Crescent von Tiaiel (Deep Red) ================================================================================ Kapitel 6: Glassy Sky --------------------- Nach dem Auftritt konnte Jonouchi die Euphorie an diesem Abend noch lange und überdeutlich spüren. So aufgewühlt konnte er dem Firmenchef definitiv nicht  gegenübertreten. Es schien, als würde seine sonst so wirkungsvolle Maske des einfachen Barangestellten nicht richtig sitzen zu wollen. Daher bat er Trader Vic darum, lediglich die Gäste auf der Empore für den Rest des Abends bedienen zu dürfen, sodass er dem Brünetten aus dem Weg gehen konnte. Der Barbesitzer schmunzelte daraufhin nur verschmitzt und kam dem Wunsch seines Angestellten nach. Dieser begab sich daraufhin wieder in den hinteren Bereich der Bar, der nur dem Personal vorbehalten war, und wechselte seine Kleidung in das bekannte Kellneroutfit. Das edle Kleidungsstück faltete er sorgsam wieder zusammen und hielt einen Moment inne, während er den dunklen Stoff betrachtete.   “Damit du ebenso atemberaubend gekleidet bist, wie das Gewand, in das du den Klang deiner Musik hüllst.” Die Worte von der beigelegten Karte hallten in seinem Kopf wieder und brachten ihn zum Nachdenken. Wer könnte solch ein Paket ausgerechnet an ihn übersandt haben und aus welchem Grund? Niemand außer den Angestellten des Crescent wusste, dass er Klavier spielte. Nicht einmal seinen Freunden hatte er es gesagt. Lediglich einige Gäste konnten ihn kurz nach der Eröffnung ein einziges Mal spielen hören, denn nach Ladenschluss war einzig die Belegschaft in der Bar anwesend. Sollte Trader Vic recht behalten und er hatte einen heimlichen Verehrer? Doch wer sollte das sein? Bislang hatte sich ihm gegenüber kein Gast sonderlich auffällig verhalten.    Die einzige Alternative, die ihm in den Sinn kam, wäre jemand aus seiner Schule. Immerhin spielte er auch dort an den Mittwochnachmittagen vermeintlich für sich allein. Wenn er also einen unbekannten Zuhörer hatte, gab dieser sich dort nicht zu erkennen und je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihm bewusst, dass die Verbindung zu beiden Orten Seto Kaiba hieß. Doch der würde ihm sicher keinen vermutlich sauteuren Anzug, noch dazu einen Frack, der sich perfekt für ausladende Konzertabende am Piano eignete, einfach so aus heiterem Himmel schenken. Vielmehr würde er sein Wissen gegen ihn einsetzen und ihn einfach auffliegen lassen. Immerhin kannte er den Firmenchef zu lange und zu gut, als dass er diesen Vorteil nicht gegen ihn ausspielen würde. Eher fror die Hölle bei der anhaltenden Kälte in seinen wunderbar blauen Augen zu, die ihm in ihren andauernden Streitgesprächen immer so angriffslustig entgegenleuchteten.   Er seufzte hörbar in den leeren Raum hinein und legte den Frack wieder in die dunkelblaue Verpackung, die noch immer im hinteren Büroraum verstaut war. Danach richtete er seine Kleidung und ging seiner eigentlichen Arbeit als Bedienung nach. Von der Empore aus hatte er dabei einen guten Blick auf die Personen in der Lounge und somit auch auf seinen heimlichen Schwarm, der dem Spiel des eigentlichen Hauptakteurs des heutigen Abends nur bedingt Aufmerksamkeit schenkte. Vielmehr schien sein Blick etwas ganz bestimmtes im Raum zu suchen, was er jedoch nicht zu finden schien. Könnte es sein, dass er vielleicht sogar nach ihm suchte? Oder war das nur wieder eine seiner unterbewussten Wunschvorstellungen, der er sich gerade hingab?    „Junger Mann“, riss ihn die Stimme eines Gastes abrupt aus seinen Gedanken, sodass er sich zu selbigem umdrehte. „Ich würde gern einen Lillet Wild Berry für meine bezaubernde Begleitung ordern“, sagte die dunkelhaarige Schönheit, deren Gesicht ihm noch sehr gut in Erinnerung geblieben war, ebenso wie ihr Name: Michiko Furukawa. Letztmals war sie zusammen mit ihrem Vater zu einem Geschäftsessen ins Crescent gekommen. Es war genau der Tag, an dem Kaiba diese Bar das erste Mal betreten hatte und Jonouchis Leben damit endgültig auf den Kopf gestellt hatte. Heute erschien sie wiederum in Begleitung einer etwa gleichaltrigen Frau mit schulterlangem, erdbeerrotem Haar, die ihn freundlich und zuckersüß mit ihren großen haselnussbraunen Augen anlächelte. Der Blonde verbeugte sich leicht und antwortete bejahend: „Sehr gern“, ehe er sich wieder abwandte und ihrem Wunsch nachging.    Natürlich hatte er nicht vergessen, dass sie dem Firmenchef seines Interesses bei ihrem letzten Besuch vor einigen Wochen schöne Augen gemacht hatte, sodass die Eifersucht direkt wieder in ihm hoch kroch, als er den Aperitif-Cocktail von dem Barmann seines Vertrauens zubereiten ließ. Wenig später war er wieder auf dem oberen Rang angekommen und servierte das bestellte Getränk. Als die schwarzhaarige Schönheit sich freundlich bedankte und sich dabei so ein verheißungsvolles Grinsen in ihr Gesicht schlich, bemerkte der Blonde, dass sie auffällig vertraut die Hand ihrer jungen Begleitung hielt. Als er im Begriff war, sich zurückzuziehen, lehnte sie sich ein Stück zu ihm nach vorn und berührte sanft seine Hand, um ihn vom Gehen abzuhalten, während sie in einem ruhigen und leisen Ton zu sprechen begann.    „Es ist zu schade, dass du nur so selten auf dem Klavier spielst, Zack. Deine Lieder haben so einen wunderbar herzzerreißenden Klang. Trader Vic sollte sich wirklich schämen, dich ständig in einem Kellner Outfit zu verstecken und dich uns vorzuenthalten. Dabei wollte ich meiner liebsten Natsuki doch so gern etwas Besonderes zeigen.“ Ein neckisches Schmunzeln umspielte ihre Lippen, während sie den Blonden wissend ansah. Dieser wusste im ersten Moment nicht, wie er reagieren sollte und zog daher eilig und ein wenig verlegen seine Hand aus dem leichten Griff der Schwarzhaarigen.  „Vielen Dank für das Kompliment. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“, sagte er höflich und begab sich einige Tische weiter, um die Bestellung eines anderen Gastes aufzunehmen.    Diese Situation erschien ihm irgendwie seltsam. Natürlich konnte man erkennen, dass er derjenige war, der eben noch am Klavier gespielt hatte. Frisur und Maske waren noch immer die gleichen, lediglich die Kleidung hatte sich geändert. Jedoch achteten die meisten Gäste bei dem gedimmten Licht weniger darauf, wer genau sie bediente. Vor allem dann, wenn sie der Darbietung der geladenen Künstler lauschten. Viele blickten lediglich bis zum Namensschild. Doch bei ihr schien es als eine der wenigen Ausnahmen anders zu sein. Der eindringliche Tonfall und die Art, wie sie die eben gesagten Worte aussprach, suggerierten dem Blonden, dass mehr hinter den Worten steckte. Doch er konnte nicht ausmachen, was genau es war. Was er jedoch nur wenig später bemerkte, war, dass die rothaarige junge Frau wohl tatsächlich deutlich mehr als eine einfache Begleitung für Michiko Furukawa war. Er erkannte, dass er ihre offenen und anzüglichen Wesenszüge wohl damals falsch gedeutet hatte und die Eifersucht letztendlich unbegründet war. Denn der Blick, mit dem sie die Person neben sich bedachte, erschien ungeahnt liebevoll und erweckte den Eindruck von starker Zuneigung. Jedoch nicht, wie man es beispielsweise bei Geschwistern kannte, sondern eindeutig von Liebenden.    Etwas verlegen wandte sich der Blonde ab und ging weiter seiner Arbeit nach, bis die Bar schließlich schloss. Gespielt hatte er nach Ladenschluss an diesem Abend nicht mehr, da ihn die Anspannung, die ihn seit seinem Auftritt verfolgte, zusehends ermüdete. Dennoch versuchte er auf dem Heimweg, die jüngsten Geschehnisse einigermaßen zu verarbeiten, während sie allerlei neue Fragen aufwarfen. Wie um Himmels Willen war es Kaiba gelungen, in die Bar zu gelangen, zu der nur VIP-Mitglieder an diesem Abend Zutritt erhielten? Der Blonde konnte sich nicht vorstellen, dass ihm der Türsteher einfach so Einlass gewährt hatte, nur weil er eine relativ bekannte Spielefirma in der Stadt besaß. Hatte der Barbesitzer dabei etwa doch seine Finger im Spiel?  Viel wichtiger erschien ihm jedoch eine andere Frage, die er nur zu gern beantwortet bekommen hätte. Hatte der Brünette die Botschaft in seinem Spiel erkannt? Hatten ihn seine Gefühle, die er schon so lange mit sich herumtrug, erreichen können? Jonouchi erinnerte sich zurück an den Moment, als sich ihre Blicke getroffen hatten, an den Augenblick, als dessen wunderbar blaue Augen ein verheißungsvolles Funkeln angenommen hatten und das ganz allein wegen ihm. Niemals zuvor hatte er solch einen Ausdruck bei dem Firmenchef gesehen, der seinem Spiel so aufmerksam und vollumfänglich Gehör geschenkt hatte.    Sofort stieg dem Blonden eine deutliche Röte ins Gesicht, welche durch die kühle Nachtluft nicht im Geringsten gemildert werden konnte. Auch die Tatsache, dass ihm das Herz bis zum Hals zu schlagen drohte, lag nicht an dem etwas weiteren Heimweg, den er heute deutlich schneller antrat als üblich. Gedanklich driftete er immer wieder zu diesem magischen Moment zurück, sodass er, nachdem er daheim angekommen war, nur beschwerlich in den Schlaf fand. Auch am nachfolgenden Tag hing er immer wieder diesem Szenario nach, die seinen Puls kurzzeitig in die Höhe trieben, und war oftmals geistig abwesend, als er mit den Freunden am Nachmittag im Café saß, während ihm eine Sache nicht mehr aus dem Kopf ging: Was würde geschehen, wenn sie am nächsten Samstag erneut aufeinander treffen würden? Eine Frage, die ihn definitiv über die ganze Woche hinweg beschäftigen würde, nebst der Tatsache, dass er täglich in der Schule auf Kaiba treffen würde. Eigentlich wäre das ein Grund, der ihn fröhlich stimmen sollte, doch das tat es nicht. Denn der Blick, mit dem er ihn, Katsuya Jonouchi, in der Schule bedachte, war nicht der, den er sich sehnlichst wünschte.    Genau das bekam er am Montag direkt zu spüren, als er zusammen mit seinen Freunden den Klassenraum betrat und sein Blick unauffällig zu Kaiba hinüberglitt, der wie immer abweisend und unnahbar auftrat. Gerade als der Brünette sich zu ihm wandte, stieß Honda den Blonden in die Seite und riss ihn so aus seiner Ablenkung in Form des Firmenchefs. Da Yuugi vorausging, musste er notgedrungen folgen und zusammen mit ihnen direkt am Platz seines heimlichen Schwarms vorbeigehen. Dabei versuchte er, sich mit einem scherzhaften Lachen so natürlich wie möglich zu geben. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass ein unauffälliger und erlösender Seufzer seinen Mund verließ, als sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich an Anzus Platz ankamen.    Doch die Erleichterung währte nicht lange, denn er konnte spüren, wie ihn Kaibas Blicke regelrecht hinterrücks durchborten. Also riskierte er einen Blick zurück, nur um unvermittelt auf den durchdringenden, kalten Blick des Firmenchefs zu treffen, der ihn offensichtlich zu analysieren schien. Als hätte man ihn auf frischer Tat ertappt, unterbrach er den Blickkontakt abrupt und starrte mit deutlich geröteten Wangen zu Boden. Hatte Kaiba ihn vielleicht erkannt? Was wäre, wenn er hier und jetzt vor allen Anwesenden sein Geheimnis einfach ausplaudern würde? Die Lehrerschaft würde sofort Meldung machen und seinen Vater konnte er hier definitiv nicht gebrauchen. Im gleichen Moment rief er sich jedoch bereits selbst wieder zur Raison. Nein, das wäre unmöglich. Er machte sich nur zu viele Gedanken darum und es war sicher reiner Zufall, dass er gerade eben genau in seine Richtung geschaut hatte. Dennoch hatte Jonouchi ein kleines Fünkchen Hoffnung in sich, dass der Brünette vielleicht doch, wenn auch nur ein ganz kleines Bisschen, Interesse an ihm hätte.    In seinen Gedanken versunken, bemerkte er gar nicht, wie Yuugi ihn besorgt ansah, bis er ihn schließlich auf sein seltsames Verhalten ansprach: „Ist alles in Ordnung, Jonouchi-kun? Deine Wangen sind ganz rot.“ Diese Aussage schien wiederum ein gefundenes Fressen für Honda zu sein, der direkt ein extrem breites Grinsen aufsetzte und den Blonden aufzog: „Oho, ist da etwa jemand verliebt? Sag schon! Wer ist es? Etwa Nosaka-kun?“ Sofort wanderten die Blicke der Freunde durch den Raum zu Miho Nosaka, die auf dem Platz direkt hinter Kaiba saß. „Ehrlich?“, fragte Anzu direkt nach. „Du stehst auf Miho-chan? Hätte ich gar nicht gedacht.“ Dabei schielte sie ungesehen aller zu Yuugi hinüber, während Honda bereits anfing von seinem letzten Urlaubsflirt zu erzählen und dass er diesen Gesichtsausdruck ja sofort erkennen würde. Bakura stand nur schmunzelnd daneben, denn seltsamerweise zog er die Blicke der weiblichen Bevölkerung sehr häufig auf sich und würde mit Dates wohl weniger Probleme haben.    Natürlich dementierte Jonouchi sofort alles, was Honda ihm da unterstellte und verwuschelte aufgrund der Nervosität sein blondes Haar zusehends, als die Schulglocke ertönte. Verstohlen warf er dabei einen flüchtigen Blick zu Kaiba hinüber, während sich im gleichen Moment ein Gefühl der Ernüchterung einstellte. Er war sich sicher, dass er Zack, wenn sie im Crescent aufeinander getroffen wären, einen völlig anderen Blick geschenkt hätte. Das war eine Tatsache, die den Blonden dazu bewegte, dem Firmenchef, im Schulalltag ab sofort so gut es ging, aus dem Weg zu gehen. Auch die Freunde schienen zu bemerken, dass er die Nähe des Brünetten mied, sprachen ihn jedoch vorerst nicht auf dieses für Jonouchi recht ungewöhnliche Verhalten an. Vermutlich brauchte auch er einfach mal eine kleine Pause von den ständigen Streitereien.    Dennoch konnte der blonde Irrwisch das Zusammentreffen am nachfolgenden Tag nicht vermeiden. Vor allem deswegen nicht, da sie gemeinsam Sportunterricht hatten und in Teams spielen mussten. Glücklicherweise wurden sie in unterschiedliche Mannschaften gewählt und mussten im ersten Match auch nicht gegeneinander spielen. Jedoch entging Jonouchi nicht, dass der Brünette ihn mit seinen Blicken spürbar fixierte, während er wiederum versuchte, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, was deutlich schwieriger war, als geglaubt. Das Spiel war zudem so hitzig, sodass er nach wenigen Sätzen ein Haargummi aus seiner Tasche fischte, um sein wirres Haar damit zu bändigen. Damit schien er die Aufmerksamkeit des Firmenchefs, der ihn für einen Augenblick deutlich interessierter anstarrte, jedoch nur noch mehr auf sich gezogen zu haben. Erneut infiltrierte Kaibas Handeln die Gedanken des Blonden und lenkten ihn vom Spiel ab.    Diese Schwäche nutzte das gegnerische Team direkt aus und holte sich einen Punkt für ihre Mannschaft, was wiederum eine Rüge Hondas zur Folge hatte: „Mensch Jonouchi, pennst du oder was?“, schimpfte er mürrisch, während sich das gegnerische Team freute. Der Angesprochene verdrehte mit einem “Sorry“ auf den Lippen die Augen und wollte gerade den Ball holen gehen, als er sah, dass dieser direkt vor dem Firmenchef liegengeblieben war. Hätte er mal doch lieber den Unterricht geschwänzt, wie er es bereits den ganzen Tag vorgehabt hatte. Ärgerlicherweise hatte Yuugi das zu verhindern gewusst, sodass er diesem Zusammentreffen nicht entgehen konnte. Also beschloss er, den Ball schnellstmöglich mit seinen nicht vorhandenen katzenartigen Reflexen aus den Fängen des Firmenchefs zu befreien.    Doch als er seinen Plan in die Tat umsetzte und den Ball beinahe schon in den Händen hielt, nahm ihm Kaiba das runde, mit Luft gefüllte Kunstleder vor der Nase weg, sodass er im Affekt zu ihm aufschaute. Ein Fehler, wie sich sogleich herausstellte, denn die leuchtend blauen Augen, in denen er sich bereits so oft verloren hatte, zogen ihn in ihren Bann. Die langen und schwungvoll geformten Wimpern umspielten den überlegenden, eindringlichen Blick und nötigten ihn dazu, diese eine Frage zu stellen, die er nicht aussprechen durfte.  „Jonouchi!“, riss ihn die Stimme seines Kumpels aus seinen träumerischen Gedanken, sodass er seinem Gegenüber den Ball kurzerhand aus den Händen stahl und mit einem spürbar schneller schlagenden Herzen wieder zum Spielfeld zurückkehrte, während die Teams ihren Wettstreit derweil verbal ausfochten. Hondas Ehrgeiz schien dabei von Hanasaki geweckt worden zu sein, sodass das Spiel sich deutlich in die Länge zog, bis sie schließlich siegreich aus dem Satz gingen. Aufgrund der begrenzten Zeit konnte jedoch nur noch ein Spiel zwischen dem Verliererteam und Kaibas Mannschaft auf der Ersatzbank gespielt werden, da nur wenig später die Pausenglocke läutete und den Schultag für die Schülerschaft beendete.    Für den Blonden fühlten sich die letzten beiden Tage schon beinahe wie ein Spießrutenlauf an, woraufhin er auch am Mittwoch versuchte, dem Firmenchef noch großflächiger aus dem Weg zu gehen. Die Ironie dahinter war deutlich zu erkennen. Er mied den Brünetten, obwohl er doch viel eher seine Nähe suchen wollte. Doch dieser penetrante und analysierende Blick rief eine seltsam unangenehme Unruhe in ihm hervor, mit der er nicht umzugehen wusste. Ebenso konnte er sich niemandem anvertrauen, der ihm einen Rat hätte geben können. Denn dazu müsste er unweigerlich Dinge preisgeben, die ihn in Teufelsküche bringen würden. Sei es nun die Tatsache, dass er nachts in einer Bar in der Stadt arbeitete oder dass er bereits seit längerem ein besonderes Interesse für den Firmenchef hegte, mit dem er sich tagtäglich leidenschaftlich stritt.    Irgendwie geriet sein Alltag und alles drumherum immer mehr aus den Fugen, sodass er das Ende des Tages kaum mehr erwarten konnte. Auch wenn er heute Klassendienst hatte und nichts nerviger erschien als Aufräumarbeiten, sehnte er sich nach diesen flüchtig erscheinenden Momenten, wenn alle Schüler ihren außerschulischen Beschäftigungen oder Clubaktivitäten nachgingen und er den Musikraum für sich ganz allein nutzen konnte. Das Läuten zum Schulende klang wie eine Erlösung für ihn, sodass er seine Augen schloss und einmal tief durchatmete. Als er sie wieder öffnete und seinen Blick zur anderen Seite des Klassenzimmers schweifen ließ, sah er, dass Kaibas Platz bereits leer war und seufzte schwer. Es beschäftigte ihn enorm, dass der Brünette ihn so offenkundig und gleichzeitig stillschweigend zu beobachten schien, jedoch nicht darüber hinaus mit ihm interagierte. Kein Streit, keine abspenstigen Worte.  Während er seinen Aufräumarbeiten nachging, sinnierte er über diese seltsam erscheinenden Tatsachen, suchte nach einer Antwort auf die Frage und verstrickte sich in ein Wirrwarr aus Gedanken, die alle kein zufriedenstellendes Ergebnis fanden. Wahrscheinlich lag es auch einfach nur schlicht daran, dass der Blonde äußerst bedacht darauf war, dass sich ihre Wege so wenig wie möglich kreuzten. Oder, dass er selbst ein besonderes Augenmerk auf den Brünetten gelegt hatte nach diesen vielen Verkettungen von Ereignissen. Immerhin reagierte man instinktiv anders, wenn man bemerkte, dass man beobachtet wurde.    Diese Gedanken begleiteten ihn noch auf dem Weg zur Abstellkammer, in der er den Besen wenig sorgsam verstaute, und schließlich bis hin zum Musikraum, in dem sein geliebtes Instrument bereits auf ihn wartete. Eine frische Brise wehte in den Raum hinein, als er die Tür öffnete, und der Blonde begrüßte den angenehmen Luftzug sogleich, der ihn für den Bruchteil einer Sekunde aufatmen ließ. Die Temperaturen hatten bereits einen sommerlichen Charakter angenommen, während die Sonne den Raum hell erleuchtete. Langsam schritt Jonouchi zum Klavier, nahm auf dem breiten Klavierhocker Platz und atmete einmal tief durch, ehe er seine Hände hob und seine Finger über die Klaviatur fahren ließ.    Vereinzelt spielte er helle, leise Töne an, die ihm als Wegbereiter für die Melodie in seinem Herzen dienten und ihn gleichzeitig nachdenklich stimmten. Süße Töne hallten in dem verlassenen Raum wieder und verführten ihn dazu, für einen flüchtigen Augenblick die Augen zu schließen und dem sanften Klang zu folgen. Er erinnerte sich zurück an das letzte Wochenende, an den Abend, an dem er dieses extravagante Kleidungsstück trug, das ihm wie auf den Leib geschneidert passte, und an dem er das letzte Lied einzig und allein für den Brünetten gespielt hatte. Zu gern hätte er in Erfahrung gebracht, ob Kaiba die Botschaft hinter den Noten erkannt hatte. Doch statt sich zu vergewissern, ließ ihn die Aufregung nach diesem ungeplanten Auftritt die Flucht auf die Empore ergreifen, um den fragenden Blicken des anderen zu entkommen.    Dennoch. Diese immer häufiger werdenden Besuche Kaibas in der Bar und die damit verbundenen kurzweiligen Begegnungen zwischen ihnen, die so ungewöhnlich angenehm verliefen, ließen sein Herz höher schlagen und hinterließen eine unbekannte, innere Unruhe. Auch in der Schule schienen ihn die Blicke des Firmenchefs plötzlich ständig zu verfolgen, je mehr er versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, aus Angst, dass dieser flüchtige Moment der Zufriedenheit dann vorbei wäre. Es schien wie verhext. Immer öfter fragte sich der Blonde, ob Kaiba seine Maskerade vielleicht doch längst durchschaut hatte und fürchtete sich vor der Konsequenz, die daraus unweigerlich resultieren würde. Denn im Endeffekt galt dieses plötzliche Interesse nicht ihm selbst, sondern lediglich seiner Rolle als Zack, der nachts in einer Pianobar namens Crescent als einfacher Kellner arbeitete und dem er diese besondere Art der Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Er verhielt sich anders gegenüber Zack, freundlich und sogar ein Stück weit zuvorkommend mit einem leicht verschmitzten Lächeln auf den schmalen Lippen.    Ein Gefühl von Reue kam in Katsuya auf, als er bewusst realisierte, dass diese Verkleidung ihn nicht wie erhofft näher an den Firmenchef heranbrachte, sondern ihn im Gegenzug dazu nur noch weiter von ihm entfernte. Sobald er die Maske abnehmen und sich zu erkennen geben würde, wäre es mit einem Schlag vorbei und der Brünette erneut unerreichbar für ihn. Schlimmstenfalls würde er ihn danach auch in der Schule und in der Freizeit ganzheitlich ignorieren. Diese verfahrene Situation war an Ironie kaum mehr zu überbieten. Seine Gedanken drehten sich fortwährend im Kreis, immer um dasselbe Problem, zu dem er keine Lösung fand. Vielleicht sollte er es einfach so akzeptieren, wie bisher weitermachen und die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Schwarms in diesen wenigen Stunden an den Samstagabenden genießen. Es wäre die wohl einfachste Lösung. Denn allein Zack durfte einen kleinen Blick hinter die sonst so unnahbare Fassade des Firmenchefs werfen und diese andere, angenehme Seite kennenlernen.    Wie wunderbar war es, als sie sich fernab ihres sonst so kontroversen Lebens so unbeschwert unterhalten konnten. Ein kleiner Flirt schien mit einem Mal das Normalste der Welt zu sein und Kaiba ging ohne zu zögern einfach darauf ein.                                                                   Etwas, was er nie für möglich gehalten hätte, war plötzlich eingetreten und offenbarte dem Blonden eine Welt, in der er sich dem Firmenchef nähern konnte, ohne abspenstige Worte und den bekannten hochmütigen Blick zu erhalten. Woher dieser Wandel des anderen rührte, konnte er dabei nicht genau definieren. Sicher gab er sich anders als bei ihren Zusammentreffen in der Schule oder bei Duellen. Aber auch hier war er nur ein einfacher Kellner, kein Geschäftspartner oder eine wichtige Persönlichkeit, die es zu umschmeicheln galt. Zudem versicherte ihm Trader Vic, dass Kaiba nur an den Samstagen hier zugegen war und dabei stets die Nähe zum Klavier suchte.    Doch damit würde er ihn wohl kaum in Verbindung bringen, denn bislang hatte der Blonde nur zweimal im Crescent vor den Gästen gespielt und beim ersten Auftritt war Kaiba definitiv nicht Gast dieses Hauses gewesen. Dennoch schien eine gewisse Verbindung zwischen diesen Gegebenheiten zu bestehen und Katsuya fragte sich, ob der Brünette vielleicht tatsächlich die Botschaft hinter den Tönen erkannt hatte. Doch egal wie viele Emotionen er in seine Darbietungen auch legte, es würde nichts an der Tatsache ändern, dass er schlussendlich immer Katsuya Jonouchi blieb und somit nicht die Person war, die er im Crescent vorgab zu sein. Hin- und Hergerissen zwischen seinen Gedanken und Gefühlen schlug er kraftvoll die dunklen Töne der Klaviatur an, erhöhte das Tempo und versuchte die Bitterkeit dieser Erkenntnis hinzunehmen.   Kurz darauf wurden die Töne wieder ruhiger und das Herz wog mit einem Mal so unendlich schwer, dass es ihm die Luft zum Atmen abschnürte. Für sie beide konnte es keinen Neuanfang geben. Dessen war sich der Blonde mehr als bewusst. Doch was wäre, wenn sich trotz dieses schlechtesten Ausgangspunktes dennoch alles zu einem positiven Ende wenden würde? Wenn es auch für Kaiba keine Rolle spielen würde, dass sich hinter dem Kellner Zack der blonde Chaot aus seiner Klasse befände?    Kurz unterbrach er sein Spiel und seufzte schwer, während er für einen Moment an dieser stillen Hoffnung festhielt. Doch die Ernüchterung folgte nur einen Wimpernschlag später.   Kraftvoll schlug er erneut die Tasten des Klaviers an und versuchte, die abwegigen Hirngespinste aus seinem Kopf zu vertreiben. Denn was brachten ihm diese aussichtsreichen  Gedanken, wo er die Wahrheit doch bereits genauestens kannte? So etwas wie ein “wir“ konnte es niemals geben. Er würde für Kaiba immer nur ein drittklassiger Duellant bleiben, lediglich ein Störenfried in seinem Leben sein, egal wie sehr er ihn auch mochte oder begehrte. Ein grässliches Gefühl von Wut stieg in ihm auf. Wut über sich selbst, da er diese überaus verfahrene Situation selbst herbeigeführt hatte, die er einfach nicht zu ändern vermochte, wenngleich er es doch so sehnlichst herbeiwünschte.  Es konnte einfach nicht sein. Nicht zwischen Seto Kaiba und Katsuya Jonouchi.   Und doch blieb da dieser kleine Funken Hoffnung.     To Be Continued…   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)