Zwischen den Zeilen von Khaleesi26 (Mimato Woche) ================================================================================ Kapitel 1: Retro ---------------- Es fühlt sich merkwürdig an, durch die Flure meiner alten Schule zu spazieren und zu wissen, dass ich das seit 10 Jahren nicht mehr getan habe. So lange ist das jetzt schon her. Trotzdem sieht alles noch genauso aus wie früher. Ich werfe einen Blick in mein altes Klassenzimmer, als ich daran vorbei gehe. Auch hier hat sich nichts verändert. Bei den Erinnerungen an früher muss ich grinsen. Gott, wie ich den Unterricht hier gehasst habe. Todsterbenslangweilig! »Hey, Yamato«, ruft mich jemand von weitem, dessen Stimme ich sofort erkenne. Tai kommt auf mich zu, mit einem breiten, frechen Grinsen auf den Lippen, wie immer. Manche Dinge ändern sich wohl selbst nach 10 Jahren nicht. »Na, schwelgst du in Erinnerungen, Kumpel?« Er legt mir einen Arm um die Schultern und wirft ebenfalls einen Blick in unser altes Klassenzimmer. »Kann man so sagen. Keine all zu guten Erinnerungen, muss ich gestehen.« Tai nickt. »Na ja, kein Wunder. Du bist kurz vor unserem Abschluss suspendiert worden und durftest somit nicht an der Abschlussfeier teilnehmen. Das war mies.« Ich verziehe das Gesicht. Diese alte Kamelle hängt mir wohl noch ewig nach. »Richtig. Ich denke immer noch, dass die Strafe völlig übertrieben war.« Tai beginnt zu lachen und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Alter! Du bist mit einem Fallschirm vom Dach der Schule gesprungen. Eine Suspendierung war völlig angemessen.« Herrgott. Das war eine Mutprobe, nichts weiter. Muss er mich denn immer noch damit aufziehen? »Ich bin im Pool gelandet, so schlimm war es also nicht«, spiele ich die Geschichte runter und zucke beiläufig mit den Schultern, während wir uns auf den Weg in die Sporthalle machen. »Trotzdem sollte man das nicht machen.« Tai hebt den Zeigefinger und ich stöhne. »Nirgendwo in den Regeln der Schule steht geschrieben, dass man das nicht machen soll. Die Lehrer kamen mir dann mit, vonwegen Vorbildfunktion und was ich mir dabei gedacht habe. Ich würde schließlich jüngere Kinder dazu animieren, ähnlich verrückte Dinge zu tun, weil sie es cool finden und macht es erst einer, dann machen es alle. Jetzt kommst du ins Spiel. Ist seitdem noch mal irgendein Schüler auf die Idee gekommen, vom Dach zu springen?«, frage ich Tai, der inzwischen tatsächlich Lehrer an unserer alten Schule ist. Dieser runzelt die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste.« »Siehst du. Völlig übertrieben, sag ich doch.« Tai grinst und schüttelt den Kopf, als wir den Eingang der Sporthalle durchqueren, wo uns sogleich ein besonderer Flair entgegen schlägt. Es ist das 10 jährige Klassentreffen unseres Jahrgangs und das Motto ist Retro. Das heißt, alle tragen enge Jeans, die unten viel zu weit ausfallen. Karierte Hemden, ausfallende, gepunktete Kleider, Stirnbänder, Blumen, Flower Power. Aktuelle Musik: Daddy Cool von Boney M. Pfui Teufel, wer hat sich das nur ausgedacht? »Ich glaub, ich dreh wieder um«, sage ich, doch Tai stößt mich mit dem Ellenbogen an. »Was? Jetzt, wo du dich extra so in Schale geworfen hast?« Ich sehe an mir hinab. Für mehr als eine Jeans, mit Hemd und Weste hat es nicht gereicht. Als Zeichen des guten Willens habe ich mir sogar Koteletten aufgeklebt, was total bescheuert aussieht. Alle anderen haben sich deutlich mehr Mühe gegeben. Sogar Tai trägt eine weite Schlaghose, ein kariertes Hemd, mit Hosenträgern und zu allem Überfluss, zieht er noch eine viel zu große Sonnenbrille aus der Tasche. Der Look ist perfekt. »Komm schon mit rein«, forderte er mich auf. »Oder hast du in Wahrheit nur Schiss, Sora zu begegnen?« Als er ihren Namen erwähnt, schlucke ich schwer. Tatsächlich habe ich auch schon daran gedacht, wie ich ihr gegenübertreten soll. Denn es ist ziemlich sicher, dass wir uns hier über den Weg laufen werden. Schließlich waren wir damals in derselben Klasse. Wir wurden sogar ein Paar und unsere Beziehung hielt lange an. Bis zum letzten Herbst, um genau zu sein. Dann hat sie mit mir Schluss gemacht. Einfach so, von heute, auf morgen. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Es wird das erste Aufeinandertreffen sein, was mich offensichtlich nervös macht, denn mein Magen spielt verrückt. Das zeige ich vor Tai natürlich nicht. »Blödsinn«, sage ich deshalb und gehe voraus. Tai läuft mir hinterher und wir treffen auf ein paar alte Freunde. Wir reden miteinander, machen unsere alten, dämlichen Witze. Es fühlt sich wie früher an und nach ein paar Stunden habe ich fast schon vergessen, dass ich eigentlich gar keine Lust auf diese Feier hatte. Bis … »Hey, Yamato.« Kurz überlege ich, so zu tun, als hätte ich sie nicht gehört. Aber das wäre kindisch. Deshalb lege ich ein gekünsteltes Lächeln auf und drehe mich um. Das Erste, was mir auffällt, ist, dass sie toll aussieht. Sie trägt ein gelbes Kleid, mit orangen Punkten, was echt nicht jede Frau tragen könnte. Ihr Haar hat sie anscheinend abschneiden lassen, denn es ist kürzer als meins, aber es steht ihr. »Hallo Sora«, sage ich etwas unbeholfen. »Du siehst gut aus.« Ich beiße mir auf die Zunge. Du siehst gut aus? Du beginnst die Unterhaltung mit deiner Ex mit einem Kompliment? »Danke«, meint sie lächelnd und legt den Kopf schief. »Du auch. Bist du in Begleitung gekommen?« Aha. Sie will die Situation abchecken, ob ich vergeben bin und so. Natürlich. »Äh, ja, bin ich«, lüge ich wie gedruckt und recke meinen Hals, als würde ich nach irgendjemanden Ausschau halten. »Sie, äh … sie holt sich gerade etwas zu trinken.« »So?«, dreht Sora sich neugierig um und sieht in Richtung der Bar, wo sich allerhand Leute tummeln. »Ähm, und du?«, frage ich schnell, um wieder ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, bevor sie fragen kann, wer meine Begleitung ist. »Bist du mit jemanden hier?« »Ja, bin ich. Er ist gerade … auf die Toilette gegangen.« Hmm. Lüge oder Wahrheit? Ich will es gar nicht wissen. »Na, wie auch immer. Es war schön, dich mal wieder zu sehen«, verabschiedet sie sich viel zu schnell wieder, was mir aber ganz recht ist. Ich nicke ihr zu. »Wir sehen uns.« Hoffentlich nicht all zu schnell wieder. Ich atme erleichtert aus. Puh, das wäre schon mal überstanden. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und beschließe, dass ich maximal noch eine Stunde bleiben werde, dann verschwinde ich von hier. Dieser Retro Quatsch und die 70er Jahre Musik gehen mir allmählich echt auf den Senkel. Vor allem, weil seit einer geschlagenen halben Stunde nur noch Love Songs aus der Jukebox dröhnen, die eigens für diese Party angeschafft wurde. Eben lief schon »Don't go breaking my heart«, von Elton John und danach Kiss, mit »I was made for lovin' you«. Aber jetzt wird es ganz sonderbar, denn es läuft »Can't help falling in Love«, von Elvis Presley - zum dritten Mal. Was zum Teufel sollte das? War das Teil kaputt? Ich sehe, wie Tai auf mich zugetaumelt kommt, seine Begleitung im Schlepptau. Sie kommen gerade von der Tanzfläche, die sich weiter leert. »Ich glaube, da hat jemand einen Sprung in der Schüssel«, lacht Tai. »Jemand?«, entgegne ich zweifelnd und sehe, wie die Leute nach und nach genervt und frustriert auseinander gehen, weil keiner mehr nur zu ein und demselben Lied tanzen möchte. »Ich glaube, die Jukebox ist kaputt. Wir sollten den Stecker ziehen«, schlage ich vor, doch Tai lacht nur noch mehr. »Du willst den Stecker ziehen? Ich glaube, dann bringt sie dich um.« »Sie?« Wen meint er? Ich schaue in die Richtung, in der die Jukebox steht und sehe ein Mädchen, dass mit dem Rücken zu uns gedreht dagegen lehnt. Sie trägt eine Schlaghose, mit vielen bunten Blumen darauf und ein braun, gelb gestreiftes, bauchfreies Oberteil. In ihrem langen, gewellten Haar befinden sich locker noch mal genauso viele Blumen wie auf ihrer Hose, inklusive Stirnband. Super hässlich. »Sie verscheucht alle, die dieser verdammten Jukebox auch nur zu nahe kommen«, erzählt Tai und zuckt mit den Schultern. »Schätze, die Party ist gelaufen. Es sei denn, du willst sie mit Gewalt dort weg zerren.« »Vielleicht nicht mit Gewalt«, sage ich und verenge meine Augen zu Schlitzen. »Aber mit gesundem Menschenverstand.« Ich gehe auf die Person zu, während Tai hinter mir noch »Viel Glück« ruft und ich einfach nur wütend bin. Es könnte mir auch egal sein, weil ich eh vorhatte, nach Hause zu gehen. Aber der Musiker in mir kann es nicht ertragen, wie sie hier nach und nach alle Leute mit ihrer schlechten Musikauswahl vergrault. Das gehört sich einfach nicht. Ich bleibe neben der Jukebox stehen und schaue ihr dabei zu, wie sie erneut dasselbe Lied auswählt, als es endet. Elvis Presley - schon wieder. Also, jetzt reicht es. »Hör mal, das hier ist eine Party. Und du vermiest gerade allen die Stimmung. Sieh dich doch mal um«, fange ich an, auf sie einzureden und schwenke die Arme. »Niemand hat mehr Spaß. Das Lied ist zum Heulen. Könntest du bitte was anderes spielen?« Sie hat mir immer noch den Rücken zugedreht. Ich vermute, dass sie mich nicht gehört hat, doch dann sagt sie zwei Worte, klar und deutlich: »Zieh Leine!« Was? Boah, ist die frech! Wie vor den Kopf gestoßen stehe ich da. Zieh Leine? Wow. Ich bin 28 Jahre alt und es ist eine Ewigkeit her, dass mich jemand so beleidigt hat. Ich stemme die Hände in die Hüfte. »Nein, du ziehst jetzt Leine«, erwidere ich und könnte mich im selben Moment dafür ohrfeigen, weil ich damit ebenso wenig erwachsen wirke wie sie. »Sorry, was ich damit sagen will, ist eigentlich …«, fange ich an, mich zu entschuldigen, in der Hoffnung, dass sie dann einsichtig ist, doch dann dreht sie sich zu mir um - und ich erkenne, dass ich gegen dieses Mädchen und ihren Dickschädel keine Chance haben werde. Denn vor mir steht niemand anderes, als Mimi Tachikawa. Ich verstumme und sehe sie an, als hätte ich einen Geist gesehen. Oh Gott, beinahe hätte ich sie nicht erkannt. Sie sieht so … verändert aus. Wenn sie früher hübsch war, dann ist sie jetzt noch hübscher. Innerlich habe ich immer noch das Bild eines Schulmädchens vor mir, aber nun ist sie eine erwachsene Frau. »Mimi? Was … was machst du hier?« Sie rümpft die Nase und wischt sich über die Augen, die zwar nass sind, weil sie wahrscheinlich geheult hat, aber die trotzdem nicht wütender hätten sein können. »Ich spiele Musik, das siehst du doch, Yamato. Also, wenn du jetzt die Güte haben und mich alleine lassen könntest? Danke und Tschüss.« Okay. Sie hat mich ebenfalls sofort erkannt. Dennoch wendet sie sich sogleich wieder ab. Ganz offensichtlich legt sie keinen Wert auf meine Gesellschaft. »Aber genau das ist das Problem«, erwidere ich nun deutlich sanfter, jetzt, wo ich weiß, wer sie ist. »Du bist nicht allein hier. Das ist eine Feier und alle wollen Spaß haben. Dieser Song ist auf Dauer echt zum kotzen.« »Mir egal«, sagt sie prompt. Ich seufze. War ja klar, dass ich so bei Mimi nicht weiter komme. Ich habe sie zwar seit acht oder neun Jahren nicht gesehen, aber sie scheint sich, was das angeht, nicht verändert zu haben. Was sie will, das will sie, ohne wenn und aber. »Was tust du denn überhaupt hier?«, frage ich sie. »Du warst doch gar nicht in unserem Jahrgang. Du hast deinen Abschluss ein Jahr später gemacht.« »Danke, das weiß ich auch«, antwortet sie gereizt und dreht sich zu mir um, nur, um mich böse anzufunkeln. »Es geht dich zwar nichts an, aber ich war als Begleitung eingeladen.« Ich stutze. »Begleitung? Und wieso: war?« Frustriert stößt sie die Luft aus und wirft ihr langes, blumiges Haar nach hinten. »Ja, er hat vor einer Woche mit mir Schluss gemacht. Kouji, weißt du noch?« Überrascht reiße ich die Augen auf. »Kouji? Aus meiner Klasse? Mit dem warst du immer noch zusammen?« Sie nickt schwach. »Na ja, wir hatten unsere Höhen und Tiefen, aber … ja, wir waren ziemlich lange ein Paar. Letzte Woche hat er mich dann abserviert. Dieser räudige Hund!« Nun verstehe ich gar nichts mehr. »Aber warum bist du dann hier? Wenn ihr getrennt seid, dann bist du sicher auch nicht mehr seine Begleitung.« Mir fällt auf, dass ich vorhin sogar kurz mit Kouji gesprochen habe. Soweit ich weiß, ist er allein gekommen. »Oh Gott, Yamato«, stöhnt Mimi genervt auf, als das Lied von Elvis endlich, ENDLICH endet. »Ich wollte natürlich sehen, ob er schon eine Neue hat, ist doch klar.« Während sie redet, wählt sie schon wieder dieses Lied aus und ich hebe schon die Hand, um sie aufzuhalten, aber bin nicht schnell genug. Das Lied beginnt erneut von vorne und durch die Reihen geht ein genervtes Stöhnen. »Ich vermute, dass er mich betrogen hat. Ich kann mir nicht helfen, ist eben so ein Gefühl. Und dieses Gefühl treibt mich schier in den Wahnsinn, verstehst du? Ich musste einfach wissen, ob er heute Abend allein gekommen ist oder ob er jemanden dabei hat.« »Ich denke, du kannst dich beruhigen«, sage ich mit den Augen rollend. »Ich habe ihn vorhin gesehen. Er ist allein hier.« Mimi beißt die Zähne zusammen. »Das weiß ich jetzt auch.« Dann haut sie mit der Faust auf die Jukebox. Ich hoffe, dass sie davon kaputt geht, aber das Teil ist alt - und zäh. »Aber er hat mich keines Blickes gewürdigt. Im Gegenteil. Er hat mich nur dumm von der Seite angemacht, was ich hier zu suchen habe und dass ich verschwinden soll. Dann ist er wütend abgedampft. So ein Dreckskerl ist das.« Jetzt fängt sie an zu heulen. Au backe. Mit so was konnte ich noch nie gut umgehen. Nervös sehe ich mich nach Hilfe um, aber alle halten so viel Abstand zu der Verrückten an der Jukebox wie es nur geht - was ich ihnen nicht verübeln kann. »Das … das war unser Lied, weißt du …«, schnieft sie theatralisch auf und wirft sich auf die Jukebox. Sie umarmt sie, während sie in der anderen Hand ihr Getränk hält und daran nippt. Dann schnappt sie nach Luft. »Ich verstehe einfach nicht, warum er mich verlassen hat. Wir waren doch so lange zusammen. Und mit einem Mal wirft er alles weg.« Ihr lautes Wimmern übertönt fast alles andere. »Hey, hör auf damit. Lass das«, sage ich leise zu ihr, weil eh schon alle gaffen. »Das ist doch voll peinlich für dich, wenn Kouji dich so sieht.« »Mir doch egal«, jammert Mimi jedoch nur auf und trinkt ihren Drink aus, ehe sie das Glas oben auf der Jukebox abstellt. »Er kann ruhig sehen, wie dreckig es mir geht. Ich hasse ihn!« Ohje. Ich verdrehe die Augen. Irgendwie muss ich sie hier weg kriegen. »Was hältst du davon …«, schlage ich euphorisch vor. »Wenn es das letzte Mal ist, dass du diesen Song spielst und aufhörst zu weinen, dann tanze ich mit dir.« Sie hat das Gesicht in ihre Armbeuge gedrückt, doch nun dreht sie den Kopf und sieht mich aus verheulten Augen heraus an. »Warum sollte ich mit dir tanzen wollen, du Spinner?«, jabst sie herzzerreißend, was es allerdings nicht weniger beleidigend macht. »Ich dachte doch nur …« »Ganz schön dreist von dir, mich anzugraben, wenn ich gerade betrunken bin und Liebeskummer habe, findest du nicht?« »Hallo? Jetzt hör mir doch mal zu!« »Sehe ich etwa so aus, als würde ich tanzen wollen? Mit dir? Höh?« »Oh Gott«, seufze ich und reibe mir die Schläfen. Von ihr bekomme ich mehr Kopfschmerzen als von der Musik. »Ich wollte dich nicht angraben, was um alles in der Welt denkst du denn? Ich finde einfach, du hast genug Blicke für heute Abend auf dich gezogen.« Immer noch gegen die Jukebox gelehnt, als wäre diese ein großer, kuschliger Teddybär, sieht Mimi sich um. Alle, wirklich alle starren sie an. Einige nippen verwirrt an ihren Getränken, andere tuscheln hinter hervorgehaltener Hand. Die meisten sind schon gegangen. Sie konnten es wohl nicht mehr ertragen. »Ich hasse diese Feier«, sagt sie schließlich, als sie in das Gesicht der Leute guckt. »Ist echt 'ne scheiß Party.« Ich muss auflachen. »Finde ich auch.« Dann halte ich ihr meine Hand hin. »Willst du nach Hause?« »Ja«, sagt sie endlich und greift nach meiner Hand. Das Lied endet und alle atmen erleichtert auf. Mimi lässt es sich jedoch nicht nehmen, einigen Leuten vernichtende Blicke zuzuwerfen, die daraufhin ängstlich vor ihr zurückweichen, als wäre sie eine Hexe. Na ja. Im Grunde hat sie sich gerade auch genauso aufgeführt. »Sag mal, willst du mich wirklich nach Hause bringen?«, fragt Mimi mich plötzlich. »Ich bin schon ein großes Mädchen und kann auf mich aufpassen.« »Sei nicht albern«, antworte ich und grinse. »Ich wollte sowieso gehen und möchte, dass du sicher zu Hause …« Ich verstumme und bleibe auf der Stelle stehen. Mimi dreht sich zu mir um und sieht mich verwundert an, doch meine Augen haften an der Person, die sich vor uns befindet. Oder besser gesagt an den Personen. Sie stehen knutschend im Flur, sie gegen den Spint gelehnt, er zwischen ihren Beinen. Sora und Kouji. Als ich nicht antworte, folgt Mimi meinem Blick. Ihr klappt der Mund auf. »Ach. Du. Scheiße!«, stößt sie fluchend aus, was die beiden hören und sofort erschrocken auseinanderfahren. Mimi will auf sie zustürmen, doch ich halte sie am Arm fest. Dann übernehme ich ihren Part. Schnellen Schrittes gehe ich auf die beiden zu, Kouji weicht instinktiv zurück, während sich Sora zwischen uns stellt. »Yamato, Yamato, nicht«, sagt sie aufgebracht. »Wie lange geht das schon?«, platze ich direkt damit heraus, weil ich ihm sonst echt eine reinhaue. »Ich denke nicht, dass du das Recht hast, darüber zu urteilen«, entgegnet Sora mit fester Stimme. »Wir sind nicht mehr zusammen.« Ich presse die Zähne so stark aufeinander, dass mein Kiefer schmerzt. Leider hat sie recht. Es geht mich absolut nichts an. Und trotzdem bringt es mich in Rage. »Yamato«, höre ich plötzlich Mimis Stimme hinter mir, die mir sanft eine Hand auf den Arm legt. »Lass gut sein.« Ich atme tief ein und aus und versuche, mich zu besinnen, Meine Wut zu zügeln. Dann trete ich einen Schritt zurück. Und Mimi macht einen nach vorne. Irritiert sehe ich ihr dabei zu, wie sie Kouji zur Rede stellt. »War sie deine Affäre?« »Äh … was?« »Du hast mich schon verstanden, Arschloch.« Oha! Dafür, dass sie bis vor fünf Minuten noch Rotz und Wasser wegen ihm geheult hat, ist sie jetzt erstaunlich kühl. »Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mimi«, sagt Kouji und fährt sich durch sein schwarzes Haar. »Ja, ich, also ich konnte es dir nicht sagen, aber …« BÄM! Mimis Faust landet in seinem Gesicht. Sora schreit auf. Kouji taumelt zurück. Er presst sich die Hand auf die Nase. Ich reiße die Augen auf, während ich sie fassungslos anstarre, genauso wie Sora. »Danke. Mehr wollte ich gar nicht wissen«, sagt sie völlig gelassen und schüttelt sich die schmerzende Hand. »Und, war das jetzt so schwer? Hättest du gleich die Wahrheit gesagt, hättest du jetzt keine blutende Nase.« Sie zuckt mit den Schultern und geht an ihm vorbei. Ich stehe immer noch da und sehe dabei zu, wie aus Koujis Nase dickes Blut läuft und auf den Boden tropft. Dann renne ich ihr nach und lasse die beiden hinter mir. Ein für alle mal. »Ich kann nicht fassen, dass du ihm eine rein gehauen hast«, sage ich anerkennend, als ich sie eingeholt habe. Dass sie das wirklich getan hat … diese Frau ist echt der Hammer. Verrückt, irgendwie. Aber sie hat eindeutig Eier in der Hose. Das mag ich. Mimi lacht auf. »Ich auch nicht. Aber es hat sich verdammt gut angefühlt.« Plötzlich müssen wir beide über diese absurde Situation lachen. »Mal ehrlich, Sora und Kouji? Die passen doch gar nicht zusammen«, sage ich kopfschüttelnd. »Hmpf«, schnaubt Mimi nur. »Ich denke, wir waren diejenigen, die nicht zu ihnen gepasst haben. Die beiden haben sich verdient, glaub mir.« Einsichtig seufze ich auf. »Vermutlich hast du recht.« Auch wenn es irgendwie bitter ist, macht sich trotzdem eine Art Genugtuung in mir breit. Ich meine … es ist Kouji. Ich bin definitiv besser als er. »Was grinst du denn so?« Mimis Worte und ihr fragender Blick reißen mich aus meinen Gedanken. Erst jetzt fällt mir auf, wie breit mein Grinsen ist, das sich auf mein Gesicht geschlichen hat. »Ach, nichts. Ich hatte nur gerade eine verrückte Idee«, sage ich, weil mir wirklich gerade ein Gedanke kommt. »So? Was denn?«, fragt Mimi verwundert und ich sehe sie schief an. Dieses absurde retro Outfit, das sie trägt macht das Ganze irgendwie unwirklich. Als wären wir in so einer ulkigen Reality Show auf Netflix gefangen. Wahrscheinlich traue ich mich auch nur deshalb, diesen fixen Gedanken laut auszusprechen - weil das alles hier surreal wirkt. »Ich finde, wir waren heute Abend ein ziemlich gutes Team«, sage ich stolz. »Was hältst du davon, wenn wir mal miteinander ausgehen?« Mimi zieht eine Augenbraue in die Höhe und wirkt irritiert. »Wir waren kein Team. Ich hab die ganze Drecksarbeit schließlich alleine gemacht. An meinen Händen klebt Blut, nicht an deinen.« Als Beweis hält sie mir ihre rechte Hand vor die Nase, an der tatsächlich ein wenig von Koujis Blut glebt. Igitt. »Aber nur, weil du es so wolltest. Ich habe mich dir zu liebe extra zurück genommen, dir quasi den Vortritt gelassen. Zählt das denn nicht?« Anstatt meine Frage zu beantworten, bleibt sie abrupt stehen und sagt: »Wir sind da.« Während ich noch das Haus mustere, in dem sie offenbar wohnt, dreht sie sich zu mir um. »Hör mal, Ya-ma-to …« Warum betont sie jede einzelne Silbe meines Namens so merkwürdig? »Wir haben uns … wie lange nicht gesehen? Sieben Jahre?« »Acht oder neun«, korrigiere ich sie. Mimi nickt. »Siehst du. Das ist eine echt lange Zeit. Ich denke, nicht dass du wirklich mit mir ausgehen willst. Das sagst du nur aus einer Laune heraus. Nur, weil wir früher mal befreundet waren, heißt das ja nicht, dass wir uns kennen.« »Jaah, das ist richtig«, stimme ich ihr zu und vergrabe die Hände in den Hosentaschen. »Aber deshalb geht man ja miteinander aus - damit man sich kennen lernt.« Mimi seufzt leise und beißt sich dann auf die Unterlippe. Es ist ganz offensichtlich, dass sie meine Einladung nicht annehmen wird. Zu schade. Ich bin gerade wirklich enttäuscht und weiß nicht, wie ich sie vom Gegenteil überzeugen kann. »Findest du mich so unattraktiv?«, frage ich gerade heraus und sie reißt die Augen auf. »Was? Nein, gar nicht.« »Wäre nicht schlimm, wenn doch. Ich könnte damit leben.« »Das ist es wirklich nicht, Yamato«, streitet sie weiterhin ab und sieht mich dann mit ernster Miene an. »Ich kann nicht mit dir ausgehen. Ich leide unter Privinismus.« Äh, was? »Ich wäre keine all zu gute Gesellschaft für dich. Selbst alle meine Freunde sagen, sie können nicht mal mehr mit mir ins Kino gehen, weil sie es nicht aushalten. Und ich ehrlich gesagt auch nicht. Ich schäme mich dafür und … eigentlich wollte ich dir das gar nicht sagen.« Peinlich berührt sieht sie zu Boden und weicht meinem Blick aus. Ich runzle die Stirn, weil ich absolut keine Ahnung habe, wovon sie redet, lege jedoch auch einen mitleidigen Blick auf. Sie soll nicht denken, dass ich dumm bin, oder so. Privinismus? Soll das eine Art Zwangsstörung sein oder so etwas? Bekommt sie Panikattacken, wenn jemand zwei unterschiedliche Paar Socken trägt? Was zur Hölle soll das sein? »Oh, ähm, das tut mir leid«, sage ich einfühlsam und räuspere mich. »Das verstehe ich natürlich. Schade.« Ich nehme mir vor, ihre Erkrankung später zu googeln. »Okay. Ja, schade …« Sie zuckt mit den Schultern und wirkt tatsächlich ein wenig traurig. »Na gut, dann sehen wir uns … irgendwann.« »Ja, mach's gut. Und danke, für's nach Hause bringen.« Ich winke ihr zum Abschied. »Danke, dass du Kouji eine reingehauen hast.« Sie grinst triumphierend. »Immer wieder gern.« Ein Lächeln umspielt meine Mundwinkel, weil so gesehen, der Abend doch noch ein voller Erfolg war. Zu Hause angekommen ziehe ich als erstes diese albernen Klamotten aus und schmeiße die Koteletten in den Mülleimer. Als nächstes fahre ich meinen Laptop hoch und setze mich im Schneidersitz aufs Bett. Ich gebe »Privinismus« in die Suchleiste von Google ein, weil ich keine Lust habe, dumm zu sterben. Dann falle ich fast von der Bettkante. Privinismus - die Sucht nach Nasenspray. Wow. Sie hat mich auf den Arm genommen. Dieses kleine Biest … Das war die hinterhältigste Abfuhr, die ich je bekommen habe. Und ich weiß nicht, ob ich das auf mir sitzen lassen kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)