen Schüler panisch zur Seite und machten dem Kollos Platz.   „Na, wen haben wir denn da?“, sprach der Klassensprecher mehr zu sich selbst, woraufhin die anderen Beteiligten am Tisch ihn ansahen. Tobio sah ebenfalls fragend zu dem Schwarzhaarigen rüber. Kurz wanderte das blaue Augenpaar zu dem Kollos rüber.   „Wer ist das, Kuroo?“   Die Augen des Größeren verengten sich zu Schlitzen.   „Jemand, der nur Ärger macht. Das ist Wakatoshi Ushijima. Ein sehr unruhiger Zeitgenosse. Er ist Klassensprecher der 3 C. Die gesamte Klasse ist sehr auffällig – allerdings nicht im positiven Sinne.“   „Wie meinst du das?“, neugierig sah Tobio erneut zu dem Braunhaarigen rüber, der mit seinen Klassenkameraden gerade die Mensa verließ. Etwas in Tobio schaltete direkt auf Abwehr. Als ob sein Innerstes ihn warnen wollte. Zudem ihm der Name Ushijima sehr bekannt vorkam. Leider konnte er sich im Moment noch keinen genauen Reim darauf machen.   Sugawara wand sich ihm daraufhin zu und flüsterte leise:   „Du musst wissen, Kageyama. Wir sind hier momentan drei Oberschulklassen. Wir, die 3 B sind die Unauffälligsten. Wir sind wie die Schweiz kann man sagen – wir halten uns eigentlich aus allem raus. Die 3 A hingegen ist auffällig, was ihre Schulnoten angeht. Unsere zwei Schulbesten befinden sich in dieser Klasse. Allein aus diesem Grund gibt es schon Reibereien mit der 3 C. Allerdings wird diese Klasse erst überhaupt durch ihren Klassensprecher angestachelt. Wakatoshi demonstriert gerne seine Macht und zeigt Schwächeren, wo deren Platz ist. Da in der 3 A auch kleinere und schwächere Schüler sind, sind diese natürlich ein gefundenes Fressen für ihn. Es kommt hier immer wieder zu Komplikationen.“   Tobio spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er musste sich zusammenreisen. Wie konnte man bloß so oberflächlich sein? Währenddessen fuhr Kuroo weiter fort.   „Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Wakatoshi und seine gesamte Gruppe sind homophob, musst du wissen.“   Das blaue Augenpaar weitete sich vor Schreck und Entsetzen. Er spürte einen dumpfen Schlag in seiner Magengegend. Unwohlsein stieg in ihm auf. Nun meldete sich auch Atsumu zu Wort.   „Stimmt, erinnert ihr euch noch an die Schlägerei, die er letztes Schuljahr angezettelt hatte?“   „Jetzt wo du es erwähnst – Es war das erste Mal, dass ich Bokuto richtig aggressiv erlebt habe. Wobei es Wakatoshi echt nicht anders verdient hat… normalerweise bin ich ja nicht so gehässig, aber nach der Aktion…“, nachdenklich stützte Sugawara seinen Kopf auf seiner Handfläche ab.   „Was Bokuto?“, ungläubig sah Tobio zu dem Grauhaarigen rüber. Ausgerechnet dieser schräge Vogel soll aggressiv geworden sein?   „Ja, du musst wissen, Bokuto ist der Klassensprecher der 3 A und naja…“, verlegen kratzte sich Sugawara am Hinterkopf, ehe Daichi das Wort übernahm.   „Anfang letzten Jahres hatte Wakatoshis Gruppe Akaashi bedroht und ihm auf dem Schulweg auch aufgelauert. Bevor es schlimmer werden konnte, hatte Bokuto direkt einen Riegel davorgeschoben. Er und Wakatoshi haben sich sogar richtig geprügelt – Wakatoshi musste danach mit einer gebrochenen Nase ins Krankenhaus. Der Aufschrei war riesig gewesen, weil es immerhin zwei Klassensprecher waren, die aufeinander losgegangen sind – zwei Vorbildfunktionen. Wenn ich es richtig mitbekommen habe, haben sogar Beide einen Schulausschluss von mehreren Wochen bekommen. Aber seit diesem Ereignis macht Wakatoshi einen großen Bogen um Bokuto.“   „Wenn es um Akaashi geht, kennt Bokuto keine Grenzen.… Er würde alles für ihn tun...“, flüsterte Kuroo lächelnd und widmete sich seiner Miso-Suppe, die die ganze Zeit vor ihm stand.   Tobio hatte genau hingehört. Also hatte er sich bei Bokuto und Akaashi doch nicht geirrt. Sie waren tatsächlich ein Paar. Nachdenklich sah der Schwarzhaarige wieder auf und ließ seinen Blick durch die Mensa schweifen. Weiter hinten am Fenster konnte er die Beiden ausfindig machen. Sie saßen nah beieinander und lachten. Sie wirkten so ausgelassen und fröhlich.   Wehmut stieg in Tobio auf, als er die Situation beobachtete. Dass die Beiden kein Geheimnis draus machen, war bemerkenswert. Nachdenklich stützte Tobio seinen Kopf auf seiner Handfläche ab und sah wieder zu seiner Bentobox runter. Ob er in seiner jetzigen Situation dazu überhaupt in der Lage wäre?                 Nachdem die Pause zu Ende war, begaben sich die Schüler wieder in deren Klassen. Tobio hatte zuvor noch entschlossen ein Joghurt-Getränk aus dem Automaten zu kaufen, der sich außerhalb auf dem Pausenhof befand. Er hatte ihn während seiner Runden zufällig entdeckt. Friedlich vor sich hin pfeifend, schlenderte er durch die Gänge und lief auf dem gepflasterten Weg entlang. Als er vor dem Automaten stand, warf er eine Münze hinein und drückte auf den entsprechenden Button. Sein Blick war zu Boden gerichtet.   „Du bist also dieser Neuling, ja?“   Diese Stimme wirkte so bedrohlich. Das blaue Augenpaar weitete sich. Tobios Nackenhaare stellten sich zu Berge, als er hochsah und eine große Person vor sich erblickte, die sich gegen den Automaten seitlich angelehnt hatte. Olivgrüne Augen sahen auf ihn herab. Er war mindestens 10 Centimeter größer als er. Neben dem Kollos standen noch weitere vier Personen, die sich im Hintergrund hielten. Ein schwerer Kloß bildete sich in Tobios Kehle. Er wusste genau, wer gerade vor ihm stand – Wakatoshi Ushijima. Ein Name, der sein Blut innerhalb von Sekunden gefrieren ließ.   „Wer möchte das wissen?“, auf eine Frage folgte eine Gegenfrage. Tobio ging innerlich auf Abwehr. Er durfte ihm keine Schwäche zeigen – keine Angriffsfläche bieten.   //Ruhig bleiben, Tobio… //   Der Größere lachte auf und sah wieder amüsierend auf den Kleineren herab.   „Du bist mutig, das muss ich dir lassen!“   Auf den Satz hin verzog Tobio keine einzige Miene und starrte den Brünetten eisern an. Er durfte seinen Blick nicht abwenden – er wusste, dass er ansonsten den Kampf jetzt schon verloren hatte. Es war eine lehrreiche Erfahrung, die er damals auf der Straße gesammelt hatte. Zumindest im Moment kam ihm diese Lehre zugute. Das Gelächter der anderen versuchte er weitestgehend zu ignorieren.   „Ich verstehe nicht auf was du hinauswillst!“   Das olivgrüne Augenpaar funkelte gefährlich auf, ehe der Braunhaarige eine Zigarettenschachtel hervorkramte, eine Zigarette rauszog, sie anzündete und einen tiefen Zug nahm. Tobio wand schließlich den Blick ab. Das hier war doch der reinste Kindergarten. Was will dieser Typ bloß von ihm?   „Du weißt wohl nicht … mit wem du es hier zutun hast, oder?“, genüsslich atmete der Größere den Zigarettenqualm aus und hauchte die gasförmige Substanz seinem Gegenüber ins Gesicht.   „Nein, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Könntest du das hier bitte unterlassen? Das ist mehr als unhöflich“, erwiderte Tobio und wedelte mit seiner linken Hand den Qualm zur Seite. Ihm ging dieser Penner jetzt schon gewaltig auf die Nerven. Er brodelte bereits innerlich.   „Haha, du gefällst mir! Also- “, auf die Worte hin erhob sich der Brünette und trat langsam an Tobio heran. Je näher er kam, desto größer wirkte sein Schatten, der sich über den Kleineren warf.   „-ich bin Wakatoshi Ushijima. Du scheinst ein taffer Kerl zu sein. Wir suchen aktuell noch Mitglieder für unsere Gruppe und ich finde, dass du gut zu uns passen würdest. Du trägst etwas Sonderbares an dir. Du bist unnahbar – bist groß und besitzt eine eisige Aura, die man bis hierher spüren kann. Es wäre doch eine Verschwendung, wenn du deine Zeit diesen anderen schwächlichen Idioten widmen würdest, oder?“, das gehässige Grinsen, das dem Brünetten auf den Lippen lag, war abartig. Tobio spürte, wie ihm langsam die Galle hochkam.   Was bildete sich dieser Fatzke eigentlich ein? Am liebsten würde er dem Idioten eine reinhauen. Normalerweise war Tobio keinesfalls gewalttätig, aber allein der Gedanke daran, dass ein homophober Mistkerl vor ihm stand, brachte ihn innerlich ins Wanken. Wenn Wakatoshi jemals erfahren sollte, dass er eines seiner „Opfer“ ist, würde das in Mord und Totschlag enden – da war sich Tobio mehr als sicher. Die Wut stieg immer mehr und mehr in ihm auf. Seine Zündschnur stand kurz vorm Zerreißen. Allerdings musste er sofort an Keishins Worte denken. Er durfte sich keinen Fehltritt erlauben. So schwer es ihm auch fiel, er musste sich zusammenreisen. Schließlich schlich sich ein freches Grinsen auf Tobios Lippen, ehe er sich hinabbeugte, den Joghurt-Drink aus der Ablage nahm, sich erhob und erneut zu Wakatoshi aufsah.   „Ich geb dir mal einen guten Rat, Wakatoshi-“, langsam schritt Tobio auf den Brünetten zu und legte seine Hand auf dessen Schulter ab, ehe er ihn mit eiskalten blauen Augen anfunkelte. Er hasste diesen Typen jetzt schon wie die Pest.   „-mit wem ich abhänge und mit wem nicht, entscheide ich immer noch selbst. Danke, aber ich lehne ab!“   Nach diesen Worten schritt Tobio an dem Braunhaarigen vorbei und verschwand wieder im Schulgebäude, ohne sich einmal zu ihnen umzudrehen. Der Schwarzhaarige ließ ihn einfach stehen. Er spürte die Genugtuung, die ihm wie Öl den Rücken hinunterfloss. Er hatte Wakatoshi eine Absage erteilt – und zwar vom feinsten. Er soll ihn und seine neuen Freunde einfach in Ruhe lassen. Mit diesen Gedanken betrat er schließlich wieder seine Klasse und war bereit für die nächsten vier Unterrichtseinheiten, die an diesem Tag noch stattfanden.                 „WAS? Dein Ernst? Ushijima? Der Ushijima?“   Entgeistert starrte Sugawara den Schwarzhaarigen an, während sie nach Unterrichtsschluss durch die Korridore schritten. Der Grauhaarige hatte sich dazu bereit erklärt Tobio die Bibliothek zu zeigen. Es war bereits später Nachmittag. Die Mittagssonne hatte ihren Höhepunkt erreicht. Gerade eben hatte Tobio seinem Klassenkameraden von dem Aufeinandertreffen mit Wakatoshi berichtet. Das blaue Augenpaar sah weiterhin nach vorne.   „Ja, aber ich werde mich ihm nicht anschließen. Ich habe keine große Lust mit so einem unsympathischen Kerl abzuhängen. Der denkt auch die Welt liegt ihm zu Füßen!“, Tobio war immer noch außer sich. Wie eingebildet dieser Fatzke vor ihm gestanden hatte und sich offenbart hatte, als sei er Kami höchstpersönlich. Dieser Kerl machte ihn immer noch mehr als wütend. Er hasste ihn! Ja – er verabscheute ihn!   „Psst, nicht so laut, Kageyama. Pass bei ihm auf, er ist gefährlich. Glaub mir, mit ihm willst du dich nicht anlegen!“, flüsterte Sugawara und zog Tobio nah zu sich. Besorgnis spiegelte sich in dem hellbraunen Augenpaar wider.   „Tzk, auf mich wirkt er eher wie ein größenwahnsinniger Diktator!“   „Sei nicht so laut, er könnte dich hören!“   „Pah! Soll er doch. Ich hatte schon mit schwierigeren Typen zu tun – dagegen wirkt er wie ein harmloser kleiner Welpe!“, leider entsprach dies zu Tobios Missfallen der Wahrheit.   Auf der Straße hatte er mit richtigen Kriminellen zu tun gehabt. Diese hatten, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken, einfach teilweise ohne Grund auf ihre Opfer eingeschlagen und sie krankenhausreif geprügelt. Damals war es Tobio egal gewesen, da er zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Heute wusste er inzwischen, dass sein damaliges Verhalten falsch gewesen war. Es war ein Fehler, der sich nie wieder wiederholen sollte – das hatte sich der Schwarzhaarige geschworen. Während Tobio wieder tief in seinen Gedanken versunken war, blieben sie schließlich vor einer großen Tür stehen.   „So da wären wir“, Sugawara öffnete die Tür und trat zur Seite, sodass Tobio über die Türschwelle treten konnte.   Der Raum war riesig. Große Bücherregale reichten bis hoch an die Decke. Alles in allem wirkte das Zimmer sehr urig. Die Regale bestanden aus massivem Holz. Erstaunt betrat der Schwarzhaarige den Gang und ließ seinen Blick schweifen. Alle möglichen Bücher stachen ihm ins Auge – hauptsächlich Sachbücher. Neugierig platzierte Tobio seine Fingerkuppen auf dem Holz und fuhr diese entlang, während er weiter voranschritt. Sugawara war dicht hinter ihm.   „Du musst wissen, viele Schüler verbringen hier noch den Rest des Nachmittags. Hier findet man die Ruhe, die man teilweise zuhause nicht hat. Unteranderem finden hier auch Nachhilfestunden und Gruppensitzungen für alle möglichen Projekte statt. Du sagtest ja, dass du Probleme mit dem Unterrichtsstoff hast. Möglicherweise wirst du hier sogar fündig.“   Tobio hörte seinem Klassenkameraden weiterhin zu, während seine blauen Augen die Bücherrücken genauer in Augenschein nahmen. Plötzlich hielt er in seiner Bewegung inne und griff nach einem alten Buch, das schon sehr stark mitgenommen aussah. Es besaß einen rubinroten Einband und eine schöne, geschwungene, goldene Schrift zierte den Buchdeckel.   //Antike Kunstgeschichte…interessant…//   Neugierig schlug Tobio die erste Seite auf. Das Buch musste schon sehr alt sein. Die Schrift stammte noch aus den letzten Epochen. Der Schwarzhaarige hatte sich schon damals für die Kunstgeschichte interessiert und kannte die unterschiedlichen Kunstepochen. Ihm war nicht nur die japanische Kultur bekannt, sondern auch die europäische. Sei es die Romanik, bis hin zur Gotik oder zur bekannten französischen Renaissance. Allgemein hatten ihn die Bauwerke in den Bann gezogen. Als das Thema in der Schule behandelt wurde, war Tobio Klassenbester gewesen.   Während der Schwarzhaarige tief in seinen Gedanken versunken war, bekam er nicht mit wie sich jemand versuchte an ihm vorbei zu schleichen.   „Ehm, Verzeihung…. dürfte ich bitte an Ihnen vorbei?“, dieser jemand trug einen ganzen Stapel Bücher vor sich und versuchte die Balance zu halten. Die Bücher versperrten ihm die Sicht, sodass er wenige Sekunden später mit Tobio zusammenstieß, bevor dieser überhaupt reagieren konnte.   Es machte laut Rumps! Tobio verlor das Gleichgewicht und fiel gegen das Bücherregal und schlug sich am Holzrahmen den Hinterkopf an. Bevor der Schwarzhaarige wusste wie ihm überhaupt geschah, wurde ihm schwarz vor Augen und fiel zu Boden.                 „…“   „Kageyama, geht es dir gut? Hey!“, Sugawara rüttelte an dem Schwarzhaarigen und schlug ihm mehrmals vorsichtig an die Wange.   „…“   „Oh nein, Suga… das war keine Absicht!“   „Es war ein Unfall, Hinata. Beruhige dich bitte…“   „Trotzdem! Ich hätte nicht so viele Bücher schleppen sollen! Ich bin doch so ein Idiot!“, diese Stimme klang so wunderschön. Sie war zwar tief, aber dennoch vernahm Tobio die Wärme, die in ihr inne lag. Ein wolliger Schauer lief seinen Rücken hinunter.   „Hey Kageyama! Aufwachen!“   „Ngh…“, vorsichtig öffnete Tobio seine Augen. Bevor er sich Sugawara widmete, ließ er seinen Blick wandern. Um ihn herum lagen Unmengen an Bücher kreuz und quer auf dem Boden verteilt. Stimmt – er war doch eben mit jemandem zusammengestoßen. Als Tobio zu Sugawara hochsah, hielt er in seiner Bewegung inne. Hinter dem Grauhaarigen stand noch eine weitere Person. Er brauchte eine Weile, um sich zu sammeln. In seinem Kopf drehte sich alles. Schmerzlich zischend presste Tobio seine Hand an seine Schläfe. Sein Blickfeld war noch ganz verschwommen und sein Schädel pochte.   „Hey, geht es dir wieder gut?“, die Person, die hinter Sugawara stand, ging vor Tobio auf die Knie und berührte seine Hand, die sich immer noch an seiner Schläfe befand. Ein angenehmes Prickeln breitete sich auf Tobios Hand aus. Dieser jemand war ihm so nahe in diesem Moment. Der Schwarzhaarige konnte dessen Parfüm genau riechen. Es roch nach Kokos mit einer Mischung aus Grapefruit. Herb, aber doch süßlich. Er roch so verdammt gut. Langsam klarte Tobios Blickfeld wieder auf.   Neben ihm kniete ein junger Mann. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd. Über dem Hemd befand sich ein cremefarbiger Pullunder. Da sich hinter dem jungen Mann direkt das Fenster befand, wurde dessen Rücken von der Sonne angestrahlt. Orangefarbige Haare fielen ihm ins Gesicht und eine goldene Brille umrahmte seine rehbraunen leuchtenden Augen. Tobio blieb ein schwerer Kloß im Hals stecken – er war unfähig etwas zu sagen. Stattdessen sah er den Orangehaarigen einfach nur an, der weiterhin neben ihm kniete und sich leicht über ihn gebeugt hatte. Saphirblau traf auf Goldbraun, das in diesem Moment dem Mineral Quarz Tigerauge ähnelte. Noch nie hatte Tobio solch intensive Augen gesehen. Er verlor sich regelrecht in diesen Seelenspiegeln.   //Wie wunderschön~//   Sein Herz setzte aus und ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Bauchgegend breit. Tobio konnte nicht mehr als ein gebrochenes Flüstern hervorbringen. Seine Stimme drohte erneut den Dienst zu versagen.   „Ja, ist... noch alles dran...“, erst in diesem Augenblick fanden Tobios Gedankengänge wieder zueinander. Seine blauen Augen weiteten sich. War das denn die Möglichkeit? Es war nicht irgendjemand, der gerade neben ihm am Boden kniete und ihm so nah war – ihn sogar an seiner Hand berührte.   Tobio hatte schließlich seit Wochen nach ihm gesucht und ausgerechnet heute an seinem ersten Schultag lief dieser jemand praktisch in ihn hinein. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz.       „Moment mal, du bist doch…“     Kapitel 10: Akt I: Part X– first sight --------------------------------------   [10 Minuten zuvor]       „Shoyo?“   „…“, der Angesprochene reagierte erst nicht auf seinen Namen, zu sehr war er in seiner Lektüre vertieft, die er gerade in seinen Händen hielt. Es war immer so, wenn er in seinen Schulbüchern vertieft war. Da sein Alltag komplett routinemäßig durchgeplant war, verbrachte der junge Mann die Zeit zum Lernen immer nach Unterrichtsschluss in der Bibliothek. Hier fand er zumindest für wenige Stunden Zeit für sich. Nichts und niemand konnte ihn hierbei aus der Ruhe bringen. Gedankenversunken rückte er seine Brille zurecht und schlug eine Buchseite weiter.   „Shoyo!“, erst als der Orangehaarige ein Tippen an seiner Schulter spürte, befand er sich von hier auf gleich wieder im hier und jetzt.   „Hm?“, irritiert sah der Angesprochene auf und widmete seine Aufmerksamkeit seinem Gegenüber, der sich zurück in seinen Sessel sinken ließ. Es handelte sich hierbei um einen jungen Mann mit mittellangem blondiertem Haar. Am Haaransatz zeigte sich allerdings dessen Naturhaarfarbe – Dunkles Braun. Sein Mitschüler war wieder komplett in seiner Spielkonsole versunken. Immer wieder kaute er auf einem Zahnstocher herum.   „Was ist denn los, Kenma?“, fragend hob Shoyo eine Augenbraue nach oben und legte seinen Kopf schief. Zuerst hat er ihn angesprochen und nun war die Spielekonsole wieder wichtiger.   Der Blonde sah kurz auf und fixierte den Orangehaarigen mit seinen goldenen Iriden, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder der Handkonsole schenkte.   „Wie lautet nochmal der Code für die Freischaltung vom Schlüsselschwert? Ich habe mein Notizbuch gerade nicht da. Ich komme hier aktuell nicht weiter“, immer wilder tippte der Blonde auf der Konsole herum und schlug seine Beine über Kreuz.   Ein genervtes Fluchen drang aus seinen Lippen. Eine Zornesader bildete sich bereits an seiner Schläfe. Es war mehr als offensichtlich, dass Kenma genervt war und kurz davor war die Fassung zu verlieren. Bei der letzten Aktion hatte er schon vor lauter Wut die Nintendo Switch aus dem Fenster geworfen – ein Wunder, dass die Konsole das tatsächlich überlebt hat.   „2PXT!“, antwortete Shoyo und lächelte seinen Kumpel an, der, nachdem er den Code eingegeben hatte, ein freudiges „Yuhuu!“ von sich gab und die Faust nach oben hielt. Binnen einer Sekunde war die schlechte Laune versiegt. Bei dem Anblick musste der Orangehaarige erneut grinsen.   Kenma war einer seiner besten Freunde. Früher hatten sie immer zusammen gezockt und zig Spieleabende bis tief in die Nacht miteinander verbracht. Sie kannten jedes Game in und auswendig. In der Mittelschule waren sie unter dem Namen „Gaming Nerds“ bekannt gewesen. Sie kannten jeden Bug im Spiel und die Codes konnten sie im Schlaf aufsagen. Eine schöne Zeit, an die sich Shoyo nur zu gern zurückerinnerte. Allerdings führten diese Erinnerungen ihm auch immer wieder vor Augen, was er einmal besaß – welch Freude er damals in seinem Leben hatte. Sein Innerstes zog sich schmerzlich zusammen – Wehmut stieg in ihm auf. Bevor der Orangehaarige jedoch weiter in alten Zeiten schwelgen konnte, riss ihn eine weitere Stimme aus seinen Gedanken.   „Meine Güte, würdest du deine Energie bloß einmal für dein Gehirn verwenden, anstatt für den Spielekram…“, neben Kenma saß ein weiterer Mitschüler, der gerade dabei war, einen Aufsatz zu schreiben. Er besaß lockiges kurzes blondes Haar und eine schwarze Brille. Genervt sah der Kleinere zu seinem Nachbarn.   „Ich wüsste nicht, was es dich angeht… Lass mich doch...“, beleidigt blies Kenma seine Backen auf und warf dem Größeren einen scharfsinnigen Blick zu.   „Du könnest weitaus bessere Noten haben! Das ist dir klar, oder?“   „Mensch, Tsukishima! Nerv jemand anderen mit deinem unnötigen Gelabber! Ich lerne halt abends, als Nachteule bin ich dazu in der Lage“, ein freches Grinsen zierte Kenmas Lippen, als er erneut zu seinem Klassenkameraden aufsah.   „Tzk, wenn du meinst?“, verächtlich zuckte der Blonde mit seinen Schultern und fixierte seine Brille, die ihm etwas vom Nasenrücken gerutscht war.   „Aber so hab ich immerhin weniger Konkurrenz, nicht wahr, Hinata?“, der Größere sah schließlich zu Shoyo rüber, der schräg gegenüber vor ihm saß. In seinen Augen flackerte die Herausforderung, dessen war sich der Kleinere bewusst.   Der Orangehaarige schüttelte nur den Kopf und widmete sich wieder seinem Buch. Das war Kei Tsukishima, wie er leibt und lebte. Er strebte den schulbesten Abschluss an und er stand ihm im Weg. Dabei lernte Shoyo nicht dem Ruhm wegen. Er hatte ein ganz anderes Ziel. Schließlich will er später mal gut Geld verdienen, um sich und seiner kleinen Schwester ein gutes Leben bieten zu können. Dazu war ein guter Schulabschluss die Grundvoraussetzung.   Es waren Dinge, die seine Klassenkameraden nicht verstanden – vor allem Tsukishima nicht. Der Blonde sah ihn stets als Konkurrenten an, wobei Shoyo hierauf keinen Wert legte. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb der Größere ihn als „arrogant“ und „besserwisserisch“ bezeichnete. Dabei passten die Bezeichnungen besser zu Tsukishima selbst.   „Ach, da seid ihr ja!“, ein weiterer Mitschüler gesellte sich zu ihnen hinzu. Seine weißen Haare standen zu Berge und seine Augen erinnerten an die eines Laubfrosches. Die grünen Augen schauten auf Shoyo herab, der wieder in seinem Schulbuch vertieft war. Neugierig sah er über dessen Schulter.   „Ehm… Hinata, weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, irritiert sah der Weißhaarige schließlich zur Wanduhr auf, die gegenüber an der Wand hing. Nachdenklich kratzte er sich daraufhin am Hinterkopf.   „Warum fragst du, Hoshiumi?“   „Weil wir inzwischen 15 Uhr haben. Beginnt deine Schicht nicht in einer Stunde?“   Augenblicklich hielt der Orangehaarige inne.   „WAS SO SPÄT SCHON??“, geschockt sah Shoyo auf. Ein Blick auf die Uhr genügte, um zu realisieren, dass sein Klassenkamerad Recht hatte. Verdammt – er war schon viel zu spät dran.   „Super, danke Hoshi – ich bin dir was schuldig!!“, so schnell der Orangehaarige konnte, sammelte er die Bücher zusammen. Hastig stapelte er sie aufeinander und hob den Stapel hoch.   „Ach Quatsch! Pass lieber auf, dass du niemanden umrennst. Sicher, dass du das allein schaffst? Sieht schwer aus…“, der Weißhaarige hingegen musterte den Kleineren und legte seine Stirn in Falten.   „Nein! Nein! Passt schon, danke. Ich muss dann auch los, bye~“, Shoyo verabschiedete sich schließlich von seinen Klassenkameraden und machte sich auf den Weg. Während er einen Schritt vor den nächsten tätigte, dachte er bereits an die heutige To-Do-Liste, die er noch abzuarbeiten hatte.   Zu allem Übel erwartete ihn heute auch noch eine Sonderschicht auf der Arbeit. Er arbeitete als Kellner in einem sehr noblen Restaurant und heute fanden dort gleich zwei geschäftliche Meetings statt. Somit ging seine Schicht heute wieder sehr lange. Wenn er sich gut dranstellte, bedeutete dies auch, dass es wieder viel Trinkgeld gab. Zum Glück war Natsu heute nach der Schule bei einer Bekannten.   Tante Mura war eine alte Freundin der Familie und nahm die Kleine regelmäßig zu sich, wenn der Orangehaarige arbeiten musste. Früher schon hatte die alte Dame oft auf sie aufgepasst. Er verband mit ihr sehr tolle Erinnerungen, die er nicht missen wollte. Tante Mura war schließlich auch schon um die 60 Jahre alt. Sie genoss ihre Rente in vollen Zügen und sagte auch selbst schon, dass er und Natsu wie Enkelkinder für sie wären, die sie gerne betreute. Sie war inzwischen Witwe und ihre vorherige Ehe war auch kinderlos geblieben. Deswegen verbachte sie viel Zeit mit der Kleinen. Sie war eine hilfreiche Stütze. Sie taten sich gegenseitig gut. Vor allem Natsu ließ die alte Dame wieder jung erscheinen. Ein zärtliches Lächeln schlich sich auf Shoyos Lippen. Er war froh, dass sie alle gesund und wohlauf waren.                 Langsam schritt er weiter voran und hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten. Die Bücher waren verdammt schwer – nichts im Vergleich zu einem vollen Tablett, das er inzwischen einwandfrei balancieren konnte. Zudem versperrte ihm der Bücherstapel auch noch die Sicht.   „Ehm… Verzeihung… dürfte ich bitte an Ihnen vorbei?“, Shoyo hatte mitbekommen, dass jemand vor ihm stehen musste, aber leider kam die Reaktion seines Gegenübers zu spät. Bevor der junge Mann wusste, wie ihm geschah, lief er nichtsahnend in seinen Vordermann hinein. Lautes Gepolter folgte und ein lauter Knall.   „Oh nicht doch.“, hilflos sah sich Shoyo in dem Chaos um.   Die Bücher lagen kreuz und quer auf dem Boden verteilt. Als er auch noch einen jungen Mann vor sich liegen sah, der zuvor mit seinem Hinterkopf gegen das Bücherregal geknallt war, ließ die Panik in ihm aufsteigen. Zu allem Überfluss war sein Gegenüber auch noch bewusstlos.     //Shit!! Shit!! Das ist gar nicht gut!!//     Langsam, aber sicher verlor der Orangehaarige seinen letzten Funken an Selbstbeherrschung. Die Panik übernahm immer mehr seinen Verstand – sein Körper begann bereits zu zittern. Das braune Augenpaar war immer noch auf den Schwarzhaarigen gerichtet.   „Oh nein... oh nein…“, immer wieder murmelte er dieselben Worte.   Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Erst jetzt registrierte der junge Mann, dass er mit dem Bewusstlosen nicht allein war.   „Ganz ruhig Hinata...“   Als Shoyo aufsah, blickte er in ein braunes Augenpaar, das ihn herzlich ansah. Er kannte den jungen Mann, der gerade vor ihm stand.   „Oh nein, Suga... das war keine Absicht.“   „Sh… das bekommen wir wieder hin… Es war ein Unfall, Hinata. Beruhige dich bitte, ja?“   „Trotzdem! Ich hätte nicht so viele Bücher schleppen sollen. Ich bin doch so ein Idiot“, die Hände des Kleineren ballten sich zu Fäusten. Schuldgefühle übermannten ihn – wegen seiner Dummheit war ein Beteiligter zu Schaden gekommen.     //Oh Kami… es tut mir leid…//     Vorsichtig kniete sich der Silberhaarige vor den Bewusstlosen und rüttelte an ihm. Shoyo stand einfach nur hintendran. Er fühlte sich so hilflos.   „Kageyama… hey Kageyama… Aufwachen.“   Erst in diesem Augenblick hatte Shoyo die Gelegenheit einen genauen Blick auf den Schwarzhaarigen zu werfen. Seine Strähnen hingen ihm tief ins Gesicht und seine Mimik wirkte friedlich. Seine blasse Haut leuchtete im Licht der untergehenden Sonne hinter ihm auf. Für einen Moment fühlte sich der Kleinere regelrecht hypnotisiert.     //Was für ein hübsches Gesicht...//     „Kageyama! Aufwachen!“   Immer noch stand Shoyo an Ort und Stelle und konnte seinen Blick nicht von dem Schwarzhaarigen abwenden, der daraufhin nach wenigen Minuten zu sich kam. Vorsichtig öffnete dieser seine Augenlider und für einen Moment stand Shoyos Welt still. Seine braunen Iriden blickten in ein tiefes Meeresblau, in dem man augenblicklich versinken konnte. Noch nie hatte er solch intensive Augen gesehen. Während Kageyama sich vorsichtig aufrichtete, hielt er sich die Schläfe. Er musste Schmerzen haben. Wieder stiegen Schuldgefühle in Shoyo auf, weshalb er langsam vor dem Größeren auf die Knie sank. Wie von selbst fand seine rechte Hand zu Kageyamas Hand, die sich weiterhin an seiner Schläfe befand.   „Hey, geht es dir wieder gut?“, erneut trafen sich ihre Augenpaare. Die Anziehungskraft, die zwischen ihnen herrschte, konnte Shoyo nicht in Worte fassen. Erneut sah er dem Schwarzhaarigen tief in die Augen. Er konnte einfach nicht wegsehen.   Es dauerte eine Weile, ehe der Größere schließlich antworten konnte. Der Blickkontakt zwischen den Beiden blieb weiterhin bestehen.   „Ja, ist… noch alles dran…“, Kageyama stand definitiv noch komplett neben sich. Aber ihm schien es so weit gut zu gehen. Erleichterung machte sich in Shoyo breit. Ein kleines Lächeln zierte seine Lippen, ehe er sich schließlich aufrichtete. Währenddessen sah der Schwarzhaarige den Kleineren genauer an. Er schien erst mit sich zu hadern.   „Moment mal, du bist doch…“, bevor Kageyama das Wort an ihn richten konnte, wurden sie durch einen lauten Ruf unterbrochen.   „Shoyo! Da bist du ja!“, eine junge Frau kam auf den Orangehaarigen zu gerannt und blieb neben ihm stehen. Schwer atmend stemmte sie ihre Hände auf die Knie.   „Yachi…“, der Orangehaarige sah die junge Frau irritiert an. Wieso war sie so in Eile? Als ob die Blondine gerade seine Gedanken gelesen hätte, erhob sie sich und verschränkte ihre Arme vor ihrem Oberkörper.   „Meine Güte Shoyo! Ich hab dich schon überall gesucht. Wir wollten doch zusammen zum Dinner laufen! Ich warte schon seit 15 Minuten vor dem Eingang!“   Plötzlich fiel dem Orangehaarigen wieder ein, weshalb er es eben noch so eilig hatte. Deswegen hatte Yachi nach ihm gesucht. Das hatte er im Eifer des Gefechts total vergessen!   „Oh verdammt – es tut mir leid. Mir ist ein kleines Malheur passiert“, entschuldigend signalisierte er mit seinem Kopf Richtung Boden, wo die Bücher immer noch kreuz und quer verteilt lagen. Yachi schüttelte fassungslos den Kopf.   „Achje… du bist mir ja auch ein Dussel! Du ziehst das Chaos echt magisch an, was? Ich gehe dann schonmal vor und sage unserem Chef Bescheid, dass es bei dir ein paar Minuten später wird, ja?“, manchmal könnte Shoyo die Blondine einfach nur umarmen. Herzlich nickte der junge Mann ihr zu.   „Ich danke dir, Yachi~“   Zuvor verabschiedete sich die junge Frau noch von den anderen und machte sich auf den Weg. Shoyo sah ihr eine Weile nach. Yachi Hitoka war seine beste Freundin – mit ihr konnte man Pferde stehlen. Sie war ein Jahr jünger als er und ging in die 2A. Zudem war sie auch diejenige, die ihm den Job im Dinner verschafft hatte. Schließlich war ihr Vater der Inhaber des noblen Restaurants. Die Beiden arbeiteten regelmäßig zusammen, sodass die Zeit immer schnell verging. Sie hatten viel Spaß und dafür war der Orangehaarige ihr mehr als dankbar. Sie stand ihm in so vielen Situationen bei. Auch teilten sie dasselbe Hobby - die Blondhaarige war nämlich ebenfalls Musikerin. Mit ihrem Keyboard leistete sie ihm öfters Gesellschaft, wenn er denn mal die Zeit dazu fand sich mit seiner Violine zu beschäftigen.   Schließlich widmete Shoyo seine Aufmerksamkeit wieder Sugawara und Kageyama, der sich zwischenzeitlich taumelnd erhoben hatte. Erst jetzt fiel ihm auf wie riesig der Schwarzhaarige war. Kageyama musste mindestens 15 cm größer sein als er. Allein vom Hochsehen, wurde dem Orangehaarigen flau im Magen. Unbehagen machte sich langsam in dem Kleineren breit und Unwohlsein stieg in ihm auf. Er musste zugeben, dass Kageyama gutaussehend war, aber dennoch vergas er nicht, wo ihre Grenzen lagen. Zu oft hatte Shoyo diese Grenze von seinesgleichen zu spüren bekommen.   Den Größeren gehörte der Himmel – er hingegen musste sich mit dem Boden zufriedengeben.   Sofort machte sich Shoyo an die Arbeit und hob ein Buch nach dem anderen auf. Kageyama schien ihn herbei genau zu beobachten. Er hatte zwischenzeitlich auf einem Sessel Platz genommen. Das blaue Augenpaar behielt ihn genau im Auge. Sugawara war zwischenzeitlich im Krankenzimmer verschwunden, um dem Schwarzhaarigen ein Kühl-Akku zu besorgen. Somit war der Orangehaarige mit dem Größeren momentan allein. Shoyo spürte, wie Panik in seine Glieder kroch. Er wusste, dass er niemanden vorverurteilen sollte – doch vor großen Typen hatte er Angst. Um dieser unwohlen Situation zu entfliehen, beschleunigte er sein Tempo. Dabei war er jedoch so hektisch, dass eines der Bücher wieder aus seiner Hand fiel.   „Shit!!“, fluchte der junge Mann vor sich hin und wollte gerade nach dem Buch greifen, als eine fremde Hand ihm zuvorkam.   „Hier…“, eine tiefe Stimme wand das Wort an ihn, woraufhin ein eiskalter Schauer über Shoyos Rücken wanderte. Schwer schluckend hielt der Orangehaarige in seiner Bewegung inne und schaute auf.   Kageyama war vor ihm in die Hocke gegangen, hatte das Buch aufgehoben und hielt es dem Kleineren entgegen. Nun war der Größenunterschied nicht mehr so gewaltig. Blaue Iriden sahen den Orangehaarigen eindringlich an. Jene Augen, die den Kleineren schon von Anfang an in den Bann gezogen hatten.   Für einen Moment hielt Shoyo den Atem an, als er das Buch an sich nehmen wollte. Ihre Finger berührten sich hierbei nur eine Sekunde, doch diese reichte aus, um dem Kleineren einen weiteren Schauer über den Rücken zu jagen. Kageyama war so freundlich zu ihm – dass er trotz seines Gesundheitszustands sogar bereit war ihm zu helfen.   „Danke…“, flüsterte Shoyo und konnte seinen Blick nicht abwenden. Er ergriff nicht die Flucht – er blieb standhaft. Sein Blick blieb standhaft. Etwas faszinierte ihn an seinem Gegenüber.   Shoyo war es gewohnt, dass Größere ihre Macht und Überlegenheit demonstrierten. Dass sie Kleineren zeigten, wo deren Platz war. Einige unschöne Aufeinandertreffen mit Ushijima waren für seine Ängste verantwortlich – hatten ihm die einen oder anderen Alpträume beschert.       […] „Ein Insekt wie du gehört auf den Boden – am besten zertreten wie eine kleine Küchenschabe!“ […]       Allein, wenn er an Ushijimas Worte vor den Sommerferien dachte, stellten sich seine Nackenhaare zu Berge. Traurig wand Shoyo schließlich den Blickkontakt ab und widmete seine Aufmerksamkeit dem Boden vor sich. Sein ganzes Leben lang musste er sich schon mit solchen Ignoranten und Idioten auseinandersetzen.       […] „Zwerge sollten unter sich bleiben – wer will sich schon mit so einem Abschaum abgeben!“ […]       Die beleidigenden Worte hatten ihre Wirkung nicht verloren. Sie waren immer noch so scharf wie ein Messer, das tiefe Wunden in sein Herz rammte. Fest drückte Shoyo die Bücher an sich und biss die Zähen aufeinander. Er fühlte sich hin und her gerissen.   Tief in Gedanken versunken sah das braune Augenpaar wieder auf. Sollte er tatsächlich einen Schritt auf sein Gegenüber zugehen? Er wusste nicht was er sagen sollte. Wusste nicht, ob er ein Gespräch beginnen sollte. Langsam erhoben sich die Beiden und Shoyo wand dem Schwarzhaarigen schließlich den Rücken zu. Der Orangehaarige konnte sich einfach nicht entscheiden – sollte er tatsächlich seine Komfortzone verlassen? Die Entscheidung wurde ihm jedoch abgenommen, als er wieder diese schöne tiefe Stimme hinter sich vernahm.   „Warte bitte…“, der Schwarzhaarige hatte seine Hand nach dem Kleineren ausgestreckt. Es wirkte so, als ob er ihn in diesem Moment aufhalten wollte.   Inzwischen war die Sonne hinter den Gebäuden verschwunden und warf ihre letzten Sonnenstrahlen durch das Fenster, das sich zwischen ihnen befand. Shoyo drehte sich daraufhin um und sah seinem Gegenüber wieder tief in die Augen. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den meeresblauen Iriden wider. Die Ausdrucksweise kam ihm auf sonderbare Weise bekannt vor.   „Wie lautet dein Name?“, wieder hallte diese ausdrucksstarke Stimme durch den Raum. Der Angesprochene stand wie angewurzelt da. Es fiel Shoyo generell schwer Vertrauen zu fassen. Die meisten Schüler hielt er auf Abstand, aber an Kageyama vermochte er etwas zu erkennen, dass er nicht in Worte fassen konnte.     War es, weil der Schwarzhaarige so höflich ihm gegenüber gestimmt war? Waren es immer noch die Schuldgefühle, weil er für dessen Schmerzen verantwortlich war? Oder war es das Gesamtpaket, das ihn in den Bann zog?     „Shoyo Hinata…“, kam ihm schließlich über die Lippen und sah weiterhin gebannt den Größeren vor sich an.   Der Schwarzhaarige stand einfach nur da. Auf den ersten Blick wirkte seine Gestalt bedrohlich. Die Eiseskälte, die er durch seine Mimik nach außen trug, war selbst für Shoyo spürbar. Eigentlich war er genau die Sorte Mann, vor der sich der Kleinere immer in Acht nahm und einen großen Bogen drumherum machte. Aber warum sprachen seine Augen dann eine ganz andere Sprache? Wer war dieser sonderbare Kerl?   „Und du?“, der Orangehaarige wusste nicht, was dieses chaotische Aufeinandertreffen zu bedeuten hatte.   „Tobio Kageyama…“, antwortete der Größere und verneigte sich daraufhin vor dem Orangehaarigen, der ihn immer noch gefesselt ansah. Ein Riese verneigt sich vor einem minderwertigen Zwerg. Unglaube spiegelte sich in dem braunen Augenpaar wider. Eines war sich Shoyo in diesem Augenblick ganz gewiss – etwas hatte sich verändert.             Allerdings war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, dass sich sein Schicksal, mit dem des Schwarzhaarigen kreuzen sollte. Der erste rote Faden war gesponnen und es war nur eine Frage der Zeit, bis beide Beteiligten dies realisieren sollten.     Kapitel 11: Akt I: Part XI – hero and savior I ---------------------------------------------- Seit jenem seltsamen Aufeinandertreffen waren bereits zwei Wochen vergangen. Wenn Tobio so drüber nachdachte, war viel passiert und es fühlte sich immer noch so an, als sei das alles erst gestern geschehen. Sugawara hatte ihn nach dem Vorfall direkt zum Schularzt gebracht. Kira und Keishin sind wortwörtlich aus allen Wolken gefallen, als Tobio mit Sugawara nach Hause kam und sein Klassenkamerad die missliche Lage erklären musste. Es konnten immerhin die Wenigsten behaupten sich am ersten Schultag schon eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen zu haben. Der Aufruhr war riesig. Vor allem sein Bewährungshelfer war außer sich.   „Du verdammter Vollidiot! Dich kann man keine Sekunde aus den Augen lassen!! “   Tobio durfte sich tagelang anhören, dass man ihn ohne eine Aufsichtsperson nicht unter die Leute lassen durfte – als ob er wie ein Kleinkind kontrolliert werden müsste.   „Keishin, jetzt beruhige dich doch! Es war ein Unfall!“   Kami sei Dank war Kira auf Tobios Seite und konnte diesen Vorschlag direkt verwerfen. Sie war der Meinung, dass es nun mal zum Erwachsenwerden dazugehörte.   „Ma, fall mir gefälligst nicht in den Rücken, verdammt! Wie kommt das denn rüber?!“   „Meine Güte, er ist ein junger Erwachsener, Keishin! Wir können ihn nicht Rund um die Uhr kontrollieren. Tobio muss seine eigenen Erfahrungen sammeln! Außerdem hat Sugawara-san doch erzählt, dass es ein Unfall war!“   Die Diskussionen, die Mutter und Sohn führten, waren mehr als nervig und zogen sich über mehrere Tage hin. Aber sie kamen schlussendlich zu einer Einigung. Somit war Tobio gezwungen es von fort an langsamer angehen zu lassen. Sämtlichen Überanstrengungen musste der Schwarzhaarige fürs Erste aus dem Weg gehen. Es war also kein Wunder, dass der junge Mann bereits während seinen ersten Schulwochen mehr als genervt war. Warum musste auch ausgerechnet ihm so ein Missgeschick passieren?!   Was Tobio allerdings mehr Unbehagen bereitete, war die Tatsache, dass er seit jenem Tag Hinata kein einziges Mal mehr zu Gesicht bekommen hatte. Weder in der Schule – auf dem Pausenhof – noch in der Bibliothek. Der kleine Kerl war wie vom Erdboden verschluckt. Oder ging er ihm sogar absichtlich aus dem Weg?   Dem jungen Mann war der ängstliche Gesichtsausdruck, der sich in diesem einzigartig braunen Augenpaar widergespiegelt hatte, nicht entgangen - aber er hatte versucht so gut es ging, die Lage zu entschärfen. Tobio hatte die letzten Tage viel Zeit damit verbracht über das vergangene Geschehen nachzudenken und kam zum Entschluss, dass Hinata vor irgendetwas Angst haben musste. Die Art und Weise wie er ihn angesehen hatte – es tat weh. Der Anblick tat schrecklich weh. War er wirklich so ein schreckliches Monster? Dabei hatte Tobio doch alles richtig gemacht. Er war nett zu ihm, hat sich ihm vorgestellt und hat ihm sogar geholfen. Also was genau hatte er falsch gemacht?   Nachdenklich kickte der junge Mann einen Kieselstein vor sich her, während sein Blick teilweise zu Boden gerichtet war. Seine Hände waren in seinen Hosentaschen verborgen. Momentan war er allein auf dem Schulanwesen unterwegs. Anscheinend strahlte seine „eisige“ Aura heller als ursprünglich angenommen. Hielt sich Hinata möglicherweise aus diesem Grund von ihm fern?   „Verdammt nochmal!“, nuschelte Tobio in seinen nicht vorhandenen Bart und kickte den Kieselstein schließlich zur Seite, ehe er das Schulgebäude betrat. Es brachte alles nichts. Er musste aufhören nachzudenken! Sein Kopf musste mal zur Ruhe kommen! Seit er vor zwei Wochen hier auf die Schule gekommen war, wollten seine Gedanken einfach nicht stillstehen! Selbst im Schlaf fand er keine Entspannung! Seine Augenringe wiesen inzwischen schon schwarze Ränder auf.   //Die müssen mich doch alle für einen irren Psycho halten…//   Seufzend schlenderte der Schwarzhaarige durch den Schulkorridor und peilte den Brunnen an, der sich außerhalb auf dem Hof befand. Gedankenversunken nahm er auf den Granitplatten Platz und schaute zum Himmel auf. Weiße Wolken schwebten am Himmel und zogen ihre Bahn. Gleichzeitig wehte ihm eine frische Brise durchs Gesicht. Für einen Moment schloss Tobio seine Augen und versuchte zumindest für einen Moment abzuschalten. Allerdings gab es neben dem Orangehaarigen noch einen weiteren Aspekt, den er leider nicht ignorieren und zur Seite schieben konnte. Sein Problem - die Menge des Schulstoffs. Der Schwarzhaarige hatte schon nach zwei Tagen gemerkt, dass er große Defiziten aufwies. Es war Jahre her, wo er das letzte Mal Schulstoff pauken musste – er musste zugeben, dass er die Lage sehr unterschätzt hatte. Er brauchte einen Nachhilfelehrer – so viel stand fest.   Sugawara hatte schon versucht ihm das eine oder andere zu erklären, aber die Art und Weise wie der Silberhaarige versuchte die Themen rüberzubringen, prallten seine Worte regelrecht an Tobios innerer Mauer ab. Es war frustrierend – er verstand nur Bahnhof. Genervt fuhr sich Tobio durch die Haare. Das Dilemma wollte einfach kein Ende nehmen.   „Scheiße…“, fluchte der Schwarzhaarige und legte seinen Kopf in den Nacken. Warum tat er sich das alles noch einmal genau an? Stimmt, es war seine Bewährungsauflage. Bis jetzt hatte er auch noch keinem von seiner Vergangenheit erzählt und er hatte auch nicht vor, dass so schnell zu ändern. Tobio blendete in diesem Moment sein komplettes Umfeld aus und bekam nicht mit, dass ihn jemand die ganze Zeit aus der Ferne beobachtete.                 Shoyo saß auf der Schulmauer und hatte den Schwarzhaarigen die ganze Zeit über aus der Ferne beobachtet. Nachdenklich zog er die Knie nah an sich heran und platzierte sein Kinn auf den Kniescheiben. Neben ihm saß Kenma, der wieder einmal mit Zocken beschäftigt war. Auf der anderen Seite saß Hoshiumi, der sich seitlich hingelegt hatte und den Pausenhof genau im Blick hatte.   „Meine Güte, ist der Schulhof wieder so voll. Echt ätzend“, murmelte der Weißhaarige und tippte auf seinem Handy herum, das neben ihm auf der Mauer lag.   „Was will man machen, Hoshi. Das nennt man Normalität“, Kenma sah kurz vom Bildschirm auf und hielt sich die Hand schützend vor die Augen. Die Sonne schien ihm genau ins Gesicht.   „Pah… Realität… das ist einer der Gründe, weshalb ich öffentliche Plätze meide…“   „Wir wissen, dass du Platzangst hast.“   „Kenma, du Vollidiot – Posaun es noch lauter rum, sodass jeder dich hört!“   „Der Einzige, der gerade laut ist, bist du Hoshi..“   „Schnauze!“   Shoyo hingegen blendete die Streitereien seiner Klassenkameraden komplett aus. Seine braunen Iriden hatten immer noch den Schwarzhaarigen genau fixiert. Dieser Kageyama hatte seine Neugier geweckt. Seit jenem Tag ging der Schwarzhaarige ihm nicht mehr aus dem Kopf. Der Orangehaarige hatte sich die letzten Tage absichtlich bedeckt gehalten. Er wollte ihn einfach nur aus der Ferne beobachten – sich ein genaues Bild von ihm machen. Der Größere hatte ihm zwar bei ihrem ersten Aufeinandertreffen signalisiert, dass von ihm keine Gefahr ausging, aber Shoyo wollte trotz allem auf Nummer sicher gehen. Bis jetzt hatte er keine Verhaltensweisen an ihm bemerkt, die ihn beunruhigen sollten. Kageyama erwies sich als sehr hilfsbereit. Die Pausen verbachte er jedoch größtenteils allein. Nur selten war er mit Kuroo, Miya oder Sawamura unterwegs. Er hatte ihn ab und an mal zusammen mit Sugawara den Pausenhof entlanglaufen sehen, aber das war auch eher eine Seltenheit. Wenn Shoyo ihn richtig kategorisierte, handelte es sich bei dem Größeren wohl um einen Einzelgänger.   „Du, Hinata?“   „Hm?“, der Orangehaarige wand sich schließlich Hoshiumi zu, der sich zwischenzeitlich aufrecht hingesetzt hatte. Dessen Beine wippten hin und her, während der Weißhaarige wieder zum Himmel aufsah.   „Hast du eigentlich über Akaashis Worte noch einmal nachgedacht?“   „…“, Shoyo widmete seine Aufmerksamkeit dem Boden. Seine Hände bildeten sich zu Fäusten. Sicher hatte er darüber nachgedacht – aber es ging einfach nicht.   „Also?“, Hoshiumi war für seine Hartnäckigkeit mehr als bekannt. Der Orangehaarige wusste, dass sein Klassenkamerad und Tischnachbar nicht lockerlassen würde.   Seufzend widmete der Kleinere seine Aufmerksamkeit wieder seinem Klassenkameraden, der immer noch auf eine Antwort zu warten schien. Zumindest ließ sein Gesichtsausdruck genau dies vermuten.   „Ja… hab ich…“, kam es dem Kleineren knirschend über die Lippen.   „Und? Machst du es?“, nun meldete sich auch Kenma zu Wort, der gerade seine Konsole in seinen Rucksack verstaut hatte.   „Komm schon, Hinata. Die Musik-AG braucht einen begabten Violinisten wie dich!“, Hoshiumi packte Shoyos Schultern und rüttelte diesen leicht.   „Es… geht leider nicht…“, das braune Augenpaar versuchte den eindringlichen grünen Iriden Hoshiumis auszuweichen.   „Mensch, Hinata! Weißt du eigentlich, was für eine einzigartige Chance dir hierbei entgeht?! Das Leben strotzt nur vor Herausforderungen! Sei doch nicht so engstirnig und wag etwas Neues! Sonst wirst du es in deinem späteren Leben irgendwann mal bereuen!“   „Shoyo, ich muss Hoshi leider ausnahmsweise mal Recht geben, was normalerweise bei seiner minderbewerteten Korrespondenzfähigkeit nie der Fall ist…“   „Siehst du-“, erst präsentierte der Weißhaarige brüstend seinen Oberkörper, ehe er die genaue Botschaft hinter Kenmas Worten verstand. „-MOMENT WAS?!!“   Der Blonde hingegen ignorierte Hoshiumi und wand sich wieder Shoyo zu, der immer noch zwischen den Beiden saß und mehrmals hin und her schaute.   „Du brauchst mal etwas Abwechslung. Ich bin zwar kein großer Fan davon, aber du liebst die Musik. Du kannst nicht immer nur lernen, dich abrackern und für deine Schwester da sein. Du selbst bleibst hierbei komplett auf der Strecke. Du lebst schließlich nur einmal. Du solltest dein Leben genießen...“, Kenma sah den Kleineren traurig an und legte seinen Kopf schief.   „Ja… ich weiß. Ich danke euch auch, dass ihr euch alle so große Gedanken um mich macht, aber mein Entschluss steht fest…“, Shoyo wich den Blicken seiner Klassenkameraden aus und biss sich auf die Unterlippe. Bevor Kenma und Hoshiumi noch etwas erwidern konnten, sprang der Orangehaarige von der Mauer runter und klopfte sich den Staub von der schwarzen Hose.   „Wo gehst du denn jetzt hin? Wir haben noch 5 Minuten Pause!“, der Weißhaarige sah zu dem jungen Mann hinunter, der gerade nach seiner Tasche griff, die die ganze Zeit über am Boden lag.   „Ich geh schon mal vor. Wir treffen uns vor dem Chemielabor…“, zum Abschied hob Shoyo seine rechte Hand und vergrub sie danach, wie die andere auch, in seiner Hosentasche und machte sich langsam auf den Weg. Sein Blick war zu Boden gerichtet.   Ja, er liebte die Musik. Sie war sein Ruhepol – sein Rettungsanker. Immer, wenn er dachte die Welt würde ihn in die Knie zwingen, griff er nach seinem Instrument und fing einfach an zu spielen. Brachte die Saiten zum Schwingen. Die Melodie brachte ihn zur Ruhe – ließ ihn für einen Augenblick einfach nur vergessen. Es waren zwar nur wenige Minuten oder vielleicht auch nur ein oder zwei Stunden, aber so konnte der junge Mann zumindest der Realität für eine kurze Zeit entfliehen.   Ein Seufzen folgte, als Shoyo wieder zum Himmel aufsah. Er wusste, dass Akaashi es nur gut mit ihm meinte. Die Karasuno High verfügt über das begabteste Orchester in ganz Sendai – wenn nicht sogar in ganz Miyagi. Es waren so viele talentierte Musiker dort vertreten. Akaashi ist einer von ihnen. Der Schwarzhaarige ist sehr begabt im Umgang mit dem Klavier und besitzt gleichzeitig eine sehr schöne Stimme. Shoyo hatte in der Vergangenheit schon öfters die Gelegenheit einem seiner Konzerte beizuwohnen. Seine Stimme und die Emotionen, die er hierdurch zum Ausdruck brachte, waren nicht von dieser Welt. Bokuto hatte schon mehrmals betont, dass es Akaashis Gesang war, der ihn von Anfang an in den Bann gezogen hatte.   Ein zärtliches Lächeln schlich sich auf Shoyos Lippen, während er einen Schritt vor den nächsten tätigte. Es war einfach unglaublich, zu was Musik alles im Stande war. Sie verband nicht nur die Musiker untereinander – sie verband Herzen miteinander. Gleichzeitig wurde dem Orangehaarigen aber auch wieder mehr als bewusst, warum er das alles auf sich nahm. Seine Hände ballten sich im Innern der Hosentaschen erneut zu Fäusten. Für ihn gab es diese Welt nicht. Er hatte nur eine Aufgabe und diese würde er auch erfolgreich zu Ende bringen. Er musste sich auf seinen Schlussabschluss konzentrieren. Da blieb leider nicht viel Zeit für eine AG oder sonstige musikalische Nebentätigkeit.   Während Shoyo weiter voranschritt, bemerkte er die größeren Gestalten nicht, die sich geradewegs auf ihn zubewegten. Wie ein Schatten zogen sie sich über die kleine Gestalt, die ihren Weg Richtung Schuleingang entlanglief.   „Na sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Wenn das mal nicht unser kleiner Streber von Küchenschabe ist!“   Bevor der Orangehaarige überhaupt reagieren konnte, wurde er bereits am Kragen gepackt und an das Gemäuer gedrückt. Beim Aufprall wurde ihm regelrecht der Sauerstoff aus den Atemwegen gedrückt. Mit aller Kraft griff Shoyo nach den Händen, die sich an seinem Oberteil festgekrallt hatten und sah auf. Braun traf auf Olivbraun. Der junge Mann spürte, wie sein Herz aussetzte und die Kraft seinen Körper verließ.   „Nein… nicht du… Ushijima“, kam es flüsternd über seine Lippen. Sein Körper verkrampfte und seine Hände, die immer noch versuchten, den fremden Händen etwas entgegenzusetzen, begannen zu zittern. Der Angesprochene hingegen lachte laut auf und drückte weiter zu, während seine Anhänger hinter ihm einen Halbkreis bildeten.   „Aber, aber… wer versucht sich denn hier gegen mich zu wehren? Haben wir im Sommer etwas Mut angehäuft?“, seine Worte waren gerade nur so von Hohn und Spott geprägt. Shoyo kannte diese verletzenden und beleidigenden Worte bereits zur Genüge.   „Lass mich los… bitte“, krächzte der junge Mann und schloss seine Augen, während er weiterhin versuchte sich aus Ushijimas Griff zu befreien. Dieser hingegen nährte sich dessen Ohr. Allein, dass dieser Mistkerl ihm so nah war, ließ seinen Herzschlag erneut für einen Augenblick aussetzen.   „Haben wir etwa vergessen, wie unsere letzte Begegnung ausging? Du kannst froh sein, dass es nur deine Brille gewesen war, die zu Schaden gekommen ist! Es hätte stattdessen auch dein Gesicht sein können…“   Shoyo spürte, wie die Angst immer mehr in ihm hochkroch. Seine Nackenhaare stellten sich zu Berge. Sein Puls beschleunigte sich und Angstschweiß bildete sich auf seiner Haut. Verdammt nochmal, warum war er auch allein losgelaufen! Shoyo hätte wissen müssen, dass ausgerechnet er ihm auflauern würde. Seit dieser Quertreiber vor 1 ½ Jahren auf die Schule gekommen war, hatte dieser ihn von Anfang an auf dem Kicker. Er hat ihn erst bedroht – später wurde er auch gewalttätig ihm gegenüber. Ushijima war ein Monster! Anders konnte der Kleinere diesen Rüpel nicht betiteln.   Bevor der Orangehaarige wusste wie ihm geschah, spürte er einen fürchterlichen Schmerz in seiner Bauchgrube. Ushijima hatte ihn zwar losgelassen, hatte ihm aber gleichzeitig, ohne mit der Wimper zu zucken, mit voller Kraft in den Magen geboxt. Shoyo schrie vor Schmerzen auf und sank zu Boden. Seine Brille lag wenige Meter neben ihm im Gras. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich vor seinem Peiniger nicht direkt erbrach. Hustend krümmte der Orangehaarige am Boden und legte schützend seine Hände vor seinen Bauch. Ushijima sah herablassend auf den Kleineren herab und spuckte ihm vor die Füße.   „Ach komm schon, war das etwa schon alles?“, danach griff der Brünette in die orangenen Locken und zog sein Opfer hoch.   „LASS MICH LOS! AH!“, Shoyo schrie weiterhin schmerzhaft auf. Er war doch so dumm. Sie befanden sich außerhalb des Schulhofs. Hier gab es keine Pausenaufsicht. Niemand würde ihn hier hören. Ushijima wusste genau, wo er zuschlagen konnte, ohne dass man ihn und seine Truppe bemerkte. Tränen bildeten sich bereits in seinen Augen.   „HALT DEIN VERFICKTES MAUL ODER ICH BRING DICH ZUM SCHWEIGEN!“, brüllte der Größere und schlang seine linke Hand um Shoyos Hals. Shoyo hustete mehrmals und spürte, wie Ushijima ihm immer mehr seine Atemwege versperrte. Er bekam fast keine Luft mehr. Wild zappelnd versuchte der Orangehaarige sich zu befreien, auch wenn er wusste, dass die Mühe vergebens war. Sein Blick trübte. Er konnte im Hintergrund noch hören, wie dessen Klassenkameraden versuchten den Größeren zu beruhigen.   „Wakatoshi, es reicht! Du bringst den Kleinen sonst noch um!“   „Tendou hat Recht. Er hat doch seine Abreibung für heute bekommen. Übertreib es nicht!“   „Lass uns verschwinden, bevor die Lehrer hier auftauchen!“   Ein freches Grinsen zierte Ushijimas Lippen. Das braune Augenpaar nahm nur noch verschwommen wahr, wie Ushijima bereits wieder seine freie Hand zu einer Faust bildete.   „Aber eine Strafe gibt es noch. Schließlich hast du es erneut gewagt, dich gegen mich aufzulehnen. Merk dir eines, Küchenschabe! Gegen einen Wakatoshi Ushijima leistet man keinen Widerstand!“   Shoyo kniff seine Augen zusammen und wartete auf den Schmerz. Er zählte schon die Sekunden, in denen er mit dem Aufschlag rechnete. Wann die Faust mit seinem Gesicht kollidierten würde. Was würde ihn dieses Mal erwarten? Eine gebrochene Nase? Ein gebrochener Kiefer?   Aber der Schmerz blieb aus.   Stattdessen spürte Shoyo eine heftige Vibration. Sein gesamter Körper begann zu beben. Der Orangehaarige konnte nur noch nebenbei wahrnehmen, wie sich der Druck um seinen Hals plötzlich gelöst hatte. Dann fiel er. Der junge Mann bereitete sich bereits darauf vor, auf hartem Boden aufzukommen. Es würde definitiv wieder sehr schmerzhaft für ihn enden. Ihm tat ja schon bereits alles weh, da kam es auf die Kopfschmerzen nicht mehr an. Aber auch der Aufprall auf dem Boden blieb aus. Stattdessen landete er weich. Shoyo spürte, wie sich zwei schützende Arme um seinen kleinen Körper legten. Was ging hier vor sich?   Vorsichtig öffnete Shoyo seine Augen und konnte nicht glauben, welch Szenario sich vor seinen braunen Augen abspielte. Er erblickte einen Wakatoshi Ushijima, der sich schmerzlich fluchend am Boden vor ihm krümmte. Dessen Klassenkameraden wichen ängstlich und schockiert zurück. Der Schock stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Was war geschehen? Augenblicklich war Shoyo wieder hellwach. Sein Puls raste erneut. Aber dennoch war da diese Wärme, die ihm die Angst aus dem Körper zu saugen schien. Dann vernahm er jene Stimme, die ihm vor zwei Wochen schon den Atem geraubt hatte.   „Fass ihn noch einmal mit deinen dreckigen, schäbigen Händen an-“   Das braune Augenpaar sah auf und Shoyos Herz setzte in diesem Moment aus. Dunkelblaue Iriden sahen geradeaus - durchbohrten den Brünetten, der immer noch vor ihnen am Boden kniete. Shoyo hielt vor Schock den Atem an. Es war ein anderes Blau, als er es in Erinnerung hatte. Sie funkelten, aber es war nicht derselbe Glanz, wie an jenem Tag damals. Sie erinnerten an eine Raubkatze, die ihre Beute im Visier hatte. Bereit zum Angriff – bereit, das was ihr wichtig war, zu beschützen.   „-und ich schwöre bei Kami höchstpersönlich-“, auch seine Stimme war anders. Es waren schneidende Worte, die wie ein scharfes Messer die Luft zerteilten. Seinem Gegenüber signalisierten, was ihn erwartete, wenn er sich erneut gegen sie erheben sollte. Die Aura, die ihm entgegenschlug, war heiß und feurig. Sie flammte auf und drängte die anderen immer weiter zurück. Shoyo war in diesem Moment unfähig etwas zu sagen.   „-dass ich dir das Leben zur Hölle machen werde!“   Shoyo bemerkte, wie er näher an den Körper seines Retters gedrückt wurde. Wie sich dessen Arme schützend um seinen Körper schmiegten. Wie sein Kopf nah an dessen Halsbeuge gedrückt wurde - er sogar in diesem Moment mit seinem Duft konfrontiert wurde. Shoyo stand komplett neben sich. Sein Herz schlug schneller gegen seinen Brustkorb und ein eiskalter Schauer kroch seine Nervenstränge entlang. Shoyo konnte es nicht fassen. Er wurde tatsächlich gerettet. Jemand kam ihm tatsächlich zur Hilfe. Allerdings hätte er nie im Leben mit ihm gerechnet.   Das braune Augenpaar suchte erneut seinesgleichen und dann trafen sie sich. Braun kollidierte mit Dunkelblau. Kaum kreuzten sich ihre Blicke, verschwand der bedrohliche Glanz in den blauen Iriden. Stattdessen empfing den Kleineren wieder dieses Meeresblau, in dem er augenblicklich versinken konnte. Shoyos Kopf war wie leergefegt – nahm alles nur noch in Zeitlupe wahr. Das Bild, das sich vor ihm präsentierte, wirkte immer noch so surreal.           Ausgerechnet Tobio Kageyama, jenem jungen Mann, dem er vor zwei Wochen in der Bibliothek begegnet war und dem er bislang aus dem Weg gegangen war, hatte sich gegen Wakatoshi Ushijima aufgelehnt und hatte ihm somit das Leben gerettet.   Kapitel 12: Akt I: Part XII – hero and savior II ------------------------------------------------   [wenige Minuten zuvor] „Shit...“, Tobio wusste nicht mehr weshalb er ausgerechnet diesen Weg entlanglief. Eigentlich war er ohne jeglichen Gedanken einfach losgelaufen. Mit seinen Händen in den Hosentaschen trottete er den Schotterweg entlang Richtung Schuleingang. Er kam bislang immer noch nicht zu einem Entschluss was sein Schulproblem anbelangte. Er brauchte einen Nachhilfelehrer – am besten jemanden, der ganz oben an der Spitze stand. So langsam stiegen die ersten Ängste in ihm auf. Was würde geschehen, wenn er scheitern sollte? Das hier war schließlich seine letzte Chance! Er durfte sich diese nicht auch noch verbauen! War er denn überhaupt zu irgendwas in der Lage? Er kam sich so hilflos vor – wie ein richtiger Looser, der irgendwann mal unter einer Brücke pennen würde! Was seine Eltern davon halten würden, daran wollte Tobio erst gar nicht nachdenken. Seine Gedanken kreisten – sein Kopf stand kurz vorm Explodieren. „AHH!! LASS MICH LOS!!“, als der Schwarzhaarige jedoch einen hellen Aufschrei hörte, sah er auf und in diesem Moment kam seine Gedankenwelt zum Stillstand. Das blaue Augenpaar erblickte Hinata, der sich in der Gewalt von diesem Ekelpaket von Ushijima befand. Sein Herz zog sich bei dem Anblick schmerzlich zusammen. Bevor Tobio wusste wie ihm überhaupt geschah, setzten sich seine Beine von selbst in Bewegung. Er nahm in diesem einen Augenblick um sich herum alles andere nur noch in Zeitlupe wahr. So schnell er konnte, rannte er auf Ushijima zu. Es stand außer Frage, dass dieser Tyrann gerade dabei war, erneut die Hand gegen Hinata zu erheben. Dass er ihm bereits Schmerzen zugefügt hatte, war dem körperlichen Zustand des Kleineren anzusehen. Sah er gerade richtig, dass dieses Arschloch ihn auch noch am Hals packte? Immer mehr Wut stieg in Tobio auf – seine Hände bildeten sich zu Fäusten. Verdammt nochmal, er war wütend und zwar so richtig. So aufbrausend hatte er sich schon seit einem halben Jahr nicht mehr gefühlt. Noch während er in Bewegung war, peilte er den Brünetten an und hob seine Faust. Dann ging alles sehr schnell. Bevor Ushijima reagieren konnte, verpasste Tobio ihm einen Schlag mitten ins Gesicht. Volltreffer! Der Tyrann ließ von dem Orangehaarigen ab und wand sich ab. So schnell Tobio reagieren konnte, fing er Hinata auf und drückte ihn nah an sich. Erst jetzt bemerkte der Schwarzhaarige wie zierlich der kleine Kerl in seinen Armen wirkte. Die Wut in seinem Innern entfesselte sich wie ein Laubfeuer, als er mit drohenden Augen den Brünetten fixierte, der sich immer noch am Boden krümmte. Immer fester drückte er Hinata an seinen Körper. Schützend schmiegten sich seine muskulösen Arme um den Orangehaarigen und baten ihm Schutz. „Fass ihn noch einmal mit deinen dreckigen, schäbigen Händen an und ich schwöre bei Kami höchstpersönlich, dass ich dir das Leben zur Hölle machen werde!“ Es waren Worte, die tief aus seinem Herzen kamen. Tobio war es in diesem Moment egal, dass er möglicherweise Ärger hierfür bekommen sollte. In diesem Augenblick kamen die Erinnerungen von Tooru ans Tageslicht. Wie der Ältere sich damals schützend vor Tobios Vater gestürzt hatte und die Backpfeife einfing, die ihm hätte eigentlich gelten sollte. Der Jüngere kam nicht zu Schaden. Schwer schluckend sah Tobio auf Hinata hinunter, der zwischenzeitlich wieder das Bewusstsein erlangt hatte. Leuchtende braune Augen sahen zu ihm auf. Leider war er zu spät. Hinata ist bereits zu Schaden gekommen. Reumütig biss sich Tobio auf die Unterlippe und senkte seinen Blick. „Es tut mir leid…“, kam ihm flüsternd über die Lippen, während er Hinata immer näher an sich drückte. Seine Hände verkrampften sich und begannen zu zittern. Warum war er bloß zu spät gekommen? Tobio wollte erst gar keinen Gedanken daran verschwenden, was geschehen wäre, wenn er diesen Weg nicht entlanggelaufen wäre. „Kageyama…“, erst als der Angesprochene seinen eigenen Namen hörte, erwachte er aus seinen Gedanken und wand sich Hinata zu, der immer noch in seinen Armen lag. Tobio versuchte ein Lächeln zustande zu bringen, was ihm leider nicht so ganz gelingen wollte. Er kam sich vor, wie der letzte Idiot. „Keine Sorge, du bist in Sicherheit…“, hauchte der Schwarzhaarige leise und zog Hinata wieder nah an sich. „Achje… wie niedlich. So sehen wir uns wieder, Tobio Kageyama…“, die bedrohliche Stimme, die an den Schwarzhaarigen gerichtet war, ließ ihn innehalten. Der Groll war bis zu ihm spürbar. Die Aura des Brünetten schlug um sich. Sie war bedrückend. Wieder sah das blaue Augenpaar auf und fixierte Ushijima, der sich zwischenzeitlich wieder erhoben hatte. Dieser fuhr sich mit dem Handrücken grinsend über die Lippen und spuckte Blut zur Seite, ehe er wieder seine Aufmerksamkeit Kageyama und Hinata schenkte. Er wirkte, obwohl ihm gerade eine reingehauen wurde, erstaunlich ruhig. Ein schweres Schlucken folgte und Schweißperlen liefen Tobios Schläfe hinunter. Der Schwarzhaarige wusste, dass dies die Ruhe vor dem Sturm war. „Was sollte das werden, Ushijima! Wolltest du ihn umbringen oder was!“ Der Brünette lachte daraufhin auf und blickte auf seine Hände, die er knackend zu Fäusten bildete. „Weißt du Kageyama? Eigentlich konnte ich dich ganz gut leiden, aber du hast es gewagt, den kleinen Wicht hier mir vorzuziehen. Was bist du? Ein Held oder ein Trottel!?“ Tobio biss seine Zähne aufeinander und setzte Hinata vorsichtig hinter sich auf dem Boden ab. Er wusste, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Ushijima war der Art Typ, der sich von einem Schlag nicht einschüchtern ließ. „Bleib bitte hinter mir…“, flüsterte der Schwarzhaarige dem Kleineren zu, woraufhin dieser ihm nur stumm zunickte. Es war offensichtlich, dass Hinata noch komplett neben sich stand. Seine Seelenspiegel blickten ins Nichts – es wirkte so, als sei der Orangehaarige im Moment gar nicht anwesend. Danach erhob sich Tobio wieder und wand sich Ushijima zu. „Der kleine Wicht hier hat einen Namen! Haben wir unseren Anstand zu Hause gelassen oder besitzt du überhaupt erst gar keinen?!“ Es herrschte Stille. Alle Augenpaare waren fassungslos auf den Schwarzhaarigen gerichtet, der sich zwischenzeitlich die Ärmel seines Hemds hochkrempelte. Ushijima hingegen lachte kurz auf, ehe er seinen Kopf einmal rechts und einmal links aufknacken ließ. „Du bist ganz schön frech. Aber sag mir eines Kageyama – warum hast du die Küchenschabe hier beschützt?“ Die Augen des Schwarzhaarigen funkelten gefährlich auf. Er verabscheute diesen Kerl so sehr. Der Spitzname, den der Tyrann dem Kleinen verpasste hatte, war eine Zumutung. Zornig biss Tobio auf seine Zähne, eh er knirschend erwiderte: „Sind die Größeren eigentlich nicht dafür da, um die Kleineren zu beschützen?“ Auf Ushijimas Schläfe bildete sich eine Zornesader. Sein Gesicht verdunkelte sich und Tobio wusste genau, dass er den Bogen nun endgültig überspannt hatte. Ein letztes Mal sah er zu Hinata, der immer noch hinter ihm am Boden kniete. Die Blicke, die sie in diesem Moment austauschten, ließen Ushijima kurz innehalten, ehe er laut auflachte und seine Hände gegen seine Hüfte stemmte. „Ah ~ ich verstehe was hier läuft! Du bist also einer dieser Sorte, Kageyama…“, langsam setzte sich der Brünette in Bewegung und kam auf sie zu. Tobio nahm währenddessen eine Angriffsposition ein und stellte sich dem Brünetten entgegen. Er sollte sich erst gar nicht von dem Größeren provozieren lassen. Ushijima hingegen knackte seine Fäuste und funkelte den jungen Mann bedrohlich an. „Da ich keine Widerworte erhalte, ist es also wahr… Es war eine gute Entscheidung, dass du abgelehnt hast, den unter diesen Voraussetzungen hättest du es bei uns nicht lange ausgehalten geschweige denn hätten wir dich akzeptiert!“ „Schnauze…“, grummelte Tobio und baute sich schützend vor Hinata auf. Der Orangehaarige hingegen sah zu seinem Retter auf. Seine Gedanken klarten langsam auf. Warum beschützte er ihn? Warum nahm er den Ärger mit Ushijima auf sich? Sein Herz raste. „Was denn? Denkst du, ich habe Angst vor einem Arschficker, wie dir?“, der Wahnsinn stand dem Brünetten in diesem Augenblick ins Gesicht geschrieben. Seine Iriden glühten regelrecht und seine bedrohliche Aura schlug wie ein Tornado um sich. Tobio spürte, wie sich ein schwerer Klos in seinem Hals bildete. Seine Fäuste zitterten bereits vor Wut. Ja, Ushijima legte alle Karten offen. Er wollte ihn definitiv provozieren und aus dem Konzept bringen, aber nicht mit ihm! Er ließ sich nicht darauf ein! Er musste für Hinata einen klaren Kopf bewahren. Er musste ihn beschützen! Ein Bild aus längst vergangenen Tagen klarte vor seinem inneren Auge auf. Wieder hallten in diesem Moment Toorus Worte durch seinen Kopf. Das blaue Augenpaar weitete sich. Tobio sah dessen Rücken vor sich. Es waren die Worte, die damals an seinen Vater gerichtet waren.   [...] „Homophobe Kreaturen wie Sie finde ich einfach nur zum Kotzen!“ […]   Ehe Ushijima vor dem Schwarzhaarigen zum Stehen kam und zum Schlag ausholen konnte, wurde die Hand noch in der Luft festgehalten. Der Brünette sah den Kleineren verblüfft an – mit solch guten Reflexen hatte er nicht gerechnet. „Ich sag dir jetzt mal etwas Ushijima-“, noch während Tobio die Worte seinem Gegenüber regelrecht entgegenfeixte, nahm dieser mit dessen Bein zum Tritt aus. Tobio spürte Sekunden später einen heftigen Schmerz in seiner Bauchgebend. Er hustete und Blut landete auf seiner Handfläche. Ushijima hatte tatsächlich zugetreten und er war gerade dabei den nächsten Angriff auszuführen. Der Schwarzhaarige erstarrte. Er konnte nicht einfach nur dastehen und die Schläge einkassieren – er musste sich wehren. Er musste sich verteidigen! „-ich finde solche homophobe – intolerante Kreaturen wie dich und deine Laufbande echt zum Kotzen!!“, sein Aufschrei hallte von den Wänden des Gemäuers wider. Als Ushijima wieder aufsah, stockte ihm für einen Moment der Atem. Raubtierähnliche Augen blitzten ihm entgegen. Wo war dieser gleichgültige Blick hin? Es war, als ob ein innerer Schalter in dem Schwarzhaarigen umklappte. Dann ging alles ganz schnell. Es geschah wie in Zeitlupe. Tobio holte mit Schwung aus und schlug mit seiner Stirn so fest er konnte gegen Ushijimas Kopf, ehe er daraufhin mit seiner Faust ausholte und dem Größeren einen heftigen Fausthieb auf die rechte Wange verpasste. Ushijima hob leicht vom Boden ab, ehe dieser sich vor dem Aufprall mit seinen Händen wieder auffing und erneut auf den Schwarzhaarigen zustürmte. Ein heftiger Schlagaustausch folgte. Sie zerfleischten sich regelrecht und keiner der Beiden wollte nachgeben. Sie waren von Anfang an einander ebenbürtig. Die Außenstehenden wollten sich aber auch nicht einmischen. Stattdessen sahen diese weiterhin dem Kampf zu. Hinata saß währenddessen einfach nur da und war gezwungen einfach nur zusehen. Vorsichtig richtete sich der Orangehaarige auf und lehnte sich an die Mauer hinter ihm. Seine Hände wanderten zu seiner Brust. Seine Stimme zitterte, während er versuchte sich bemerkbar zu machen. „Hört auf…“ Seine Worte wurden jedoch nicht erhört. Stattdessen kassierte Tobio einen weiteren Tritt in seine Magengrube. Immer mehr Blut bedeckte das Gras. Der Anblick ließ Panik in Shoyo aufsteigen. Ein Knoten bildete sich in seinem Innern. „Hört auf…“, seine Stimme brach. Tränen stiegen in seinen Augen auf und erschwerten ihm die Sicht. Sie sollten aufhören! Er konnte sich das nicht mehr mitansehen. Schmerzerfüllt krallte er seine Hände in seine Krawatte und schüttelte mehrmals seinen Kopf, während er versuchte seinen Blick abzuwenden. Er spürte, wie die Panik ihm die Luftwege versperrte und sein Puls sich innerhalb weniger Sekunden verdreifachte. Der Druck in seinem Innern erreichte ein Ausmaß, dass den Kleineren erneut zusammensacken ließ. Er drohte eine Panikattacke zu erleiden, die ihm den Sauerstoff aus den Lungen drückte. Das Zittern seiner Hände verschlimmerte sich. Er hasste Gewalt! Mehr als alles andere! Es sollte keiner wegen ihm zu Schaden kommen. „Bitte...“, schluchzte der Kleinere, ehe er all seinen Mut zusammennahm und erneut mit aller Kraft aufschrie. „HÖRT DOCH ENDLICH AUF!!!!!!!“ Stille. Es war ein Moment, in dem der Kampf für einen Augenblick zum Erliegen kam. Das Echo, das folgte, prallte an dem Gemäuer ab. Alle Augenpaare waren auf Shoyo gerichtet, der daraufhin weinend auf die Knie sank und zusammenbrach. Der Orangehaarige spürte, wie die letzte Kraft ihn verließ. Er konnte nicht mehr. Er hatte keine Kraft mehr. Im selben Moment kamen bereits die ersten Lehrer aus dem Gebäude gerannt und schritten ein. Unter ihnen war auch der Vertrauenslehrer Herr Takeda, der fassungslos mit ansah, wie Tobio sich blutüberströmt wieder Hinata zu wand und vor ihm auf die Knie sank. Blut lief an seiner Schläfe und aus seinen Mundwinkeln hinunter. Das weiße Hemd war komplett mit Blut bedeckt. Es war mehr als offensichtlich, dass er schlimm zugerichtet war. Dass der Schwarzhaarige trotz dieser Verletzungen noch auf den Beinen stand, grenzte an ein Wunder. Ushijima, der sich direkt hinter ihm befand und körperlich nicht besser aussah, wollte gerade erneut zum Schlag ausholen, als dieser von den Sportlehrern abgehalten und weggezerrt wurde. Der Brünette brüllte und schlug um sich. „LASST MICH LOS! WIR SIND HIER NOCH NICHT FERTIG!! Immer wieder schrie er dem Schwarzhaarigen beleidigende Worte entgegen. „DU ELENDER WICHSER! ICH BRING DICH UM! EINE SCHWUCHTEL WIE DU HAT IN UNSERER WELT NICHTS VERLOREN! DAS WIRST DU NOCH BITTER BEREUEN!!!“ Es waren Worte, die definitiv nicht zur heutigen Gesellschaft gehörten. Immer wieder schlug der Brünette mit Schimpfwörtern und Drohungen um sich. Tobio hingegen blieb ruhig und rührte sich keinen Millimeter. Er wich nicht von Hinatas Seite. Der Orangehaarige war wie erstarrt. Er konnte nicht glauben, was sich gerade vor seinen Augen abspielte. So außer sich hatte er Ushijima noch nie erlebt. Inzwischen hatten sich mehrere Schüler am Eingang eingefunden, unter anderem auch Tobios komplette Klasse. Sugawara und Kuroo stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Die Miya-Zwillinge klatschten sich stattdessen gegenseitig in die Handfläche. Es war ein heller Aufruhr. Wenige Minuten später traf auch die Polizei ein, die den immer noch um sich schlagenden und tobenden Ushijima in Gewahrsam nahm. Tobio hingegen wurde von der Polizei und Herrn Takeda ins Direktorzimmer begleitet. Der Orangehaarige sah dem Größeren nach – dieser hatte ihm zuvor noch ein zärtliches Lächeln geschenkt. Allerdings wusste der Kleinere nicht, wie er diese Geste zu deuten hatte. Shoyo kauerte immer noch am Boden und wurde von der Schulkrankenschwester noch fertig behandelt, ehe Kenma und Hoshiumi zusammen mit Akaashi zu dem Orangehaarigen stürmten. Auch Bokuto war dicht hinter ihnen. „Hinata, alles in Ordnung? Bist du verletzt?“ Der Orangehaarige sah zu Akaashi auf, der vor ihm auf die Knie gegangen war. Allerdings war der Kleinere unfähig überhaupt etwas zu sagen. Bokuto, der neben Akaashi ebenfalls auf die Knie gegangen war, kochte vor Wut. „Dieser Dreckskerl! Der kann es einfach nicht lassen! Hat ihm mein Denkzettel noch nicht gereicht, dass er sich von meinen Freunden fernzuhalten hat?!“ „Bokuto, bitte beruhige dich…“ „Nein Akaashi! Dieser Bastard hat den Bogen endgültig überspannt!!“ Shoyo hingegen sah auf seine bandagierten Handflächen herab, die auf seinen Beinen ruhten. Sein Herz raste und seine Gedanken kreisten. Sie kreisten in diesem Moment nur um eine einzige Person. „Kage…yama…“, flüsterte der Orangehaarige leise, ehe er seine Hände zu Fäusten ballte. „Was ist mit ihm?“ Wieder sah Shoyo auf und blickte in Bokutos goldene Augen. Langsam wanderte das braune Augenpaar wieder zu seinen Fäusten, die er daraufhin fest an seine Brust drückte. Tränen bahnten sich erneut ihren Weg an seinen Wangen hinunter. Er wusste nicht, welche Emotionen er gerade verspürte. War es Traurigkeit? War es Freude? Immer mehr benetzten die Tränen seinen Uniformstoff. Hoshiumi und Kenma standen vor ihm und warfen sich gegenseitig traurige Blicke zu. Akaashi wand sich Bokuto zu, der ihm stumm zunickte. Vorsichtig zog der Schwarzhaarige Shoyo zu sich. Behutsam legte er seine Arme um dessen Körper und fuhr zärtlich mit seinen Händen über seinen Rücken. Mit einem Mal brach der Damm und Hinata weinte bitterlich. Er krallte sich in Akasshis Oberteil und vergrub sein Gesicht im beigen Pollunder. Das alles war zu viel. Es wurde dem Kleineren alles zu viel. Die Bilder wollten nicht aus seinem Kopf verschwinden – immer wieder sah er Kageyama und Ushijima vor sich, wie sie sich gegenseitig an den Hals sprangen. Überall Blut. Es war ein grauenhafter Anblick – zudem sich gleichzeitig noch andere Bilder in seine Gedanken geschlichen hatten. Bilder, die schon drei Jahre zurücklagen. Warum kamen ausgerechnet diese Bilder nun hoch? Warum ausgerechnet jetzt? Shoyos Körper zitterte wie Espenlaub. „Was ist mit Kageyama?“, fragte der Schwarzhaarige vorsichtig und sah zu Hinata, der sich nach wenigen Minuten wieder gefangen hatte. Mit seinem Handrücken fuhr er sich über die Augen. „Was auch immer er getan hat, das wird gewaltigen Ärger geben…“, murmelte Kenma und senkte seinen Blick, woraufhin er einen ermahnenden Hinterkopf-Klaps von Hoshiumi einkassierte. „Den Kommentar hättest du dir echt sparen können, du Depp!“ Erst nach und nach fügten sich Shoyos Gedanken zusammen. Seine braunen Augen weiteten sich vor Schreck. Der Druck auf seinem Brustkorb war kaum noch auszuhalten. Die Bilder, die zuvor noch seine Gedanken heimgesucht hatten, verblassten augenblicklich. Stattdessen machte sich ein anderes Gefühl in ihm breit. „Nein… bitte nicht…“, flüsterte der Orangehaarige und versuchte aufzustehen. Akaashi kam ihm direkt zur Hilfe und stützte den Kleineren, indem er dessen Arm um seinen Nacken legte. „Hinata, was ist verdammt nochmal passiert?!“ Shoyo hob seinen Kopf und peilte den Schuleingang an. Seine Sicht war immer noch stark beeinträchtigt, obwohl er mittlerweile wieder seine Brille trug, die Kami sei Dank heil geblieben war. Mit langsamen Schritten schritt er voran und wurde weiterhin von Akaashi gestützt. Schmerzerfüllt stöhnte der Kleinere auf und biss sich auf die Unterlippe, während er seine freie Hand an seinen Bauch presste. Die Bauchschmerzen waren abscheulich - sein ganzer Körper brannte. Allerdings waren seine Schmerzen aktuell nebensächlich. „Kageyama hat mich gerettet… Er darf deswegen keinen Ärger bekommen!!“ Der Orangehaarige wusste, was seinem Retter blühte. Gewalt an der Schule wurde mit einer sofortigen Suspendierung – wenn nicht sogar mit einem endgültigen Schulverweis bestraft. Verzweifelt wand sich Shoyo wieder dem Größeren zu, der ihn die ganze Zeit stillschweigend beobachtet hatte. „Bitte, Akaashi – ich brauche deine Hilfe!!“   Kapitel 13: Akt I: Part XIII - hero and savior III --------------------------------------------------     „DU VERDAMMTER VOLLIDIOT!! WIE DUMM BIST DU EIGENTLICH!!“, Keishin war außer sich. Seit Minuten tobte er schon im Direktorzimmer umher, während Tobio stillschweigend neben ihm saß. Dass sein Bewährungshelfer explodieren würde, wusste er ja schon vorher, aber dass er so abdrehen würde, war selbst ihm neu. Seine bisherigen Wutausbrüche wirkten dagegen so harmlos wie ein Streit zwischen Kindergartenkindern. „MENSCH TOBIO, WAS HAST DU DIR DABEI GEDACHT? ES HAT NICHT MAL EINEN MONAT GEDAUERT UND SCHON SCHLEPPST DU ÄRGER AN!! Der Schwarzhaarige senkte seinen Blick und starrte seine Schuhe an. Ihm war nicht nach Streiten oder Argumentieren zu Mute. Es fehlte ihm die Kraft dazu – er war müde. Der Kampf hatte ihn einiges an Energie gekostet, zudem ihm alles wehtat. Ushijima hatte ein paar Mal heftig zugeschlagen. Seine Glieder schmerzten – besonders seine Seite und auch auf seinem Rücken spürte er ein starkes Pochen. Sein Kopf hingegen war leer. Ihm war im Moment alles egal. Sie würden ihm so oder so nicht zuhören. Sie verurteilten ihn jetzt schon, ohne zu wissen, was überhaupt geschehen war. Aber damit musste er schließlich rechnen. Der olle Typ von Psychoheini hatte Recht behalten. Knirschend biss Tobio auf seine Unterlippe. Auf der einen Seite spürte er die Hilfslosigkeit, aber gleichzeitig die Wut, die in ihm aufstieg. Das Fass war endgültig voll. Während er weiterhin darüber nachdachte, ballten sich seine Hände zu Fäusten. Der Einzige, der momentan einen ruhigen Kopf zu behalten schien, war Herr Takeda. Der Vertrauenslehrer räusperte sich kurz, um Keishin von seinem Wutanfall abzuhalten. „Tobio. Was ist geschehen…? Bitte rede mit uns. Du schweigst schon seit du hier bist.“ Die Direktorin der Schule saß ebenfalls ruhig auf ihrem Stuhl und widmete ihre volle Aufmerksamkeit dem Schwarzhaarigen, der immer noch schweigend vor ihnen saß. Der Konrektor, der ebenfalls der Anhörung beiwohnte, schnaubte. „Ich hab es Ihnen von Anfang an gesagt, dass es eine schlechte Idee war einen Kriminellen an unsere Schule zu holen!“ „Herr Kyoutou, muss ich Sie daran erinnern, dass Wakatoshi Ushijima ebenfalls aus kriminellen Kreisen stammt? Und trotzdem haben wir auch ihm eine Chance gegeben! Also hüten Sie gefälligst Ihre vorlaute Zunge!!“, die Blondine sah den älteren Mann mit funkelnd grünen Augen an. Die eisige Aura, die die Direktorin ausstrahlte, ließ den Konrektor innerhalb von Sekunden verstummen. Nun widmete sie wieder ihre volle Aufmerksamkeit Tobio zu. „Bitte Herr Kageyama, wenn Sie wissen, wie es dazu gekommen ist, dann sagen sie es uns. Wir können die Lage hier an unserer Schule nur verbessern, indem wir auch über die ganze Sache informiert werden.“ Der Angesprochene hingegen sah kurz auf, ehe er seinen Blick wieder senkte. „Verzeihen Sie bitte, aber was genau wollen Sie überhaupt von mir? Sehen Sie sich mal um, dann wissen Sie was los ist…“, Tobios Worte kamen provozierend rüber, obwohl das nicht mal seine Absicht gewesen war. „TOBIO!“, knurrte Keishin und verpasste dem Schwarzhaarigen einen Seitenhieb, woraufhin dieser sich erhob und sich verneigend entschuldigte. „Tut mir leid, die Worte sollten nicht so rüberkommen…“, warum hatte er immer das Glück vom einen in das nächste Fettnäpfchen zu treten? Heute war definitiv nicht sein Tag. „Schon gut, mein Junge. Du bist immer noch aufgebracht…“, Herr Takeda versuchte so gut es ging die Stimmung zu lockern. Tobio atmete kurz aus und verschränkte schließlich die Arme vor seinem Oberkörper, als er wieder Platz nahm. Es würde eh nichts bringen, wenn er ihnen alles erzählen würde. Sie hatten doch ohnehin schon ihr Urteil über ihn gefällt. Er hatte Mist gebaut und dazu stand er auch! „Wissen Sie Herr Kageyama, wir dulden hier keine Gewalt oder gar Unruhestifter. Eigentlich hatte ich Sie für einen ruhigen und zuvorkommenden jungen Mann gehalten. Aber das Bild, das Sie hier gerade präsentieren, gibt mir zu Denken.“, die Direktorin faltete ihre Hände zusammen, während sie weiterhin den Schwarzhaarigen genau im Blick hatte. Tobio wusste bereits was nun kommen würde. Stillschweigend ließ er alles über sich ergehen. „Ums ehrlich auszudrücken – ich bin enttäuscht Tobio Kageyama. Noch nie habe ich mich in einem Menschen so geirrt! Es tut mir schon fast leid, dass ich leider diese Art von Konsequenz ziehen muss. Sie werden augenblicklich und mit sofortiger Wirkung der Schule verw-“ „NEIN, TUEN SIE DAS NICHT!!!“ Mit einem lauten Knall flog die Tür auf - dass sie in diesem Augenblick nicht aus den Ankern flog, grenzte an ein Wunder. Alle Augenpaare waren auf die Türschwelle gerichtet, in der ein kleiner Mann stand. Der Kopf war gesenkt. Er stützte sich mit beiden Armen am Türrahmen ab und sah schließlich auf. Tobio konnte seine Augen nicht trauen, als sich ihre Blicke trafen. Vor ihm stand der kleine Wuschelkopf, der mit seinen letzten Kräften versuchte, sich auf den Beinen zu halten. Sein Atem ging hektisch und seine Beine zitterten bereits. Er musste wohl das komplette Treppenhaus hochgerannt sein. „Hinata…“, kam es Tobio flüsternd über die Lippen. Bevor Shoyo das Wort an die Direktorin richten konnte, gaben seine Beine nach. Akaashi, der die ganze Zeit hinter ihm stand, kam ihm zur Hilfe und stützte den Orangehaarigen, indem er dessen Arm um seinen Nacken legte. Die Direktorin erhob sich daraufhin und sah die beiden jungen Männer verärgert an. „Kann mir bitte einer von euch erklären, was hier los ist?! Langsam aber sicher verliere ich nun endgültig die Geduld!“ „Verzeihen Sie Frau Yamori, ich bin Keiji Akaashi von der 3 A und bin neben dem stellvertretenden Klassensprecher auch noch der aktuelle Schulsprecher dieser Schule.“ Tobio sah den Schwarzhaarigen verblüfft an. Er war Schulsprecher? Auf den ersten Blick wirkte der junge Mann eher ruhig und besonnen. Aber im Moment präsentierte er ein anderes Bild. Wollten sie ihm beide etwa helfen? Shoyo schaffte es währenddessen sich wieder zu beruhigen und sah erneut auf. Nun erkannte er auch Keishin, der neben Kageyama saß. Warum war er anwesend? Er hatte doch gar nichts mit der Sache hier zu tun. Auch die Art und Weise, wie er mit dem Schwarzhaarigen umging. Auf einmal erinnerte der Orangehaarige sich wieder an die Begegnung mit Kira vor wenigen Monaten. Konnte das tatsächlich sein? War etwa Tobio Kageyama jener Insasse, um den der Blonde sich kümmern sollte? Seine braunen Augen weiteten sich bei dieser Erkenntnis. Dann war es im Moment umso wichtiger dem Schwarzhaarigen aus der Klemme zu helfen. Mit entschlossenem Blick funkelte er die Direktorin an. „Frau Yamori, ich bin Shoyo Hinata, ebenfalls von der 3 A und ich sage Ihnen, dass Sie im Moment einen sehr großen Fehler begehen!“, wieder wanderten seine braunen Augen zu Kageyama rüber, der ihn immer noch fassungslos ansah. Unglaube spiegelte sich in dem meeresblauen Augenpaar wider. Keishin, der die Situation genau beobachtet hatte, sah zwischen seinem Schützling und Hinata hin und her. Die Direktorin nahm nun wieder auf ihrem Stuhl Platz und rieb sich seufzend die Schläfe. „Nun denn, ich bin ganz Ohr. Wenn ihr schon, ohne Ankündigung mein Büro stürmt, dann will ich auch eine entsprechende Erklärung! Wenn Sie der Meinung sind, dass ich einen Fehler begehe, dann will auch schlagfertige Argumente Herr Hinata!“ Akaashi sah zu Shoyo runter, der ihm daraufhin zunickte. Gemeinsam traten sie an den Tisch heran. Keishin hatte sich in der Zwischenzeit erhoben und hatte einen weiteren Stuhl beigezogen, auf dem der Orangehaarige Platz nahm. Akaashi hingegen stellte sich genau hinter den Orangehaarigen. Alle Augenpaare waren nun erneut auf den Kleineren gerichtet. Er musste es ihnen sagen. Er musste Kageyama helfen – er war es dem Schwarzhaarigen schuldig. Erst atmete der junge Mann tief ein und aus - dann begann Shoyo zu erzählen. Einfach alles, was die letzten Monate vorgefallen war. Wie Ushijima ihn mehrmals bedroht hatte, sogar auf Akaashi losgegangen war und warum Bokuto damals eingeschritten war. Wie er täglich unter den Schikanen zu leiden hatte und wie oft er mitbekommen hatte, dass er nicht Ushijimas einziges Opfer war. Und auch vom heutigen Tag, wo Ushijima ihn am Hals gepackt und beinahe gewürgt hatte. Einfach alles brach aus dem jungen Mann heraus. Es dauerte einige Minuten, wo es im Raum mucksmäuschenstill war. Jeder lauschte Hinatas Worten. Je mehr der junge Mann Preis gab, desto mehr zog sich Tobios Herz zusammen. Wie lange war dieser kleine Kerl bloß diesem Tyrannen ausgesetzt gewesen? Wut stieg wieder in ihm auf, versuchte sie jedoch, so gut es ging, zurückzuhalten. „Wollen Sie ernsthaft jemanden dafür bestrafen, der Zivilcourage bewiesen hat?“ Allein, als Hinata diese Worte sprach, vernahm Tobio eine angenehme Wärme in sich aufsteigen. Sein Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen. „Er hat mich gerettet!“ Es fühlte sich an wie ein Mantra, das durch seine Gedanken jagte. Dass sich der kleine Kerl so sehr für ihn einsetzte – es wirkte surreal. Tobio konnte einfach nicht glauben, dass sich tatsächlich jemand um ihn schert. Dass jemand ihm zur Hilfe kam. Ungläubig beobachtete er den Orangehaarigen weiterhin dabei, wie dieser die ganze Zeit ein Argument nach dem anderen lieferte. Seine Entschlossenheit war bis zu dem Schwarzhaarigen spürbar. So kannte er den sonst so schüchternen und zurückhaltenden Hinata nicht. Selbst Keishin war kreidebleich und warf einen seitlichen Blick auf Tobio. Dass sein Schützling eine solche Heldentat begangen hat, war ihm nicht bewusst gewesen. Er hatte den Jüngeren zu Unrecht beschuldigt. Aber warum hatte er dann geschwiegen? Warum hatte er sich nicht verteidigt? Nachdem Shoyo seine Sichtweise erklärt hatte, trat wieder Stille ein. Die Direktorin stützte ihren Kopf auf ihrem Handrücken ab. Der Konrektor hingegen war außer sich. „Sehen Sie es jetzt ein? Es war ein großer Fehler einen Kriminellen auf unsere Schule zu holen. Er hat unsere gesamte Schülerschaft in Angst und Schrecken versetzt! Nicht auszudenken was geschehen wäre, wenn Herr Kageyama nicht zur rechten Zeit da gewesen wäre!“, der ältere Mann blickte in Tobios Richtung. „Junge, was dich anbelangt, habe ich mich geirrt. Es tut mir leid“, nach diesen Worten verneigte sich der Konrektor vor dem jungen Mann, der seine Augen nicht trauen konnte. Tobios Augen wanderten zu Hinata rüber, der ihm ein kurzes Lächeln schenkte. Der Schwarzhaarige wusste nicht, wie er sich in diesem Moment fühlen sollte. Er war glücklich – das erste Mal seit wirklich langem. Die Direktorin tat es dem Konrektor daraufhin gleich und teilte unter anderem mit, dass den Schwarzhaarigen unter diesen Umständen keine Strafe zu erwarten hatte. Sie bedankte sich sogar bei dem jungen Mann. Tobio konnte es immer noch nicht glauben – gar begreifen. Mit so einer Reaktion hatte er nicht gerechnet. Um die ganze Angelegenheit nun endgültig zum Ende zu bringen, bat Frau Yamori darum, dass nur sie, der Konrektor, Akaashi, Herr Takeda und Keishin weiterhin dem Gespräch beiwohnen sollten. Da Tobio immer noch schwer verletzt war, wurde Hinata darum gebeten ihn nebenan ins Krankenzimmer zu bringen, wo man seine Wunden versorgen konnte. Schweigend verließen sie daraufhin das Büro und peilten das Krankenzimmer an, das sich wenige Meter neben dem Direktorzimmer befand. Stille. Anders konnte man die Atmosphäre zwischen den Beiden nicht definieren. Shoyo lief langsam neben dem Schwarzhaarigen her und stützte sich an der Wand ab. Die kurze Pause im Direktorzimmer hatte ihm sehr gutgetan – zumindest konnte er wieder allein laufen. Als sie das Zimmer erreicht hatten, mussten sie feststellen, dass kein Personal da war. Sie waren allein. Der Orangehaarige lief auf geradem Weg auf den Medizinschrank zu und nahm Salbe und Verband hervor. Sein eigener Gesundheitszustand war ihm in diesem Moment egal. Seine Wunden wurden bereits versorgt und er hatte auch schon Schmerztabletten eingenommen. Seine Priorität galt dem Größeren hinter ihm. Anhand dessen Mimik mussten die Schmerzen heftig sein. Die ganze Zeit über musste er diese wohl verborgen haben. Bei dem Gedanken musste Shoyo den Kopf schütteln – er war ja in dieser Hinsicht nicht anders. Sie waren sich in einigen Dingen sehr ähnlich. Tobio nahm währenddessen auf der Liege Platz und beobachtete den Kleineren bei seinem Werk. Als Hinata alles zusammen hatte, trat er an den Größeren heran. Nachdem er die Utensilien auf einem kleinen Tisch, der neben der Liege stand, abgelegt hatte, wand er sich wieder Kageyama zu. „Du musst-“, kurz wand der Kleinere den Blick ab und wand sich der Salbe zu. Er konnte dem Schwarzhaarigen nicht in die Augen sehen. Zu sehr fühlte er sich von diesem beobachtet. „-dich obenrum frei machen. Sonst komme ich nicht an deine Verletzungen dran.“ Der Ältere hob fragend eine Augenbraue und musterte sein Gegenüber. Er wollte ihn medizinisch versorgen? Sich um ihn kümmern? Der Orangehaarige wirkte so nervös. Er wich sogar seinen Blicken aus. Hatte er etwa immer noch Angst vor ihm? Bestätigend nickend kam der Größere der Aufforderung nach und zog erst den schwarzen Gakuran und danach sein blutgetränktes Hemd aus. Nach und nach zeigten sich die Schürfwunden und Prellungen. Nachdem sich Tobio obenrum freigemacht hatte, drehte er sich zur Seite. Shoyo nahm daraufhin neben dem Schwarzhaarigen Platz und wand sich dessen Rücken zu. Zart fuhr er mit seinen Fingerkuppen über die gereizte Haut. Er musste zugeben, dass der Schwarzhaarige vor ihm eine wunderschöne Haut besaß. Sie war so schön weich und wies keinerlei Unreinheiten auf. Er musste wohl sehr auf seine Gesundheit achten. Auch die Muskeln, die sich unter der Haut abzeichneten, konnten sich sehen lassen. Trainierte er etwa auch noch? Kopfschüttelnd versuchte Shoyo diese irreführenden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Er musste sich konzentrieren. Zögerlich öffnete der Kleinere die Tube und tauchte den Mittel- und Zeigefinger ein. Sie zitterten. Tief ein und ausatmend wand er sich wieder dem breiten Rücken zu. „Es kann ein bisschen brennen…“, die Worte waren leise. Fast schon zu leise, sodass es dem Schwarzhaarigen schwerfiel diese genau zu verstehen. „Ngh!“, kurz darauf spürte Tobio einen brennenden Schmerz. Zischend biss er sich auf die Zähne. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Seine Haut fühlte sich an, als ob sie in Flammen stehen würde. Bis eben hatte er nicht einmal seine Schmerzen gemerkt, was auch daran lag, dass das Adrenalin ihn gepusht hatte. Aber nun kamen das Ausmaß seiner Verletzungen zum Vorschein. Immer wieder zuckte er aufgrund der Berührungen zusammen. Er hasste es in diesem Augenblick Schwäche zu zeigen – dann ausgerechnet noch vor dem kleinen Kerl, der selbst am Ende seiner Kräfte war. Dem Orangehaarigen blieb währenddessen die Reaktion des Älteren nicht verborgen. Aber dennoch fuhr er weiter fort. Immer wieder vollzog er die selben sorgfältigen Einreibemethoden. Shoyo wusste, wie er diese Art von Schmerzsalbe zu verwenden hatte, schließlich hatte er diese bei seiner Schwester oft genug zum Einsatz bringen müssen. Natsu war ein kleiner Tollpatsch, genauso wie er eigentlich. Es vergingen mehrere Minuten, wo sie beieinandersaßen. Je öfters Shoyo die Salbe auf die Haut einmassierte, desto mehr ließ der Schmerz schließlich nach. Tobio spürte, wie ein angenehmer Schauer seinen Rücken hinunterlief. Er genoss die Berührungen, die ihm zuteilwurden. Diese Art von Fürsorge hatte er schon lange nicht mehr erhalten. Wie diese schmalen Finger vorsichtig über seine Haut wanderten. Dass diese Fürsorge ausgerechnet von Hinata ausging, machte den Moment besonders – schon fast unvergesslich. Kurz schloss Tobio seine Augen. Es fühlte sich so wunderbar an. Er wusste schon gar nicht mehr, wie lange es her war, dass er sich so fallen lassen konnte. Auch wenn diese Berührungen aktuell eher aus medizinscher Sicht veranlasst waren, sie waren Balsam für seine Seele. „Du hast da einen Kratzer. Er ist nicht tief – aber dennoch würde ich ihn gerade mitversorgen. Aber nur, wenn es in Ordnung für dich ist.“, plötzlich spürte Tobio, wie die selben Finger vorsichtig über seine linke Wange strichen. Als ob der Ältere aus einer Trance erwacht wäre, öffnete er seine Augen und blickte in diesem Moment genau in die Seelenspiegel seines Gegenübers. Diese goldbraunen Augen zogen ihn regelrecht in den Bann. Tobio konnte seinen Blick nicht abwenden – zu sehr fühlte er sich magisch angezogen. Er war unfähig etwas zu sagen. Mehr als ein Nicken konnte er nicht hervorbringen. „Okay…“, Shoyo lächelte den Älteren daraufhin an, ehe er erneut seine Finger in die Salbe tauchte und danach über die besagte Stelle strich. Es tat nicht weh – im Gegenteil. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich auf Tobios Haut aus. Ungläubig behielt er Hinata genau im Auge. Langsam ließ er seinen Blick über den Kleinen schweifen. Er war ihm so nah, sodass er zum ersten Mal dessen Präsenz spüren konnte. Der Orangehaarige wirkte so zierlich – er besaß keine weit ausgeprägten Muskeln. Aber dennoch fand er, dass Hinata ein gutaussehender junger Mann war. Vor allem die Brille passte perfekt zu ihm. Er ließ seinen Blick weiterwandern. Dann bemerkte er dessen bandagierte Hand, die die Tube festhielt. Tobio konnte sich nicht erinnern, dass der Orangehaarige an der Hand verletzt wurde. Oder hatte er etwas übersehen? Nachdem Shoyo die medizinische Versorgung beendet hatte, verstaute er die Utensilien wieder im Schrank. Dann trat er an die Liege heran und blieb vor dieser stehen. Nervös begann er daraufhin mit seinen Fingern zu spielen. Wie sollte es nun weitergehen? Sie waren immer noch allein im Raum. Tobio zog sich währenddessen wieder sein Hemd an - den Gakuran verstaute er in seiner Hängetasche. Als er alles zusammengepackt hatte, sah er wieder zu dem Orangehaarigen auf, der immer noch an Ort und Stelle stand. Sie sahen sich eine Weile lang an, ehe Shoyo sich langsam wieder neben dem Älteren auf der Liege niederließ. Nun saßen sie da – wie bestellt und nicht abgeholt. Die Sonne ging bereits unter. Die letzten Sonnenstrahlen schienen durch das Fenster, das sich hinter ihnen befand und tauchte alles in ein tiefes Orangerot. Tobio warf einen seitlichen Blick auf seinen Nachbarn und wand sich wieder der bandagierten Hand zu. „Stammt diese Verletzung etwa auch von Ushijima?“ Auf die Frage hin hob Shoyo seinen Kopf und wand seine Aufmerksamkeit dem Schwarzhaarigen zu, der auf seine rechte Hand deutete. „Ach so das… nun… nein“, vorsichtig legte Shoyo seine linke Hand um sein rechtes Handgelenk. Ein zärtliches Lächeln zierte seine Lippen. „Ist mir gestern auf der Arbeit passiert. Yachi hatte zuvor heißes Wasser für einen Kunden zubereitet und ich Tollpatsch bin mit vollem Tablett gestolpert und hab mir versehentlich den Inhalt übergekippt. Aber das-“, weiter kam der Kleinere mit seiner Erklärung nicht, denn während er in seinen Erzählungen vertieft war, hatte der Schwarzhaarige nach seinem Handgelenk gegriffen. „Ja, ich höre?“ vorsichtig fuhr Tobio mit seinen Fingerkuppen über die Bandagen. Seine Stimme klang ruhig. Die Berührungen waren zärtlich und von vorsichtiger Natur. Dennoch konnte Hinata diese genau spüren. Ein Kribbeln breitete sich in seiner Magengegend aus. Dann sahen sie wieder einander tief in die Augen. Ein schwerer Klos bildete sich in Shoyos Hals. „Aber… das ist nicht schlimm, dass wollte ich noch sagen…“, stotterte Shoyo leise und wich den Blicken des Größeren aus. Er fühlte sich seltsam. Eine angenehme Wärme breitete sich zusätzlich in seinem Innern aus. Außerdem hatte er das Gefühl, dass sein Puls sich beschleunigt hatte. Ehe der Kleinere weiter darüber nachdenken konnte, folgte plötzlich ein Klopfen an der Tür. „Grufti, können wir los?“, Keishins Stimme drang durch die Tür, woraufhin der Angesprochene zusammenschreckte. Warum ausgerechnet jetzt? Die Stimmung war doch gerade so gut! Wutentbrannt erhob sich der Schwarzhaarige und funkelte die Tür an. „Ja, ich komme! Aber warte gefälligst draußen!“ „Mach hinne! Ma hat bereits das Essen auf dem Herd stehen!“ „JA DOCH!“ Shoyo musste daraufhin kichern und erhob sich ebenfalls von der Liege. Gemeinsam schritten sie wenige Sekunden später durch das Schulgebäude. Keishin lief voraus, während Tobio schweigend neben dem Orangehaarigen herlief. Kurz warf er Hinata einen seitlichen Blick zu. „Danke…“, hauchte er leise. „Hm?“, fragend sah Shoyo auf. „Dass du mir geholfen und meine Wunde versorgt hast...“, beschämt wand Tobio den Blick ab. Er spürte wie eine leichte Röte seine Wangen zierte. Shoyo hingegen kicherte leise. „Ach was. Das hätte doch jeder getan.“ „Nein… heutzutage ist es leider nicht mehr so selbstverständlich… Zumindest nicht für meinesgleichen…“, in Tobios Stimme lag etwas Trauriges. Auf die Worte hin hielt der Orangehaarige inne. Gedankenversunken sah Shoyo zu Keishin, der weiterhin vor ihnen lief. Dann wand er sich wieder Kageyama zu. Er erinnerte sich. Der Kleinere hatte ganz vergessen, welche Erkenntnis er heute über den Größeren erlangt hatte. Er wusste, worauf Kageyamas Worte deuteten. Für einen Bewährten ist es in der heutigen Gesellschaft schwierig wieder einen festen Stand zu bekommen. Schnell wurden diese vorverurteilt. Aber warum hatte der Schwarzhaarige der Direktorin nicht von Anfang an gesagt, was vorgefallen war? Laut ihren Aussagen hatte er wohl geschwiegen und alles stillschweigend ertragen. Shoyos Herz zog sich daraufhin schmerzlich zusammen. Hatte Kageyama etwa zu früh aufgegeben? Traurig sahen die braunen Augen dem Größeren nach, der gerade zusammen mit Keishin das Schultor ansteuerte. Sie hatten das Gebäude bereits verlassen. Es kam schleichend, doch zu gern wollte Shoyo wissen, was Kageyama widerfahren war. Die Beschreibung, die Kira ihm damals mitgeteilt hatte, passten tatsächlich nicht zu einem Schwerkriminellen. Alle Handlungen des Schwarzhaarigen waren von positiver Natur. Von ihm ging keine Gefahr aus und das hatte er ihm schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen bewiesen. Dieser Riese hatte es doch tatsächlich geschafft sein Interesse zu wecken. „Brüderchen~“, auf die Worte hin drehte sich Shoyo nach links und sah ein kleines Mädchen auf ihn zu rennen. Bevor der Orangehaarige reagieren konnte, wurde er in eine tiefe Umarmung gezogen. „Natsu?! Was?!“, nun war der Schmerz wieder da. „Natsu nicht doch. Shoyo ist immer noch verletzt und du erdrückst ihn!“, aus der selben Richtung kam Yachi auf die Beiden zugelaufen. Das orangehaarige Mädchen jedoch fing bitterlich an zu weinen. „Was haben sie bloß mit dir gemacht Shoyo…“, schluchzend krallte sich das junge Mädchen in der Schuluniform fest. Sie zitterte am ganzen Körper und ihre Stimme brach. Der Angesprochene hingegen erwiderte schließlich unter Schmerzen die Umarmung. „Sht ist alles gut, mir ist nichts passiert. So schnell haut mich nichts um, das weißt du doch~“ „Ich hatte solche Angst um dich, Brüderchen.“ Tobio war zwischenzeitlich stehen geblieben und sah sich das Szenario aus der Ferne an. Es war ein beruhigendes Bild. Hinata war nicht allein. Er hatte Freunde und eine Familie. Ein trauriges Lächeln zierte seine Lippen, ehe er seine Hände in die Hosentasche steckte. Keishin, der dicht hinter ihm stand, legte seine Hand auf dessen Schulter ab, woraufhin Tobio hinter sich sah. Mit einer Kopfbewegung dirigierte der Blondhaarige Richtung Auto. Gemeinsam machten sich die Beiden auf den Weg. Sie waren fast am Auto angekommen, als sie einen lauten Schrei hörten. „KAGEYAMA!!!“ Der Angesprochene hielt in seiner Bewegung inne. Er erkannte bereits diese wunderschöne Stimme, auch wenn diese aktuell anders klang. Vorsichtig drehte sich der Ältere um und sah Hinata in der Ferne vor sich stehen. Der Kleinere hatte seine Hände gegen seine Knie gestemmt. Schwer atmend sah der Orangehaarige auf. Wieder herrschte diese Stille zwischen ihnen. Erneut waren ihre Augenpaare aufeinander gerichtet. Blau traf auf Goldbraun. Die Zeit stand still, für Beide. „Ich wollte-“, ein leises Schluchzen unterbrach Hinatas Worte. Kurz hielt der Kleinere inne, ehe er weiter fortfuhr. Tobios Augen weiteten sich, als er sah, wie sich Hinatas Augen mit Tränen füllten. „Ich wollte mich bedanken… einfach für alles...“, seine Hände zitterten erneut. Dicke Tränen kullerten seine Wangen hinunter. Shoyo rang um Fassung. Er hätte es beinahe vergessen. Beinahe hätte er vergessen seinem Retter zu danken. Er selbst hatte den „Dank“ bereits einkassiert, dabei war dies doch nicht der Rede wert gewesen. Kageyamas Heldentat war größer. Seine Tat hatte ihn zutiefst berührt. „Ich…“, nun begann sein ganzer Körper zu beben. Tobio stand immer noch fassungslos dar. Seine Augen leuchteten auf, während er den kleinen Kerl vor sich ansah. Inzwischen fing der Jüngere an zu weinen. „Ich danke dir…“, Shoyo sank schließlich zu Boden. Seine Fingernägel bohrten sich in seine Oberarme. Knirschend biss der Orangehaarige seine Zähne aufeinander, ehe er erneut aufschrie: „DANKE, DAS DU MICH GERETTET HAST!!!!“, sein Schrei war laut und von so vielen unterschiedlichen Facetten an Emotionen geprägt. Tobio lief es eiskalt den Rücken hinunter– Keishin stand ebenfalls fassungslos hinter seinem Schützling. Nach diesen Worten verneigte sich Shoyo vor dem Schwarzhaarigen. Seine Stirn berührte bereits den Boden. Immer noch kullerten seine Tränen seine Wangen hinunter -er ließ seinen Emotionen nun endgültig freien Lauf. Bitterlich weinend krümmte er am Boden. Tobio stand einfach nur da. In diesem Moment stand immer noch die Zeit für ihn still. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Sollte er ihn trösten? Ihm aufhelfen? Jedoch hielt ihn etwas zurück. Er sollte den Kleineren erst mal zur Ruhe kommen lassen – nach allem Abstand zwischen sie bringen. Yachi hatte sich inzwischen zu dem Orangehaarigen dazugesellt. Sie legte ihre Arme um Hinata und zog ihn zu sich. Behutsam streichelte die Jüngere über dessen Rücken und versuchte ihn so zu beruhigen. Kurz sah die Blondine auf, woraufhin sie Tobio dankend zunickte. Hinter ihr erschien auch Natsu, die sich ebenfalls an ihren Bruder schmiegte. Das Bild, das sich vor dem Schwarzhaarigen präsentierte, hatte etwas nostalgisches an sich. Familie – Freunde. Nähe und Geborgenheit. Alles, was Tobio leider nicht mehr besaß. Aber vergangenem hinterhertrauern, brachte ihn nicht weiter. Er musste weiter seinen Weg gehen – das Vergangene nun endgültig hinter sich lassen. Ein zärtliches Lächeln zierte Tobios Lippen, woraufhin er ihnen den Rücken zuwand und sich von der kleinen Gruppe entfernte. Er lief der untergegangenen Sonne entgegen. Der Horizont verblaste bereits in einem hellblauen Ton und die ersten Sterne schmückten die Dämmerung. Mit jedem Schritt wurde ihm mehr und mehr bewusst, was das alles zu bedeuten hatte. Es war ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Seine Tat hatte Menschen berührt. Sie hatten ihn berührt bis tief in sein Herz. Seine Hand wanderte zu seinem Brustkorb. Ab heute wurden neue Grundmauern gelegt, die nun nach und nach erweitert werden würden. Tobios Blick war starr geradeaus gerichtet. Der heutige Tag hatte seinen neuen Weg eingeläutet. ❤❤❤❤❤ Kapitel 14: Akt II: Part I – the open door ------------------------------------------       […] „Danke“ […]   Immer wieder sah Tobio ihn vor sich – knieend. Weinend. In sich zusammengefallen, in einem Meer aus Tränen. Losgelöst von allem, was ihn bisher gefesselt hatte. Tränen des Danks, Tränen des Loslassens… Es waren so viele Facetten an Emotionen gewesen, die an diesem Nachmittag das Tageslicht erreicht hatten. Ein Bild, das den Schwarzhaarigen auch nach drei Tagen noch nicht loslassen wollte. Hinatas Körper hatte gezittert, die Strapazen der letzten Stunden waren noch sichtbar gewesen. Die Art und Weise, wie Hinata einfach vor ihm gekniet hatte, dessen Stirn fast den Boden berührte. Körperlich so zierlich und dennoch seelisch so stark.   […] „Danke, dass du mich gerettet hast!!“ […]   Diese Stimme - sie ging ihm durch Mark und Bein. Ließ ihn erzittern. Ein Schaudern ging durch Tobios Körper, brachte sein Blut in Wallung. Warum hat Hinata das getan? Warum war der kleine Kerl so aufgelöst gewesen?   Nachdenklich saß Tobio auf seinem Bett und schaute aus dem Fenster. Seine Iriden folgten den Regentropfen, die sich ihren Weg an der Scheibe hinabbahnten. Die Prügelei lag nun schon ganze drei Tage zurück und aufgrund der Verletzungen wurde dem Schwarzhaarigen eine Woche Bettruhe verschrieben, da er sich mal wieder eine Gehirnerschütterung und mehrere Prellungen zugezogen hatte. Seitdem hatte er kaum sein Zimmer verlassen. Essen tat er auch nur sehr wenig. Er nahm nur das nötigste zu sich, damit sein Magen nicht mit ihm anfing zu reden, aber ansonsten verspürte er keinen Hunger. Seine Gedanken kreisten. Ließen ihn jene Situation mehrmals Revue passieren und fanden immer wieder zu diesem Bild zusammen. Wie der kleine Hinata vor ihm auf die Knie gefallen war und bitterlich weinend ihm gedankt hatte. Einfach so. Für eine Sache, die nach Tobios Meinung mehr als selbstverständlich gewesen war. Zivilcourage. Eine Sache, die Tooru ihn damals gelehrt hatte. Es war doch das selbstverständlichste, das man einem half.   Seufzend lehnte Tobio daraufhin seinen Hinterkopf an der Wand an und sah zur Decke auf. Aber der Dank galt auch dem kleinen Kerl. Ohne dessen Einsatz wäre der Größere von der Schule suspendiert worden. Die Art und Weise, wie Hinata ihn danach im Krankenzimmer behandelt hatte. Wie diese zierlichen Finger seine Haut berührt hatten. Wie ein angenehmes Kribbeln seinen Körper durchzog. Wie diese Hände schließlich seine Wange berührt hatten und seine Iriden auf Tigerauge-ähnliche Seelenspiegel trafen. Wie er denselben Ausdruck in diesen Augen ausmachten konnte, der ihm bereits mehr als bekannt vorkam. Einsamkeit - Traurigkeit. Es fühlte sich so vertraut an. Als für einen Moment einfach nur die Zeit stillstand. Es war an jenem Tag so viel auf einmal passiert. Tobio konnte nur sehr langsam realisieren, was geschehen war und welche Auswirkungen das Ganze haben würde. Seine Emotionen fuhren Achterbahn. Es waren so viele Facetten an Empfindungen, die auf ihn niederregneten. Wirbelten seine Gedankenwelt, die ohnehin schon Kopf stand, wild durcheinander. Hinterließ ein Chaos, das kaum noch zu bändigen war. Ein plötzliches Klopfen ließ ihn schließlich aus seinen Gedanken hochschrecken.   „Tobio, kann ich reinkommen?“   Der Angesprochene gab nur ein Murren von sich, woraufhin sich die Tür öffnete und Kira eintrat. Die Blondhaarige trug ein Tablett vor sich, auf dem sich zwei dampfende Teetassen befanden. Langsam trat die Mutter seines Bewährungshelfers an das Bett heran und stellte das Tablett auf dem Schrank nebendran ab. Danach nahm sie auf der Matratze neben Tobio Platz und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.   „Inzwischen hast du dich hier gut eingelebt, was?“   „Hm…“, gab der Schwarzhaarige von sich und lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe und zog seine Beine nah an sich heran. Kira sah ihn hierbei seitlich an und senkte schließlich ihren Blick.   „Warum so niedergeschlagen? Ist das etwa die Reaktion eines Helden?“   Überrascht sah Tobio auf und hob eine Augenbraue nach oben.   „Ein Held? Ich?-“, danach ließ der junge Mann seinen Kopf wieder gegen die Fensterscheibe fallen. „-Mach dich nicht lächerlich…“   Kira sah den Jüngeren daraufhin traurig an. Tobio hatte sich die letzten Tage hier im Zimmer eingesperrt. Er sprach nicht über das, was geschehen war. Es war Keishin gewesen, der sie aufgeklärt hatte. Die Art und Weise wie der Jüngere sich zurückgezogen hatte, ließ erahnen, dass er drohte in sein altes Muster zurückzuverfallen. Dabei hatte sich der Schwarzhaarige die letzten Monate so positiv entwickelt. Er war auf dem besten Weg gewesen - sollte nun tatsächlich dieses Ereignis ihn wieder zurückgeworfen haben?   „Warum bist du so deprimiert? Du solltest stolz auf dich sein. Du hast jemandem geholfen, der in Not gewesen war. Glaub mir, ich kenne Hinata schon seit er klein war. Er hatte schon immer Probleme mit Schikanen. Er ist einfach zu liebenswürdig und aufgrund seiner Größe ist er nun mal ein leichtes Opfer für jene, die danach suchen.“   Nach diesen Worten erhob sich Kira und schritt auf den Schrank zu. Sie ergriff die beiden Tassen, trat an Tobio heran und hielt ihm die dampfende Tasse lächelnd entgegen. Dankend nahm der junge Mann die Tasse entgegen und beobachtete sein Gegenüber, während diese sich wieder dem Schrank nährte. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt und Tobio hatte bereits eine Ahnung, was es sein könnte. Kira blieb währenddessen vor einem Portrait stehen.   „Ist er das?“, kam es leise flüsternd von ihr, ehe sie den Bilderrahmen hochhob und den Inhalt genauer betrachtete. Im Rahmeninnern befand sich die Zeichnung von Tooru, die sich bis vor kurzem noch in seinem Notizbuch befand. Vor wenigen Tagen hatte Tobio das Bild vorsichtig aus dem Buch entnommen und eingerahmt. Es war die letzte Erinnerung an ihn. Das einzige Bild, das er von ihm besaß. Etwas, was ihn an die guten Zeiten erinnerte und ihm half nach vorne zu sehen.   „Ja…“, hauchte der Schwarzhaarige leise und nippte an der Tasse.   Ein minziger Geschmack kitzelte seine Lippen. Die Mutter seines Bewährungshelfers wusste inzwischen, dass er Pfefferminztee mochte. Sie hatte immerhin schon mehrmals mitbekommen, wie er sich fast jeden Abend eine Kanne zubereitet hatte. Er erinnerte sich an die Abende, an denen sie zusammen am Tisch gesessen und geredet hatten. Auch über Tooru. Inzwischen war Tobio dazu in der Lage über ihn zu reden. Erst dachte er, dass Kira ihn aufgrund seiner Homosexualität verurteilen würde, aber sie ging locker mit dem Thema um. Sie war offen. Wieder etwas, was die Ältere von seinen eigenen Eltern unterschied. Kira lächelte auf die Antwort hin und nahm wieder neben dem jungen Mann Platz. Dabei hielt sie ihm das Bild vor Augen.   „Schau mal, du versucht nach vorne zu sehen. Du versuchst deine Vergangenheit hinter dir zu lassen. Du hast die ersten Schritte bereits erfolgreich getätigt. Deine Tat war eine Heldentat. Du hast bewiesen, dass es einen Weg aus der dunkelsten Finsternis gibt. Nicht jeder hätte sich diesem Wakatoshi in den Weg gestellt, aber du hast es getan und hast ihm die Stirn geboten. Weißt du, Tobio. Ich denke, dein Freund wäre stolz auf dich.“   Der Angesprochene sah kurz auf, ehe er einen Blick auf das Bild warf. Vorsichtig nahm er den Bilderrahmen entgegen und sah auf sein Werk herab. Ein schwerer Klos bildete sich in seinem Hals.   „Ich wollte sie endlich loswerden…“, kam es flüsternd über Tobios Lippen. Mehrmals fuhr er daraufhin mit seinen Fingerkuppen über die Glasoberfläche.   „Was wolltest du loswerden?“, Kira stellte die inzwischen leere Tasse auf dem Schrank ab.   „Meine Schuld… Weißt du… als ich damals noch Mitglied dieser Gang gewesen war, habe ich mehrmals mitansehen müssen, wie unschuldige – schwächere Menschen einfach ohne Grund zusammengeschlagen wurden. Ich stand daneben. Ich hatte einfach nur zugesehen. Wie sie mehrmals nach Hilfe gerufen hatten. Warum ich nicht eingeschritten bin, weiß ich nicht. Lag es daran, dass ich Angst vor unserem Ganganführer hatte? War ich vielleicht einfach nur in Trance und nahm das alles nicht so wahr? Jedenfalls habe ich erst während meinem JVA-Aufenthalt realisiert, was ich eigentlich angestellt habe. Tooru hätte dieses Verhalten nie gutgeheißen. Ich wage sogar zu behaupten, dass er mich in dieser Zeit gehasst haben muss…“   Kira hielt geschockt den Atem an und sah den Jüngeren fassungslos an. Unglaube spiegelte sich in ihren Augen wider. Sie wusste erst nicht, wie sie reagieren sollte. Sie war wie gelähmt. Es überraschte sie, dass Tobio tatsächlich Vertrauen zu ihr zu fassen schien. Dass er ihr von seiner Vergangenheit erzählte. Dass er sich schon so lange mit dieser Schuld auseinandersetzte und nie wirklich jemanden zum Reden hatte. Ihn bestärkte, ihm zusprach und einfach nur für ihn da war. Kurz atmete sie ein und aus, ehe sie leise das Wort an ihren Nachbarn wand.   „Tobio, du warst in einer sehr schwierigen Lage damals gewesen. Du hattest dich komplett selbst verloren. Die Vergangenheit kannst du nicht mehr rückgängig machen, aber du kannst es nun besser machen. Lerne aus deinen Fehlern und versuche ein besserer Mensch zu werden. Du hast doch bereits bewiesen, dass du dazu in der Lage bist.“   Verwundert hielt Tobio nach diesen Worten inne und sah zu Kira auf, die den jungen Mann daraufhin lächelnd in ihre Arme schloss. Es war eine Geste, die der Schwarzhaarige so nicht kannte. Das saphirblaue Augenpaar weitete sich. Nicht einmal seine eigene Mutter hatte ihn jemals in den Arm genommen. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern jemals ihre Wärme so verspürt zu haben. Diese Frau neben ihm gab ihm so viel mehr. Sie war in den letzten Monaten mehr Mutter für ihn gewesen als seine leibliche. Tobio wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er war unfähig sich zu rühren. Kira hingegen wusste, was dem jungen Mann fehlte. Vorsichtig fuhr sie dem jungen Mann durch die Haare und lehnte ihren Kopf schließlich an seinem an.   „Glaub an dich, Tobio. Lerne dich selbst zu akzeptieren - deine Stärken, sowie deine Schwächen. Sei du selbst, tu was du für richtig erachtest,“ Kira wusste, dass der Schwarzhaarige normalerweise ein distanzierter Mensch war, aber gerade im Moment schrie er innerlich nach Anerkennung.   „Du bist ein herzensguter Mensch, dem viele schlimme Dinge passiert sind. Wir kennen uns zwar noch nicht so lange, aber mein Gefühl hat sich von Anfang an bestätigt. Du willst weitermachen. Dein Herz schreit regelrecht nach Akzeptanz. Du willst gesehen und beachtet werden. Du willst, dass sie deine Anwesenheit spüren. Du willst nicht länger in der Dunkelheit verweilen.“   Anerkennung, die er bisher immer nur von einer Person erhalten hatte.   „Du bist ein Kämpfer, Tobio. Führe dir das immer vor Augen.“   Einer Person, die leider nicht mehr unter ihnen weilte. Es war traurig und dramatisch, aber dennoch konnte die Blondhaarige einfach nicht anders. Tobio hatte eine zweite Chance verdient.   „Kämpfe für das, was dir wichtig ist…“   Das war der Moment, in dem sich zwei starke Arme um die Frau schlangen. Sie krampften zusammen, verweilten an Ort und Stelle. Kira lächelte, während sie spüren konnte, wie der Körper des jungen Mannes zu beben anfing. Die Mauer brach, Stück für Stück. Es war das erste Mal, dass Tobio diese Nähe zuließ – sie sogar von selbst erwiderte. Ein leises Schluchzen durchbrach die Stille.   „Danke…“   Es waren simple Worte. Worte, die von Herzen kamen. Worte, die so viel mehr bedeuteten, als sie den Anschein hatten. Tobio wusste, dass er nicht mehr allein war. Er hatte eine Familie, die hinter ihm stand. Er war angekommen. Endlich fielen die letzten Mauerteile in sich zusammen und brachten etwas hervor, dass so lange im Dunkeln verborgen lag. Glückseligkeit und Dankbarkeit. Tränen bahnten sich ihren Weg an seinen Wangen hinab, während er sich mehrmals auf die Unterlippe biss und seine Umarmung verstärkte.   „Danke, dass du an mich glaubst…“             [wenige Tage später]   „Menü 3 an Tisch 24~“, kam es aus der Küche, wo ein riesiges Tablett den Weg durch die Durchreiche fand.   Die letzten Tage vergingen sehr schnell. Besonders, wenn man Sonderschichten in der Gastronomie schieben musste.   „Cocktail Sunrise und Swimmingpool an die Frontbar~“, ertönte es sogleich aus dem gegenüberliegenden Bereich.   Hinata nahm die Beine in die Hand und flitzte von einem Ecken des Restaurants in die nächste. Seine Beine trugen ihn in Windeseile in jede Richtung. Die Tabletts balancierte der Orangehaarige einwandfrei in beiden Händen. Immer wieder wand er sich zwischen den Tischreihen hindurch, nahm Bestellungen entgegen und beförderte die Getränke samt Essen an ihre entsprechenden Plätze. Manchmal kam er sich vor, als ob er Rollschuhe tragen würde. Seit er vor zwei Jahren im Dinners angefangen hatte zu arbeiten, hat er seine Bewegungen und Reaktionsfähigkeiten perfektioniert. Was anfangs viel in Form von Tellern und Gläsern zu Bruch ging, fand nun seinen richtigen Weg und kamen vor allem heil und unversehrt am gewünschten Ort an. Yachi, die sich um die Theke kümmerte, sah dem Wirbelwind mehrmals nach und folgte seinen Bewegungen.   „Shoyo, nun mach mal halblang. Verausgabe dich nicht direkt wieder. Du wurdest erst gestern für komplett genesen erklärt.“   Der Angesprochene stoppte vor ihr und stellte währenddessen die Cocktailbecher auf dem leeren Tablett ab, das er zu seiner linken hielt.   „Mir geht es gut, Yachi. Mach dir keine Gedanken“, ein freches Grinsen schlich sich daraufhin auf Shoyos Lippen, als er seiner besten Freundin die Zunge rausstreckte.   „Du bist echt unmöglich. Immer auf Zack. So kennt man dich“, kicherte die junge Frau und sah kopfschüttelnd dem Orangehaarigen nach, der sich wieder in der Zwischenzeit auf den Weg zum nächsten Tisch begeben hatte. Ein Seufzen verließ Yachis Lippen, als sie ihn bei seinem Tuen beobachtete.   Neben der Blondhaarigen kam eine weitere junge Frau zum Stehen. Sie war ein gutes Stück größer, besaß schwarzes Haar und hatte diese zu einer Hochsteckfrisur hochfrisiert. Ihre Haut war bleich und ihre Seelenspiegel meeresblau. Sie trug eine weiße Bluse und einen enganliegenden schwarzen langen Rock, der ihr bis unterhalb der Kniekehlen reichte.   „Wann willst du es ihm endlich sagen, Hitoka?“   Auf die Frage hin sah die Angesprochene etwas verstört zu ihrer Kollegin auf, die sich wieder dem Papierstapel in ihren Händen gewidmet hatte. Es handelte sich hierbei um die Buchhalterin des Restaurants. Kiyoko Shimizu.   „Ehm… ich weiß jetzt nicht, wovon du da redest… “, verlegen sah Yachi zur Seite und zwirbelte mit ihrem Finger in ihren Haaren umher. Ihre Wangen liefen augenblicklich rötlich an.   „Oh, ich glaube schon. Du schmachtest ihn an, deine Augen leuchten regelrecht, wenn sie ihm nachsehen und du grinst gerade schon wieder wie ein Honigkuchenpferd. Es ist offensichtlich.“, kam es monoton von der Schwarzhaarigen, die die Papierstapel zurechtrückte.   Wie auf frische Tat ertappt, hob Yachi ihre Schultern nach oben und strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.   „Findest du tatsächlich?“, etwas in Gedanken versunken sah sie Hinata nach, der gerade ein Tablett mit Teller belagerte, auf denen sich die köstlichen Gerichte ihres Vaters befanden. Der Orangehaarige war in höchster Konzentration, als er seinen Weg fortsetzte.   „Sag es ihm, warte nicht zu lange…“, daraufhin spürte Yachi eine Hand auf ihrer Schulter. Als sie hochsah, blickte sie in Shimizus lächelndes Gesicht. Zuversichtlich nickte die Größere ihr zu, ehe sie ihren Weg zurück ins Büro fortsetzte und die Blondhaarige an der Theke allein ließ.   Shoyo war währenddessen wieder voll in seinem Element. Die Stunden waren im nu verflogen. Als alle Gäste versorgt waren, wollte er sich auch eine kurze Pause gönnen. Zufrieden lief er zwischen den Tischreihen hindurch und steuerte einen weit abgelegeneren Tisch an, an dem ein paar seiner Klassenkameraden ihn bereits erwarteten.   „Hey, hey, hey~ da ist ja unser kleiner Sonnenschein~“, mit wild wedelnden Händen hieß Bokuto den Kleineren willkommen und rückte ein Stück zur Seite, sodass Hinata zwischen ihm und Akaashi Platz nehmen konnte.   „Meine Güte, nun lass ihn doch erst mal zur Ruhe kommen.“, kam es von Akaashi und reichte dem Orangehaarigen ein Glas Limonade.   „Danke…“, entgegnete Shoyo und setzte das Glas an. Es war eine Wohltat für seinen Hals, der bereits vor der Austrocknung stand. Aufgrund des hohen Besucheraufkommens hatte er kaum Zeit gefunden Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Immer wieder setzte er das Glas an und ließ den Inhalt seine Kehle hinabfließen. Zufrieden stellte er schließlich das leere Glas vor sich ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchten Lippen.   „Das war so gut~“, trällerte Hinata zufrieden und ließ sich in den Stuhl zurückfallen.   „Du Ärmster, komm mal runter. Das Dinner ist wieder gut besucht heute, was?“, Akaashi drehte sich währenddessen um und sah in den befüllten Raum.   „Naja, heute ist ja auch America-Day. Die Leute hier im Dorf lieben die amerikanischen Spezialitäten und demnach sind wir auch komplett ausgebucht. Es läuft sehr gut. Wenn das so weitergeht, muss die Geschäftsführung noch mehr Kellner einstellen…“, antwortete Shoyo und sah zur Decke auf.   „Sag mal, bist ihm eigentlich nochmal begegnet?“, Kenma, der sich ebenfalls am Tisch aufhielt, sah daraufhin von seiner Nintendo Switch auf.   Auf die Frage hin hob Hinata eine Augenbraue nach oben und zog ein Tuch hervor, woraufhin er seine Brille auszog und mit dem besagten Stoff säuberte.   „Nein, so viel ich von Sugawara mitbekommen habe, ist Kageyama aktuell krankgeschrieben. Er ist aufgrund seiner Verletzungen eine ganze Woche ans Bett gefesselt. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen“, währenddessen hob Hinata seine Brille ins Licht und besah die Gläser.   „Schon mutig, was er da vollbracht hat. Dabei hatte ich ihn für ruhig gehalten. Stille Wasser sind ja bekanntlich tief“, murmelte Akaashi und sah zu Bokuto rüber, der ihm eine volle Gabel mit Pasta entgegenhielt. Die Art und Weise, wie seine beiden Klassenkameraden miteinander umgingen, ließ Shoyo lächeln, während er sich wieder die Brille aufsetzte.   „Was willst du nun machen?“, fragend sah Kenma zu Shoyo rüber, der seine Aufmerksamkeit schließlich der brennenden Kerze vor sich gewidmet hatte. Seine braunen Iriden funkelten im Kerzenschein auf.   „Ich weiß es nicht…“, flüsterte der Orangehaarige und legte seinen Kopf schief, während er seinen rechten Zeigefinger vorsichtig über die Flamme hielt. In sicherem Abstand. Es war angenehm warm – genauso warm wie diese starken Arme, die ihn beschützt hatten.   Seit jenem Tag hatte Shoyo das Gefühl, dass sich seine Gedanken immer mehr um den mürrischen Schwarzhaarigen drehten. Dieser Kageyama hatte es aufgrund seiner Tat tatsächlich geschafft sein Interesse und seine Neugier zu wecken. Immer wieder erinnerte sich der Kleinere an die gemeinsamen Augenblicke zurück, die eigentlich nicht der Rede wert waren - ihm aber auch so schon genug vermittelten. Kageyama hatte ihn von Anfang an gleichwertig behandelt. Er hatte nicht auf ihn herabgesehen, sondern war ihm auf Augenhöhe entgegengetreten. Seine Haltung sollte signalisieren, dass keine Gefahr von ihm ausging, von Anfang an nicht.   […] „Fass ihn noch einmal mit deinen dreckigen, schäbigen Händen an und ich schwöre bei Kami höchstpersönlich,- […]   Diese Stimme, die in diesem Moment mit so viel Stärke und Emotionen geprägt war, bescherte Shoyo auch heute noch eine Gänsehaut der extra Klasse.   […] „-dass ich dir das Leben zur Hölle machen werde!“ […]   Seine Nackenhaare stellten sich zu Berge, sobald er an die Situation vor fast einer Woche zurückdachte. Von dem ruhigen und eher mürrischen Kageyama war in diesem besagten Moment nichts übriggeblieben. Der Schwarzhaarige hatte ihn mit seinem Beschützerinstinkt regelrecht überrumpelt. Hinata hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Bevor der Orangehaarige jedoch weiter in seinen Gedanken versinken konnte, spürte er zwei Hände auf seinen Schultern.   „Statte ihm doch einfach einen Krankenbesuch ab~“   „Hä?“, verdutzt sah Shoyo auf und blickte direkt in Yachis nussbraue Augen, die ihn herzlich anlächelten. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sich seine beste Freundin zu ihnen gesellt hatte.   „Stimmt, das wäre doch eine tolle Geste“, kam es sogleich von Bokuto, der daraufhin freudig die Fäuste hob.   „Finde ich auch…“   „Also ist es beschlossene Sache.“   Sehr langsam fanden Shoyos Gedankengänge zusammen und er realisierte erst nach und nach, was hier gerade passierte.   „Moment mal, Leute-“, seine Augen weiteten sich vor Schreck. Mit wild umherwedelnden Armen versuchte er das Ruder noch rumzureißen. Denn bei dem Größeren einfach so zuhause aufzutauchen, ohne Ankündigung, war normalerweise gar nicht Hinatas Fall.   „Ok, Akaashi wir besorgen den Fresskorb!“   „Ernsthaft jetzt? Kannst du auch mal an etwas anderes als an Essen denken, Bokuto?“   „Ehm, Leute…“   „Ach quatsch, nur so kommt ein Kranker wieder zu vollen Kräften und schließlich gilt der Dank von uns allen. Er hat immerhin unser kleines süßes Streber-Maskottchen gerettet.“   //Bitte was?//   Seufzend ergab sich Hinata seinem Schicksal und sackte an Ort und Stelle zusammen. Entkräftet rutschte er auf seinem Stuhl umher. Das war doch jetzt nicht wirklich deren Ernst? Was wird Kageyama davon halten? Würde er sich überhaupt über seinen Besuch freuen? Es soll sich einfach nur um einen simplen Krankenbesuch handeln. Bei den Ukais. Schließlich hatte er Jahre seiner Kindheit dort verbracht. Also woher kam auf einmal diese Nervosität? Warum denkt er überhaupt darüber nach? Seit drei Jahren hatte er keinen zuhause mehr besucht, abgesehen von Kenma, der ihn mehr oder weniger zum Zocken gedrängt hatte. Aber Kenma war nun mal Kenma. Er kannte seinen Kumpel. Kageyama hingegen ist für ihn immer noch eine komplett fremde Person und bei fremden Personen verließ Hinata ungern seine Komfortzone. Der Orangehaarige spürte, wie Hitze in seinem Innern aufstieg und seine Hände augenblicklich anfingen zu schwitzen. Was war nur verdammt nochmal mit ihm los? Mit einem Mal schlug sein Kopf auf der Tischplatte auf. Shoyo konnte sich schon die imaginären Regenwolken vorstellen, die sich gerade über ihm zusammenbrauten.   //Ich bin sowas von geliefert! //     Kapitel 15: Akt II: Part II – Who you are ----------------------------------------- Da stand Shoyo nun. Einsam und allein vor verschlossenen Türen des Sakanoshita Ladens, immerhin war heute ihr offizieller Ruhetag. Tief Luft holend sah der Orangehaarige auf die Klingel neben der Tür und hielt seinen Zeigefinger dagegen. Zuerst nährte er sich dem Tastenknopf, zögerte jedoch und zog die Hand wieder zurück. Er zitterte, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Der geflochtene Korb, der mit allerlei Süßigkeiten und Vitaminen gefüllt war, bebte bereits aufgrund der Vibrationen in seinen Armen. Warum war er verdammt nochmal so nervös? Er war früher öfters hier – war sozusagen ihr Dauergast gewesen. Unsicher sah er daraufhin zum Himmel auf. Weiße Wolken zogen über ihm vorbei und eine leichte Brise wehte ihm entgegen. Von dem Regenschauer, der bis vor wenigen Stunden noch über das Land gezogen war, war keine Spur mehr zu sehen. Immer wieder mahnte Shoyo sich zur Ruhe und atmete tief ein und aus. Kurz schloss er seine Augen. //Komm schon// Warum stand er bloß so komplett neben der Spur? Wie bereits schon erwähnt – er war früher täglich hier gewesen. Wobei es Keishin gewesen war, dem er immer einen Besuch abgestattet hatte und dieser mit ihm und seinen Kumpels Fußball gespielt hatte. Das war damals eine ganz andere Situation gewesen. Sie waren Kinder. Unbeschwert und frei. Wie sie immer über die Felder getobt waren. Fangen und auch Verstecken gespielt hatten. Kinder, die ihre Welt nur wie eine bunte Fantasywelt wahrgenommen hatten – fernab der Realität. Schließlich wand sich Shoyo dem Boden zu und öffnete seine Augenlider wieder. Ja, damals war alles anders gewesen. Aber was genau hatte sich geändert? Das man erwachsen geworden ist? In seinem Fall die bittere Realität ihn eingeholt hat? Seine Gedanken wollten nicht stillstehen. Was genau war gerade in diesem Augenblick anders? Als Shoyo sich Kageyamas Gesicht ins Gedächtnis rief, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sein Herz stolperte leicht und schlug danach im regelmäßigen Rhythmus weiter. Warum geriet er innerlich so sehr aus dem Gleichgewicht, sobald er an den Größeren nur dachte? Er hatte ihn gerettet – war ihm sogar auf Augenhöhe begegnet. Dinge, die man doch als selbstverständlich ansehen sollte. Aber warum hatte der Schwarzhaarige ihn so traurig angesehen, als er sich bei ihm bedankt hatte? Shoyo war Kageyamas Blick nicht entgangen, ebenso seine Worte, die daraufhin folgten. […] „Nein… heutzutage ist es leider nicht mehr so selbstverständlich… Zumindest nicht für meinesgleichen…“ […] Erneut hielt der Orangehaarige inne und sah wieder gedankenversunken zur Klingel. Kageyama war ein Bewährter. Ein ehemaliger Verbrecher - Jemand, der in der Jugendvollzugsanstalt saß. Dieser war aktuell zwar auf freiem Fuß, durfte sich jedoch keinen Fehltritt erlauben. Shoyo war durch Ukai Seniors Erzählungen wohl bekannt, was auf die Insassen während der Bewährungszeit alles zukam. Welche Regeln sie einzuhalten hatten. Es war ein ganzer Katalog, den sie an Vorschriften einhalten mussten. Aber dennoch… // Was genau hat dich dazu angetrieben so zu werden? // Eine Frage, die Shoyo schon seit Tagen beschäftigte. Was genau hatte den Größeren dazu angetrieben auf die dunkle Seite zu wechseln? Kriminell zu werden und alles zu verlieren? Wenn er sich die Verhaltensmuster ins Gedächtnis rief, passte nichts zusammen. So benahm sich kein Gefängnisinsasse. Zumindest war keinerlei negative Energie ersichtlich. Bevor Shoyo schließlich seinen ganzen Mut zusammennehmen und seinen Zeigefinger erneut an der Klingel anbringen wollte, hörte er eine altbekannte Stimme hinter sich. „Ach hallo Shoyo, was verschafft uns denn die Ehre.“ Wie von einer Tarantel gestochen, hielt der Angesprochene erschrocken in seinem Tun inne und konnte gerade noch so den Korb festhalten, der beinahe aus seinen Händen zufallen drohte. Entgeistert sah der Kleinere hinter sich und erblickte Ukai Senior, der sich hinter ihm befand und einen Gartenschlauch in der Hand hielt. Der Ältere hatte sich wohl gerade seinen geliebten Blumen im Garten gewidmet. Erleichtert atmete der Orangehaarige aus und gesellte sich zu dem älteren Mann. „Herr Ukai, Sie sind wieder im Lande?“ Der Grauhaarige sah Shoyo von unten nach oben an und hob eine Augenbraue. „Ja, bin ich und wie ich sehe, bist du immer noch eine Bohnenstange. Ernährst du dich auch gesund?“, während der ehemalige Polizeikommissar diese Frage stellte, legte er den Gartenschlauch über den Holzzaun. „Sicher doch. Ich ernähre mich sogar sehr gesund, nur naja... ich bin halt viel unterwegs. Das würde es wohl erklären...“, entgegnete Shoyo schüchtern und kratzte sich verlegen an der Wange. Er wusste, worauf der Ältere anspielte. Der Senior sorgte sich um dessen Wohlergehen. Das hatte der Ältere schon vor drei Jahren getan. „Für wen sind denn die Leckereien hier?“, fragte der ältere Mann daraufhin und deutete auf den Korb, den Shoyo immer noch in seinen Händen hielt. „Oh… ehm… also…“, schwer schluckend sah der Orangehaarige auf den Präsentkorb herab und klammerte sich an diesem fest. „…die sind für Kageyama… Meine Klassenkameraden waren auf diese Idee gekommen und wir wollten ihm eine kleine Freude bereiten…“, die letzten Worte kamen schon fast flüsternd über Shoyos Lippen. Der Ältere jedoch hatte sie genau verstanden. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, ehe er an den jungen Mann herantrat und seine linke Hand auf dessen Schultern ablegte. „Das konnte ich mir irgendwie schon denken. Folg mir. Tobio befindet sich im Garten“, nach diesen Worten schritt der Grauhaarige an Shoyo vorbei und dirigierte mit seinem Kopf in die entsprechende Richtung. Langsam setzte sich der Orangehaarige in Bewegung und folgte dem älteren Ukai, der einen kleinen Pfad betrat, der um das Haus herumführte. Efeu und andere Schlingpflanzen umgaben sie. Shoyo kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es war wunderschön, wie alles in einem saftigen Grün erstrahlte. Besonders die Rosen hatten es dem Kleineren angetan. Herr Ukai war bekannt für seinen grünen Daumen. Der ältere Mann hatte schon damals gerne Zeit in seinem Garten verbracht und die Pflanzen versorgt. Wann immer er Zeit fand, tüftelte er neue Ideen aus, um diese in seiner Botanik entsprechend umzusetzen. Als sie schließlich den Gartenpfad hinter sich ließen, begrüßte ihn ein säuberlich gepflegter Garten. Als sein Vordermann stehen blieb, lugte Shoyo hinter diesem hervor und ließ seinen Blick schweifen. Augenblicklich hielten seine braunen Augen inne. Da saß Kageyama. In einer Hängematte. In einem lässigen grauen Tanktop, das seine Muskeln perfekt zu Geltung brachte. Weiße helle Haut kam zum Vorschein und wirkte auf den ersten Blick wie Porzellan. Die schwarzen Strähnen hingen diesem tief ins Gesicht. Im Schneidersitz lehnte der Schwarzhaarige in der Matte und hielt ein kleines Buch in seinen Händen, in das er wohl etwas reinschrieb. Zumindest sah es von weitem danach aus. Hinter ihm stand ein Kirschblütenbaum, der in voller Pracht stand. Vereinzelt wehten Blüten umher. Diese rosafarbige Farbenpracht im Einklang mit Kageyamas düsterem Kleiderstil wirkte schon fast nicht wie von dieser Welt. Shoyo stand einfach nur da und starrte den Größeren an. Dieser schien in seiner komplett eigenen Welt versunken zu sein. Er bekam nichts um sich herum mit, geschweige denn was sich abspielte. „Geh zu ihm“, flüsterte Ukai dem Kleineren zu und versetze ihm von hinten einen leichten Stups, woraufhin der Orangehaarige sich vorsichtig in Bewegung setzte. Shoyo spürte, dass sich ein flaues Gefühl in seinem Inneren breitzumachen drohte. Je näher er an den Schwarzhaarigen herantrat, desto mehr stieg auch seine Nervosität. Immer mehr verkrampften seine Finger und bohrten sich in den Flocht-Korb. Als er schließlich von hinten an den Größeren herangetreten war, erkannte er auch, was Kageyama gerade tatsächlich tat. Er schrieb nicht, sondern… „Wow…“, kam es leise über Shoyos Lippen, als er die Farbenpracht auf dem weißen Papier erblickte. Ein Vogel präsentierte sich auf dem Pergament und als der Orangehaarige über das Notizbuch hinwegsah, entdeckte er auch denselben Vogel, der gerade tatsächlich auf Kageyamas Knie saß. Das Tier war naturgetreu nachgezeichnet. Es wirkte schon fast wie ein Foto. Wie in Trance blieb der Kleinere hinter dem Schwarzhaarigen stehen und sah auf dessen Kunstwerk herab. All diese Farben, die Verläufe, die Muster… alles wirkte so echt, fast greifbar. Wie konnte nur jemand so talentiert sein? Dem Kleineren blieb vor Erstaunen der Atem weg. Eine kurze Weile war Shoyo an Ort und Stelle festgefroren. Sollte er den Schwarzhaarigen tatsächlich bei seinem Tun unterbrechen? Langsam trat er schließlich neben den Größeren. „Ich muss sagen, du bist echt begabt, Kageyama.“ Daraufhin zuckte der Angesprochene zusammen und sah erschrocken über seine Schulter zu dem Kleineren auf. „Hinata, was?“, überraschte blaue Iriden sahen ihn an und Shoyo spürte erneut, wie sich ein seltsames Gefühl in seinem Mageninneren breitmachte und für Unruhe sorgte. Diese Augen waren einfach nicht von dieser Welt. „Ich sollte wohl erst mal Hallo sagen, oder?“, nervös fuhr sich der Orangehaarige durch die Haare und widmete seine Aufmerksamkeit dem kleinen Vogel, der daraufhin neugierig auf den Korb flog und die Innereien erblickte. „Hast du Hunger, Kleiner?“, kicherte Shoyo und brach eine Erdnuss in zwei, dessen Kern er dem Piepmatz reichte. Der Vogel hüpfte neugierig heran und schnappte sich die Nuss, ehe er davonflatterte. Beide jungen Männer sahen dem Tier nach, wie es in den hohen Lüften verschwand. „Was verschafft mir die Ehre, dass du mich zuhause besuchst?“, neugierig widmete sich Kageyama wieder seinem Nebenmann zu, der daraufhin nervös neben ihm auf einem Stuhl Platz nahm. „Nun ja…. Ich wollte dir das hier vorbeibringen…“, antwortete der Kleinere schüchtern und reichte Kageyama den Korb, der diesen etwas perplex entgegennahm. „Für mich?“, überrascht sah der Schwarzhaarige auf das Geschenk herab und begutachtete den Inhalt. Allerlei Leckerei waren mit an Bord. Von Brot, bis hin zu Obst und Nüssen. Sogar Schokolade und Kekse befanden sich darin. Normalerweise hätte man bei einem Fresskorb noch Trockenfleisch vermutet, aber zu Kageyamas Verwunderung war das gesamte Essen auf einen Vegetarier abgestimmt. Woher wusste Hinata das? „Woher-?“, überrascht sah Tobio auf, ehe dieser jedoch seine Frage zu Ende stellen konnte, kam der Jüngere ihm bereits zuvor. „Naja…“, flüsterte Shoyo leise und strich sich vereinzelte Strähnen hinter sein Ohr, während er seine Schultern höher zog. „…ich habe, während den Pausen mitbekommen, dass du immer nur Gemüse zu dir genommen hast und wenn du mal etwas im Schulkiosk erworben hast, waren es immer nur vegetarische Gerichte… daher dachte ich, dass du ein Vegetarier bist. Lag ich etwa falsch?“ Tobio traute seinen Ohren nicht, sein Blick war wieder auf das Essen vor ihm gerichtet. Hatte er das alles gerade richtig verstanden? Hinata hatte ihn die letzten Wochen heimlich beobachtet? Verwunderung spielte sich in dem sonst emotionslosen Gesicht wider, während sich ein zärtliches Lächeln auf seine Lippen stahl und seine eiskalte Mauer für einen Moment unbeobachtet ließ. „Nein, du lagst vollkommen richtig“, danach sah er vom Korb auf und blickte genau in dieses bernsteinfarbige Iriden-Paar, das ihn bereits von Anfang an schon in den Bann gezogen hatte. „Ich danke dir, Hinata…“ Daraufhin sah Tobio etwas, was er bisher sehr selten bei dem Orangehaarigen gesehen hatte. Um genau zu sein – es war bisher einmal der Fall gewesen. Die Mundwinkel des Kleinen wanderten nach oben und präsentierten einen Anblick, der fesselte. Hinata lächelte. Aufrichtig und rein. Vereinzelt kamen sogar kleine Sommersprossen auf dessen Wangen zum Vorschein. „Shoyo…“, flüsterte der Kleinere leise, ehe er den Blick abwand und zum Himmel aufsah. Die braunen Augen funkelten auf. „Nenn mich einfach Shoyo…“ Tobio konnte einfach nicht wegsehen. Zu sehr war er von diesem Bild gefangen, dass sich vor ihm bot. Wie der Kleinere dasaß. Es war derselbe Gesichtsausdruck wie damals am See, als er auf der Mauer saß und seine Violine gespielt hatte. Damals schon war ihm dieses hübsche definierte Gesicht aufgefallen. Als ob Engel dieses geschnitzt hätten. Es war ein Lächeln, das verboten gehörte. Verlegen wand der Größere schließlich seinen Blick von Hinata ab und blickte auf sein Notizbuch herab. Warum hatte er ihn bloß so angestarrt? Sowas gehörte sich doch nicht! //Reiß dich zusammen... Es ist nur ein Lächeln // „Und ich bin Tobio. Einfach nur Tobio…“, stammelte der Schwarzhaarige und lugte wieder seitlich zu seinem Nebenmann. Seine rechte Hand griff in sein Top und krallte sich genau an der Stelle, wo ihm sein eigenes Herz entgegenschlug, fest. In seinem Inneren regte sich etwas. Es war ein leichtes Kribbeln. Seine blauen Iriden weiteten sich. Es war schon Ewigkeiten her, wo er so etwas wie emotionale Regung fühlte. War gerade tatsächlich Shoyos Lächeln hierfür verantwortlich? „Na, sieh mal einer an…“ Ukai Senior, der die beiden aus der Ferne beobachtete, kicherte leicht und griff nach seinem Eistee, der neben ihm auf der Fensterbank stand, gegen diese er anlehnte. Kurz darauf ging neben ihm die Schiebetür zur Küche auf und Kira betrat die Veranda. Zuvor trocknete sie sich noch die Hände an ihrer Schürze ab. Überrascht entdeckte sie den Älteren. „Was gibt’s zu lachen, Vater?“, danach wand die Blondhaarige ihre Aufmerksamkeit in dieselbe Richtung und hielt erschrocken inne. „Moment mal, ist das etwa Shoyo? Ich hab gar nicht mitbekommen, dass er geklingelt hat“ „Hat er auch nicht, ich hab ihn vorher noch abgefangen und in den Garten gelassen“, antwortete der ältere Mann und genehmigte sich einen Schluck seines Eistees. „Er wollte sich bei Tobio bedanken und hat ihm als Dank einen Präsentkorb vorbeigebracht. Der Kleine war total nervös, als ich ihn gegrüßt habe. Was auch immer vorgefallen war, es muss ihn erschüttert und zum Nachdenken angeregt haben.“, während der Senior weitersprach, sah Kira erst zu ihrem Vater und danach wieder zu Tobio und Shoyo. Kurz schloss der Senior seine Augen, ehe er weiterfortfuhr: „Kira, sind wir mal ehrlich: Shoyo sagt zwar immer, dass es ihm gutgeht, aber innerlich sieht es bei ihm ganz anders aus. Er ist einsam, fühlt sich für alles verantwortlich und mutet sich auch zu viel zu. Er ist immerhin erst 19 und muss sich mit Dingen auseinandersetzen, die für Gleichaltrige undenkbar sind. Seine Freunde kommen einfach nicht mehr an ihn heran. Das weiß ich aus erster Hand, da ich vor kurzem Kenma getroffen habe“, die Miene des Älteren verfinsterte sich. „Shoyo zieht sich immer weiter zurück, lernt wie ein Irrer und nimmt eine Sonderschicht im Diners nach dem anderen an. Kenma und Hoshiumi haben mir auch erzählt, dass Shoyo immer wieder in Mobbingkonflikte geraten ist und sich bisher nicht zur Wehr setzen konnte. Ich denke durch Tobios Einschritt wurde sein Geist wachgerüttelt. Es geschieht aus dem Affekt heraus, ich denke, dass Shoyo dies unbewusst tut.“ „Hm… möglich wäre es. Ich denke, dass Tobio aber auch so ein Erfolgserlebnis gebraucht hat und das er hierfür auch die Aufmerksamkeit erhält, die er benötigt… Bis sein Herz geheilt ist, wird dauern… aber zumindest, dass er sich emotional anderen öffnet, wäre ein wichtiger Schritt für ihn…“, flüsterte die Blonde und lehnte sich ebenfalls neben ihren Vater an die Mauerwand. Stirnrunzelnd sah sie zum Himmel auf. „Sie haben beide die Einsamkeit auf unterschiedliche Art und Weise erfahren, Kira. Sie kennen den Schmerz, den der Verlust eines geliebten Menschen mit sich bringt. Geliebter oder Familie spielt hier weniger eine Rolle. Nach Tobios Outing hat die Familie Kageyama ihren Sprössling verstoßen und Oikawa hat ihn bei sich aufgenommen. Dieser Tooru Oikawa war Tobios einziger Lebensinhalt gewesen. Er war für ihn die Familie gewesen, die er verloren hatte. Durch sein Ableben ist das Kartenhaus in sich zusammengefallen und dieses gilt es nun wieder aufzubauen. Allerdings schafft Tobio dies nicht allein und Shoyo muss seinen Horizont erweitern. Er kann sich nicht immer nur abrackern und für andere da sein. Er braucht ebenfalls eine Stütze. Eine emotionale Mauer, an die er sich anlehnen kann und da kommt Tobio ins Spiel. Er braucht eine Aufgabe, er muss auch realisieren, dass es andere Menschen gibt, die ebenfalls Leid und Kummer erfahren haben. Nur so kann sein Herz und seine Seele heilen.“ Die Blondhaarige sah daraufhin zu ihrem Nebenmann und ließ ihren Blick sinken. „Du hast ihm von Shoyos Vergangenheit erzählt, hab ich Recht?“ Der ältere Mann räusperte sich kurz, ehe er sich von der Wand abstieß und seine Hände in seine Hosentaschen schob. „Ja, habe ich und Tobio war ganz interessiert daran. Ich wollte ihm signalisieren, dass es Hoffnung gibt und er diese einfach nicht aufgeben darf. Ich denke, er hat diesen Stups gebraucht. Allerdings habe ich Shoyos Namen in keinster Weise erwähnt. Er weiß nur, dass dieser besagte junge Mann in seiner Jahrgangsstufe ist. Denn Rest muss er selbst in Erfahrung bringen.“, nach diesen Worten setze der ältere Mann seinen Weg fort und ließ Kira allein. „So ist das also…“, die Blondhaarige sah dem Älteren eine Weile nach, ehe sie sich wieder den beiden jungen Männern zuwand. Wie sie beieinander saßen. Wie ihr Lachen die Stille brach. Die Harmonie schien zwischen den Beiden zu stimmen. „Wenn Keishin das erfährt, wird er aus allen Wolken fallen...“, lächelnd schüttelte Kira daraufhin den Kopf und begab sich wieder in die Küche. Kapitel 16: Akt II: Part III – fear -----------------------------------   Seit Shoyos Krankenbesuch sind weitere zwei Wochen ins Land gezogen. Inzwischen war auch wieder Normalität eingekehrt. Tobio hatte Mühe den verpassten Stoff nachzuholen und verbrachte fast täglich seine Nachmittage in der Bibliothek. Nachdem Shoyo ihm, während seiner Abwesenheit, nach Unterrichtsschluss die Unterlagen immer vorbeigebracht hatte, wurde schnell klar, dass der Schwarzhaarige einiges aufzuholen hatte. In Mathe hatte er zu seinem Leidwesen ein ganzes Thema versäumt. Wie schnell zogen die Lehrer bitte den Schulstoff durch – das Ganze grenzte doch schon an Körperverletzung! Mehr als einmal saß Tobio fluchend vor seinen Hausaufgaben und zermaderte sich sein Hirn, sodass dieses schon kurz vorm Schmorr-Brand stand. Warum hatte er bloß solche Probleme mit dem Stoff nachzukommen? Er hatte doch sonst nie Anstalten gemacht, dass er irgendwo nicht mitkam. Sicher, er war auch vor zwei Jahren schon nicht der beste Schüler, aber auch nicht der schlechteste. Um genau zu sein, stand er genau mittendrin – ein typsicher Dreierschüler. Aber davon war der junge Mann inzwischen meilenweit entfernt.   Vor wenigen Tagen hatte er erst eine Fünf in Japanisch mit nach Hause gebracht. Wie zu erwarten war Keishin alles andere als begeistert gewesen. Es war Tobio einfach peinlich, wie sich sein Bewährungshelfer aufführte. Klar, der Blonde wollte nur das Beste für ihn, aber auf diese Art erreichte dieser leider nur das Gegenteil. Tobio fühlte sich schon wie der letzte Versager. Da brauchte er nicht noch einen Brüllaffen, der nachtrat, wenn er schon am Boden lag.   Momentan saß der Schwarzhaarige wieder in der Bibliothek und Sugawara hatte ihm bis eben noch Gesellschaft geleistet. Dieser war schon vor mehr als 10 Minuten bereits nach Hause gegangen. Seufzend legte Tobio seinen Kopf in den Nacken. Bisher hatte zwar Sugawara versucht ihm zu helfen, aber er kam immer noch nicht weiter. Sicher gab der Silberhaarige sein Bestes, aber Tobio konnte nichts mit seinen Erklärungen und Formulierungen anfangen. Sein Klassenkamerad ging es, seiner Meinung nach, viel zu kompliziert an. Tobio hatte schon fast ein schlechtes Gewissen. Immerhin nahm sich Sugawara die Zeit für ihn und diese Geste sollte er wertschätzen. Schließlich erhob sich der Schwarzhaarige und packte seine Tasche zusammen. Ein letztes Mal sah er aus dem großen Fenster und machte sich daraufhin auf den Weg nach Hause.   Der Schulkorridor war bereits in tiefes rot-orange getaucht. Allerdings war nur die Frage - wie lange noch. Denn laut WetterApp wurde für die späte Nachmittagsstunde ein Unwetter gemeldet. Gähnend lehnte sich Tobio gegen die Wand und kramte nach seinem Handy. Er hatte heute keine Muse nach Hause zu laufen – vielleicht war der Brüllaffe ja so gnädig und holte ihn ab. Gerade als er die Nummer wählte, hielt er inne, als er Musik vernahm. Es fühlte sich an, wie ein Déja-Vu, als er seinen Blick in die Richtung wandte, aus der die Musik herkam. Dann erblickte er auch schon eine Tür, die nur leicht angelehnt war. Vorsichtig trat Tobio näher und öffnete diese einen kleinen Spalt. Hohe Decken erstreckten sich in die Höhe, die mit einem Rundbogen kaschiert waren. Rote Sitzstühle füllten den Raum aus und eine große Bühne präsentierte sich am Ende des gigantischen Saals, der mehr an ein Theater erinnerte. Erstaunt betrat der Schwarzhaarige den Raum und schritt langsam an eine Säule heran, an der er schließlich stehen blieb. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit einem jungen Mann, der vorne auf der Bühne auf einem Stuhl saß und seine Fingerkuppen über die Saiten eines großen Flügels gleiten ließ.   What about now? What about today?   Ein Schauder überkam Tobio, als er diese Stimme erneut vernahm, die sich tief in sein Innerstes bohrte. Vor allem, als der Schwarzhaarige auch noch den Schüler erkannte, der am Klavier saß und seinen Kopf der Decke entgegenstreckte. Es war niemand geringeres als Akaashi.   What if you're making me all that I was meant to be?   Wie dessen unerschütterte Stimme von den Wänden wiederhalte. Fassungslos stand Tobio einfach nur da und starrte nach vorn. Es verschlug ihm regelrecht die Sprache.   What if our love never went away?   Diese Emotionen, die aus dieser Stimme sprachen, waren nicht in Worte zu fassen.   What if it's lost behind words we could never find?   Tobio hatte schon vor Längerem mitbekommen, dass Akaashi Mitglied der Musik AG war und auch dort eine hohe Position innehielt. Aber, dass der ruhige Schulsprecher eine solch tolle Stimme besaß, erstaunte ihn.   Baby, before it's too late What about now?   Während der Schwarzhaarige weitersang, entdeckte Tobio schließlich zwei Personen, die wenige Meter neben ihm standen und eine Konversation miteinander führten. Langsam trat er hinter die Säule, damit sie ihn nicht entdecken konnten. Er wollte nicht lauschen, es war nicht einmal seine Absicht.   „Überleg es dir bitte doch noch einmal…“   Die Stimme kam Tobio mehr als bekannt vor. Erneut hielt er inne. Die Neugier überkam ihn schließlich doch und vorsichtig sah er an der Säule vorbei. Er konnte Bokuto erkennen, der dicht neben einer kleineren Person stand, die sich auf einem Stuhl neben ihm niedergelassen hatte. Ihre Blicke waren geradeaus gerichtet. Aufgrund der Dunkelheit war es Tobio nicht möglich die zweite Person direkt zu erkennen. Erst als er dessen leise zarte Stimme vernahm, überkam ihn ein eiskalter Schauer.   „Mein Entschluss steht fest. Ich kann das nicht Bokuto.“   „Shoyo, das ist nicht dein Ernst. Du liebst die Musik – mehr als wir, sogar mehr als Akaashi!“   Tobio versteckte sich schnell wieder hinter der Säule und biss sich auf die Unterlippe. Warum nahm ihn diese Situation so mit? Weil er in Shoyos Stimme die Traurigkeit wiedererkannt hatte? Weil er wieder an jenen Tag zurückdenken musste, wo er den Orangehaarigen in seinem Element erleben konnte? Wie losgelöst er wirkte?   „Bitte hör auf… Du weißt genau, warum ich es nicht kann…“   „Wen willst du hier eigentlich verarschen, Shoyo? Ich sehe dir doch an, dass dir die Musik fehlt. Hör auf etwas anderes behaupten zu wollen! Siehst du denn nicht, dass du kurz davor stehst dich selbst und deine Träume aufzugeben?“   Mit einem Mal kippte die Stimmung, ehe der Orangehaarige aufstand, seine Tasche schulterte und sein Gegenüber mit funkelten Augen anstarrte.   „Im Gegensatz zu euch habe ich keine liebenden Eltern, die zuhause auf mich warten! Ich stehe allein mit der Verantwortung da. Es ist keiner da, der mir diese Arbeit abnehmen kann. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein, da bleibt leider etwas auf der Strecke. Halt dich bitte einfach aus meinem Leben raus, ja?“, nach diesen Worten brach Shoyo den Kontakt ab und stürmte an Bokuto vorbei, der ihn noch versuchte aufzuhalten.   „Shoyo – warte doch! So war das nicht gemeint! Shoyo!“   Wie ein Wirbelwind fegte der Angesprochene an der Säule vorbei. Das Einzige, was Tobio währenddessen erkennen konnte, waren Tränen, die an Shoyos Wangen hinabliefen, als er die Tür aufstieß und lautstark ins Schloss fallen ließ. Das hatte definitiv gesessen. Ein letztes Mal sah der Schwarzhaarige zu Bokuto rüber, der sich seufzend an die Stirn fasste und sich auf den Platz sinken ließ, wo zuvor noch Hinata gesessen hatte. Im selben Augenblick gesellte sich auch Akaashi zu ihm und nahm neben ihm Platz.   „Gescheitert?“, fragte der Schwarzhaarige und putzte seine Brille, ehe er sie wieder aufsetzte.   „Ach, Akaashi, ich weiß nicht, was ich mit ihm noch machen soll. Als Freund ist es doch meine Pflicht ihm meine Meinung zusagen. Ich kann mir das Trauerspiel langsam nicht mehr mitansehen und du doch genauso wenig“, kam es leise von dem Grauhaarigen, der sich daraufhin durch die Haare fuhr.   Der Angesprochene, der neben ihm saß, ließ seinen Blick sinken.   „Je mehr du ihn bedrängst, desto mehr macht er dicht… gib ihm Zeit“   Tobio hatte genug gehört. Leise trat er wenige Schritte zurück und verschwand auch schon hinter der Tür, woraufhin er sich wieder im Schulflur befand. Seine meeresblauen Iriden glitten durch den riesigen Raum, auf der Suche nach einer bestimmten Person, aber Shoyo war wie vom Erdboden verschluckt.   //Ob er schon nachhause gegangen ist?//   Während Tobio durch den Flur schritt, konnte er durch die Fenster dabei zusehen, wie sich draußen der Himmel verdunkelte. Dunkle graue Gewitterwolken türmten sich am Himmel auf. Das Unwetter hatte sie doch schon ziemlich schnell erreicht und er hatte Keishin immer noch nicht angerufen, ob er ihn abholen kann. Nun blieb dem Brüllaffen ja keine andere Möglichkeit übrig. Hoffentlich war der Blonde zur Abwechslung mal gut drauf. Ergebend zückte Tobio sein Handy und wählte die Rufnummer.   „Ja, bitte?“, kam es mürrisch wenige Sekunden später von der anderen Leitung, woraufhin Tobio schon genervt aufseufzte. War ja klar, dass dieser Miesepeter wieder schlechte Laune hatte.   „Hör mal, kannst du mich abholen kommen?“, bei der Frage sah der Schwarzhaarige aus dem Fenster, wo gerade draußen begann die Welt unterzugehen. Es stürmte, hagelte und schüttete wie aus Kübeln. Zudem zuckten Blitze über den Himmel und der Donner ließ nicht lange auf sich warten.   „Ja doch… bleibt mir ja auch nichts anderes übrig… bevor du mir noch im Sturm verloren gehst. Bleib wo du bist, klar?!“, keifte Keishin und legte einfach auf.   //Depp// schoss es Tobio durch den Kopf, als er sein Handy wegpackte und seinen Rucksack schulterte. Warum musste sein Bewährungshelfer nur so ein Arsch sein?   Der Schwarzhaarige trat nach draußen und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle, die sich vor dem Schulgelände befand. Immerhin war diese überdacht und so konnte er sich zum Schutz drunterstellen. Bis er jedoch dort ankam, blieb ihm nichts anderes übrig als durch den Regen zu laufen. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht und innerhalb von Sekunden war er komplett durch Nest. Kurz darauf blieb Tobio stehen und sah zum Himmel auf. Die Regentropfen bahnten sich ihren Weg durch seine Haarsträhnen hinunter zu seinen Wangen. Irgendwie hatte der Regen etwas Nostalgisches an sich. Ihm machte es nichts aus im Regen zu stehen und von oben bis unten nass zu sein. Andere würde es stören, ihn jedoch beruhigte es. Der Himmel erhellte sich und innerhalb von Sekunden hallte der Donner aus den Wolken wider.   Plötzlich blitzten Bilder vor Tobios Augen auf. Alte Erinnerungen, die ihn wieder zurückkatapultierten zu jener Nacht. Als Tooru regungslos vor ihm lag und er ihn im strömenden Regen in den Armen gehalten hatte. Wie sein Blut die Pfützen rotgefärbt hatte. Tobio spürte, wie es ihm erneut die Kehle zuzog, ihm die Luft zum Atmen raubte. Er hatte zwar das Geschehene inzwischen gut verarbeiten können, aber manchmal gab es immer noch Momente, wie diese, die in ihm wieder diese Erinnerungen auslösten. Schnell setzte sich Tobio daraufhin in Bewegung. Die nassen Haarsträhnen klebten ihm im Gesicht. Es war ein unangenehmes Gefühl, aber diese Erinnerungen waren es noch viel mehr. Er musste sich ablenken, und zwar schnell. Er musste diese Bilder aus seinem Kopf bekommen. Gerade als der Schwarzhaarige an der Bushaltestelle ankam, fanden diese Erinnerungsfetzen in seinem Inneren ein jähes Ende, als er jemanden zusammenkauernd auf der Bank sitzen sah. Tobio erkannte sofort, um wen es sich dabei handelte.   „Shoyo?“   Der Größere nahm neben dem Orangehaarigen Platz, doch dieser reagierte nicht. Der Angesprochene saß zusammengekauert auf der Bank und hatte seine Knie hochgezogen. Sein Kopf bettete auf seinen Oberarmen, die er auf seinen Knien abgelegt hatte. Sein ganzer Körper zitterte.   „Hey, was ist los?“, kaum hatte Tobio die Frage ausgesprochen, zuckte der Kleinere neben ihm zusammen. Shoyo sah auf und blickte neben sich. Es war unschwer zu erkennen, dass er geweint hatte. Seine sonst so strahlend braunen Augen waren geschwollen und rot angelaufen. Sein Atem ging hektisch und bevor er dem Schwarzhaarigen antworten konnte, blitzte es erneut und der Donner, der diesem folgte, ließ den Boden unter ihren Füßen vibrieren. Sofort schreckte der Kleinere wieder in sich zusammen und hielt sich beide Hände an den Kopf.   „Es soll einfach nur aufhören…“, Shoyos Hände zitterten und seine Augen waren vor Schreck geweitet.   Irritiert hob Tobio eine Augenbraue nach oben. Was war bloß mit dem Orangehaarigen los? So aufgelöst und verschreckt kannte er den Kleineren gar nicht. Zumindest nicht mehr, seit Wakatoshi von der Schule geflogen war. Es war unverkennbar, dass Hinata komplett neben sich stand. Wie in Trance, als ob er geistlich überhaupt nicht anwesend wäre.   „Was soll aufhören?“, kam von dem Schwarzhaarigen und kramte währenddessen ein Taschentuch hervor, das er Shoyo reichte.   „Dieses Unwetter…“, hauchte Shoyo leise und nahm dankend das Taschentuch entgegen.   Tobio sah den Kleineren einfach nur nachdenklich an. Seine negativen Gedanken waren innerhalb von Sekunden verpufft, als er Shoyo so aufgelöst dasitzen sah. Nachdenklich wand er den Blick ab und sah gen Boden, der bereits von Wasserpfützen übersäht war.   „Hast du Angst vor Gewitter?“, fragte Tobio vorsichtig und sah wieder zu seinem Nachbarn, der auf die Frage hin kurz nickte.   „Ich ertrag den Donner nicht…“, sprach Shoyo leise mehr zu sich selbst und fuhr zitternd mit seinen Händen über seine Oberarme. Seine braunen Augen sahen starr zu Boden. Jeglicher Glanz war aus ihnen entwichen. Tobio saß weiterhin stillschweigend neben dem Jüngeren, als sich dieser ihm schließlich zuwandte.   „Jetzt musst du mich bestimmt für einen Versager halten, oder? Das Superhirn, das Angst vor Unwetter hat – das ist doch mehr als nur peinlich“, Shoyos Worte sprühten nur so von Spott und Hohn. Hatte er tatsächlich sich gegenüber diese Einstellung?   „Hör auf damit, jeder hat doch vor etwas Angst…“, Tobio fuhr sich seufzend über den Nacken, der ihm schon seit Tagen höllisch wehtat. Er musste sich diesen im Schlaf letztens verrenkt haben.   Bevor der Größere Shoyo jedoch aufmunternd zureden konnte. kam auch schon der Bus um die Ecke gefahren und der Orangehaarige sprang auf. Da hatte es jemand aber ziemlich eilig.   „So ich … muss los… danke nochmal für das Taschentuch… Man sieht sich…“, es war immer noch unverkennbar, dass Hinata komplett neben sich stand. War es wirklich nur wegen dem Gewitter oder hatte seine Stimmung mit der Auseinandersetzung von eben zu tun? Tief in Gedanken versunken verabschiedete sich der Schwarzhaarige von dem Jüngeren, der daraufhin auch schon in den Bus stieg. Seufzend sah Tobio dem Bus nach, als dieser wegfuhr und um die nächste Straßenecke bog. Er fühlte sich unwohl dabei den Kleineren einfach so allein heimfahren zu lassen, aber wie würde diese Aktion rüberkommen? Er wollte nicht, dass Shoyo noch dachte, er würde ihn bevormunden. Das Recht stand Tobio einfach nicht zu, dafür kannte er den Jüngeren noch nicht so lange.           Am selben Abend lag Tobio nachdenklich im Bett und starrte die Decke über sich an. Sein Zimmer lag in kompletter Dunkelheit und das Unwetter hatte sich inzwischen verzogen. Der Geruch von frischem Regen lag noch in der Luft und ein kühler Wind schlug ihm entgegen, da das Fenster neben seinem Bett komplett geöffnet war. Es war schön frisch und diese Abkühlung war nach den letzten warmen Sommertagen auch mehr als notwendig. Immer wieder drifteten seine Gedanken zu dem Jüngeren ab. Warum war Shoyo heute Mittag so drauf gewesen? Warum stand der Kleinere so neben sich? Generell hatte die Situation Tobio zum Nachdenken angeregt.   Was war das heute Morgen für eine Auseinandersetzung mit Bokuto? Dann die Äußerung bezüglich seiner Eltern? War Shoyo ein Waisenkind oder scherten sich seine Alten etwa einen Dreck um ihn? Allein bei dem Gedanken wurde Tobio schon speiübel. Ausgerechnet jetzt musste er an seine „Familie“ denken, sofern man sie so nennen konnte. Ja, er hasste sie regelrecht. Aber das tat gerade nichts zur Sache. Shoyo ging es schlecht und das wurde dem Schwarzhaarigen mehr als bewusst. Gleichzeitig fiel Tobio auf, dass er die letzten Tage generell viel zu oft an den Jüngeren dachte. Er sorgte sich definitiv zu oft um ihn. Es war ewig her, dass Tobio sich Gedanken über eine einzelne Person machte. Es war schon surreal. Es war seit der Auseinandersetzung mit Wakatoshi, seitdem er sich aus irgendeinem Grund für den Kleineren verantwortlich fühlte. Ihn schützen musste. Es kam tief aus einem Innern und das behagte dem Schwarzhaarigen überhaupt nicht. Seit er hier angekommen war, hatte sich so vieles in seinem Leben verändert. Während der Schwarzhaarige weiterhin in seinen Gedanken vertieft war, klopfte es kurz an der Tür und Herr Ukai Senior betrat das Zimmer.   „Hey Jungchen, warum zu später Stunde noch wach?“   „Herr Ukai!“, sofort sprang Tobio vom Bett auf.   „Hey beruhig dich. Ich dachte nur, ich frag mal nach, ob alles in Ordnung ist, da du noch nicht im Bett bist“, kam es von dem Senior, der daraufhin gegenüber von Tobios Bett Platz nahm.   „Ach, alles gut. Heute ist einfach nicht mein Tag…“, seufzte der Schwarzhaarige und nahm wieder am Bettrand Platz, ehe er sich rückwärts auf die Matratze fallen ließ. Gedankenversunken starrte Tobio die Decke über sich an.   „Hm, ich verstehe…“, der alte Mann widmete währenddessen seine Aufmerksamkeit seinem Gehstock, den er bei sich trug. Seit der Ältere in Reha gewesen war, war er auf das Hilfsmittel angewiesen.   „Hör mal, ich bin eigentlich noch wegen etwas anderem hergekommen. Ich fahre kommendes Wochenende nach Tokio. Ich geh alte Kollegen im Polizeipräsidium besuchen. Vielleicht hast du Lust mich zu begleiten. Immerhin könntest du währenddessen sein Grab besuchen. Das letzte Mal warst du glaub ich vor zwei Jahren dort, oder?“   Sofort hielt Tobio inne und setzte sich auf. Seine Augen weiteten sich, ehe er einen Blick auf den Kalender richtete, der neben seinem Bett an der Wand hing. Sofort blieb sein Herz stehen, als er das Datum sah. Tatsächlich – am kommenden Sonntag ist der 15. September. Toorus Todestag. Verdammt. War die Tragödie nun schon ganze drei Jahre her? Es stimmte, er war zwar damals auf der Beerdigung gewesen. Aber er konnte sich, wenn er ehrlich zu sich selbst war, nicht mehr an den Tagesablauf erinnern. Er war zwar körperlich anwesend gewesen, allerdings stand er damals noch komplett neben sich. Der Ältere bemerkte die Eiseskälte, die von seinem Gegenüber ausging und räusperte sich kurz.   „Du musst dich nicht direkt entscheiden, denk einfach mal drüber nach. Aber nach allem wäre es, denk ich, ein guter Abschied. Immerhin hast du in ein neues Leben gefunden, vielleicht willst du es ihm ja persönlich mitteilen. Wenn es dir lieber ist, kannst du auch gern einen Freund fragen, ob er dich begleitet.“, nach diesen Worten erhob sich der ältere Ukai und schritt zur Tür, ehe er die Klinke in die Hand nahm.   „Er wäre stolz auf dich, Tobio… Sag mir einfach bis Morgenabend Bescheid, ob du mitfahren willst, ja?“, dann fiel auch schon die Tür ins Schloss. Es waren Worte, die eine spezielle Nachwirkung mit sich zogen.   Der Angesprochene saß auf seinem Bett und starrte ins Leere. Drei Jahre. Ganze drei Jahre war nun alles schon her. Nachdenklich fuhr sich Tobio durchs Gesicht und widmete seine Aufmerksamkeit dem Nachtschränkchen. Vorsichtig öffnete er die Schublade und holte sein Notizbuch hervor. Zuvor legte er sich zurück ins Bett und ließ sich in die Kissen fallen. Dann blätterte er die Seiten einzeln durch. Sah sich jede Zeichnung im Detail nochmal an. Tiere, Pflanzen, Naturbilder. Danach griff er nach dem Bilderrahmen, in dessen Innern sich die Zeichnung von Tooru befand. Wie der Brünette am Kaffeetisch saß und nach draußen schaute. Es war das einzige Portrait, das in diesem Notizbuch vorher enthalten war. Seufzend ließ Tobio seine Fingerkuppen über die Zeichnung wandern. Sie bedeute ihm viel – auch heute noch. Ein trauriges Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sollte er tatsächlich an jenen Ort zurückkehren? Was geschah, wenn er wieder in ein Tief fallen sollte? Tobio fühlte sich hin und her gerissen. Nachdenklich klappte er daraufhin das Buch zu, legte es zurück in die Schublade und widmete sich wieder dem Bilderrahmen. Dann schmiegte er den Gegenstand an seine Brust, während er wieder aus dem Fenster sah. Seine Gedanken kreisten.   Es wäre der erste richtige Todestag, den Tobio nun in der Realität wahrnehmen würde. Die vorherigen beiden Todestage verbrachte er auf der Straße, zudem er damals auch Raum und Zeit nicht mehr realisiert und komplett in seiner eigenen Scheinwelt gelebt hatte. Wenn Tobio so darüber nachdachte, klang das alles mehr als fernab der heutigen Zeit. Was soll er tun? Soll er sich tatsächlich jetzt schon seiner Vergangenheit stellen?   Zudem Ukai ihm die Wahl ließ, ob er einen Freund mitnehmen will oder nicht. Wer käme da überhaupt in Frage? Mit wem sollte er sein Geheimnis teilen? Wenn Tobio ehrlich zu sich selbst war, gab es derzeit nur eine einzige Person, die er fragen könnte. Und dann stand der Schwarzhaarige auch schon vor dem nächsten Dilemma. Wie soll er sie am besten darauf ansprechen?   Seufzend fuhr sich Tobio daraufhin an die Stirn. Er konnte sich das ganze Szenario jetzt schon in seinem Kopf ausmalen und es würde in einem Chaos enden, dessen war er sich bewusst.   „Owei… das kann ja heiter werden…“ Kapitel 17: Akt II: Part IV – past and truth I ----------------------------------------------   „Ja~“   Es waren Worte, die Tobios Herz höherschlagen ließen. Seinen Puls zum Rasen und seine Lenden zum Brennen brachte.   „Bitte mehr davon~“   Das meeresblaue Augenpaar sah dabei zu, wie sich sein Gegenüber vor ihm wandte. Dieser immer wieder diese lustverzehrten und erotischen Töne von sich gab, während er sich vor ihm rekelte. Sein Blut regelrecht zum Kochen brachte. Wie seine Hände den kleinen schmalen Körper hinabfuhren, sich an dessen Hüften festklammerten, während er erbarmungslos in ihn stieß. Wie seine Augen in tigeraugeähnliche Iriden blickte. Wie dieses bräunliche Augenpaar ihn mehr und mehr verführte. Wie sein Gegenüber seine Hüften kreisen ließ und sich hierbei immer wieder hob und senkte. Ihn immer wieder entgleiten und erneut eindringen ließ. Auf dominierende Art und Weise den Ton angab. Ihre Lippen kamen sich immer näher, waren nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt, sein Höhepunkt ebenso. Bevor Tobio und sein Gegenüber sich jedoch endgültig fallen lassen konnten, erklang auch schon ein nervtötendes Geräusch.   „TUT! TUT! TUT! Einen wunderschönen guten Morgen wünscht Ihnen das Frühstücksteam der Präfektur Miyagi~“   Mit einem Mal riss Tobio seine Augen auf und saß innerhalb von wenigen Sekunden aufrecht im Bett. Sein Atem ging hektisch und sein Herz raste. Sein ganzer Körper zitterte und Schweißtropfen liefen seine Schläfe hinunter. Sonnenstrahlen blitzten ihm entgegen, weshalb er murrend seinen Unterarm vor sein Gesicht halten musste. Es war bereits früher Morgen. Anschließend richtete der Schwarzhaarige langsam seinen Blick auf seinen Nachtischschrank, worauf gerade sein Wecker den Frühstückssender abspielte, der jeden Morgen um Punkt 5 den kommenden Tag begrüßte. Eine Weile saß Tobio einfach nur da und blickte schließlich verschlafen die Wand vor sich an. Es dauerte eine Weile, bis er richtig wach war. Währenddessen fanden seine schläfrigen Gedanken langsam zueinander und mit einem Mal war er im Hier und Jetzt. Auch sein bis eben noch realistischer Traum kam ihm augenblicklich ins Gedächtnis. Sofort weitete der Schwarzhaarige geschockt seine Augen.   „Fuck!“, kam es leise über seine Lippen, ehe seine Hände auch schon in das schwarze Haar fanden und sich an diesen festklammerten. Verdammt! Was war das gerade? Hatte er gerade etwa wirklich?   „Scheiße!!“, innerhalb von Sekunden landete der Wecker auch schon an der gegenüberliegenden Wand. Erschrocken fuhr Tobio in sich zusammen und begutachtete sein Werk.   Verdammt, das war nicht mal sein Wecker! Diesen hatte er von Keishin bekommen!   „Das darf doch nicht wahr sein…“, murrte Tobio leise zu sich selbst und raufte sich die Haare.   Nicht nur, dass er gerade ein Eigentum seines Bewährungshelfers zu Schrott verarbeitet hatte – nein, nun hatte er auch schon erotische Träume. Dann ausgerechnet auch noch mit Shoyo! Seit wann suchten ihn denn solche Gedanken heim?! Unter diesen Umständen konnte er doch nicht mehr vor den Orangehaarigen treten! Er würde sich in Grund und Boden schämen! Peinlich gerührt hob Tobio daraufhin vorsichtig die Bettdecke nach oben und sah auch schon die nächste heranrollende Katastrophe. Er hatte eine Latte.   „Wollt ihr mich denn alle verarschen?!“, kam es fipsig von dem Schwarzhaarigen, der sich daraufhin wieder zurück in die Matratze fallen ließ.   So konnte auch ein turbulenter Morgen starten.         Wenige Stunden später saß Tobio gähnend im Unterricht und versuchte seinen Kopf aufrecht zu halten. Er war hundemüde. Es fehlte nicht mehr viel und sein Kopf knallte auf den Schreibtisch. Den nächtlichen Traum versuchte er hierbei so gut es ging ins Hinterstübchen seiner Gedanken zu verbannen. Er und Shoyo! Er kam immer noch nicht auf diesen (Alp)Traum klar. Genervt schlug der Schwarzhaarige eine Seite seines Englischbuchs weiter, während der Lehrer vor ihnen etwas an die Tafel schrieb. Sich auf den Unterricht zu konzentrieren, stellte sich als wahre Herausforderung heraus. Als die Glocke schließlich die Mittagspause einläutete, konnte Tobio nicht schnell genug wegkommen. Er räumte seine Tasche zusammen und rannte auch schon los. Draußen angekommen atmete er tief ein und aus. Die frische Luft war mehr als notwendig. Sie reinigte seine Lungen und möglicherweise auch gleich seinen Kopf. Was war bloß mit ihm los?   „Hey Kageyama“   Plötzlich schreckte der Angesprochene zusammen und blickte hinter sich. Sofort atmete er erleichtert aus.   „Meine Güte, Suga – erschreck mich doch nicht so…“   Der Silberhaarige grinste den Größeren daraufhin an und reichte ihm einen dicken fetten Ordner, der Tobios Arme nach unten zog, als er diesen annahm. Das Teil war verdammt schwer.   „Wir hatten doch gestern darüber gesprochen, dass ich dir meine Aufzeichnungen von letztem Jahr gebe. Wenn du diese aufgearbeitet hast, solltest du mit dem jetzigen Schulstoff besser klarkommen.“, erklärte Sugawara und hob hierbei triumphierend den Arm.   Tobio atmete ergebend aus. Stimmt. Er hatte ja gestern noch mit seinem Klassenkameraden darüber gesprochen gehabt. Hätte er fast komplett wieder vergessen. Sein Gehirn schien tatsächlich nur noch aus einem Sieb zu bestehen, wo alle Informationen einfach nur durchrieselten.   „Super, vielen Dank. Ich gebe dir alle Unterlagen wohlbehalten wieder zurück“, dankend verneigte sich Tobio vor seinem Klassenkameraden, der daraufhin grinsend den Daumen nach oben zeigte.   „Mach dir keinen Stress, das geht in Ordnung.“   Während die beiden miteinander weitersprachen, kamen ihnen drei Personen entgegen, woraufhin sie in ihrem Gespräch innehielten. Es handelten sich hierbei um Shoyo, gefolgt von Kenma und Hoshiumi.   „Oh hallo ihr drei“, grüßend hob Sugawara die Hand. Tobio fuhr erschrocken in sich zusammen und sah hinter sich. Als er sich mit diesem einzigartigen Augenpaar konfrontiert sah, fuhr ein eiskalter Schauer in seine Glieder. Jetzt ausgerechnet ihm zu begegnen, behagte dem Schwarzhaarigen ganz und gar nicht.   „Moin, Suga“, entgegnete Hinata und lächelte sein Gegenüber freundlich an.   Tobio konnte einfach nur starren. Seine Iriden fixierten den Kleineren genau. Musterten ihn von oben bis unten und nochmal rauf. Shoyo besaß zwar einen schmächtigen Körper, aber dennoch war er gutaussehend. Das stand außer Frage. Hatte dieser schon immer so ein Lächeln? Waren das etwa kleine Sommersprossen auf dem Nasenrücken? OMG das musste definitiv aufhören! Mit einem Mal klatschte sich Tobio beide Handflächen rechts und links gegen seine Wangen. Erschrocken fuhren die Parteien zusammen und sahen den Schwarzhaarigen entgeistert an.   „Alles in Ordnung, Kageyama?“, besorgt legte Sugawara seine Hand auf Tobios Schulter, der sich daraufhin räuspernd mit der Faust gegen seinen Burstkorb schlug.   „Sicher… bin nur nicht ganz da heute…“ aus dem Blickwinkel konnte Tobio sehen, wie Shoyo ihn überrascht ansah.   //Womit habe ich das nur verdient??///   Warum machte er auch eine so große Sache draus? Es war nur ein Traum! Es war nur ein erotischer Traum, den jeder Teenager irgendwann mal hatte. Andere träumten von Stars wie Britney Spears oder Jennifer Lawrence. Was war schon dabei? Tobio versuchte in diesem Moment alles um sich die Situation schönzureden. Er konnte nichts dafür. Er war schließlich auch nur ein menschliches Individuum mit gewissen Bedürfnissen. Bei ihm waren es halt keine Frauen, sondern Männer. Dass es zudem das erste Mal seit über drei Jahren geschah, versuchte er ebenfalls zu verdrängen. Es war nun mal passiert und Ende.   Schließlich wand sich der Schwarzhaarige wieder seinen Mitschülern zu. Zeitgleich fiel ihm auch wieder ein, was er eigentlich fragen wollte. Seine Iriden wanderten erneut zu Shoyo, der ihm gegenüberstand. Sollte er ihn fragen oder nicht? Hatte er überhaupt am Wochenende Zeit? Soviel ihm bisher bekannt war, war Shoyo ein sehr vielbeschäftigter junger Mann. Nervosität stieg in dem Älteren auf. Bevor Tobio allerdings weiter in seinem Gedankenchaos Ordnung reinbringen konnte, spürte er, wie ihn jemand am Arm antippte.   „Tobio, können wir kurz reden?“, Shoyo sah zu dem Größeren auf.   „Hä?“, nun verstand der junge Mann gar nichts mehr.   „Sicher…“, antwortete der Schwarzhaarige daraufhin und folgte dem Kleineren, der sich etwas von den Anderen entfernte. Irritiert schritt Tobio hinter dem Orangehaarigen her. Währenddessen ließ er erneut seine saphirblauen Augen den Körper des Kleineren auf und abwandern. Eins konnte der Größere nicht leugnen – Shoyo war attraktiv. Das stand außer Frage. Als seine Iriden schließlich an Hinatas Hintern hängen blieben, schüttelte Tobio sofort den Kopf.   //Tobio, reiß dich zusammen!!// schoss es ihm daraufhin durch seine Gedanken.   „Hör mal…“, kam es zeitgleich von Shoyo, der währenddessen stehen geblieben war und sich dem Schwarzhaarigen zugewandt hatte.   „Dass was gestern geschehen war… tut mir leid. Ich war nicht ich selbst…“, vollendete der Orangehaarige seinen Satz und sah zu dem Größeren auf, der zwischenzeitlich wieder gedanklich anwesend war.   „Hä? Von was redest du?“, fragend zog Tobio seine Augenbrauen zusammen, woraufhin Shoyo sich verlegen am Hinterkopf kratzte.   „Naja, dass ich so kurz angebunden war. Du musst wissen, Unwetter behagen mir gar nicht und ich gerate dann auch leicht in Panik.“   „Ahso… mach dir da mal keinen Kopf. Jeder hat doch vor etwas Angst. Dafür musst du dich wirklich nicht schämen, Shoyo.“, entgegnete Tobio und sah wieder zurück zu den Anderen.   „Wenn wir gerade mal dabei sind…“, daraufhin sah der Größere wieder zu Shoyo hinunter, der ihn aufmerksam ansah.   „Ja?“, kam es von dem Orangehaarigen, ehe er sich kurz seiner Brille widmete. Er zog sie aus und kramte aus seiner Hosentasche ein Putztuch hervor, mit dem er die Gläser säuberte. Tobio beobachtete den Jüngeren dabei. Seine Iriden wanderten hoch zu seinem Gesicht. Es war das erste Mal, dass er Shoyo ohne Brille sah. Ohne sah er sogar noch niedlicher aus. Kopfschüttelnd räusperte sich der Schwarzhaarige und fuhr weiter fort.   „Der alte Ukai fährt dieses Wochenende nach Tokio und ich werde ihn hierbei begleiten. Er meinte, ich dürfe jemanden mitnehmen und da habe ich gleich an dich gedacht.“   „An mich?“, überrascht sah Hinata zu dem Größeren auf, während er seine Brille wieder aufsetzte.   „Nun ja, ich dachte nur...“, ja, was dachte sich Tobio dabei. Wie sollte er darauf auch antworten? Wieso hatte er ausgerechnet an Shoyo denken müssen? Warum hatte er nicht Sugawara gefragt? Kurz ging der Größere in sich. Schließlich musste er an die gestrige Situation mit Bokuto denken. Die Art und Weise wie er Hinata zurechtgewiesen und belehrt hatte. Es war mehr als offensichtlich, dass Shoyo zu wenig Zeit für sich selbst aufbrachte. Entweder saß er in der Schule, lernte oder jobbte in einem noblen Restaurant, wovon der Orangehaarige mal erzählt hatte. Dann musste er sich auch noch um seine Schwester kümmern. Wo war da mal Zeit für ihn selbst? Tobio musste nachdenken und eine Antwort parat haben, die keine Gegenfragen duldete.   „Es soll ein kurzer Tripp werden, die Rede ist aktuell nur von einem Tagesausflug. Ich dachte nur, ich hole dich mal aus diesem Alltagstrott raus. Du bist ein sehr vielbeschäftigter Mann und der braucht schließlich auch mal eine Pause.“   //Puh… gerettet//   „Was? Nun ja, also“, stotterte Shoyo vor sich hin und kratzte sich erneut verlegen am Hinterkopf. Zeitgleich nahm sein Nasenrücken eine rötliche Farbe an, die sich schließlich leicht über seine Wangen zog.   „Er kommt mit!“   „Hä??“, sofort schreckte Hinata auf, sah erschrocken hinter sich und sah sich mit grünen laubfroschähnlichen Iriden konfrontiert, die keine Widerworte duldeten.   „Hoshi, was?“   „Nichts da, Shoyo!“, aufmunternd legte Hoshiumi daraufhin beide Hände auf Hinatas Schultern ab.   „Hey, du hast eben noch erzählt, dass du dieses Wochenende mal frei hast und nicht arbeiten gehen musst. Auf deine Schwester können Kenma und ich aufpassen, oder Kenma?“, hierbei sah der Weißhaarige neben sich. Der Angesprochene stand neben ihm und war gerade mit seinem Gameboy beschäftigt, den er heute ausnahmsweise mal mit dabei hatte, da sie eben eine Freistunde hatten. Seufzend rollte Hoshiumi seine Augen und zwickte dem Blonden hierbei in die Seite, sodass dieser aufschreckte.   „Bitte, was?“, kam es entgeistert von Kenma, der sich daraufhin wieder in der Realität befand.   „Wir passen auf Natsu auf! Shoyo geht in Tokio mal ordentlich shoppen!“   „Wenn du das sagst… es geschehen ja noch Zeichen und Wunder…“, kam es schließlich murrend von Kenma, der sich schließlich wieder seinem Gameboy widmete.   „Na siehst du, alles geregelt“, grinste Hoshiumi und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Shoyo, der entgeistert vor ihm stand.   „Hey! Du wirst dich amüsieren und wehe, wenn nicht!“, kam es knurrend von dem Weißhaarigen, woraufhin Shoyo leicht zusammenzuckte.   Hoshiumi und er waren zwar gleichgroß, aber dennoch hatte der kleine Giftzwerg schon so manchem Größeren das Fürchten gelehrt. Der Weißhaarige konnte richtig ausrasten, wenn man ihm auf die Nerven ging. Am schlimmsten war es, wenn jemand zu viel redete und nicht auf den Punkt kam. Da war Hoshiumi die Ungeduld in Person. Ergebend seufzend ließ Hinata seine Schultern hängen und sah zu Tobio auf, der immer noch auf eine Antwort wartete.   „Ist gebongt. Ich komme mit.“, antwortete der Orangehaarige und zog sein Handy aus der Tasche. Zeitgleich griff er noch nach einem Stück Papier und schrieb etwas darauf, ehe er es dem Größeren reichte.   „Hier meine Handynummer“   „Okay, alles klar… ich melde mich dann im Laufe des Nachmittags wegen weiteren Informationen. Ich muss nun auch los. Bis später“, antwortete Tobio und setzte hierbei sogar ein kleines Lächeln auf.   Danach schritt er an dem Orangehaarigen und an den anderen vorbei und peilte den Schulhofausgang an. Ausgerechnet heute hatte er noch eine Sitzung mit seinem Bewährungshelfer. Diese fanden zweimal im Monat statt und Tobio bereitete sich bereits mental auf eine weitere Standpauke vor. Wenn der Brüllaffe etwas konnte – dann war es meckern und das fing schon an, wenn er auch nur eine Minute zu spät kam. Demnach musste Tobio überpünktlich sein! Währenddessen ließ er den bisherigen Tag Revue passieren. Auf irgendeine seltsame Art und Weise war der Schwarzhaarige sogar froh, dass Shoyo zugesagt hatte. Zudem er nun auch noch zufällig die Handynummer von ihm erhalten hatte. So ganz beschissen lief sein bisheriger Tag nun doch nicht.   Währenddessen sahen die Anderen dem Älteren nach. Sugawara atmete seufzend aus und trat neben Shoyo. Ihm fiel auf, dass der Kleinere etwas neben der Spur war.   „Ich muss echt sagen, Kageyama ist ein toller Kerl“, sprach der Silberhaarige und ließ seine Hände in seine Hosentaschen wandern.   „Ja, das ist er…“, entgegnete Shoyo und schulterte zeitgleich seine Tasche.   „Hör mal, du hast doch mal erwähnt, dass du nicht weißt, wie du dich jemals bei ihm erkenntlich zeigen kannst…“, flüsterte Sugawara und trat näher an Shoyo heran.   „Hm?“, neugierig sah der Orangehaarige auf.   „Ich denke mal, dass du ihm mit der Zusage eine kleine Freude bereitet hast.“   „Denkst du wirklich?“, Shoyos Augen wanderten wieder in die Richtung, in der Tobio soeben verschwunden war. Stimmt, eben hatte Kageyama sogar gelächelt – so etwas kam wirklich selten bei dem Älteren vor und es hatte ihm persönlich sogar gefallen. Die Augen des Kleineren glänzten bei dem Gedanken und ließen ein zärtliches Lächeln über seine Lippen wandern. Sugawara fuhr währenddessen mit seiner Rede weiter fort.   „Weißt du, Shoyo… Kageyama hat aktuell sehr viele Probleme in der Schule. Er kommt mit dem Stoff nicht richtig mit. Ich habe zwar versucht ihm zu helfen, aber anscheinend kommt er mit meiner Erklärungsweise nicht so gut klar. Er versucht es zwar zu verbergen und fragt mich immer wieder, ob ich ihm etwas erkläre, aber ich merke einfach, dass er sich hierbei keinen Gefallen tut“, sprach Sugawara und lächelte den Kleineren schließlich herzlich an.   „Was? Davon hat er bisher nie etwas erzählt…“, seufzend sah Shoyo schließlich auf seine Hände herab, die er daraufhin zu Fäusten ballte.   „Shoyo, du bist einer der besten Schüler hier auf der Schule. Du kannst besser erklären als ich. Nutz die Zeit, während ihr unterwegs seid und sprich ihn mal auf das Thema an…“, schließlich ertönte auch schon die Schulglocke, woraufhin sich Sugawara lächelnd von dem Kleineren verabschiedete.   „Ich finde, dass er in dir einen besseren Nachhilfelehrer haben wird“, rief der Silberhaarige und winkte zum Abschied.   Shoyo erwiderte die Geste und sah dem Größeren nach, der schließlich im Schulinnern verschwand. Kurz blieb der Orangehaarige an Ort und Stelle stehen. Er konnte immer noch nicht realisieren, dass er Tobio soeben für Tokio zugesagt hatte. Er und Tokio. Er war noch nie dort gewesen. Wie es wohl dort war? Ein zartes Lächeln huschte daraufhin auf Shoyos Lippen. Vielleicht wird das auch die passende Gelegenheit sein, um mehr über Tobio herauszufinden. Denn der Schwarzhaarige weckte immer mehr und mehr sein Interesse. Shoyo wollte mehr über den mürrischen Kageyama in Erfahrung bringen. Denn immer wieder schossen dem Kleineren folgende Fragen durch den Kopf.   Wer ist Tobio Kageyama und warum war er kriminell geworden? Was war der Grund, weshalb er sein Leben aus den Augen verloren hatte?   Was Hinata zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wusste – genau jene Fragen sollten an diesem besagten Tag ihre Antwort finden.           Es regnete. Immer wieder schlugen die Regentropfen gegen die Fensterscheiben des Zugs, indem sich Shoyo, Kageyama und Ukai Senior befanden. Eigentlich war geplant, dass sie mit dem Auto nach Tokio fahren, aber leider hatte der Wagen einen Tag zuvor den Geist aufgegeben und ein Werkstatttermin konnte erst für die neue kommende Woche vereinbart werden. Demnach mussten sie auf Plan B umsteigen. Zum Glück waren noch genug Tickets für Tokio vorhanden. Ukai Senior hatte sich zuvor in einer Bäckerei ein Sandwich und die Sonntagszeitung gekauft, die er, während er sein Frühstück verspeiste, las. Shoyo hingegen sah aufgeregt aus dem Fenster. Immer wieder folgte er den Regentropfen, die sich ihre Wege über die Scheibe bahnten. Teilweise fuhr er diese sogar mit seinen Fingern nach.   Auch, wenn es wie aus Eimern kübelte, so wurde für Tokio ein besseres Wetter gemeldet. Zwar gewölkt und kalt, aber es sollte weitestgehend trocken bleiben. Demnach war der aktuelle Wetterzustand nur vorübergehend. Seine tigeraugeähnlichen Iriden wanderten weiter. Allerdings zog sein Gegenüber mehr seine Aufmerksamkeit auf ihn. Tobio saß ihm genau gegenüber. Die Beine übereinandergeschlagen, die Kapuze seines Hoodies tief ins Gesicht gezogen und sein Kopf am Fenster angelehnt. Seine blauen Augen starrten ins nichts. Er wirkte wie weggetreten – nicht anwesend. Shoyo legte leicht seinen Kopf schief. Irgendwie hatte er sich Kageyamas Laune anders vorgestellt. Sollte er sich nicht eigentlich freuen? Gedankenversunken sah Shoyo schließlich wieder aus dem Fenster. Vielleicht war Kageyama auch nur ein Morgenmuffel, der einfach noch seine Ruhe brauchte. Der Orangehaarige konnte sich gar nicht mehr daran entsinnen, wann er das letzte Mal eine längere Strecke mit dem Zug gefahren war. Es musste schon Jahre her sein.   Es dauerte genau zwei Stunden, bis sie den Bahnhof von Tokio erreichten. Als sie am Bahngleis ausstiegen, blitzte ihnen die Sonne entgegen, die sich zwischenzeitlich aus der Wolkenschicht befreit hatte. Ukai hatte zuvor noch mit den beiden jungen Männern einen Treffpunkt ausgemacht, wo sie sich am späten Nachmittag trafen und zurückfahren würden. Am Bahnhofausgang trennten sich dann schließlich ihre Wege. Tobio peilte die nächste Bushaltestelle an, woraufhin Shoyo ihm folgte. Es war viel los in der Großstadt. Obwohl Sonntag war, kamen ihnen viele Menschen entgegen, denen sie auswichen. Tobio schlängelte sich durch die Menge, während Shoyo Mühe hatte mitzuhalten. In solchen Situationen bereute es der Orangehaarige, dass er so kurze Beine besaß. Er konnte kaum Schritt halten. Auf ihrem Weg liefen sie an einem großen Plakat vorbei, woraufhin der Schwarzhaarige erschrocken innehielt. Beinahe wäre Hinata in den Größeren reingelaufen.   „Tobio?“, kam es fragend von dem Kleineren, ehe er Kageyamas Blick folgte und sich nun ebenfalls der Plakatwand zuwand. Es handelte sich um ein Werbeplakat. Immerhin standen in wenigen Wochen die Bürgermeisterwahlen an. Darauf abgebildet war ein großer grauhaariger Mann. Kurze Haare. Strenger Blick. Kalte stechend blaue Augen. Augen, die dem Orangehaarigen mehr als bekannt vorkamen.   „Hat dieses Arschloch es doch tatsächlich geschafft sich bei der Bevölkerung einzuschleimen! Ich fasse es nicht!“, zischte Tobio angefressen und biss sich hierbei auf die Unterlippe.   Dass dieser widerliche Kerl es tatsächlich bis nach oben geschafft hatte, war ihm schleierhaft. Tobios Blick verfinsterte sich. Wut kochte in ihm hoch. Er hatte schon am frühen Morgen bereits eine üble Vorahnung, aber dass er ausgerechnet jetzt schon mit IHM konfrontiert wurde! Kageyama spürte, wie sein Mageninneres sich ankündigte, das drohte nach oben zu gelangen. Es war wie ein Schlag in die Magengrube.   Entsetzt hielt Shoyo inne und sah zu Tobio auf, der knurrend seine Hände zu Fäusten ballte.   „Kennst du diesen Politiker etwa?“, kam es leise von dem Orangehaarigen, ehe er sich wieder dem Plakat widmete.   „Mein Erzeuger…“, Tobios Stimme war tief und dunkel. Anders, als Shoyo sie in Erinnerung hatte. Erstarrt gefror der Orangehaarige an Ort und Stelle fest. Tobio stammt aus einer Politikerfamilie?   „Moment… das heißt, dass du aus einer adeligen und hochangesehenen Familie kommst…“, hauchte Hinata leise und trat entsetzt einen Schritt zurück.   „Aber wieso?“, weiter kam Shoyo nicht, ehe Kageyama mit voller Wucht seine Faust gegen das Plakat schlug und seinen Kopf senkte.   Die schwarzen Strähnen hingen dem Größeren tief ins Gesicht. Erst als Tobio seinen Kopf etwas anhob und in Shoyos Richtung blickte, konnte der Orangehaarige es sehen. Trauer. Wut. Schmerz. Die blauen Iriden wirkten leer und kalt. Dieser Anblick gefiel dem Kleineren ganz und gar nicht. Kageyama benahm sich seit ihrem Aufbruch am frühen Morgen schon so seltsam und so langsam begann der Orangehaarige zu verstehen warum. Was auch immer zwischen Kageyama und seiner Familie vorgefallen war – es muss ihn bis ins Tiefste erschüttert haben. Shoyo schluckte daraufhin. Warum waren sie dann überhaupt hier, wenn Tobio anscheinend mit dieser Stadt keine guten Erinnerungen in Verbindung brachte?   „Warum sind wir überhaupt hier, Tobio?“, kam es leise über Shoyos Lippen.   Der Angesprochene schwieg eine Weile. Sah ins Leere, rührte sich keinen Millimeter. Für Hinata fühlte es sich an, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Diese Stille behagte ihm nicht. So kannte er seinen sonst so ruhigen Schulkameraden nicht. Warum antwortete Kageyama nicht? Sofort machte sich Panik in Hinata breit. Hatte er gerade etwa voreilig gehandelt? Warum konnte er nicht einfach seinen Mund halten? Diese Frage war doch aktuell mehr als unangebracht!   Tobio atmete währenddessen tief ein und aus, ehe er seine Faust zurückzog und in seiner Hoodie-Bauchtasche verschwinden ließ.   „Seit ich dir das erste Mal begegnet bin, habe ich das Gefühl, dass ich dir vertrauen kann…“, flüsterte Tobio und sah schließlich auf den Boden.   Er sah sein Spiegelbild in der Pfütze, die sich vor ihm auf dem Bürgersteig befand. Dann sah der Schwarzhaarige erneut auf und blickte wieder in das tigeraugeähnliche Augenpaar, das ihn von Anfang an in den Bann gezogen hatte.   „Ich möchte, dass du die Wahrheit über mich erfährst, Shoyo…“ Kapitel 18: Akt II: Part V – past and truth II ----------------------------------------------   Tobio wusste von Anfang an, dass die Reise nach Tokio gemischte Gefühle bei ihm auslösen würden. Zum einen wurde er mit seiner reichen und einflussreichen Familie konfrontiert und andererseits hingen viele Erinnerungen an Tooru mit der Großstadt zusammen. Hier war er geboren und aufgewachsen. Hier hatte er zu sich selbst gefunden und hatte seinen eigenen Weg gewählt. Er hatte mit Tooru schöne zwei Jahre in dieser Stadt verbracht und genau hier war jene Tragödie geschehen, die ihn schlussendlich aus dem Alltag gerissen und ihn auf die schiefe Bahn gebracht hatte. Es hingen sowohl schöne, sowie traurige Erinnerungen an diesem Ort. Lange hatte Tobio es erfolgreich geschafft, diese zu verdrängen, vor allem voran Toorus Suizid. Durch den JVA-Aufenthalt und die anschließende Ausquartierung nach Miyagi konnte er etwas Abstand gewinnen. Er konnte zu sich selbst zurückfinden und sich erholen. Aber es war bekannt, dass die Vergangenheit einen eines Tages einholen würde. Allerdings hatte Tobio mit der Zusage nach Tokio zu fahren selbst die Entscheidung getroffen mit seiner Vergangenheit abzuschließen. Er war hier, um ein für alle Mal Lebwohl zu sagen. Erst wenn dieser Schritt getätigt war, konnte er nach vorne sehen.   Allerdings wollte er den Schritt nicht alleine gehen. Aus diesem Grund hatte Ukai Senior ihm die Wahl gelassen, ob er jemanden mitnimmt oder nicht. Es war die richtige Entscheidung gewesen Shoyo gewählt zu haben. Aus einem unbekannten Grund vertraute Tobio dem kleinen Kerl - und das bereits seit Anfang an. Seit er ihm das erste Mal begegnet war. Trotzdem fiel es dem Schwarzhaarigen schwer von seiner Vergangenheit zu erzählen, aber auf der anderen Seite befreite es ihn auch. Endlich konnte er mit jemandem reden und sich ihm anvertrauen. Bei Shoyo fühlte er sich sicher.   Schritte halten durch die leeren Straßengänge.   „Es stimmt, ich bin der Sohn eines hochangesehenen Politikers. Satoku Kageyama. Ich weiß nicht, ob ihr in Miyagi mal von ihm gehört habt. Jedenfalls mag es sein, dass ich in eine reiche und noble Welt geboren wurde. Mir fehlte es an nichts. Ich hatte alles, was sich ein kleiner Junge nur wünschen konnte.“   Tobio schritt über den nassen Asphalt, während Shoyo ihm stillschweigend folgte und ihm weiter zuhörte.   „Allerdings hatte ich andere Kinder immer beneidet. Ihre Eltern widmeten sich ihnen zu, hörten sie an und begleiteten sie auf ihrem Werdegang zum Erwachsenenleben. Unterstützten sie und sprachen ihnen Mut zu. Akzeptierten den Weg, den ihre Kinder eines Tages beruflich einschlagen würden.“   Die blauen Augen verfinsterten sich.   „Alle dachten, ich könne doch froh sein, in solch eine tolle reiche Familie geboren worden zu sein… dabei hatten sie gar keine Ahnung, was ein Leben in einem goldenen Käfig bedeutete.“   Kageyama blieb kurz stehen und blickte zu Hinata, der dicht neben ihm zum Stehen kam. Seit sie die Straßenbahn verlassen hatten, hatte dieser keinen Ton mehr von sich gegeben. Er hörte einfach nur zu und Tobio war froh, dass er ihn nicht unterbrach und ihm die Zeit gab, die er brauchte.   „Alles wurde einem vorgeschrieben. Wie du charakterlich sein sollst, was du später mal beruflich machen willst. Wen du heiratest – einfach alles war in Stein gemeißelt. Ich sollte, wie mein Vater, ein Politikeranwärter werden, so wie meine große Schwester es schon tat. Aber wie du inzwischen selbst weißt, habe ich andere Interessen. Kunst und Geschichte, das waren Dinge, die mich damals schon von Kind auf fasziniert hatten. Meinem Vater allerdings war dies ein Dorn im Auge. Ich widersprach ihm so oft und lehnte mich gegen ihn auf. Was dies zur Folge hatte, brauch ich mal nicht zu erwähnen. Ich wurde in der Schule schon öfters gefragt, wo meine blauen Flecken herstammen. Aber anvertrauen konnte ich mich keinem. Wer würde schon einem kleinen Jungen glauben, dass sein politisch angehauchter Vater ein Schläger ist? Ich hätte somit nicht nur ihn, sondern auch den Rest meiner Familie in schlechtes Licht gerückt und dies hätte meine damalige Situation noch mehr verschlimmert.“   Zwischenzeitlich hatten sie ihren Weg weiterfortgesetzt und hielten an einem kleinen Blumenladen, in dem Tobio einen kleinen Alpenveilchen-Topf käuflich erwarb. Es handelte sich hierbei um ein Grabgesteck, das gern im Herbst aufgestellt wurde. Tobio hatte sich bereits Tage vorher im Internet über die Gestecke dieser Art informiert. Shoyo beobachtete den Größeren genau und sah diesen fragend an, als er den Topf in dessen Händen erblickte.   „Für wen sind denn die Blumen?“   Auf die Frage hin sah Tobio traurig auf den Blumentopf herab. Ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen, als er den Topf fest umklammerte. Nun hatte er über seine Familie gesprochen – allerdings folgt nun der emotionale Teil. Er musste Shoyo von Tooru erzählen. Sein Herz wurde schwer bei dem Gedanken. Ein düsterer Schatten legte sich über seine Mimik.   „Wir gehen einen alten Freund besuchen. Du musst wissen, ihm habe ich es zu verdanken, dass ich aus diesem Höllenhaus rausfand.“   Shoyo spürte, dass mehr dahinterstecken musste. Die Niedergeschlagenheit und Traurigkeit waren mehr als spürbar. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in dem Jüngeren aus. Auf seltsame Art und Weise kam ihm diese Haltung bekannt vor. Bisher hatte er alle Worte verinnerlicht und wirken lassen. Es war mehr als offensichtlich, dass Tobio keine schönen Erinnerungen an diesen Ort hatte. Der Jüngere war geschockt, dass der Schwarzhaarige solch katastrophalen familiären Verhältnissen ausgeliefert war. Es tat ihm im Herzen weh so etwas zu hören. Leider konnte nicht jeder mit einer so gütigen Familie, wie er sie hatte, gesegnet sein. Es gab leider auch das genaue Gegenteil. Aber umso mehr war Hinata neugierig zu erfahren, wer Kageyama geholfen hatte. Es musste sich anscheinend um eine sehr nette Person handeln.   „Wohnt er hier in der Nähe?“, kam es neugierig von Hinata, der weiterhin dicht neben dem Größeren herlief.   Tobio lächelte daraufhin traurig und nickte zur Antwort.   „Wir sind gleich da.“   Als die beiden jungen Männer um die Ecke bogen, blieb Hinata plötzlich stehen. Vor ihnen befand sich der Eingang zu einem Friedhof. Der Orangehaarige spürte, wie es ihm die Luft abschnürte. Eine Eiseskälte zog sein Rückgrat hoch. Unwohlsein stieg in ihm auf. Er konnte in diesem Moment seinen eigenen Herzschlag hören. Für einen Augenblick stand die Welt still. Ohne auch nur eine Frage an den Schwarzhaarigen zu richten, folgte er ihm. Schritten den gepflasterten Weg entlang, an deren Seiten sich ein Grabstein nach dem anderen anreihte. Teilweise schön beschmückt - andere wiederrum bereits verfallen, weil sich niemand der Angehörigen um die Ruhestätten kümmerte. Hinata zerriss es das Herz. Er selbst ging täglich zum Grab seiner Eltern. Sein Gewissen würde es ihm nie erlauben einfach alles, was ihm noch als Gedenkort geblieben war, sich selbst und der Natur zu überlassen. Mit jedem Schritt wurde sein Herz schwerer. War dieser Freund etwa der Grund, weshalb Kageyama so wurde? Was genau war vorgefallen?   Schließlich blieben sie an einer Grabplatte stehen. Sie bestand aus Marmor und das Gestein glänzte wie neu. Anscheinend musste sich jemand der Hinterbliebenen gut um das Grab kümmern. Überall waren Blumen bepflanzt. Kerzen verliehen dem Ruheort eine harmonische Atmosphäre. Währenddessen ging Kageyama auf die Knie und grub mit seinen Händen ein kleines Loch in den weichen Boden. Danach befreite er die Alpenveilchen aus dem Untertopf und pflanzte sie in das Loch vor ihm ein. Vorsichtig schob er den weichen Erdboden bei und klopfte sich anschließend den Dreck von den Händen. Shoyo beobachtete Tobio bei seinem Werk und widmete sich der Inschrift.   „Tooru Oikawa“, kam es leise über Hinatas Lippen.   Danach wand der Kleinere sich wieder Kageyama zu, der weiterhin vor dem Grab kniete und einfach nur auf die Platte starrte. Es war seltsam hier zu sein. Ausgerechnet hier an diesem Ort. Lange hatte sich der Schwarzhaarige vor dem Tag gefürchtet. Aber auf eine seltsame Art und Weise bescherte es ihm mehr Freiheit als zuerst angenommen. Tobio wusste eins – es war richtig mit Shoyo hier her zu kommen. Es dauerte eine Weile, bis der Schwarzhaarige schließlich wieder den Leitfaden fand.   „Ihm habe ich viel zu verdanken. Er hat mich gelehrt an meine Werte und Träume zu glauben. Er lehrte mich nie aufzugeben und auch auf Jüngere und Schwächere zu achten. Ich hatte, bis ich ihn traf, noch nie das Gefühl verspürt irgendwo heimisch zu sein oder mich verstanden zu fühlen. Tooru hatte mir all das und so vieles mehr gegeben. Durch ihn habe ich herausgefunden, wer ich bin und was ich fühle.“   Kurz atmete Tobio tief ein und aus, ehe er sich erhob und auf Hinata blickte, der weiterhin dicht neben ihm stand.   „Durch ihn habe ich zu meiner Sexualität gefunden. Durch ihn weiß ich, dass ich niemals eine Frau heiraten und Kinder haben werde.“   Shoyos Augen weiteten sich. Überrascht sah der Kleinere nach diesen Worten zu dem Größeren auf, der zeitgleich wieder auf die Knie gegangen war und seine Aufmerksamkeit dem Grab schenkte. Kageyama war homosexuell? Sofort spürte Hinata wie ihm innerlich warm wurde. Sofort fand seine rechte Hand zu seiner Brust, während weiße Atemwölkchen aus seinem Mund emporstiegen. Es war eiskalt. Währenddessen fuhr der Schwarzhaarige fort.   „Meinem Vater war Tooru ein Dorn im Auge. Immerhin hatte der alte Knacker meine Hochzeit schon arrangiert und hatte keine Widersprache geduldet. Wie so oft kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen, aber diese fanden ein Ende, als sich Tooru damals schützend vor mich stellte, mich an die Hand nahm, meine Sachen packte und mich aus dem Höllenhaus rausführte. Meine Eltern hatten mich nie akzeptiert – sie hätten meinen Partner nie akzeptiert. Im Gegenteil, mein Vater ist sogar auf Tooru losgegangen. Meine Homosexualität war ihnen zu wider. Sie ekelten sich vor mir. Es war die pure Hölle. Seit jenem Tag habe ich meine Eltern nie wieder gesehen und ich will sie auch nicht wiedersehen. Sie sind für mich gestorben. Ich bin besser ohne sie dran.“   Die Kälte, die in diesen Worten steckte, war mehr als spürbar. Shoyo verstand. Mitleid stieg in dem Jüngeren auf. So eine Familie hatte niemand verdient. Nun verstand der Orangehaarige auch, warum Tobio eben so wütend war, als er das Plakat seines Vaters gesehen hatte. Sein Blick wanderte nun ebenfalls wieder zur Grabplatte. Dennoch stellte sich der Jüngere eine Frage.   „Was ist mit Oikawa passiert?“, es war unangenehm diese Frage zu stellen. Hinata fühlte sich unwohl und das schien auch Kageyama zu bemerken.   Auf die Frage hin stand Tobio wieder auf und stellte sich dicht neben den Orangehaarigen. Die Worte, die Hinata daraufhin zu hören bekam, zogen ihm den Boden unter den Füßen weg.   „Es war Suizid – er starb vor meinen Augen, als er vom Dach unseres Wohnkomplexes gesprungen ist.“   Stille. Es folgten keine weiteren Worte. Die Antwort war kurz, aber informativ und vor allem erschütternd. Shoyo stand einfach nur da und starrte ins Leere. Sein Herz setzte für einen Augenblick aus. Kälte durchzog seine Venen.   „Ich konnte es nicht verhindern. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass er psychische Probleme hatte. Tooru hatte seine Rolle bis zum Ende perfekt gespielt. Niemand wusste davon – nicht einmal seine eigene Familie!“   Immer wieder halten Tobios Worte durch seine Gedanken. Ließen ihn innerlich gefrieren. Vernahm die Worte, die wimmernd zu ihm sprachen.   „Meine helfende Hand konnte ihn nicht mehr erreichen!“   Mit jedem weiteren Satz zerriss etwas in Shoyo. Das letzte Mal, als Hinata diese Eiseskälte verspürte, war, als er vom Tod seiner Eltern erfahren hatte. Er fühlte mit Kageyama. Fühlte jeden Schmerz, den der Schwarzhaarige ertragen musste.   „Wäre ich nur wenige Sekunden eher wach geworden und hätte registriert, was los war!“   Spürte die Verzweiflung, die in Kageyamas Worten steckte. Er hatte seinen Geliebten vor seinen Augen sterben sehen, ohne etwas tun zu können. Ohne groß nachzudenken, streckte Hinata seine linke Hand aus und nahm Tobios rechte Hand und drückte diese fest. Eigentlich hatte der Orangehaarige damit gerechnet, dass Kageyama ihn abweisen würde, aber er ließ es zu und erwiderte die Geste.   „Es war nicht deine Schuld, Tobio…“, hauchte der Kleinere und schmiegte sich daraufhin näher an den Älteren und lehnte seinen Kopf an dessen Oberarm an. Er spürte wie Kageyama zitterte. Ein Blick nach oben reichte aus, um zu wissen, was los war.   Stille Tränen rannen Tobios Wangen hinunter. Er weinte im Stillen. Dieser Anblick zerriss dem Kleineren das Herz. Diese Leere in dessen Augen. Hinata selbst kannte diese Situation nur zu gut. Er verstand seine Gefühle – seine Emotionen, die ihn in diesem Moment übermannten. Es war nur natürlich zu weinen. Nur so konnte man sich einigermaßen von dem Leid und dem Schmerz befreien. Es zeugte von innerer Stärke. Shoyo wand den Blick ab und sah auf das Grab herab. Er vernahm, wie Tobio schließlich seinen Kopf an seinem eigenen anlehnte. Der Größere suchte in diesem Moment Schutz und Halt – und genau diese würde Hinata ihm geben. Der Orangehaarige wusste, dass eine Konfrontation mit den Vergangenheits-Dämonen einen emotional zu Boden riss. Das solch eine dramatische Geschichte hinter Kageyamas Wesen steckte, war erschütternd. Es vergingen einige Minuten, ehe sich der Schwarzhaarige wieder etwas gefangen hatte und wischte sich mit dem Handrücken über sein Gesicht.   „Danach war nichts mehr, wie es war. Ich bin der Dunkelheit verfallen. Es war mir alles egal. Mein Leben – mein Schulabschluss – meine Freunde – einfach alles. Ich hatte niemanden mehr, der mir Halt gab. Niemanden, der mich verstand. Mein Fels in der Brandung war nicht mehr da. Schließlich verlor ich alles aus den Augen und wurde ein Obdachloser und Krimineller. Schloss mich einer gefährlichen Straßengang an. Zündete Autos an und demolierte andere Gegenstände. Ich wollte einfach nur noch alles brennen sehen. Meine Seele befand sich in tiefster Hölle. Heute weiß ich, dass es ein Hilfeschrei gewesen war und Kami sei Dank wurde ich aus diesem Teufelskreis rausgeholt.“   Shoyo sah währenddessen auf das Grab vor ihm. Nun hatte er seine Antworten, nach denen er schon seit Wochen gesucht hatte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit so einer schrecklichen Geschichte. Nun ergab alles einen Sinn. Sein Beschützerinstinkt - sein Gerechtigkeitssinn. Dieser Oikawa war ein Mentor für Kageyama gewesen. Er hatte ihm all diese Dinge gelehrt und ans Herz gelegt. Dadurch ist aus Tobio erst überhaupt so ein verantwortungsvoller und liebeswürdiger Mensch geworden. Endlich konnte Hinata ihn besser verstehen. Zeitgleich musste er selbst an seine eigene Situation von damals denken. Auch er stand vor diesem besagten Weg.   […] „Shoyo, es gibt immer einen Weg, der dich in die Dunkelheit führt und ein anderer, der dich wieder zurück ins Licht und auf den richtigen Pfad bringt. Wie du dich entscheidest, ist deine Sache, aber bedenke, was aktuell für dich auf dem Spiel steht“ […]   Natsu war damals sein Antrieb gewesen. Wäre Hinata allein wie Kageyama gewesen, wer weiß wie sein Leben sonst verlaufen wäre. Er musste sich zusammenreisen, er musste erwachsen werden und lernen bereits mit 16 so viel Verantwortung zu übernehmen. Und gerade, weil der Orangehaarige damals mit dem alten Ukai dieses Gespräch geführt hatte, begegnete er Menschen mit einer kriminellen Vergangenheit offener. Er blickte hinter die Kulissen und hinterfragte. Leider gab es nicht so viele Menschen, die ihm gleich waren. Viele sahen in einem Menschen immer nur den Kriminellen – die Gründe und Ursachen interessierten sie nicht. Shoyo sah schließlich zu dem Älteren auf und ging nun auf die Knie und faltete seine Hände zusammen. Er betete – betete zu Oikawa, dass er nun gut auf den Größeren zukünftig Acht geben werde. Von nun an wird es seine Aufgabe sein Kageyama zu begleiten – zumindest als Schulkamerad und Freund! Freund in Sinne von Kumpel versteht sich. Kurz schloss der Jüngere seine Augen.   Kageyama hingegen sah zu Hinata hinunter. Er war so verdächtig still. War es ein Fehler gewesen ihn einzuweihen? Würde er um ihn nun einen Bogen machen und verachten?   „Du sagst ja gar nichts…“, flüsterte der Größere und richtete seinen Schal, sodass sein Gesicht zur Hälfte in dem weichen Stoff versank.   „Verurteile niemals einen Menschen, dessen Vergangenheit du nicht kennst…“   Es waren Worte, die Kageyama innehalten ließen. Das blaue Augenpaar weitete sich. Diese Worte kamen ihm irgendwie bekannt vor.   „Was?“, kam es aus seinen Lippen, ehe er auf den Orangehaarigen entsetzt hinabblickte, der zwischenzeitlich wieder seine Augen geöffnet hatte. Die braunen Augen waren allerdings weiterhin auf das Grab gerichtet.   „Ein Mensch wird nicht böse geboren. Es sind Schicksale, die sie prägen und sie von Grund auf erschüttern, sodass sie nicht mehr wissen, wer sie sind. Inzwischen verstehe ich seine Worte, die er damals an mich gerichtet hat. Ich hätte nur nicht gedacht, dass ich tatsächlich solch einem Menschen mal begegne…“, hauchte Shoyo und erhob sich schließlich. Der Kleinere stand mit dem Rücken zu Kageyama gewandt.   Der Schwarzhaarige stand allerdings immer noch angewurzelt da. Diese Worte. Nein, das konnte kein Zufall sein. Er hatte dieselben Worte damals auch gehört. Sie stammen von Ukai Senior höchstpersönlich. Tobio erkannte die Redewendung genau. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er erinnerte sich an die Beschreibung jenes Jungen, von dem der alte Polizeikommissar erzählt hatte.   Moment! War Shoyo etwa? War das denn die Möglichkeit?   „Du…“, zu mehr war Kageyama nicht mehr in der Lage. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er spürte, wie sich die Luftzufuhr verringerte. Sein Herz setzte aus und ein unwohles Gefühl machte sich in ihm breit.   Natürlich. Deswegen hatte Bokuto den Jüngeren vor wenigen Tagen zurechtgewiesen. Shoyo ist dieser junge Mann von dem Ukai Senior erzählt hatte. Er war der genaue Gegenpart von ihm. Er ist jener, den er so lange gesucht hatte – er befand sich die ganze Zeit genau vor seiner Nase!   //Wie dumm bist du eigentlich Tobio!! Heulst hier rum und dabei hat deine Gesellschaft ähnliches durchlebt! Ich bin doch so ein Depp und Vollidiot!!//   Sollte er ihn darauf ansprechen? Nein – das war nicht der richtige Zeitpunkt! Er musste warten. War vielleicht auch besser so, bevor Shoyo noch denkt, er würde ihn verfolgen und stalken. Während Tobio weiterhin seinen Gedanken verfallen war, drehte sich Hinata schließlich zu ihm um.   „Hör mal Tobio, ich bin bereit dir zu helfen. Es ehrt mich, dass du so viel Vertrauen in mich hast und dich mir anvertraut hast. Du sollst nur wissen, dass dein Geheimnis bei mir sicher ist.“   Danach sah der Kleinere wieder auf das Grab herab.   „Du musst wissen - ich kenne Keishin schon aus Kindertagen. Ich weiß, dass er als Bewährungshelfer arbeitet und als ich euch zusammen nach dem Vorfall mit Wakatoshi bei der Direktorin gesehen habe, war es mir sofort klar“   Schließlich sah der Jüngere wieder zu Kageyama auf, der immer noch wie angewurzelt dastand.   „Du wirst deine Gründe haben, warum du nach Miyagi gekommen bist und es ist bemerkenswert, dass du trotzdem versuchst deinen versäumten Schulabschluss nachzuholen. Ach ja, apropos Schule.“   Langsam trat Shoyo an Kageyama heran und blieb neben diesem stehen.   „Mir ist zu Ohren gekommen, dass du Schwierigkeiten mit bestimmten Fächern hast. Wenn du jemanden brauchst, der dir helfen soll, sag einfach Bescheid. Ich helfe dir gern, Tobio“, das Lächeln, das Hinata daraufhin präsentierte, ließ Tobio erneut innehalten.   Diese Augen zogen ihn regelrecht in den Bann und sein Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen. Ungewollt versteht sich.   „Danke…“, war alles, was der Schwarzhaarige Zustandebringen konnte, ehe Hinata auch schon an ihm vorbeischritt.   „Ich lass dich jetzt mal für wenige Minuten allein. Nimm dir die Zeit, die du brauchst…“, sprach der Orangehaarige und schritt Richtung Ausgang.   Tobio sah dem Jüngeren nach. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Hinata war wirklich ein toller Kerl. Da gab es nichts zu rütteln. Shoyo wirkte schon sehr erwachsen für sein Alter und auch so vernünftig. Hätte er nicht gewusst, dass der Orangehaarige jünger als er war, hätte er ihn locker auf sein Alter oder älter geschätzt. Tobio war in diesem Augenblick einfach nur überwältigt. Der Jüngere nahm sogar jetzt in diesem Augenblick Rücksicht auf ihn. Er ließ ihm sogar die Zeit, damit er sich nun endgültig von Tooru verabschieden konnte. Nachdenklich widmete sich der Größere daraufhin wieder dem Grab. Erneut ging der Schwarzhaarige auf die Knie und legte seine Hand auf die Grabplatte.   „Es hat sich vieles inzwischen geändert. Ich konnte nach langer Zeit endlich mit allem abschließen und sehe nun nach vorne. Dieser Tag heute ist ein Abschied.“   Erneut schlich sich ein trauriges Lächeln auf Kageyamas Lippen, während sich seine Augen wieder mit Tränen füllten. Er konnte es einfach nicht verhindern. Zu sehr nahm ihn diese ganze Situation mit. Währenddessen tropften vereinzelt Regentropfen auf ihn nieder. Der Himmel verdunkelte sich langsam wieder.   „Ich danke dir, Tooru… einfach für alles…“   Schließlich begann es in Strömen zu Regnen. Tobio sah daraufhin zum Himmel auf. Warum fühlte sich der Regen auf seiner Haut so vertraut an? Warum geschah es gerade jetzt? Seine Augenlider schlossen sich. Es wirkte so, als ob Oikawa gerade auf diese Weise ebenfalls Lebewohl sagen wollte. Es fühlte sich so nostalgisch an. Anschließend hob der Größere seine Augenlider. Es war so weit. Er musste gehen. Die Zeit war um. Langsam erhob sich der Schwarzhaarige wieder und verneigte sich vor dem Grab. Eine letzte Geste.   //Lebe wohl, Tooru – eines Tages werden wir uns wiedersehen…//             Die Heimfahrt verlief ruhig. Der Regen hatte zwischenzeitlich wieder eingesetzt und regnete auf die Landschaft herab, die schnell an ihnen vorbeizog. Der Tag war so anstrengend gewesen, sodass Kageyama und Hinata im Zug schon wenige Minuten später eingeschlafen waren. Ukai Senior hingegen saß zufrieden auf der Sitzbank und schaute freudig auf seinen Snackkorb herab. Seine Kollegen hatten für ihn extra einen kleinen Präsentkorb errichten lassen. Immerhin wussten sie genau, was er gerne aß. Schmunzelnd sah er schließlich auf.   „Na, sieh mal einer an“, kam es lachend von dem alten Mann.   Vor ihm saßen Kageyama und Hinata, allerdings in einer sehr merkwürdigen Position. Der Jüngere hatte seinen Kopf gegen Kageyamas Arm angelehnt, während dieser seinen Kopf, auf den des Jüngeren liegen hatte. Sie schliefen tief und fest. Es war still.   Der alte Mann ließ sich in die Sitzpolsterung fallen, zückte sein Handy aus der Tasche und wischte mit seinem Daumen über den Display. Die Handykamera war auf die beiden jungen Männer gerichtet. Dieses Bild musste er einfach festhalten. Es war das erste Mal, dass er die beiden so zufrieden dasitzen sah. Entzückt von dem Anblick blickte der alte Ukai auf das Foto und musste lächeln.   „Keishin wird aus allen Wolken fallen, wenn er das hier sieht“, kicherte der Grauhaarige und widmete sich daraufhin wieder seinen Leckereien. Kapitel 19: Akt II: Part VI – you… ---------------------------------- Der Oktober zeigte inzwischen Tag für Tag mehr sein Gesicht. Die regnerischen Wochen nahmen ihr Ende und machten Platz für den goldenen Herbst, der sich mehr und mehr in den Wäldern zeigte. Die Blätter verfärbten sich und offenbarten ihr gelb, rot – orangenes Antlitz. Tagsüber war es noch angenehme 15 Grad, nachts hingegen ging es schon gegen Nullpunkt. Der Herbst war dieses Jahr noch recht mild um die Zeit.   Tobio hatte noch lange an die Reise nach Tokio zurückdenken müssen. Nicht nur, dass er nun endgültig von seiner Vergangenheit Abschied genommen hatte – nein, er hatte am selben Tag noch herausgefunden, dass Shoyo jener junge Mann war, von dem der alte Ukai am Abend vor seinem ersten Schultag berichtet hatte. Es fühlte sich immer noch seltsam an. So surreal und unwirklich. Wenn der Schwarzhaarige an den Jüngeren vom Auftreten her zurückdachte, hatte dieser keinerlei Anstalten gemacht, in irgendeiner Form traurig oder unglücklich zu sein. Abgesehen von der Sache mit Ushiwaka. Das war ein eigenes Thema. Aber von seiner Trauer her schien der Orangehaarige alles gut verarbeitet zu haben. Zumindest auf den ersten Blick. Dennoch hatte Tobio das Gefühl etwas Bestimmtes übersehen zu haben. Bislang hatte er noch nicht das Gespräch mit Shoyo führen können, dafür hatte sich noch keine passende Gelegenheit ergeben. Dabei sahen sie sich inzwischen täglich, sowohl während den Pausen als auch danach in der Bibliothek.   Der Schwarzhaarige hatte lange über das Angebot von Hinata mit der Nachhilfe nachgedacht. Sollte er seine Hilfe in Anspruch nehmen oder nicht? Die Frage war schneller geklärt als ihm lieb war. Eine Fünf in Mathematik hatte ihn dann die Entscheidung schnell fällen lassen. Es musste sich an seinen schulischen Leistungen etwas ändern! Warum also nicht von einem der besten Schüler der Schule lernen?   Sie lernten täglich. Mal für mehrere Stunden - mal waren es weniger, wenn Shoyo seine Schicht im Dinners begann und vorher noch Zeit entbehren konnte. Meistens waren sie allein. Vor allem an den Tagen, wo Shoyo nicht arbeiten musste. Die beiden jungen Männer lernten teilweise bis abends, bis die Sonne schon hinter dem Horizont unterging. Danach liefen sie noch ein Stück gemeinsam nach Hause, wobei Shoyo meistens immer sein Fahrrad dabei hatte und dieses auf Rücksichtnahme neben sich herschob. Wobei Tobio nicht nur dem Lernen wegen den Kontakt mit dem Jüngeren aufrecht erhalten wollte. Etwas in ihm fühlte sich auf magische Art und Weise zu Hinata hingezogen. Er konnte es nicht einmal annährend in Worte fassen. Shoyo war auf seine Weise besonders. Tobio genoss die Zeit, die er mit dem Orangehaarigen verbrachte. So war es auch heute. Gerade im Moment lernten sie wieder, wie so oft, in der Bibliothek.   Physik – eines seiner absoluten Hassfächer. Wer hatte dieses Fach bitte erfunden? Tobio könnte kotzen, wenn er allein nur auf die Aufzeichnungen vor sich hinabblickte. Er verstand nur Bahnhof. Diese ganzen Formeln waren doch die reinste Folter. Shoyo hingegen ging in dem Fach richtig auf. Die Art und Weise, wie er ihm die Aufgaben erklärte, ließen den Nebel in Tobios Kopf langsam verschwinden. Eines musste man dem kleinen Kerl lassen: in Nachhilfe geben war Hinata klasse – er konnte sehr gut erklären. Die Hilfestellungen, die er einem hierbei noch näherbrachte, waren wirkliche Lebensretter, wenn es um eine gute Note ging. Aber dennoch tat sich Kageyama weiterhin schwer mit gewissen Themen, aber Hinata war die Ruhe und Geduld in Person. Er erklärte auch mehrmals die Zusammenhänge der Aufgaben und war nicht ein einziges Mal genervt gewesen. Kageyama fragte sich innerlich schon die ganze Zeit, ob Hinata später nicht besser im Lehramt aufgehoben wäre. Der Orangehaarige wäre bestimmt ein toller Lehrer!   „So Schluss für heute“, Shoyo richtete zuvor seine Brille und begann danach die Tasche zusammenzupacken.   Tobio tat dasselbe und zog sich in der Zwischenzeit seine Jacke an. Dabei kam er nicht umher den Jüngeren aus dem Augenblickwinkel zu beobachten. Wie so oft konnte Kageyama einfach nur starren. Wie der Kleinere vorm Fenster stand, zeitgleich die Abendsonne durch das Fensterglas schien und die goldene Brille anleuchtete, während seine orangehaarigen Strähnen im Abendrot aufschimmerten. Tobio konnte sich von dem Anblick nicht lösen – er fesselte ihn regelrecht. Es gab auch Momente, wo sich ihre Blicke trafen und gerade dann hatte Tobio das Gefühl, als ob ihm das Herz aus der Brust springen würde. Was war nur verdammt nochmal mit ihm los?   „Ist alles in Ordnung, Tobio?“   Auf die Frage hin wand der Angesprochene den Blick ab und sah auf seinen Rucksack herab. Tobio versuchte sich so wenig wie möglich anmerken zu lassen.   „Ja, alles gut. Ich bin nur müde…“, kam es gähnend von Kageyama, woraufhin er seinen Rucksack schulterte.   „Das glaub ich dir gern. Lernen macht müde, nicht wahr?“, kam es lächelnd von Shoyo, ehe er an dem Größeren vorbeischritt und hierbei versehentlich dessen Hand mit seiner eigenen streifte.   „Oh!“, kurz hielt der Orangehaarige daraufhin inne und sah zu Kageyama auf, der ihn fest im Blick hatte. Braun traf auf Saphirblau. Es dauerte keine fünf Sekunden, ehe sowohl Tobio als auch Shoyo erröteten und sich räusperten.   „Tut mir leid“, kam es von Hinata, der beschämend den Blick abwand, während sich der Schwarzhaarige am Hinterkopf kratzte.   „Schon gut, nichts passiert!“   Als sie das Schulgebäude verlassen hatten, liefen sie noch wenige Meter stillschweigend nebeneinanderher. Kageyama sah immer wieder neben sich. Hinata schob sein Fahrrad neben sich her und sah stetig zu Boden. Die Röte auf dessen Nasenspitze war immer noch vorhanden. Es dauerte eine Weile bis der Jüngere schließlich aufsah.   „Hör mal… hast du am kommenden Samstag schon etwas vor?“, verlegen sah Shoyo daraufhin zur Seite, sodass der Größere die erneut aufsteigende Röte auf seinen Wangen nicht bemerkte.   Fragend hob Kageyama eine Augenbraue. Die Nervosität war definitiv aus der Frage rauszuhören. Zudem der Kleinere stotterte – das war ihm neu.   „Nichts bestimmtes, warum?“   „Besitzt du zufällig ein Fahrrad?“   Irritiert blieb der Schwarzhaarige stehen und sah den Jüngeren an, der mit dem Rücken gewandt vor ihm stand.   „Ich könnte mir eins leihen, soviel ich weiß, besitzen sowohl Kira als auch der Brüllaffe eines.“   Auf die Aussage hin musste Shoyo kichern.   „Hm? Was ist so lustig?“, Tobio konnte einfach nur starren. Das Lächeln war einfach zu niedlich.   „Ach nichts, ich finde die Kosenamen, die du Keishin gibst, einfach nur witzig. Ihr müsst euch wohl sehr gerne haben, was?“   „Haha, sehr witzig.“, prustete der Ältere und blies seine Backen auf, ehe sie ihren Weg fortsetzten. Als ob er den Brüllaffen gut leiden könne! Der Typ kotzte ihn eher an. Es verging kein Tag, wo dieser nicht mit einer schlechten Laune vor ihm stand. Es war alltäglich. Daran hatte sich der Schwarzhaarige allerdings schon lange gewöhnt.   Nach einer Weile trennten sich schließlich Tobios und Hinatas Wege. Der Schwarzhaarige sah dem Kleineren noch eine Weile nach, wie dieser aufs Rad stieg und den Berg emporradelte. Man sah es Shoyo nicht an, aber er besaß eine gute Ausdauer. Tobio würde schon direkt nach wenigen Metern kapitulieren und nach Luft japsen. Joggen war kein Thema für ihn, aber Radfahren gehörte nicht zu seinen Stärken. Gedankenversunken kehrte der Schwarzhaarige dem Jüngeren schließlich den Rücken zu und joggte nach Hause.           Der besagte Samstag kam schnell. Die Sonne ging bereits am frühen Morgen hinter den Bergen auf und der Tau der letzten Nacht schmolz schnell. Der Himmel war weitestgehend wolkenlos. Nur wenige kleine Wolken zierten das blaue unendliche Himmelszelt. Es versprach ein schöner Herbsttag zu werden. Laut Wettervorhersage sollen es um die 15 Grad werden und hin und wieder soll ein lauwarmer Wind wehen. Tobio war bereits gegen 8 Uhr aufgestanden und hatte alle Hausarbeiten nacheinander erledigt, die ihm am Wochenende zugeteilt waren. Es fing mit Holz hacken an und danach stand noch ein Wochenendeinkauf im Supermarkt an, den Tobio bereits schon mehrmals in der Vergangenheit besucht hatte. Inzwischen kannte er sich ganz gut mit der Sortiment-Struktur aus und wusste, wo sich was befand. Demnach war der Einkauf schnell erledigt. Nachdem er die Einkäufe sorgfältig nach seiner Rückkehr im Warenlager verstaut hatte, sammelte er die Holzklötze, die er am Morgen gespalten hatte, zusammen und stapelte sie aufeinander. Währenddessen summte der Schwarzhaarige friedlich vor sich hin, was Keishin innehalten ließ, der gerade zufällig an ihm vorbeilief. Irritiert blieb der Blonde stehen und beobachtete seinen Schützling. Es war ein surreales Bild, das sich dem Bewährungshelfer bot.   „Ich wusste gar nicht, dass Gruftis auch mal gut drauf sein können.“   Daraufhin ließ Tobio vom Holzstapel ab und rappelte sich auf. Den bissigen Kommentar ignorierte er wie so oft.   „Sollte auch mal vorkommen, ja…“, kam kurz und knapp von dem Jüngeren und klopfte sich den Staub von der Jogginghose.   Keishin hingegen hob überrascht eine Augenbraue und lehnte sich gegen den Holzzaun.   „Mal vorkommen? Du bist inzwischen täglich so verdammt gut drauf und das ist beängstigend! Nimmst du seit neustem irgendwelche Drogen oder warum habe ich das Gefühl, dass dein Kopf in den Wolken hängt?“   Fragend hob Tobio seinen Kopf und richtete sich auf, ehe er kurz seinen Nacken knacken ließ.   „Ich weiß ehrlichgesagt nicht, wovon du redest…“   Keishin sah auf die Aussage hin den Jüngeren verdutzt an. Die braunen Iriden wurden immer größer. Wollte dieser ihn gerade verarschen?   „Oh doch, ich denke, du weißt ganz genau, wovon ich rede! Ständig diese gute Laune, dieses Dahinschmachten und dieses andauernde Geglotze auf dein Handy! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sogar behaupten, dass du dich wie ein verliebtes Schulmädchen aufführst.“   Der Schwarzhaarige hielt in seiner Bewegung inne und starrte seinen Bewährungshelfer geschockt an. Was laberte dieser Idiot denn da? Hörte sich dieser Depp gern selbst reden?   „Das Ganze hier wird mir zu blöd – außerdem bin ich eh gleich weg“, entgegnete der junge Mann und schritt an Keishin vorbei, der ihm mehr als verärgert nachsah.   „Hey! Was soll das heißen ,,du bist gleich weg``! Es wird gelernt mein Freund!“   //Du kannst mich mal!!!//   Während Tobio durch die Türschwelle schritt, trat Kira nach draußen, die gerade einen Wäschekorb vor sich hielt. Freundlich nickte der Schwarzhaarige ihr zu, ehe er auch schon im Innern verschwand.   „HEY! Ignorier mich gefälligst nicht, du unverschämter Bengel!“, eine Zornesader bildete sich auf Keishins Schläfe. Wenn er eines hasste, dann war es, wenn man seine Autorität untergrub. Gerade wollte er Tobio folgen, als seine Mutter ihn zurückhielt.   „Lass ihn, Kei.“   „MA! Was soll das!“   Ein Kichern folgte, während die Blondhaarige die Kleidungsstücke einzeln aus dem Korb nahm, ausschlenkerte und an der Wäscheleine aufhing.   „Tobio hat doch alle Aufgaben für heute erfüllt und außerdem lernt er mehr als genug. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass er unter der Woche nicht vor 18 Uhr nach Hause kommt?“   „Sicher, aber weiß ich, wo der Depp sich rumtreibt? Was treibt er eigentlich nach der Schule?“   Wieder folgte ein Kichern.   „Was ist daran so lustig? Ich wäre gern am Leben meines Bewährungsschützlings mitbeteiligt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass jeder hier in diesem Haus den Durchblick hat außer ich!“   Kira schüttelte daraufhin den Kopf und drehte sich zu ihrem Sohn um, der direkt hinter ihr stand.   „Tobio hat inzwischen einen Nachhilfelehrer gefunden und dieser lernt mit ihm nach dem Unterricht. Er gibt sich wirklich Mühe, Keishin. Die letzten Wochen ist er richtig aufgeblüht und so gefällt er mir besser. Ich bin froh, dass er hier endlich emotional angekommen ist und sich von den Strapazen der letzten Jahre so gut erholen konnte. Außerdem scheint er einen guten Draht zu Shoyo zu haben. Er ist im Übrigen derjenige, der Tobio in der Schule so gut unterstützt.“   Keishin ließ währenddessen seine Hände in seinen Hosentaschen versinken und sah zum Himmel auf.   „Ich verstehe…“, auf die Worte hin zog der Blonde eine Zigarette hervor und zündete sich diese an. Währenddessen fuhr seine Mutter weiterfort.   „Du musst nachsichtiger werden, Keishin. Es mag sein, dass Tobio zu Anfangszeiten eine starke Hand gebraucht hat, aber inzwischen kannst du die Zügel locker halten. Er ist nicht mehr der junge Rebell, den du damals aus der JVA mitgebracht hast. Tobio hat sich geändert.“   „Ich weiß…“, gab der Angesprochene von sich und umgab sich mit Nikotinrauch. Natürlich war ihm aufgefallen, dass Kageyama sich geändert hat. Es ist ihm nicht entgangen.   „Weißt du, was euer Problem ist, Keishin? Ihr seid beide Dickköpfe und wollt immer mit dem Kopf durch die Wand. Ihr seid wie Feuer und Wasser – wenn einer anfängt, muss der andere noch eins draufhauen. Es liegt in eurer charakteristischen Natur.“   „Danke, Ma. Auf den Vortrag hätte ich liebend gern verzichtet…“   „Immer wieder gern, mein Sohn~“   Plötzlich klingelte es an der Tür, woraufhin Keishin und Kira kurz innehielten. Bevor sie jedoch reagieren konnten, war Tobio bereits die Treppe runtergerannt und hatte die Tür geöffnet.   „Hey, Tobio. Bist du so weit?“   „Klar, wir können los.“   Daraufhin traten Shoyo und Tobio auch schon in den Vorgarten, wo Keishin und Kira weiterhin verweilten. Zuvor sah der Schwarzhaarige noch in Keishins Richtung, der mehr als verdutzt das Fahrrad in dessen Händen beäugte. Der Bewährungshelfer ahnte bereits, worauf es hinauslaufen würde.   „Hey, ich leih mir mal dein Fahrrad aus“, war das letzte, was Tobio von sich gab, ehe er mit Hinata auch schon losfuhr und einen völlig überrumpelten Keishin zurückließ, während Kira ihnen verabschiedend winkte und ihnen einen schönen Nachmittag wünschte.   „HEY! Wie wäre es mal, wenn man vorher mal um Erlaubnis fragt!!!“, brüllte Keishin hinterher und seufzte genervt aus, woraufhin Kira sich erneut ein Lachen verkneifen musste. Wie so oft ignorierte Tobio die Beschimpfungen seines Bewährungshelfers und trat in die Pedale, um mit Shoyos Tempo mithalten zu können.             Sie bogen um die Ecke und fuhren eine Weile durch die leeren Dorfstraßen, ehe sie den Ortsausgang erreichten. Sie fuhren die Landstraße entlang, die direkt den Berg hinaufführte. Tobio hatte Mühe mitzuhalten - Shoyo war ja bereits die hohen Berge gewohnt und hatte keine Probleme damit schneller in die Pedale zutreten. Die Sonne stand bereits über ihnen und um sie herum umgab sie Natur. Bunte Wälder zierten die Landschaft und durch den frischen Wind, der ihnen entgegenblies, segelten bunte Blätter an ihnen vorbei. Nach mehreren Metern bog Shoyo schließlich auf einen Waldweg ab, woraufhin Tobio ihm folgte. Sein Blick ruhte allein auf dem Orangehaarigen. Durch den Kontrast der goldenen Blätter und der Sonne schimmerte sein wuschiges Haar erneut auf. Wie so oft konnte Kageyama einfach nur starren. Schließlich widmete er sich dann doch der Umgebung, die sie umgab. Sie durchfuhren einen dichten Wald. Der Weg wurde teilweise ziemlich holprig, weshalb der Schwarzhaarige Mühe aufbringen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er wusste zudem auch gar nicht mehr, wie lange er schon kein Fahrrad mehr gefahren war. Es musste schon ewig her sein.   Obwohl es Herbst war und die ersten Zugvögel ihre Reise in den Süden antraten, war trotzdem Vogelgezwitscher zu vernehmen. Zusätzlich hörte Tobio ein Plätschern. Hier in der Nähe musste sich wohl ein Fluss befinden. Seine Augen wanderten umher. Wo fuhren sie überhaupt hin? Was hatte Shoyo bloß vor?   Ihr Weg führte sie über Stock und Stein. Nach etwa weiteren 15 Minuten bremste Shoyo schließlich ab und kam zum Stehen. Danach stieg er vom Rad runter und stellte dieses gegen einen Baumstamm.   „Hier, wir sind gleich da“, winkend dirigierte der Orangehaarige den Älteren zu sich.   Tobio stieg nun ebenfalls vom Fahrrad und lehnte es gegen Shoyos Rad. Erneut sah er sich um und blickte in die Richtung, in die Shoyo wies. Sie nährten sich einer Lichtung. Shoyo lief voran, während Tobio ihm folgte. Immer noch umgab sie buntes Geächt, wodurch sie sich etwas durchkämpfen mussten.   „Das hier wollte ich dir zeigen“, entgegnete Shoyo und trat aus Tobios Blickfeld.   Erst blendete ihn die Sonne, woraufhin Tobio schützend seine Hand vor seine Augen halten musste. Heute stand die Nachmittagssonne besonders tief, zudem diese bereits ihren Untergang vorbereitete. Erst nach und nach klarte sein Sichtfeld auf. Was sich daraufhin dem Schwarzhaarigen offenbarte, ließ ihn innehalten.   Vor ihm befand sich eine riesige Wiese, voran eine Landschaft, die sich weit Richtung Horizont erstreckte, wo hohe Berge diese abrundeten. Sie befanden sich auf einem hohen Aussichtspunkt, der tief ins Tal blicken ließ. Tobio trat langsam voran und konnte seine Augen nicht von der Landschaft abwenden. Bunte Herbstwälder legten sich wie ein Teppich über das Land. Der Anblick war zauberhaft. Selten hatte Tobio so ein schönes Naturschauspiel gesehen. So etwas bekam man in einer riesigen Stadt sehr selten zu sehen und wenn musste man mehrere fünfzig Kilometer aus der Stadt raus. Da war ein Dorf in der Einöde wohl besser. Hier lebte man mit der Natur im Einklang. Zudem sie sich sowieso in einem Berggebiet befanden.   „Wie findest du es?“, langsam trat Shoyo neben ihn und sah ebenfalls in die Ferne. Erst auf die Frage hin blickte Tobio neben sich.   „Es ist wunderschön…“, hauchte der Schwarzhaarige und schluckte schwer.   Die Art und Weise wie Shoyo einfach dastand, ließ Tobio erneut innehalten. Diese leuchtenden tigeraugeähnlichen Iriden, die in den Sonnenuntergang blickten, während das Gestell der Brille golden aufleuchtete. Orangene Haare wehten in der Oktoberbrise, die sie umgab. Sofort spürte Tobio, wie sein Herz erneut schneller schlug. Diese Wärme, die er bereits seit einigen Wochen wahrnahm, kroch erneut in seine Venen. Seine Hand wanderte zu seinem Brustkorb. Dieses Gefühl hatte er schon lange nicht mehr verspürt. Es musste schon Jahre her sein.   „Weißt du, ich komme oft her, wenn ich Trost suche...“, sprach Hinata und trat weiter nach vorne, wo er schließlich in die Hocke ging.   „Ich war früher oft mit meinen Eltern und meiner Schwester hier. Hier haben wir immer unsere Samstagvormittage verbracht.“   Tobio verweilte an Ort und Stelle und sah seinen Vordermann an, der sich daraufhin wieder erhoben hatte und erneut in die Ferne blickte.   „Mein Vater war mit mir immer durch die hohen Felder getobt. Hier befindet sich ein Maisfeld. Gerade im Sommer konnte man hier immer gut Verstecken spielen. Meine Mutter und Natsu haben oben auf der Wiese auf der Picknickdecke gesessen und uns zugesehen. Wenn ich so drüber nachdenke, fühlt es sich immer noch so an, als ob es erst gestern gewesen wäre…“, Shoyo streckte währenddessen seine linke Hand der Sonne entgegen, als ob er nach ihr greifen wollte.   Der Schwarzhaarige spürte den Schmerz, der aus diesen Worten hervorging. Erinnerungen brachten sowohl glückliche Emotionen als auch traurige zutage.   „Meine Mutter hatte mir und meiner Schwester immer etwas auf ihrer Violine vorgespielt. Sie war eine begabte Violinistin in unserem Stadtorchester gewesen. Immer, wenn sie die Saiten zum Schwingen brachte, löste es ein Glücksgefühl in mir aus – ließ mich erzittern. Bescherte mir eine Gänsehaut. Sie war eine tolle Frau gewesen.“   „Daher also dein Talent…“, hauchte Tobio leise und trat schließlich an Hinata heran, der sich aus seiner Starre löste und ihn verblüfft ansah.   „Woher?“, zu mehr war Shoyo nicht im Stande, ehe Tobio ihm auch schon zuvorkam.   „Ich habe dich damals gesehen. Im Park, auf der Mauer mit einer weißen Violine in der Hand. Deine Musik hatte mich zu dir geführt. Damals war ich gerade erst hier im Dorf angekommen.“   Ein finsterer Schatten legte sich daraufhin über Shoyos Augen, als er wieder seine Aufmerksamkeit dem Horizont schenkte. Ein glasiger Glanz legte sich über seine sonst so strahlenden Iriden.   „Ich erinnere mich an den Tag. Ich war nachmittags mit Yachi dort gewesen. Wir haben einfach nur gespielt. Uns von der Musik treiben lassen. Es war der dritte Todestag meiner Eltern…“   Sofort hielt Tobio inne. Deswegen diese Stimmung. Der Schwarzhaarige erinnerte sich an das Bild, das er vor wenigen Monaten von Shoyo gezeichnet hatte. Er hatte sich damals schon gefragt, warum ihm diese Aura so bekannt vorkam. Wie diese Augen in den Sonnenuntergang gesehen hatten, die gleichzeitig Hoffnung und Einsamkeit ausgestrahlt hatten. Nun hatte er die Antwort. Shoyo war ihm ähnlicher als er dachte. Nun ergab es einen Sinn. Auch der Orangehaarige hatte, wie er, die Einsamkeit kennengelernt.   „Was ist geschehen?“, natürlich wusste Tobio bereits, was passiert war. Aber er wollte es von Shoyo persönlich erfahren.   Es folgte eine kurze Stille, ehe Shoyo auf einem kleinen Felsvorsprung Platz nahm und in die Ferne sah. Tobio nahm hinter ihm Platz, sodass sie nun Rücken an Rücken saßen. Dann begann der Orangehaarige zu erzählen.   „Es sollte ein normaler Abend werden. Mum und Dad waren zu Freunden eingeladen. Sie waren zusammen essen gewesen, während ich auf Natsu aufgepasst habe. Eigentlich nichts Weltbewegendes. Alles war wie immer.“   Die Augen des Jüngeren nahmen währenddessen einen feuchten Glanz an, was Tobio allerdings verborgen blieb. Dieser konnte sich allerdings den Gesichtsausdruck seines Gegenübers genau vorstellen.   „Aber dann brach dieser Gewittersturm los. Es geschah innerhalb von Minuten. Niemand hatte dieses Unwetter vorhersehen können. Es ging alles so verdammt schnell. Natsu hatte schreckliche Angst und hatte sich unter ihrem Bett versteckt. Ich hingegen saß vor ihrem Bett und las ihr eine Geschichte aus einem ihrer Lieblingsbücher vor. Ich wollte sie ablenken und ihr so die beängstigenden Stunden erleichtern.“   //Deswegen also die Angst vor Blitz und Donner…//   Tobio spürte, wie er innerlich unruhig wurde. Die Art und Weise, wie Shoyo sprach, zerriss ihn innerlich. Hinatas Stimme klang tiefer als sonst, so kühl, aber dennoch emotional.   „Plötzlich ertönte unsere Hausklingel. Wir dachten erst es seien unsere Eltern, also sind wie an die Tür und haben diese geöffnet. Als uns jedoch stattdessen zwei Polizeibeamte gegenüberstanden, ahnte ich bereits übles und habe Natsu auf ihr Zimmer geschickt. Was ich dann zuhören bekam, riss mir den Boden unter den Füßen weg…“   […] „Shoyo Hinata, es tut uns leid, dir das mitteilen zu müssen, aber deine Eltern sind in den Sturm geraten und hatten einen schweren Unfall. Sie sind noch an der Unfallstelle verstorben – jegliche medizinische Hilfe kam zu spät“ […]   „Eigentlich war geplant, dass sie bei Freunden übernachten. Aber als der Sturm losbrach, wollten sie uns nicht allein lassen und sind unseretwegen in den Sturm hinausgefahren.“, knirschend biss Shoyo auf seine Unterlippe.   „Ich musste ihre Leichen identifizieren. Es waren die schlimmsten Minuten meines Lebens. Wenn du sie vor dir siehst und genau weißt, dass sie tot sind und nie wieder zurückkehren werden… bis heute habe ich noch Alpträume davon… wie ihre leblosen Körper einfach nur daliegen. Zumindest das, was von ihnen noch übrig geblieben ist…“, Tränen schossen schließlich in seine Augen, weshalb Shoyo seine Brille ausziehen musste, damit er sich mit dem Handrücken über sein Gesicht fahren konnte.   „Ich kenne also den Schmerz, den du erfahren hast, Tobio. Ich kenne das Gefühl alles verloren zu haben und nicht mehr zu wissen, wo einem der Kopf steht. Natsu war damals mein Antrieb gewesen, wenn sie nicht gewesen wäre…“, noch bevor Shoyo seinen Satz vollenden konnte, sah er sich plötzlich mit saphirähnlichen Iriden konfrontiert.   Tobio war aufgestanden und hatte sich vor Shoyo gekniet. Vorsichtig fuhr der Schwarzhaarige mit seinen Fingern über die tränenbenetzte Haut seines Gegenübers. Natürlich kannte er das Gefühl genau. Deswegen konnte er seinen Schmerz und auch die Einsamkeit, die ersterer mit sich brachte, nachvollziehen. Sie verstanden einander. Behutsam wusch Tobio Hinatas Tränen weg.   „Bitte denk darüber nicht nach, was wäre und was nicht. Die Vergangenheit hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Was wichtig ist, ist die Zukunft, die vor einem liegt.“   Shoyos Augen weiteten sich. Er sah tief in Kageyamas Augen. Suchte etwas, allerdings wusste er nicht wonach. Ein schwerer Klos bildete sich in seinem Hals. Der Größere war ihm verdammt nah. Dadurch, dass dieser vor ihm kniete, befanden sich ihre Gesichter auf Augenhöhe. Hinata spürte wie ihm innerlich wärmer wurde und wie sein Herz schneller gegen seinen Brustkorb schlug. Schnell wand Shoyo schließlich den Blick ab und erhob sich. Tief in Gedanken versunken trat er auf die Wiese, die tief ins Tal führte. Er wusste, dass der Größere recht hatte. Die dunklen Zeiten lagen hinter ihnen. Nun galt es den neuen Weg, der vor ihnen lag, voranzuschreiten. Aber dennoch tat es gut, über seinen Verlust zu reden. Er war es Kageyama schuldig – immerhin hatte sich dieser ihm ebenfalls anvertraut. Der Schwarzhaarige sollte wissen, dass er mit seiner Trauer, dem Schmerz des Verlustes und der Einsamkeit nicht allein war. Dass sie einander verstanden – dass jene Tribute sie überhaupt erst zusammengeführt hatte.   „Ich danke dir, Tobio…“, kam leise flüsternd über Shoyos Lippen.   Lauwarmer Wind zog an ihm vorbei und wuschelte seine orangefarbigen Strähnen durcheinander. Noch während Shoyo dastand, spürte er zwei starke Arme, die sich von hinten um seine Körpermitte schmiegten. Der Orangehaarige erstarrte, als er zusätzlich bemerkte, wie sich ein Kopf von hinten an seinen Hinterkopf anlehnte.   „Du bedankst dich ziemlich oft, weißt du das?“, hauchte Tobio leise gegen Hinatas Nacken.   Shoyo spürte, wie Kageyamas Atem seine Haut kitzelte und ihm eine Gänsehaut bescherte. Wie ein elektrisierender Puls durch seine Venen zog. Das Herz des Jüngeren setzte aus. Das Gefühl, das daraufhin sein Innerstes erschütterte, ließ seine Knie weich werden. Hinata hielt den Atem an. Tobio drehte den Kleineren schließlich zu sich um, sodass er vor ihm stand. Der Kopf des Jüngeren war jedoch zu Boden gerichtet, sodass Tobio mit seinem Zeigefinger dessen Kinn anheben musste, damit er in dessen Gesicht sehen konnte.   „Wenn sich hier einer bedanken sollte, dann bin ich es. Ich danke dir für dein Vertrauen und auch, dass du mir hilfst. Ich sage es immer wieder, dass es nicht selbstverständlich ist, einem wie mir zu helfen.“   Noch bevor Tobio weiterfortfahren konnte, hatte sich Shoyo auf die Zehenspitzen gestellt und seine Hand auf dessen Lippen gelegt. Ungläubig hielt der Ältere inne und sah sein Gegenüber überrascht an - wie sich ein Lächeln auf dessen Lippen legte.   „Ich bedanke mich so oft ich möchte, Kageyama und wenn du daran etwas auszusetzen hast-“, plötzlich ließ Shoyo von dem Größeren ab und rannte los. Wirbelte die Blätter durcheinander, die auf dem Boden verweilten.   „-dann versuch mich mal zu fangen~!“   Tobio sah dem Jüngeren erst überrumpelt nach, ehe er kurz in sich ging - tief ein und ausatmete. Das war also Shoyos Art, um die Stimmung zu lockern. Er war wirklich gut in solchen Dingen. Dann stahl sich ein Lächeln auf Tobios Lippen. Er ließ einen größeren Abstand zwischen sie kommen. Zu gern kam er der Aufforderung nach. Schließlich rannte der Schwarzhaarige los und heftete sich direkt an Shoyos Fersen, der ihm ein gutes Stück voraus war. Seine schwarzen Strähnen wehten im Wind. Der Orangehaarige sah währenddessen immer wieder hinter sich. Obwohl Tobio die längeren Beine besaß – Shoyo war schneller als er.   Die beiden jungen Männer tobten kreuz und quer über das Feld. Gelächter durchbrach die Stille, während sie den Berg hinabstürmten und dem Sonnenuntergang entgegenliefen. Ließen ihren Seelen freien Lauf. Warfen all ihre Sorgen und Ängste über Bord. Genossen die Zeit, die sich ihnen bot. Knüpften das Band weiter, das mehr und mehr zwischen ihnen gesponnen wurde.   Es dauerte nicht mehr lange, bis der rote Faden endgültig sein Ziel erreichen und sich ihnen offenbaren würde.      Kapitel 20: Akt II: Part VII – …and me --------------------------------------   Die ersten Schneeflocken fielen Richtung Erde und vermischten sich mit dem Schnee, der bereits am Boden lag. Dicke Flocken rieselten hinunter und bedeckten die Landschaft Miyagis mit einem perlweißen Teppich, der sich sowohl über die Wälder als auch über die einzelnen Dörfer erstreckte. Inzwischen war es Mitte Dezember geworden und die Tage wurden kürzer. Dicke dunkle Wolken hingen am Himmel und verdunkelten das Land. Die Farbe Grau stand inzwischen an der Tagesordnung. Tobio saß an einem kalten Wintermorgen im Klassenzimmer auf seinem Platz und hatte seinen Kopf auf seiner rechten Hand abgestützt, während er den Schneeflocken folgte, die neben ihm auf der Fensterbank zum Erliegen kamen. Wie sie sich mit dem bereits dort liegenden Schnee vermischten und eine Einheit bildeten.   „Nun denn, meine lieben Schüler. Heute ist der letzte Schultag vor den großen Winterferien. Davor werden noch die letzten schriftlichen Klausuren zurückgegeben.“   Der Lehrer stand am Pult und nahm auf die Worte hin einen großen Stapel Papier in seine Hände und ging durch die Reihen.   „Oh Mann, das wird ja wieder was werden. Die wissen genau, wie man einem die Winterferien versaut…“, murrte Atsumu, der direkt hinter Tobio saß.   „Tzja, Tsumu, du hättest wohl mehr lernen müssen“, kam es von Osamu, der neben seinem Zwillingsbruder saß und ihn mehrmals seitlich mit seinem Stift am Oberarm antippte.   „Schnauze…“, die Gewitterwolke, die sich über Atsumu zusammenbraute, war sogar bis zu dem Schwarzhaarigen spürbar, dem augenblicklich ein eisiger Schauer über den Rücken lief.   Tobio selbst war mehr als angespannt. Von dieser Klausur hing vieles ab. Der junge Mann hatte die letzten Wochen wie ein Irrer gelernt. Es war teilweise sogar so heftig gewesen, dass Hinata ihn schon mehrmals stoppen musste, damit er es nicht übertrieb. Sein Gehirn hatte schon einige Male vorm endgültigen Schmorrbrand gestanden und der Orangehaarige musste wohl den Rauch, der bereits aus seiner Schädeldecke emporgestiegen war, registriert haben. Die Standpauke, die er sich im Anschluss vom Kleineren noch zusätzlich anhören musste, ließ ihn wieder ruhiger werden. Auch, wenn man es Hinata nicht ansah - er konnte auch laut und direkt werden.   „Na, wie ist dein Gefühl, Kageyama?“, fragte Sugawara, der einen Platz neben Tobio saß und ihn somit aus seinen Gedanken riss.   „Naja, keine Ahnung. Ich bin in sowas sehr schlecht…“, antwortete der Schwarzhaarige wahrheitsgemäß und sah zum Lehrer auf, der neben ihm zum Stehen gekommen war.   „Ah, Tobio Kageyama. Eigentlich bist du in unserem Klassenzimmer schon Dauerthema, aber ich muss sagen, du bist auf einem guten Weg.“, nach diesen Worten reichte der Ältere das Pergament an Tobio weiter, der daraufhin den Inhalt kritisch beäugte.   „Und? Wie ist es gelaufen?“, Sugawara war sehr neugierig und lehnte sich zu ihm rüber.   Ehe Tobio antworten konnte, hatte sich Atsumu bereits von hinten über ihn gelehnt und hielt den Atem an.   „Das ist jetzt nicht wahr, oder?“, eine Zornesader bildete sich an dessen Schläfe, ehe sein Zwillingsbruder sich zu ihm gesellte.   „Wow, da haben sich die Nachhilfestunden mit Hinata echt gelohnt, was? Mensch Tsumu, sogar Kageyama ist besser als du“, das Grinsen Osamus wurde größer woraufhin er seinen Bruder in den Schwitzkasten nahm.   „Schnauze! Und du willst mein Bruder sein? Schäm dich!“, keifte Atsumu seinen Nachbarn an und stieß diesen von sich.   „Komm mal wieder auf den Teppich, du Depp! Lern mal lieber, anstatt bis nachts an der Konsole zu hängen. WoW bringt dir keine guten Noten! “, kam es daraufhin von dem Grauhaarigen und schlug dem Blonden an den Hinterkopf, der ihn mehr als angefressen anstierte.   „Ich sagte Maul halten!!“   Die dunkle Aura war in diesem Moment nicht nur spürbar – sondern auch schon greifbar. Alle anderen Schüler gingen auf Sicherheitsabstand, während sich die Miya-Zwillinge einander gegenüberstanden und diskutierten. Alle wussten, dass Atsumu sehr energisch und aufbrausend werden konnte. Immerhin besaß dieser ein riesiges Ego und konnte demnach nur schwer verkraften, wenn jemand besser als er war. Was in der Schule allerdings nicht so schwer war. Der Blonde war lernfaul und das spiegelte sich auch in seinen Noten wider. Osamu hingegen war das komplette Gegenteil. Demnach waren ständige Auseinandersetzungen in dieser Art vorprogrammiert.   Tobio hingegen war verblüfft und ignorierte den Tumult, der sich hinter seinem Rücken abspielte. Er hatte sich doch tatsächlich von einer „Mangelhaft“ auf eine schlechte „Befriedigend“ verbessert. Die Augen des Schwarzhaarigen weiteten sich. Endlich hatte seine harte Lernerei erstmals Erfolg. Es mag zwar nur ein kleiner Lichtblick sein, aber er konnte mit dieser Note echt zufrieden sein. Schließlich verlangte keiner von ihm, dass er als Streber aus der Menge emporstieg. Dafür war der Weg nach oben noch zu weit weg. Zudem Tobio auch wenig Wert darauf legte. Hauptsache er bestand irgendwie. Schließlich war die Vier die Eins des kleinen Mannes. Ein Statement, das er damals schon von Oikawa oft genug zu hören bekam.   Seufzend lehnte sich Tobio daraufhin in seinen Stuhl zurück und sah zur Zimmerdecke auf. Er musste Shoyo wirklich danken. Der kleine Kerl hatte ihm viel geholfen und ihm wortwörtlich den Arsch gerettet. Wenn die Nachhilfe weiterhin so gut lief, könnte er noch so sein Halbjahreszeugnis retten. Er hatte sich in den letzten Wochen in sämtlichen Fächern um mindestens eine Note verbessert. Hier in English war er sogar um zwei Noten besser geworden. Allerdings lagen noch Mathematik und Physik vor ihm. Diese Klausuren stehen noch aus und werden erst im neuen Jahr geschrieben. Zu allem Überfluss handeln es sich hierbei auch noch um seine absoluten Hassfächer. Die Laune des jungen Mannes war jetzt schon im Keller. Somit musste der Schwarzhaarige auch während den Ferien weiterhin die Finger rund gehen lassen. Als die Schulglocke schließlich das Ende der Stunde und somit auch den letzten Schultag offiziell beendete, waren die Jubelrufe riesig. Tobio packte noch seine restlichen Unterlagen zusammen und verließ gemeinsam mit Sugawara, Sawamura, Asahi und Kuroo das Klassenzimmer.   „Ach wie herrlich, fast drei Wochen Ruhe und Frieden“, säuselte Kuroo und streckte sich ausgiebig, während Sugawara neben Tobio herlief.   Tobio schnaufte daraufhin genervt aus. Ruhe und Frieden würde er die nächsten Wochen leider nicht haben. Wenn der Schwarzhaarige ehrlich zu sich selbst war, war er sogar etwas eifersüchtig auf seine anderen Klassenkameraden, die während den Winterferien ihre Seele baumeln lassen konnten. Sie mussten auch erst im neuen Jahr mit dem richtigen Lernen für die Prüfungen anfangen. Diesbezüglich waren sie Tobio einiges voraus. Immerhin fehlten ihnen keine zwei Jahre, sondern waren auf dem aktuellen Stand. Wobei es hier auch Ausnahmen gab. Die blauen Iriden wanderten zu Atsumu, der dicht neben seinem Zwillingsbruder herlief. Der Blonde war deutlich angefressen.   //Immerhin bin ich nicht der Einzige, der lernen muss…// schoss es Tobio durch den Kopf und sah wieder geradeaus.   Während sie das Schulgebäude verließen und den Pausenhof betraten, wanderten die blauen Iriden umher. Viele Schüler hatten bereits dem Anwesen den Rücken gekehrt und waren auf dem Heimweg. Skeptisch hob Tobio eine Augenbraue. Shoyo war also auch schon weg? Ein leichter Stich zog durch seine Brust bei dem Gedanken, dass er Hinata heute nicht mehr sehen würde. Er wusste, dass der Kleinere am Wochenende mehrere Sonderschichten im Dinners vor sich hatte und auch deswegen heute nach der Schule schnell los musste. Allerdings hatte Tobio noch gehofft ihn vorher zu sehen.   Immerhin hatte die Lernerei etwas Positives. Tobio würde Shoyo die nächsten Wochen weiterhin regelmäßig sehen. Bei dem Gedanken stahl sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. Es würde sogar das erste Mal sein, dass sie bei ihnen zuhause lernen, da die Bibliothek während den Ferien geschlossen war. In den letzten Wochen war der kleine Kerl ihm richtig ans Herz gewachsen. Sie verbrachten neben dem Lernen auch so viel Zeit miteinander. Irgendwie freute sich Tobio auf die gemeinsame Zeit.   „Wartest du etwa noch auf jemanden?“, kam es von Sugawara, der stehen geblieben war und sich Kageyama gewidmet hatte, der zuvor gestoppt und sich umgesehen hatte. Augenblicklich befand sich Tobio wieder im Hier und Jetzt.   „Nein, wartet – ich komme mit“, auf die Worte hin rannte der junge Mann los und schloss zu den anderen auf, die ihm bereits einige Meter voraus waren.               Es schneite den ganzen Tag weiter. Inzwischen stand man bis zu den Waden im Schnee. Tobio hatte bereits zweimal den Schnee vor dem Sakanoshita Laden weg geschippt und den Gehweg mit Salz bestreut. Dabei hätte er sich noch beinahe abgelegt. Gerade so schaffte es der Schwarzhaarige sich an der Klinke der Eingangstür festzuhalten, bevor sein Hintern eine unangenehme Begegnung mit dem kalten Boden machen konnte. Der Fußgängerweg war immer noch spiegelglatt. Demnach hatte der Schwarzhaarige an Salz nicht gegeizt. War ihm doch egal, ob der Brüllaffe die Tage neues besorgen musste! Er würde bestimmt nicht seinen Arsch dafür hinhalten, wenn sich einer vor ihrer Tür die Knochen brach und sie auf Schmerzensgeld verklagte!   Als Tobio am Abend das letzte Mal draußen war, sprang er danach schnell unter die Dusche. Die Kälte zog sich tief in seine Knochen. Das warme Wasser prasselte auf ihn herab und brachte so zumindest etwas Wärme in seinen Körper zurück. Er hasste die Kälte. Auch damals schon. Wenn er so an die Zeit auf der Straße zurückdachte, fragte er sich heute noch, wie er die Nächte überlebt hatte. Zu was der Überlebensinstinkt fähig war, war wirklich erstaunlich. Aber inzwischen dachte Tobio auch nicht mehr so oft darüber nach. Die Zeiten lagen weit hinter ihm. Was nun zählte, war das Hier und Jetzt. Nachdem Tobio sich abgetrocknet und warme Schlafkleidung übergestülpt hatte, bereitete er sich noch unten in der Küche eine Kanne Tee zu. Friedlich vor sich hin summend, betätigte er den Wasserkocher und nahm sich zwei Teebeutel aus dem Regal.   „Oh, du bist ja noch wach“, Währenddessen betrat Kira die Küche und nahm sich eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Auf die Aussage hin drehte sich Tobio um.   „Ja, ich habe nochmal den Gehweg draußen frei gemacht. Der Schnee ist dieses Jahr sehr hartnäckig.“   „Ach mein Junge, Keishin war doch für heute Abend zuständig. Das hättest du wirklich nicht machen müssen.“   „Nein, ist schon in Ordnung.“, entgegnete der Schwarzhaarige und nahm sich eine Tasse aus dem Schrank, während er gleichzeitig das heiße Wasser in die Kanne schüttete und die Beutel reinhängte.   Kira lächelte den Jüngeren an und zog sich einen Stuhl bei. Sie nahm am Küchentisch Platz und beobachtete den jungen Mann bei seinem Werk. Ihr war die gute Laune nicht entgangen. Sie hatte Tobio schon öfters dabei erwischt, wie er summend oder sogar pfeifend seiner Arbeit nachging. Sie kannte ihn so nicht.   „Heute war ja euer letzter Schultag im alten Jahr. Ich habe von Kei erfahren, dass die Nachhilfe mit Hinata gut laufen muss.“   Allein, als Kira den Namen des Orangehaarigen nannte, begann Tobios Herz schneller zu schlagen. Wie so oft die letzte Zeit. Wann genau es angefangen hatte, wusste er nicht. Schwer schluckend versuchte der junge Mann sich zu beruhigen. Kira sollte nicht merken, dass er nervös wurde, sobald Shoyos Namen fiel.   „Ja, ich bin froh, dass ich endlich in der Schule besser mitkomme“, brachte Tobio nuschelnd hervor und konzentrierte sich weiter auf die Teekanne, dessen Inhalt aus heißem Wasser und den zwei Beuteln bestand, die vor sich hin dampften.   „Warum so schüchtern? So kenne ich dich ja gar nicht“, kicherte Kira und wackelte verdächtig mit den Augenbrauen auf und ab.   „Oder verbirgst du etwas vor mir?“   „Was, nein! Ich – AUA!!!!“, noch während Tobio versuchte sich rauszureden, hatte er sich versehentlich den frisch aufgebrühten Tee über seine Hand vergossen, als er diesen in seine Tasse umfüllen wollte. Seine Handinnenfläche brannte wie Feuer und tat höllisch weh!   „Hey, alles gut. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen…“, die Blonde hingegen kicherte erneut und gesellte sich zu dem jungen Mann, der weiterhin verkrampft am Küchentresen stand und versuchte die Fassung zu wahren, während er seine Hand unter den Wasserhahn hielt. Das kühle Wasser floss seine Hand hinab und beruhigte seine gereizte Haut. Als er nach wenigen Sekunden das Wasser abstellte, betrachtete er seine Handinnenfläche. Sie war an der Seite immer noch rot, aber zumindest hatte der Schmerz etwas nachgelassen.   „Was ist los? Du bist seit Wochen schon so anders… irgendwie glücklicher…“, sprach die Ältere und lehnte sich gegen den Küchentresen. Der Angesprochene hingegen hielt seinen Kopf gesenkt, sodass seine schwarzen Strähnen tief in sein Gesicht fielen. So konnte Tobio zumindest seine roten Wangen verbergen – allerdings zu spät, Kira hatte sie bereits gemerkt.   „Hör mal, Tobio –,“ hierbei berührte Kira das Gesicht des jungen Mannes und zog dieses zu sich, sodass sie ihm tief in die Augen schauen konnte. Hierbei fuhr sie ihm sanft über die geröteten Wangen.   „-kann es sein, dass da mehr zwischen euch beiden ist? Zwischen dir und Shoyo?“   Auf die Frage hin erstarrte der Größere und wand seinen Blick ab. Sein Herz hingegen hämmerte erneut heftig gegen seinen Brustkorb, sodass er seinen Herzschlag schon hören konnte.   „Du musst wissen, ich beobachte euch schon eine Zeit lang. Ihr wirkt immer so glücklich … so zufrieden. Ich kenne Shoyo schon seit Kindertagen und so gelassen habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Und du lachst mehr, finde ich.“   Tobio atmete tief ein und aus, ehe er mit Bedacht seine Worte wählte.   „Ich weiß es nicht… da ist so eine Anziehungskraft zwischen uns. Ich hab sie schon mehrmals bemerkt, aber ich habe sie nie hinterfragt…“, flüsterte der Schwarzhaarige und strich sich daraufhin eine Strähne hinter sein Ohr. Er war innerlich komplett aufgewühlt.   „Weißt du, Kira… es liegt schon so lange zurück. Ich weiß gar nicht mehr, wie es sich überhaupt anfühlt eine Partnerschaft zu führen. Wie es sich anfühlt wieder diese Zweisamkeit zuzulassen. Mein Herz einem anderen zu öffnen. Zudem ich nicht weiß, ob aktuell überhaupt der richtige Zeitpunkt wäre“, ein dunkler Schatten legte sich über das blaue Augenpaar.   Die Angesprochene sah den Jüngeren seitlich traurig an und sah nun zu Boden.   „Du hast ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen, habe ich recht?“   Tobio nickte und lehnte sich nun ebenfalls mit dem Rücken gegen den Küchentresen, während er seine verbrannte Handfläche in ein nasses Geschirrtuch einwickelte.   „Ja… auch, wenn ich inzwischen von ihm Abschied nehmen konnte, so habe ich trotzdem das Gefühl, als ob ich ihn verraten würde…“   Die Blondine sah daraufhin auf und lehnte ihren Arm um Tobios Schulter, ehe sie ihn zu sich zog, der bis eben noch betrübt neben ihr verweilte. Darum ging es also. Ihm war bewusst, dass er mehr für Hinata übrig hatte - wusste allerdings nicht, wie er mit der Situation nach Oikawas Tod umgehen soll. Ob er schon bereit war sich auf eine neue Beziehung einzulassen. Die Mutter des Bewährungshelfers lächelte.   „Ich denke, Oikawa hätte gewollt, dass du wieder glücklich wirst. Er ist ja nie weg. Er wird immer ein Teil von dir sein, und zwar genau da drin…“, auf die Worte hin deutete Kira mit ihrem rechten Zeigefinger gegen Tobios Brustkorb.   „Die erste große Liebe vergisst man nicht. Sie wird immer eine besondere Stellung haben. Aber dennoch geht das Leben weiter und ich merke, dass Shoyo dir gut tut. Ihr helft euch gegenseitig. Ihr kennt beide die Einsamkeit und dadurch, dass ihr sehr viel Zeit miteinander verbringt, heilen eure Seelen und das ist wunderbar. Shoyo braucht jemanden wie dich. Bisher hat er sich allein durchgeschlagen und hatte immer nur Augen für seine Schwester, für die er alles aufgab, was ihn glücklich machte. Natsu ist deswegen schon unglücklich und fühlt sich schuldig. “   Allein bei den letzten Worten bildete sich ein schwerer Klos in Tobios Kehle. Er wusste, worauf Kira gerade anspielte.   „Ja, ich weiß, was du meinst…“   Letztens hatte er Shoyo erst dabei beobachtet, wie dieser nach Unterrichtsschluss im Klassenzimmer saß und mit dessen Violine ein Lied gespielt hatte. Die Art und Weise, wie Shoyo auf der Fensterbank gesessen und die Saiten des Instruments zum Erklingen gebracht hatte, ließen Tobios Herz höherschlagen. Der Orangehaarige ging bei der Musik richtig auf. Tobio konnte jede einzelne Regung in diesem marklosen Gesicht in sich aufsogen. Diese weichen Gesichtszüge, diese Zufriedenheit. Tobio konnte das Feuer genau sehen, das in dem Kleineren brannte. Gleichzeitig zog sich aber auch etwas in ihm zusammen. Er wusste, dass Shoyo wenig Zeit für sich selbst einplante – immer standen andere im Vordergrund. Wie sehr würde er sich wünschen, dass der Orangehaarige auch mal mehr Rücksicht auf sich selber nahm.   „Mach einfach so weiter wie bisher. Zeig ihm die schönen Seiten des Lebens und steh zu deinen Gefühlen Tobio… Du hast es verdient glücklich zu sein! “, auf die Aussage hin ließ Kira von dem Jüngeren ab, nahm ihre Wasserflasche, die bisher auf dem Küchentisch stand und winkte zum Abschied, bevor sie die Küche verließ.   Tobio sah der Mutter seines Bewährungshelfers nach. Er ließ das soeben stattgefundene Gespräch Revue passieren. Der Schwarzhaarige hatte schon vor einiger Zeit gemerkt, dass er sich in den kleinen Wuschelkopf verliebt hatte. Auch, wenn er es anfangs nicht wahrhaben wollte. Inzwischen war er sich seiner Gefühle bewusst. Auch, wenn es lange her war – er kannte die Anzeichen. Lange hatte er sie versucht zu ignorieren. Aber es brachte alles nichts. Ihm war bewusst, dass sein Herz nach mehr verlangte. Dass Shoyo inzwischen einen großen Teil seines Herzens eingenommen hatte. Ebenso wusste Tobio, dass sie einander halfen. Der Schwarzhaarige spürte es Tag für Tag. Wie seine Welt immer weiter aufklarte und er mehr sehen konnte als die Dunkelheit, die bisher in seinem Herzen verweilt hat. Shoyo hatte ihm so viel zurückgegeben und er? Was könnte er tun, um Shoyo hierfür zu danken? Wie konnte er ihm zeigen, wie wichtig er ihm war?   Der Schwarzhaarige hatte sich bereits etwas besonders für den Kleineren einfallen lassen. An diesem Wochenende findet ein Weihnachtsmarkt im Dorf statt und für Sonntag soll ein Lichterspektakel geplant sein. Er würde Shoyo gern einladen und ihm so einen schönen Abend bereiten. Der kleine Kerl hatte es mehr als verdient. Ob dieser sich allerdings auf die Einladung einlassen würde, stand noch in den Sternen. Tobio war diesbezüglich mehr als aufgeregt. Allein bei dem Gedanken daran begann er innerlich zu schwitzen, zudem sein Herz sich regelrecht überschlug. Die Verbrennung auf seiner Handfläche war bereits abgeklungen. Während er das Geschirrhandtuch ausrang und neben der Spüle hinlegte, griff er bereits nach seinem Handy.   //Dann wollen wir mal… Hoffentlich funktioniert es!!//               Im Dinners war reges Treiben. Da durch die anstehenden Weihnachtstage die letzten Weihnachtsfeiern von sämtlichen Betrieben stattfanden, hatte Shoyo alle Hände voll zu tun. Er rannte von einem Tisch zum nächsten, nahm die Bestellungen auf und nahm Kurs Richtung Bar, um die Gerichte entgegenzunehmen und danach an den jeweiligen Tischen zu verteilen. Shoyo wusste nicht, wie spät es schon war. Für ihn vergingen die Stunden rasend schnell. Zudem er bisher nicht einmal eine kurze Pause einlegen konnte. Ständig kamen neue Bestellungen hinzu und so langsam liefen ihm die ersten Schweißperlen von der Schläfe. Sein Herz raste und seine Glieder taten bereits weh. Eins war klar – wer in der Gastronomie arbeitete, brauchte definitiv kein Fitnessstudio.   „Mensch, Shoyo, mach mal eine Pause!“, kam es von dem Koch, der gerade einen Blick aus der Tür erhaschen konnte.   „Gleich, ich bringe nur noch diese Bestellung an den Tisch“, antwortete der Angesprochene und machte sich bereits mit dem vollen Tablett auf den Weg.   Gleichmäßig balancierend schlängelte sich Shoyo durch die Reihen und tauschte schließlich mit einem der anderen Kellner, die während seiner Pause die Stellung hielten.   Erleichtert trat Shoyo, nachdem er sich seine dicke Pelzjacke übergezogen hatte, in die Kälte. Hinter dem Dinners befand sich ein kleiner Wintergarten, der sich derzeit noch im Bau befand. Die Baumaterialien wurden schön gegen die Wand gestellt, sodass sie durch das Vordach vom Schneefall geschützt waren. Tief atmete Shoyo ein und aus. Genoss die kurze Pause. Sein Blick wanderte währenddessen zu seinem Handy, das sich bis eben noch in seiner Hosentasche befand. Ein Chat ploppte auf und Shoyo wusste genau, von wem die Nachricht stammte.   Tobio [23:35] Hey, ich habe gehört, dass kommenden Sonntag eine Lichtershow auf dem Weihnachtsmarkt stattfinden soll… wollen wir da zusammen hin?   Ein zärtliches Lächeln stahl sich auf Shoyos Lippen, als er die Nachricht überflog. Wie so oft die letzten Wochen stieg eine wohlige Wärme in ihm auf. Immer, wenn ihm der Größere gedanklich in den Sinn kam. Sein Herz schlug augenblicklich schneller, als er zum Antworten ansetzen wollte.   „Shoyo? Da bist du ja!“   Auf die Aussage hin hielt der Angesprochene inne und sah in die Richtung, aus der soeben zu ihm gesprochen wurde. Anhand der Stimme wusste Shoyo, um wen es sich handelte. Freudig lächelte er Yachi an, die sich ihm nährte.   „Ach Yachi, du bist es. Machst du gerade auch Pause?“   „Ich habe meinem Dad gesagt, dass du und ich heute früher Schluss machen. Schließlich sind wir seid Ladenöffnung da und Tamato und Yuri können unsere Schicht übernehmen. Das wäre auch in deinem Interesse, oder?“, die Blondhaarige wand den Blick daraufhin ab und gesellte sich zu dem Orangehaarigen, der sich gegen die Mauer gelehnt hatte.   „Ja, klingt super. Ich bin eh fix und alle“, antwortete der junge Mann und ließ seine Gelenke knacken. Er war Yachi dankbar. Auf seine beste Freundin war Verlass.   „…“   Es herrschte Stille. Shoyo hob verwundert eine Augenbraue nach oben und sah seine Freundin an, die neben ihm verweilte und nervös mit ihren Händen spielte. Er merkte, dass ihr wohl etwas auf dem Herzen liegen musste. Er und Yachi waren schon seit Jahren beste Freunde und bekanntlich lernte man wie der andere tickte und merkte auch, wenn diesen etwas beschäftigte.   „Ist alles in Ordnung?“, fragte der Orangehaarige und rieb sich die Hände, die aufgrund der Kälte schon starr wurden. Weiße Wölkchen stiegen aus seinem Mund empor. Es mussten locker Minusgrade herrschen.   Yachi sah schließlich auf und strich sich daraufhin eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Sie war nervös und eine leichte Röte zierte ihre Wangen.   „Ich muss mit dir reden, können wir ein Stück gehen?“   „Ehm… sicher“, überrascht über diese direkte Frage sah Hinata die Blondhaarige an und nickte.   Die Schneeflocken wurden dicker und der Schnee hatte bereits eine beachtliche Höhe erreicht. Tiefe Spuren zierten den Gehweg, den sie entlangschritten. Still, aber nebeneinander laufend. Immer wieder sah Shoyo neben sich. Yachi war so still und das behagte ihm überhaupt nicht. Nach wenigen Sekunden blieb die junge Frau schließlich stehen und sah Richtung Boden.   „Hör mal…“, kam es leise von Yachi, woraufhin sie aufsah und Shoyo tief in die Augen blickte.   „Wir sind schon so lange miteinander befreundet und wir haben uns geschworen immer ehrlich zueinander zu sein.“   Shoyo sah seine Freundin verwundert an und hob erneut eine Augenbraue. Er sprach kein Wort, sondern ließ Yachi den Vortritt, die sich ihm langsam nährte.   „Du musst wissen… es gibt da etwas, was ich dir sagen muss, Shoyo…“, die Blondhaarige blieb genau vor dem Orangehaarigen stehen, ihr Blick war jedoch wieder dem Boden gewidmet.   „Ich weiß, dass du nicht dasselbe fühlst, aber …“, auf die Worte hin sah Yachi zu dem Größeren auf, der direkt vor ihr stand.   „… ich empfinde mehr für dich als nur Freundschaft.“   Auf die Aussage hin hielt Shoyo die Luft an. Was sagte Yachi da gerade? Wieso tat sie das?   „Ich liebe dich, Shoyo… ich will nur nicht, dass etwas zwischen unserer Freundschaft steht, und deswegen bin ich ehrlich und stehe zu meinen Gefühlen… “, es kostete Yachi eine Menge Überwindung und genau das hatte Shoyo schon immer an ihr bewundert. Sie stand zu ihrem Wort.   Dennoch klang das Gesagte so surreal. Noch nie hatte er ein Liebesgeständnis bekommen und erst recht nicht hatte er überhaupt gerade jetzt damit gerechnet. Seine braunen Augen weiteten sich.   „Yachi... ich…“, Shoyo wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er fühlte sich überrumpelt und er spürte, dass er diese Gefühle tatsächlich nicht erwidern konnte. Es fühlte sich einfach falsch an. Der junge Mann sah in ihr nur eine gute Freundin – mehr aber auch nicht. Ein unwohles Gefühl machte sich in dem Orangehaarigen breit. Er fühlte sich so schuldig – er wusste, dass er ihr damit wehtun würde. Bevor er jedoch seinen Satz vollenden konnte, spürte er zwei Hände, die sich an seine Schulter lehnten.   „Du brauchst nichts zu sagen… Wie ich eben schon erwähnt habe – ich weiß, dass du meine Gefühle nicht erwiderst, Shoyo.“, braune Augen blitzen ihm entgegen und auf eine seltsame Art und Weise fühlte sich der Orangehaarige seltsam.   „Woher?“, zu mehr war der Größere nicht im Stande, ehe die junge Frau ihm auch schon zuvorkam.   „Ich sehe es… täglich…“, entgegnete Yachi und ließ von Shoyo ab, der seine beste Freundin verdutzt ansah. Was meinte sie damit? Wovon sprach sie da bitte? Er verstand in diesem Augenblick überhaupt nichts mehr. Überrumpelt hörte er einfach nur zu.   „Nun ergibt alles einen Sinn.“, hauchte die Blondhaarige leise und lehnte sich währenddessen gegen eine Straßenlaterne, die sich neben ihnen befand.   „Du hattest noch nie eine Freundin – geschweige denn hattest du überhaupt Interesse an einem Mädchen gezeigt. Du warst schon immer anders als die anderen Jungs. Das habe ich immer an dir bewundert. Aber…ich sehe doch, wie du ihn ansiehst…“, Traurigkeit spiegelte sich in den braunen Iriden wider. Schließlich sah die junge Frau auf.   „Die Art und Weise wie du Kageyama ansiehst, es ist so offensichtlich. Deine Augen verraten dich. Sie sind nicht ohne Grund die Spiegel zur Seele. Du hast dein Herz an ihn verloren, habe ich nicht Recht?“   „Was?“, Shoyo erstarrte. Diese Worte. Sie lösten etwas in ihm aus. Sein Herz schlug daraufhin schneller und gleichzeitig lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Es fühlte sich komisch an. Noch während er sich in einer Art Schockzustand befand, zog die junge Frau ihn zu sich und schloss ihre Arme um seinen Oberkörper.   „Shoyo, es ist in Ordnung. Auch, wenn du homosexuell sein solltest - Du bist immer noch derselbe liebenswürdige Mensch. Ich bin im Übrigen nicht die Einzige, der es aufgefallen ist. Kenma und Hoshi wissen es auch. Sie sind sogar letzte Woche auf mich zugekommen und haben mich gefragt, ob ich mehr wüsste. Aus irgendeinem Grund hatte ich schon eine gewisse Vorahnung. Seit dem Tag damals, als Kageyama dich vor Ushiwaka gerettet hat, wirkst du so verändert. Du wirkst glücklicher, losgelöst und angekommen. Als ob dir jemand wie er in deinem Leben noch gefehlt hätte.“   Der Angesprochene starrte ins Nichts. Sein Kopf war wie leergefegt. Das soeben Gesagte klang so unrealistisch aber gleichzeitig wiederum so real. Hatte er sich die letzten Wochen nicht selbst noch oft genug gefragt, was mit ihm los war? Was seine Emotionen gegenüber Kageyama zu bedeuten hatten? Wieso ihn seine flüchtigen Berührungen so aus dem Konzept brachten? Warum er jede Minute mit dem Größeren genoss? War es wirklich, weil er in Tobio verliebt war? War das der Grund für sein Gefühlschaos?   Mit einem Mal traf ihn die Erkenntnis. Shoyo sah die Momente wie ein Videotape vor sich. Wie er den Größeren damals nach der Schlägerei mit Ushijima im Krankenzimmer verarztet hatte. Wie er dessen weiße reine Haut berührte und damals schon als wunderschön und sanft empfand. Wie er sich an Tobio am Grab angelehnt hatte. Wie der Ältere ihn auf der Wiese von hinten umarmt und zu sich gezogen hatte. Wie sie über das Feld getobt und dem Sonnenuntergang entgegengerannt waren. Wie ihre Hände sich immer wieder berührten und zueinanderfanden. Wie sie sich angesehen hatten und errötet waren. Wie seine Iriden immer wieder in dem meeresblauen Augenpaar versinken konnten. Wie er die Wärme genossen hatte. Es war tatsächlich so offensichtlich. Wieso war ihm das bloß entgangen?   Yachi, die weiterhin vor ihm stand, lächelte traurig und ließ schließlich von ihm ab. Ihr Blick wanderte erneut zu Boden, während sich Tränen in ihren Augen bildeten. Auf der einen Seite wirkte sie losgelöst, da sie ihr kleines Geheimnis offenbart hatte – aber gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie niemals diejenige an seiner Seite sein würde. Sie wusste, dass der Orangehaarige in ihr nur eine Freundin sah. Aber dennoch wollte sie nur das Beste für ihn. Sie wusste, wie lange er gelitten hatte.   „Steh zu deinen Gefühlen und halte sie nicht länger zurück. Je länger du das nämlich tust, desto mehr tust du dir damit weh. Ich weiß, wovon ich rede.“, kam es schluchzend von ihr, ehe sie ein letztes Mal aufsah und dem Angesprochenen ein Lächeln schenkte.   „Ich will einfach nur, dass du glücklich wirst, Shoyo!“   Hinata wusste, dass ihr Lächeln in diesem Moment gestellt war. Aber er musste es so hinnehmen. Es stand ihm nicht zu sie jetzt in den Arm zu nehmen, nicht, nachdem sie ihm vor wenigen Minuten ihre Liebe gestanden hatte und er wusste, dass er ihre Gefühle nicht erwidern konnte.   //Es tut mir so leid, Yachi…//   Nachdem Shoyo die junge Frau wenige Minuten später nach Hause gebracht hatte, sah er ihr nach, wie sie niedergeschlagen im Haus verschwand. Es tat ihm in der Seele weh sie so leiden zu sehen. Shoyo hoffte inständig, dass sie sich davon erholen und dies nichts an ihrer Freundschaft ändern würde. Allerdings benötigte dies nun Zeit und diese würde Shoyo ihr geben – egal wie lange es dauern mag. Das war er ihr schuldig. Als er sich auf den Heimweg machte, blieb er wenige Meter kurz stehen und sah zum Himmel auf. Es schneite immer noch. Die Schneeflocken kühlten seine Haut. Es fühlte sich angenehm an. Kurz schloss der Orangehaarige seine Augen und ging tief in sich. Da er nun endlich Gewissheit hatte, wusste er was zu tun war. Seine rechte Hand glitt in seine Jacke und zog sein Handy hervor. Wie von selbst fanden seine Finger zu den entsprechenden Tasten.   Shoyo [0:20] Hallo Tobio, ich würde gern mitgehen. Ist dir 17 Uhr recht? Wir treffen uns dann vor der Sendai Sporthalle. Soviel ich weiß, befindet sich der Weihnachtsmarkt direkt um die Ecke. Ich freu mich! ◕‿↼)   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)