Zwischen den Zeilen von Khaleesi26 (Mimato Woche) ================================================================================ Kapitel 1: Retro ---------------- Es fühlt sich merkwürdig an, durch die Flure meiner alten Schule zu spazieren und zu wissen, dass ich das seit 10 Jahren nicht mehr getan habe. So lange ist das jetzt schon her. Trotzdem sieht alles noch genauso aus wie früher. Ich werfe einen Blick in mein altes Klassenzimmer, als ich daran vorbei gehe. Auch hier hat sich nichts verändert. Bei den Erinnerungen an früher muss ich grinsen. Gott, wie ich den Unterricht hier gehasst habe. Todsterbenslangweilig! »Hey, Yamato«, ruft mich jemand von weitem, dessen Stimme ich sofort erkenne. Tai kommt auf mich zu, mit einem breiten, frechen Grinsen auf den Lippen, wie immer. Manche Dinge ändern sich wohl selbst nach 10 Jahren nicht. »Na, schwelgst du in Erinnerungen, Kumpel?« Er legt mir einen Arm um die Schultern und wirft ebenfalls einen Blick in unser altes Klassenzimmer. »Kann man so sagen. Keine all zu guten Erinnerungen, muss ich gestehen.« Tai nickt. »Na ja, kein Wunder. Du bist kurz vor unserem Abschluss suspendiert worden und durftest somit nicht an der Abschlussfeier teilnehmen. Das war mies.« Ich verziehe das Gesicht. Diese alte Kamelle hängt mir wohl noch ewig nach. »Richtig. Ich denke immer noch, dass die Strafe völlig übertrieben war.« Tai beginnt zu lachen und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Alter! Du bist mit einem Fallschirm vom Dach der Schule gesprungen. Eine Suspendierung war völlig angemessen.« Herrgott. Das war eine Mutprobe, nichts weiter. Muss er mich denn immer noch damit aufziehen? »Ich bin im Pool gelandet, so schlimm war es also nicht«, spiele ich die Geschichte runter und zucke beiläufig mit den Schultern, während wir uns auf den Weg in die Sporthalle machen. »Trotzdem sollte man das nicht machen.« Tai hebt den Zeigefinger und ich stöhne. »Nirgendwo in den Regeln der Schule steht geschrieben, dass man das nicht machen soll. Die Lehrer kamen mir dann mit, vonwegen Vorbildfunktion und was ich mir dabei gedacht habe. Ich würde schließlich jüngere Kinder dazu animieren, ähnlich verrückte Dinge zu tun, weil sie es cool finden und macht es erst einer, dann machen es alle. Jetzt kommst du ins Spiel. Ist seitdem noch mal irgendein Schüler auf die Idee gekommen, vom Dach zu springen?«, frage ich Tai, der inzwischen tatsächlich Lehrer an unserer alten Schule ist. Dieser runzelt die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste.« »Siehst du. Völlig übertrieben, sag ich doch.« Tai grinst und schüttelt den Kopf, als wir den Eingang der Sporthalle durchqueren, wo uns sogleich ein besonderer Flair entgegen schlägt. Es ist das 10 jährige Klassentreffen unseres Jahrgangs und das Motto ist Retro. Das heißt, alle tragen enge Jeans, die unten viel zu weit ausfallen. Karierte Hemden, ausfallende, gepunktete Kleider, Stirnbänder, Blumen, Flower Power. Aktuelle Musik: Daddy Cool von Boney M. Pfui Teufel, wer hat sich das nur ausgedacht? »Ich glaub, ich dreh wieder um«, sage ich, doch Tai stößt mich mit dem Ellenbogen an. »Was? Jetzt, wo du dich extra so in Schale geworfen hast?« Ich sehe an mir hinab. Für mehr als eine Jeans, mit Hemd und Weste hat es nicht gereicht. Als Zeichen des guten Willens habe ich mir sogar Koteletten aufgeklebt, was total bescheuert aussieht. Alle anderen haben sich deutlich mehr Mühe gegeben. Sogar Tai trägt eine weite Schlaghose, ein kariertes Hemd, mit Hosenträgern und zu allem Überfluss, zieht er noch eine viel zu große Sonnenbrille aus der Tasche. Der Look ist perfekt. »Komm schon mit rein«, forderte er mich auf. »Oder hast du in Wahrheit nur Schiss, Sora zu begegnen?« Als er ihren Namen erwähnt, schlucke ich schwer. Tatsächlich habe ich auch schon daran gedacht, wie ich ihr gegenübertreten soll. Denn es ist ziemlich sicher, dass wir uns hier über den Weg laufen werden. Schließlich waren wir damals in derselben Klasse. Wir wurden sogar ein Paar und unsere Beziehung hielt lange an. Bis zum letzten Herbst, um genau zu sein. Dann hat sie mit mir Schluss gemacht. Einfach so, von heute, auf morgen. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Es wird das erste Aufeinandertreffen sein, was mich offensichtlich nervös macht, denn mein Magen spielt verrückt. Das zeige ich vor Tai natürlich nicht. »Blödsinn«, sage ich deshalb und gehe voraus. Tai läuft mir hinterher und wir treffen auf ein paar alte Freunde. Wir reden miteinander, machen unsere alten, dämlichen Witze. Es fühlt sich wie früher an und nach ein paar Stunden habe ich fast schon vergessen, dass ich eigentlich gar keine Lust auf diese Feier hatte. Bis … »Hey, Yamato.« Kurz überlege ich, so zu tun, als hätte ich sie nicht gehört. Aber das wäre kindisch. Deshalb lege ich ein gekünsteltes Lächeln auf und drehe mich um. Das Erste, was mir auffällt, ist, dass sie toll aussieht. Sie trägt ein gelbes Kleid, mit orangen Punkten, was echt nicht jede Frau tragen könnte. Ihr Haar hat sie anscheinend abschneiden lassen, denn es ist kürzer als meins, aber es steht ihr. »Hallo Sora«, sage ich etwas unbeholfen. »Du siehst gut aus.« Ich beiße mir auf die Zunge. Du siehst gut aus? Du beginnst die Unterhaltung mit deiner Ex mit einem Kompliment? »Danke«, meint sie lächelnd und legt den Kopf schief. »Du auch. Bist du in Begleitung gekommen?« Aha. Sie will die Situation abchecken, ob ich vergeben bin und so. Natürlich. »Äh, ja, bin ich«, lüge ich wie gedruckt und recke meinen Hals, als würde ich nach irgendjemanden Ausschau halten. »Sie, äh … sie holt sich gerade etwas zu trinken.« »So?«, dreht Sora sich neugierig um und sieht in Richtung der Bar, wo sich allerhand Leute tummeln. »Ähm, und du?«, frage ich schnell, um wieder ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, bevor sie fragen kann, wer meine Begleitung ist. »Bist du mit jemanden hier?« »Ja, bin ich. Er ist gerade … auf die Toilette gegangen.« Hmm. Lüge oder Wahrheit? Ich will es gar nicht wissen. »Na, wie auch immer. Es war schön, dich mal wieder zu sehen«, verabschiedet sie sich viel zu schnell wieder, was mir aber ganz recht ist. Ich nicke ihr zu. »Wir sehen uns.« Hoffentlich nicht all zu schnell wieder. Ich atme erleichtert aus. Puh, das wäre schon mal überstanden. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und beschließe, dass ich maximal noch eine Stunde bleiben werde, dann verschwinde ich von hier. Dieser Retro Quatsch und die 70er Jahre Musik gehen mir allmählich echt auf den Senkel. Vor allem, weil seit einer geschlagenen halben Stunde nur noch Love Songs aus der Jukebox dröhnen, die eigens für diese Party angeschafft wurde. Eben lief schon »Don't go breaking my heart«, von Elton John und danach Kiss, mit »I was made for lovin' you«. Aber jetzt wird es ganz sonderbar, denn es läuft »Can't help falling in Love«, von Elvis Presley - zum dritten Mal. Was zum Teufel sollte das? War das Teil kaputt? Ich sehe, wie Tai auf mich zugetaumelt kommt, seine Begleitung im Schlepptau. Sie kommen gerade von der Tanzfläche, die sich weiter leert. »Ich glaube, da hat jemand einen Sprung in der Schüssel«, lacht Tai. »Jemand?«, entgegne ich zweifelnd und sehe, wie die Leute nach und nach genervt und frustriert auseinander gehen, weil keiner mehr nur zu ein und demselben Lied tanzen möchte. »Ich glaube, die Jukebox ist kaputt. Wir sollten den Stecker ziehen«, schlage ich vor, doch Tai lacht nur noch mehr. »Du willst den Stecker ziehen? Ich glaube, dann bringt sie dich um.« »Sie?« Wen meint er? Ich schaue in die Richtung, in der die Jukebox steht und sehe ein Mädchen, dass mit dem Rücken zu uns gedreht dagegen lehnt. Sie trägt eine Schlaghose, mit vielen bunten Blumen darauf und ein braun, gelb gestreiftes, bauchfreies Oberteil. In ihrem langen, gewellten Haar befinden sich locker noch mal genauso viele Blumen wie auf ihrer Hose, inklusive Stirnband. Super hässlich. »Sie verscheucht alle, die dieser verdammten Jukebox auch nur zu nahe kommen«, erzählt Tai und zuckt mit den Schultern. »Schätze, die Party ist gelaufen. Es sei denn, du willst sie mit Gewalt dort weg zerren.« »Vielleicht nicht mit Gewalt«, sage ich und verenge meine Augen zu Schlitzen. »Aber mit gesundem Menschenverstand.« Ich gehe auf die Person zu, während Tai hinter mir noch »Viel Glück« ruft und ich einfach nur wütend bin. Es könnte mir auch egal sein, weil ich eh vorhatte, nach Hause zu gehen. Aber der Musiker in mir kann es nicht ertragen, wie sie hier nach und nach alle Leute mit ihrer schlechten Musikauswahl vergrault. Das gehört sich einfach nicht. Ich bleibe neben der Jukebox stehen und schaue ihr dabei zu, wie sie erneut dasselbe Lied auswählt, als es endet. Elvis Presley - schon wieder. Also, jetzt reicht es. »Hör mal, das hier ist eine Party. Und du vermiest gerade allen die Stimmung. Sieh dich doch mal um«, fange ich an, auf sie einzureden und schwenke die Arme. »Niemand hat mehr Spaß. Das Lied ist zum Heulen. Könntest du bitte was anderes spielen?« Sie hat mir immer noch den Rücken zugedreht. Ich vermute, dass sie mich nicht gehört hat, doch dann sagt sie zwei Worte, klar und deutlich: »Zieh Leine!« Was? Boah, ist die frech! Wie vor den Kopf gestoßen stehe ich da. Zieh Leine? Wow. Ich bin 28 Jahre alt und es ist eine Ewigkeit her, dass mich jemand so beleidigt hat. Ich stemme die Hände in die Hüfte. »Nein, du ziehst jetzt Leine«, erwidere ich und könnte mich im selben Moment dafür ohrfeigen, weil ich damit ebenso wenig erwachsen wirke wie sie. »Sorry, was ich damit sagen will, ist eigentlich …«, fange ich an, mich zu entschuldigen, in der Hoffnung, dass sie dann einsichtig ist, doch dann dreht sie sich zu mir um - und ich erkenne, dass ich gegen dieses Mädchen und ihren Dickschädel keine Chance haben werde. Denn vor mir steht niemand anderes, als Mimi Tachikawa. Ich verstumme und sehe sie an, als hätte ich einen Geist gesehen. Oh Gott, beinahe hätte ich sie nicht erkannt. Sie sieht so … verändert aus. Wenn sie früher hübsch war, dann ist sie jetzt noch hübscher. Innerlich habe ich immer noch das Bild eines Schulmädchens vor mir, aber nun ist sie eine erwachsene Frau. »Mimi? Was … was machst du hier?« Sie rümpft die Nase und wischt sich über die Augen, die zwar nass sind, weil sie wahrscheinlich geheult hat, aber die trotzdem nicht wütender hätten sein können. »Ich spiele Musik, das siehst du doch, Yamato. Also, wenn du jetzt die Güte haben und mich alleine lassen könntest? Danke und Tschüss.« Okay. Sie hat mich ebenfalls sofort erkannt. Dennoch wendet sie sich sogleich wieder ab. Ganz offensichtlich legt sie keinen Wert auf meine Gesellschaft. »Aber genau das ist das Problem«, erwidere ich nun deutlich sanfter, jetzt, wo ich weiß, wer sie ist. »Du bist nicht allein hier. Das ist eine Feier und alle wollen Spaß haben. Dieser Song ist auf Dauer echt zum kotzen.« »Mir egal«, sagt sie prompt. Ich seufze. War ja klar, dass ich so bei Mimi nicht weiter komme. Ich habe sie zwar seit acht oder neun Jahren nicht gesehen, aber sie scheint sich, was das angeht, nicht verändert zu haben. Was sie will, das will sie, ohne wenn und aber. »Was tust du denn überhaupt hier?«, frage ich sie. »Du warst doch gar nicht in unserem Jahrgang. Du hast deinen Abschluss ein Jahr später gemacht.« »Danke, das weiß ich auch«, antwortet sie gereizt und dreht sich zu mir um, nur, um mich böse anzufunkeln. »Es geht dich zwar nichts an, aber ich war als Begleitung eingeladen.« Ich stutze. »Begleitung? Und wieso: war?« Frustriert stößt sie die Luft aus und wirft ihr langes, blumiges Haar nach hinten. »Ja, er hat vor einer Woche mit mir Schluss gemacht. Kouji, weißt du noch?« Überrascht reiße ich die Augen auf. »Kouji? Aus meiner Klasse? Mit dem warst du immer noch zusammen?« Sie nickt schwach. »Na ja, wir hatten unsere Höhen und Tiefen, aber … ja, wir waren ziemlich lange ein Paar. Letzte Woche hat er mich dann abserviert. Dieser räudige Hund!« Nun verstehe ich gar nichts mehr. »Aber warum bist du dann hier? Wenn ihr getrennt seid, dann bist du sicher auch nicht mehr seine Begleitung.« Mir fällt auf, dass ich vorhin sogar kurz mit Kouji gesprochen habe. Soweit ich weiß, ist er allein gekommen. »Oh Gott, Yamato«, stöhnt Mimi genervt auf, als das Lied von Elvis endlich, ENDLICH endet. »Ich wollte natürlich sehen, ob er schon eine Neue hat, ist doch klar.« Während sie redet, wählt sie schon wieder dieses Lied aus und ich hebe schon die Hand, um sie aufzuhalten, aber bin nicht schnell genug. Das Lied beginnt erneut von vorne und durch die Reihen geht ein genervtes Stöhnen. »Ich vermute, dass er mich betrogen hat. Ich kann mir nicht helfen, ist eben so ein Gefühl. Und dieses Gefühl treibt mich schier in den Wahnsinn, verstehst du? Ich musste einfach wissen, ob er heute Abend allein gekommen ist oder ob er jemanden dabei hat.« »Ich denke, du kannst dich beruhigen«, sage ich mit den Augen rollend. »Ich habe ihn vorhin gesehen. Er ist allein hier.« Mimi beißt die Zähne zusammen. »Das weiß ich jetzt auch.« Dann haut sie mit der Faust auf die Jukebox. Ich hoffe, dass sie davon kaputt geht, aber das Teil ist alt - und zäh. »Aber er hat mich keines Blickes gewürdigt. Im Gegenteil. Er hat mich nur dumm von der Seite angemacht, was ich hier zu suchen habe und dass ich verschwinden soll. Dann ist er wütend abgedampft. So ein Dreckskerl ist das.« Jetzt fängt sie an zu heulen. Au backe. Mit so was konnte ich noch nie gut umgehen. Nervös sehe ich mich nach Hilfe um, aber alle halten so viel Abstand zu der Verrückten an der Jukebox wie es nur geht - was ich ihnen nicht verübeln kann. »Das … das war unser Lied, weißt du …«, schnieft sie theatralisch auf und wirft sich auf die Jukebox. Sie umarmt sie, während sie in der anderen Hand ihr Getränk hält und daran nippt. Dann schnappt sie nach Luft. »Ich verstehe einfach nicht, warum er mich verlassen hat. Wir waren doch so lange zusammen. Und mit einem Mal wirft er alles weg.« Ihr lautes Wimmern übertönt fast alles andere. »Hey, hör auf damit. Lass das«, sage ich leise zu ihr, weil eh schon alle gaffen. »Das ist doch voll peinlich für dich, wenn Kouji dich so sieht.« »Mir doch egal«, jammert Mimi jedoch nur auf und trinkt ihren Drink aus, ehe sie das Glas oben auf der Jukebox abstellt. »Er kann ruhig sehen, wie dreckig es mir geht. Ich hasse ihn!« Ohje. Ich verdrehe die Augen. Irgendwie muss ich sie hier weg kriegen. »Was hältst du davon …«, schlage ich euphorisch vor. »Wenn es das letzte Mal ist, dass du diesen Song spielst und aufhörst zu weinen, dann tanze ich mit dir.« Sie hat das Gesicht in ihre Armbeuge gedrückt, doch nun dreht sie den Kopf und sieht mich aus verheulten Augen heraus an. »Warum sollte ich mit dir tanzen wollen, du Spinner?«, jabst sie herzzerreißend, was es allerdings nicht weniger beleidigend macht. »Ich dachte doch nur …« »Ganz schön dreist von dir, mich anzugraben, wenn ich gerade betrunken bin und Liebeskummer habe, findest du nicht?« »Hallo? Jetzt hör mir doch mal zu!« »Sehe ich etwa so aus, als würde ich tanzen wollen? Mit dir? Höh?« »Oh Gott«, seufze ich und reibe mir die Schläfen. Von ihr bekomme ich mehr Kopfschmerzen als von der Musik. »Ich wollte dich nicht angraben, was um alles in der Welt denkst du denn? Ich finde einfach, du hast genug Blicke für heute Abend auf dich gezogen.« Immer noch gegen die Jukebox gelehnt, als wäre diese ein großer, kuschliger Teddybär, sieht Mimi sich um. Alle, wirklich alle starren sie an. Einige nippen verwirrt an ihren Getränken, andere tuscheln hinter hervorgehaltener Hand. Die meisten sind schon gegangen. Sie konnten es wohl nicht mehr ertragen. »Ich hasse diese Feier«, sagt sie schließlich, als sie in das Gesicht der Leute guckt. »Ist echt 'ne scheiß Party.« Ich muss auflachen. »Finde ich auch.« Dann halte ich ihr meine Hand hin. »Willst du nach Hause?« »Ja«, sagt sie endlich und greift nach meiner Hand. Das Lied endet und alle atmen erleichtert auf. Mimi lässt es sich jedoch nicht nehmen, einigen Leuten vernichtende Blicke zuzuwerfen, die daraufhin ängstlich vor ihr zurückweichen, als wäre sie eine Hexe. Na ja. Im Grunde hat sie sich gerade auch genauso aufgeführt. »Sag mal, willst du mich wirklich nach Hause bringen?«, fragt Mimi mich plötzlich. »Ich bin schon ein großes Mädchen und kann auf mich aufpassen.« »Sei nicht albern«, antworte ich und grinse. »Ich wollte sowieso gehen und möchte, dass du sicher zu Hause …« Ich verstumme und bleibe auf der Stelle stehen. Mimi dreht sich zu mir um und sieht mich verwundert an, doch meine Augen haften an der Person, die sich vor uns befindet. Oder besser gesagt an den Personen. Sie stehen knutschend im Flur, sie gegen den Spint gelehnt, er zwischen ihren Beinen. Sora und Kouji. Als ich nicht antworte, folgt Mimi meinem Blick. Ihr klappt der Mund auf. »Ach. Du. Scheiße!«, stößt sie fluchend aus, was die beiden hören und sofort erschrocken auseinanderfahren. Mimi will auf sie zustürmen, doch ich halte sie am Arm fest. Dann übernehme ich ihren Part. Schnellen Schrittes gehe ich auf die beiden zu, Kouji weicht instinktiv zurück, während sich Sora zwischen uns stellt. »Yamato, Yamato, nicht«, sagt sie aufgebracht. »Wie lange geht das schon?«, platze ich direkt damit heraus, weil ich ihm sonst echt eine reinhaue. »Ich denke nicht, dass du das Recht hast, darüber zu urteilen«, entgegnet Sora mit fester Stimme. »Wir sind nicht mehr zusammen.« Ich presse die Zähne so stark aufeinander, dass mein Kiefer schmerzt. Leider hat sie recht. Es geht mich absolut nichts an. Und trotzdem bringt es mich in Rage. »Yamato«, höre ich plötzlich Mimis Stimme hinter mir, die mir sanft eine Hand auf den Arm legt. »Lass gut sein.« Ich atme tief ein und aus und versuche, mich zu besinnen, Meine Wut zu zügeln. Dann trete ich einen Schritt zurück. Und Mimi macht einen nach vorne. Irritiert sehe ich ihr dabei zu, wie sie Kouji zur Rede stellt. »War sie deine Affäre?« »Äh … was?« »Du hast mich schon verstanden, Arschloch.« Oha! Dafür, dass sie bis vor fünf Minuten noch Rotz und Wasser wegen ihm geheult hat, ist sie jetzt erstaunlich kühl. »Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mimi«, sagt Kouji und fährt sich durch sein schwarzes Haar. »Ja, ich, also ich konnte es dir nicht sagen, aber …« BÄM! Mimis Faust landet in seinem Gesicht. Sora schreit auf. Kouji taumelt zurück. Er presst sich die Hand auf die Nase. Ich reiße die Augen auf, während ich sie fassungslos anstarre, genauso wie Sora. »Danke. Mehr wollte ich gar nicht wissen«, sagt sie völlig gelassen und schüttelt sich die schmerzende Hand. »Und, war das jetzt so schwer? Hättest du gleich die Wahrheit gesagt, hättest du jetzt keine blutende Nase.« Sie zuckt mit den Schultern und geht an ihm vorbei. Ich stehe immer noch da und sehe dabei zu, wie aus Koujis Nase dickes Blut läuft und auf den Boden tropft. Dann renne ich ihr nach und lasse die beiden hinter mir. Ein für alle mal. »Ich kann nicht fassen, dass du ihm eine rein gehauen hast«, sage ich anerkennend, als ich sie eingeholt habe. Dass sie das wirklich getan hat … diese Frau ist echt der Hammer. Verrückt, irgendwie. Aber sie hat eindeutig Eier in der Hose. Das mag ich. Mimi lacht auf. »Ich auch nicht. Aber es hat sich verdammt gut angefühlt.« Plötzlich müssen wir beide über diese absurde Situation lachen. »Mal ehrlich, Sora und Kouji? Die passen doch gar nicht zusammen«, sage ich kopfschüttelnd. »Hmpf«, schnaubt Mimi nur. »Ich denke, wir waren diejenigen, die nicht zu ihnen gepasst haben. Die beiden haben sich verdient, glaub mir.« Einsichtig seufze ich auf. »Vermutlich hast du recht.« Auch wenn es irgendwie bitter ist, macht sich trotzdem eine Art Genugtuung in mir breit. Ich meine … es ist Kouji. Ich bin definitiv besser als er. »Was grinst du denn so?« Mimis Worte und ihr fragender Blick reißen mich aus meinen Gedanken. Erst jetzt fällt mir auf, wie breit mein Grinsen ist, das sich auf mein Gesicht geschlichen hat. »Ach, nichts. Ich hatte nur gerade eine verrückte Idee«, sage ich, weil mir wirklich gerade ein Gedanke kommt. »So? Was denn?«, fragt Mimi verwundert und ich sehe sie schief an. Dieses absurde retro Outfit, das sie trägt macht das Ganze irgendwie unwirklich. Als wären wir in so einer ulkigen Reality Show auf Netflix gefangen. Wahrscheinlich traue ich mich auch nur deshalb, diesen fixen Gedanken laut auszusprechen - weil das alles hier surreal wirkt. »Ich finde, wir waren heute Abend ein ziemlich gutes Team«, sage ich stolz. »Was hältst du davon, wenn wir mal miteinander ausgehen?« Mimi zieht eine Augenbraue in die Höhe und wirkt irritiert. »Wir waren kein Team. Ich hab die ganze Drecksarbeit schließlich alleine gemacht. An meinen Händen klebt Blut, nicht an deinen.« Als Beweis hält sie mir ihre rechte Hand vor die Nase, an der tatsächlich ein wenig von Koujis Blut glebt. Igitt. »Aber nur, weil du es so wolltest. Ich habe mich dir zu liebe extra zurück genommen, dir quasi den Vortritt gelassen. Zählt das denn nicht?« Anstatt meine Frage zu beantworten, bleibt sie abrupt stehen und sagt: »Wir sind da.« Während ich noch das Haus mustere, in dem sie offenbar wohnt, dreht sie sich zu mir um. »Hör mal, Ya-ma-to …« Warum betont sie jede einzelne Silbe meines Namens so merkwürdig? »Wir haben uns … wie lange nicht gesehen? Sieben Jahre?« »Acht oder neun«, korrigiere ich sie. Mimi nickt. »Siehst du. Das ist eine echt lange Zeit. Ich denke, nicht dass du wirklich mit mir ausgehen willst. Das sagst du nur aus einer Laune heraus. Nur, weil wir früher mal befreundet waren, heißt das ja nicht, dass wir uns kennen.« »Jaah, das ist richtig«, stimme ich ihr zu und vergrabe die Hände in den Hosentaschen. »Aber deshalb geht man ja miteinander aus - damit man sich kennen lernt.« Mimi seufzt leise und beißt sich dann auf die Unterlippe. Es ist ganz offensichtlich, dass sie meine Einladung nicht annehmen wird. Zu schade. Ich bin gerade wirklich enttäuscht und weiß nicht, wie ich sie vom Gegenteil überzeugen kann. »Findest du mich so unattraktiv?«, frage ich gerade heraus und sie reißt die Augen auf. »Was? Nein, gar nicht.« »Wäre nicht schlimm, wenn doch. Ich könnte damit leben.« »Das ist es wirklich nicht, Yamato«, streitet sie weiterhin ab und sieht mich dann mit ernster Miene an. »Ich kann nicht mit dir ausgehen. Ich leide unter Privinismus.« Äh, was? »Ich wäre keine all zu gute Gesellschaft für dich. Selbst alle meine Freunde sagen, sie können nicht mal mehr mit mir ins Kino gehen, weil sie es nicht aushalten. Und ich ehrlich gesagt auch nicht. Ich schäme mich dafür und … eigentlich wollte ich dir das gar nicht sagen.« Peinlich berührt sieht sie zu Boden und weicht meinem Blick aus. Ich runzle die Stirn, weil ich absolut keine Ahnung habe, wovon sie redet, lege jedoch auch einen mitleidigen Blick auf. Sie soll nicht denken, dass ich dumm bin, oder so. Privinismus? Soll das eine Art Zwangsstörung sein oder so etwas? Bekommt sie Panikattacken, wenn jemand zwei unterschiedliche Paar Socken trägt? Was zur Hölle soll das sein? »Oh, ähm, das tut mir leid«, sage ich einfühlsam und räuspere mich. »Das verstehe ich natürlich. Schade.« Ich nehme mir vor, ihre Erkrankung später zu googeln. »Okay. Ja, schade …« Sie zuckt mit den Schultern und wirkt tatsächlich ein wenig traurig. »Na gut, dann sehen wir uns … irgendwann.« »Ja, mach's gut. Und danke, für's nach Hause bringen.« Ich winke ihr zum Abschied. »Danke, dass du Kouji eine reingehauen hast.« Sie grinst triumphierend. »Immer wieder gern.« Ein Lächeln umspielt meine Mundwinkel, weil so gesehen, der Abend doch noch ein voller Erfolg war. Zu Hause angekommen ziehe ich als erstes diese albernen Klamotten aus und schmeiße die Koteletten in den Mülleimer. Als nächstes fahre ich meinen Laptop hoch und setze mich im Schneidersitz aufs Bett. Ich gebe »Privinismus« in die Suchleiste von Google ein, weil ich keine Lust habe, dumm zu sterben. Dann falle ich fast von der Bettkante. Privinismus - die Sucht nach Nasenspray. Wow. Sie hat mich auf den Arm genommen. Dieses kleine Biest … Das war die hinterhältigste Abfuhr, die ich je bekommen habe. Und ich weiß nicht, ob ich das auf mir sitzen lassen kann. Kapitel 2: Crossover -------------------- Ich werfe die Reisetasche vor die Tür. Mit einem lauten Knall landet sie direkt vor Koujis Füßen. »Hey«, beschwert er sich bei mir und geht in die Hocke. »Ist da etwa meine PlayStation drin?« Gleichgültig hebe ich die Schultern. »Keinen Plan, ich habe einfach den letzten Rest, den du noch hier hattest, da rein geschmissen. Sei einfach froh, dass ich es nicht verbrannt habe.« »Tzz«, zischt er leise. »Wenn du sie kaputt haust, macht das keinen Unterschied.« »Was?« »Nichts.« Ja ja, schon klar. Er nuschelt sich etwas in den Bart und denkt, ich verstehe ihn nicht. Vollidiot. Er steht wieder auf und schultert die Tasche. »Na, dann. Das war's also.« »Ja. Ciao, Blödmann.« Ich drehe mich um und will wieder hineingehen, aber er lässt mich nicht. »Mimi, mir tut wirklich leid, wie das mit uns auseinander gegangen ist. Das habe ich nie so gewollt.« Genervt lege ich den Kopf in den Nacken und wende mich wieder um. »Das interessiert mich jetzt auch nicht mehr.« »Herrgott, Mimi. Sei doch nicht immer so verdammt stur«, wirft er frustriert ein und fährt sich durchs Haar. Als wäre ich hier die Doofe. »Ich wollte mich gerade ernsthaft bei dir entschuldigen und du … du bist total verblendet.« »Verblendet? Ach, fick dich doch, Kouji. Ich scheiß auf deine Entschuldigung.« Dann knalle ich ihm die Tür vor der Nase zu. Er hat kein recht, mich derart zu kritisieren - nicht mehr. Das war vorbei, als ich ihn mit Sora erwischt habe. Apropos … Schnell reiße ich die Tür wieder auf. Kouji geht gerade die Treppe runter, sieht jedoch zu mir auf, als er mich hört. »Und übrigens«, füge ich wutgeladen meiner Bemerkung von eben hinzu. »Wenn Sora meinen Ex-Freund vögelt, macht es ihr doch sicher nichts aus, wenn ich ihren vögel, oder? Richte ihr das bitte aus.« Ich schreie die Worte hinaus und natürlich öffnet just in diesem Augenblick meine Nachbarin ihre Tür und mustert mich mit einem entsetzten Blick. Aber das interessiert mich nicht. »Und jetzt, verschwinde!«, fordere ich Kouji auf, doch anstatt abzuwarten, ob er wirklich geht, sehe ich nur noch, wie er verwundert die Stirn runzelt, ehe ich erneut die Tür zuknalle. Oh, Gott. War das eben peinlich? Und kindisch obendrein. Ich beiße mir auf die Zunge. Contenance wurde mir nicht mit in die Wiege gelegt. Um mich von diesem ganzen Mist abzulenken, gehe ich einkaufen. Ein guter Wein, eine Pizza und tonnenweise Schokolade werden es schon wieder richten, denke ich mir. Eine Stunde später komme ich voll bepackt, mit zwei Tüten aus dem Supermarkt zurück. Jetzt schnell noch die Post holen und dann: Netflix, ich komme. Ich öffne den Briefkasten und überfliege die Absender. Beim letzten Brief erstarre ich. Wie auf's Stichwort reißt genau in diesem Moment eine meiner Plastiktüten und mein halber Einkauf verteilt sich auf dem Fußboden. Doch ich rühre mich nicht, um ihn aufzuheben. Ich bin viel zu durcheinander. Das … kann das sein? Ich drehe und wende den Brief, als wäre an ihm irgendetwas Abnormales. Aber es ist einfach nur ein Brief - von Yamato Ishida. Träume ich? Warum schreibt Yamato mir einen Brief? Ich habe die letzten Wochen nicht mehr an ihn gedacht, bis mir sein Name entgegenfällt - wortwörtlich. Ich blinzle mehrmals und frage mich, was das zu bedeuten hat. Meine Nachbarin von vorhin kommt gerade die Treppe runter und als sie mich im Flur stehen sieht, regungslos, inmitten meiner ganzen Einkäufe, schüttelt sie den Kopf, als hätte ich einen an der Waffel. Schnell bücke ich mich und sammle die Sachen auf. Ich schleppe alles hoch in die Wohnung und werfe es aufs Sofa, bevor ich mich genau dazwischen platziere. Ich krame in dem Haufen nach der Flasche Rotwein, die ich gekauft habe und öffne sie. Ein beherzter Schluck, dann reiße ich den Brief auf. Mein Herz flattert ein wenig zu aufgeregt, während ich seine ersten Zeilen lese … »Liebe Mimi, Du bist eine kleine, hinterhältige Schlange …« Schockiert klappt mir der Mund auf. Wie bitte? Schlange? Hinterhältig? Ist er verrückt geworden? Ich lese weiter … »Du bist eine kleine, hinterhältige Schlange. Ich habe Privinismus gegoogelt. Ernsthaft? Was Besseres ist dir nicht eingefallen? Ziemlich schwach. Ich hätte mehr von dir erwartet. Wenn ich dich schon frage, ob du mit mir ausgehen willst, dann streng dich wenigstens an und erfinde etwas Glaubhafteres. Zum Beispiel hättest du sagen können, du bist bald schon außer Lande, weil du dringend verreisen musst. Oder, dass du nur auf Männer mit kleinen Schwänzen stehst und ich deshalb aus dem Raster falle. Letzteres würde erklären, warum du so lange mit Kouji zusammen warst.« Ich lache los und pruste dabei den Wein, den ich gerade im Mund habe, quer über den Tisch. Deshalb schreibt er mir? Weil ich ihn gelinkt habe und er es nicht auf sich sitzen lassen will? Ganz schön großes Ego, Herr Ishida. »Okay. Tut mir Leid, das war unfair. Aber trotzdem. Seit der Trennung von Sora vor einem Jahr, hatte ich kein Date mehr. Du warst die Erste, die ich gefragt habe und du hast mir direkt einen Korb gegeben. Das hat sich echt scheiße angefühlt. Aber du kannst nichts dafür und ich schreibe dir auch nicht, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen. Im Gegenteil. Ich denke, du hast eine gute Entscheidung getroffen. Mit mir auszugehen, wäre purer Selbstmord gewesen. In letzter Zeit habe ich viel an den Abend gedacht, als wir uns auf der Party begegnet sind. Hauptsächlich, weil ich Sora dort das erste Mal wiedergesehen habe. Mit deinem Ex. Ich glaube, du bist die Einzige, die das versteht, denn wir sitzen im selben Boot. Du hast ihm zwar eine reingehauen, aber eigentlich hat es sich anders herum angefühlt. Als hätten die beiden uns eine reingehauen. Sie haben uns so richtig gefickt. Ist einfach so. Und egal, wie viele Ohrfeigen du ihm noch verpasst hättest, es hätte sich immer scheiße angefühlt. Das siehst du doch sicher genauso, oder? Wieder ein mal ist mir bewusst geworden, dass ich daran Schuld bin, dass die Beziehung mit Sora gescheitert ist. Dass sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Als wir damals zusammengekommen sind, waren wir quasi noch Kinder. Und irgendwie war ich schon damals verkorkst. Sie hat dir sicher mal davon erzählt, wie sie mir an Heilig Abend vor einen meiner Auftritte Plätzchen vorbei gebracht hat. Sie ist hinter die Bühne gekommen und hat sie mir total schüchtern überreicht, weil sie super verknallt in mich war. Das war richtig mutig von ihr, den ersten Schritt zu machen. Weißt du, was ich darauf gesagt habe? Nichts. Ich war so überfordert und überrumpelt, dass ich einfach nur genickt habe. Wie so ein Trottel. Dann habe ich meinen Auftritt hingelegt und nicht mehr daran gedacht. Ziemlich scheiße, oder? Du warst immer schon ein ziemlich ehrlicher Mensch, Mimi - zum Leidwesen aller, das muss mal gesagt werden. Weißt du noch, wie du mich früher immer runter gemacht und in deinem albernen, amerikanischen Slang gesagt hast, ich wäre »cold as ice«? Ich weiß, du hast es nur aus Spaß gesagt, um mich aufzuziehen. Aber irgendwie lagst du genau richtig damit. Ich war kein guter Freund, Mimi … Ich kann meine Gefühle nicht so gut zeigen. Und das hat sie wohl verschreckt. Rückblickend betrachtet, hat Sora es wirklich lange mit mir ausgehalten. Ich verstehe, dass sie weggelaufen ist. Und was da mit Kouji gelaufen ist, das habe ich wohl verdient. Ich schlucke schwer. So denkt er also über das Ganze? Über sich? Mir tut es in der Seele weh, zu lesen, wie er sich selbst die alleinige Schuld an der Trennung gibt. Das ist unfair. Aber irgendwie kommt es mir bekannt vor … ich bin ja selbst nicht besser. »Ich bin froh, dass ich Sora an dem Abend nicht allein gegenübertreten musste. Und auch, wenn es mir für dich unendlich Leid tut, dass du das mit ansehen musstest, so bin ich doch erleichtert. Endlich ist es raus. Endlich kann ich damit abschließen, denn nun weiß ich, dass sie nicht wiederkommen wird. Ich hoffe für dich, dass du Kouji hinter dir lassen kannst.« Ich atme schwer auf und nehme noch einen großen Schluck aus der Flasche. Wenn er wüsste, was hier vorhin los war. Dass ich Kouji, zumindest gedanklich, noch lange nicht hinter mir lassen kann. Auch wenn mir Yamatos Worte schwer an die Nieren gehen, lese ich weiter. Zum Glück vertieft er das Thema nicht noch mehr. Diese Zeilen sind eine Qual. »Übrigens: weil du mich so frech an der Nase herumgeführt hast, habe ich mir ein kleines Spiel überlegt. Und, weil ich gerne möchte, dass du mir zurück schreibst. Du kennst es sogar, wir haben es früher oft mit Tai und Kari gespielt. Ich komme einfach nicht drüber hinweg, dass ich dir voll auf den Leim gegangen bin. Also, eins zu null für dich, Tachikawa. Jetzt bin ich dran. Wie wäre es also, mit Wahrheit oder Lüge? Nur, um dein Gedächtnis aufzufrischen: ich erzähle dir zwei Geschichten über mich und du musst herausfinden, welche davon gelogen ist. Ich schlucke hart. Wir haben dieses Spiel früher wirklich ziemlich oft gespielt, einfach nur zum Spaß. Jetzt wirkt das Ganze irgendwie ernster, weil Yamato und ich uns nicht mehr so gut kennen wie früher. Im Grunde weiß ich nichts über ihn. Vielleicht möchte er einfach, dass ich ihn besser kennenlerne und das ist seine Art, etwas über sich zu erzählen. Ja, das würde zu ihm passen. Ich rutsche auf meinem Platz hin und her und bin tatsächlich ein bisschen aufgeregt, was er mir gleich über sich verraten wird. Also, fangen wir an: Ein Grund, warum du mit mir ausgehen solltest, ist, dass ich todsterbenskrank bin und nur noch wenige Monate zu leben habe. Wir haben uns so lange nicht gesehen, dass du meine ganze Leidensgeschichte nicht mitbekommen hast. Die jahrelangen Therapien … nichts schlägt mehr an. Ich habe an dem Abend neulich auf der Party keinen Alkohol getrunken, richtig? Meine Leber macht das nicht mehr mit. Ich wäre auf der Stelle tot umgefallen. Deshalb habe ich dich gefragt, ob du mit mir ausgehst - für einen letzten, schönen Abend, mit einer schönen Frau, bevor ich das zeitliche segne. Ich lache laut los. Ist das sein Ernst? Denkt er wirklich, ich kaufe ihm diese Geschichte ab? Ich schüttle den Kopf. Gut lügen konnte er noch nie. Noch ein Grund, warum du mit mir ausgehen solltest: ich gehe bald zur Armee und bin nicht sicher, ob ich Tokyo nicht für immer verlasse und mich für eine lange Zeit verpflichten werde. Hier gibt es nichts, was mich noch hält und ich denke auch nicht, dass ich jemals wieder so eine ernste Beziehung wie mit Sora führen werde. Dafür bin ich nicht geschaffen. Es wäre also die letzte Gelegenheit für dich gewesen, mich noch ein Mal zu sehen, bevor ich von hier verschwinde. ;-) Also, was denkst du? Welche der beiden Aussagen entspricht der Wahrheit? Du bist dran, Prinzessin. Enttäusch mich nicht. Liebe Grüße, Yamato. P.S.: So oder so ist es ziemlich mies von dir, mir einen Korb zu geben, jetzt, wo du das von mir weißt, nicht? Jetzt hoffe ich doch, dass du dich so richtig schlecht fühlst. :-P Ich sinke gegen die Lehne meines Sofas. Grinsend. Das war … erschütternd. Aber auch amüsant. Ich kann nicht fassen, dass er mir geschrieben hat. Ich lese den Brief noch mal und noch mal und bei jedem Mal schmunzle ich ein wenig mehr, als ich an die Stelle komme, wo er schreibt, dass er sich eine Antwort von mir wünscht. Aber bevor ich das tue, trinke ich mindestens noch die halbe Flasche Wein leer. Dann hole ich Stift und Papier, ziehe die Knie hoch aufs Sofa und platziere den Block auf meinen Beinen. »Lieber Yamato, Als aller erstes: das ist so old school! Du schickst mir einen handschriftlichen Brief? Was ist aus Facebook und Twitter geworden? Du hättest mir eine Freundschaftseinladung schicken können. Oder ist es bei der Armee nicht erlaubt, Computer und Handys zu benutzen? ;-) Dass du todsterbenskrank bist, kaufe ich dir einfach nicht ab, sorry. Dafür hast du einen zu fitten Eindruck gemacht. Außerdem treibt sich NIEMAND, der seine letzten Tage zählt, auf einer Retro Party rum, von der er total genervt ist. Warum sollte man das tun? Das wäre Zeitverschwendung und Zeit hättest du nicht. Warum gehst du zur Armee? Erzähl mir davon.« Ich setze kurz ab und lecke mir über die Lippen, während ich schief grinse und mich über meine cleverness freue. Dachte er ernsthaft, er könnte mich auf den Arm nehmen? »Ich denke, ich schulde dir eine aufrichtige Entschuldigung. Tut mir echt leid, das mit der Privinismus-Lüge Wobei ich sagen muss, dass es nicht komplett gelogen war. Ich trage tatsächlich ständig ein Nasenspray mit mir spazieren. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich hätte dir einfach die Wahrheit sagen sollen, dass ich noch nicht bereit für ein Date bin. Jetzt habe ich tatsächlich ein schlechtes Gewissen - danke dafür, Ishida. Offen gestanden, war ich ziemlich überrascht, als ich deinen Brief erhalten habe. Allerdings kam er genau im richtigen Moment. Heute war ein absoluter Scheiß Tag. Kouji war hier - ein letztes Mal - um seine restlichen Sachen abzuholen. Und vielleicht habe ich so was gesagt, wie, dass ich dich vögeln werde, weil du Soras Ex bist und sie ja auch meinen vögelt. Und vielleicht habe ich es durch's ganze Haus gebrüllt. Sorry dafür. Umso schwerer fällt es mir zu glauben, dass ich ausgerechnet jetzt von dir höre. Zufall? Ich denke nicht. Glaubst du an Zufälle, Yamato? Vielleicht war es ja auch keiner, dass wir uns neulich auf der Party begegnet sind. Vielleicht mussten wir genau zu dieser Zeit an diesem Ort sein. Ich verstehe dich. Sehr gut sogar. Aber versuch es mal aus dieser Perspektive zu betrachten: das mit Kouji und Sora tat weh, sehr weh sogar. Nur war es bitter nötig, um mir und DIR die Augen zu öffnen. Sind wir wirklich die Verlierer in diesem Spiel? Ehrlich gesagt kann ich seit dem Vorfall auf der Party nur noch schlecht schlafen. Ich mache mir Gedanken … Vorwürfe. Frage mich, was ich falsch gemacht habe. Sora war früher meine beste Freundin und auch, wenn ich sie seit Ewigkeiten nicht gesehen habe, tut es weh, dass es ausgerechnet sie ist. Kouji hat mir vorhin vorgeworfen, ich wäre stur und verblendet. Ich denke, er hat recht und das war der Grund, warum er sich von mir getrennt hat. Ich bin dickköpfig. So sehr, dass ich manchmal nicht merke, dass ich andere damit vor den Kopf stoße. Außerdem wollte er sich bei mir entschuldigen. Jetzt, wo ich deinen Brief gelesen habe, wünschte ich, ich hätte irgendwie cooler darauf reagiert. Aber ich wurde zickig und kindisch. Tja, Yamato … so, wie es aussieht, haben wir wohl beide Fehler gemacht, oder? Aber ich denke, das ist okay. Wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern. Die beiden sind zusammen und wir können nichts dagegen tun. Sie haben eine Wahl getroffen. Lass uns ebenfalls eine Wahl treffen und nach vorne blicken. Was mich zu deinem Spiel bringt … Ist das dein Ernst? Ich hätte dir auch so geantwortet, allein schon, weil ich es sehr originell finde, einen handschriftlichen Brief zu bekommen. :-) Aber schön, du willst es so. Ich bin gespannt darauf, ob du richtig liegst. Hier kommen zwei Geschichten über mich: Weißt du noch, dass ich früher immer gerne gesungen habe? Das tue ich immer noch, deshalb war ich vor zwei Jahren bei einem Casting für einen Film. Es sollte ein Musical werden. Was mir niemand gesagt hat, war, dass es auch um Sex ging. Vor allem um Sex - denn es war ein Porno. Ein Porno/ Musical, wie absurd ist das denn, bitte? Das es kein normaler Film war, merkte ich jedoch erst, als ich am Set war. Du hättest mein Gesicht sehen sollen, als sie dann meinten, ich könne mich dann nackt ausziehen und mir eine Packung Kondome in die Hand drückten. Ziemlich verrückte Geschichte, oder? Aber es wird noch besser. Wusstest du, dass ich von der Uni geflogen bin? Wie du weißt, habe ich mehrere Jahre lang mit meiner Familie in Amerika gelebt und als ich dann doch meinen Schulabschluss in Tokio gemacht habe, wollte ich Ernährungswissenschaften studieren. Leider fand ich meinen jungen Professor unheimlich attraktiv. Das ging gewaltig nach hinten los. Wir hatten was miteinander, ein Mitschüler bekam es raus und das war's dann mit dem Studium. Das ist mal richtig dumm gelaufen, nicht? Danach habe ich dann angefangen, Pornos zu drehen …« Ich setze den Stift ab und grinse breit. »Scherz. Jetzt hätte ich gerne dein Gesicht gesehen. :-D Okay, zumindest das mit meiner Pornokarriere ist gelogen, so viel kann ich verraten. Der Rest liegt bei dir, Ishida. Danke, für deinen Brief. Er hat mir definitiv dabei geholfen, die Dinge klarer zu sehen. Ich hoffe, es geht dir genauso. Liebe Grüße, Mimi.« Ich beende den Brief und blicke ins Leere, bis mir eine Idee kommt. Lächelnd füge ich noch eine Zeile hinzu: »P.S.: Deine Reise in die Vergangenheit hat mich nostalgisch werden lassen. Ich hoffe, die Plätzchen schmecken dir. Auch wenn wir erst Oktober haben.« Dann springe ich auf und gehe in die Küche. Ich krame sämtliche Zutaten, die ich brauche, aus den Schränken und freue mich, dass ich alles da habe. Ich fange an zu backen und stelle mir dabei Yamato's verdutztes Gesicht vor, wenn er das Päckchen erhält. Er rechnet bestenfalls mit einem Brief als Antwort oder mit gar nichts. Aber er bekommt die volle Mimi-Dröhnung. Als die Plätzchen fertig gebacken, verziert und ausgekühlt sind, verpacke ich sie luftdicht und lege den Brief mit in das Paket. Ich benutze die Absenderadresse von seinem Brief und bringe das Paket gleich zur Post. Da Yamato und ich eine halbe Ewigkeit keinen Kontakt hatten, reizt es mich schon irgendwie zu erfahren, was aus ihm geworden ist. Wir sind nun keine Kinder mehr und wir haben uns im Laufe der Zeit verändert. Ich bin gespannt, wo uns das hinführen wird … Kapitel 3: Musik ---------------- Ich ziehe mir den Schal höher ins Gesicht, als ich am Freitag Abend das Tonstudio verlasse und auf die Straße trete. Inzwischen haben wir Dezember und es ist unfassbar kalt geworden. »Das waren wirklich gute Aufnahmen heute, Mimi«, sagt mein Kollege, der ebenfalls Feierabend macht und klopft mir im Vorbeigehen anerkennend auf die Schulter. »Gute Arbeit.« »Danke, bis nächste Woche«, sage ich lächelnd und mache mich auf den Weg nach Hause. Heute war ein anstrengender Tag. Mein Hals fühlt sich ganz rau an. Da ich schon immer gerne mit meiner Stimme gearbeitet habe und das mit dem Porno Musical damals ja leider nach hinten los ging, habe ich mich irgendwann dazu entschieden, synchron zu sprechen. Erst habe ich das nur nebenbei gemacht, aber inzwischen bin ich so gut darin geworden, dass ich einen Auftrag nach dem anderen erhalte. Es ist schön, wenn man etwas gefunden hat, worin man gut ist und was einem zusätzlich noch Freude bereitet. Als ich zu Hause ankomme, bin ich etwas aufgeregt. Yamato hat mir seit drei Wochen keinen Brief mehr geschickt, weil die Ausbildung in Matsushima anstrengend ist und er nur wenig Freizeit hat. Ich kann immer noch nicht fassen, dass er wirklich zur Armee, genauer gesagt, zur JASDF - der japanischen Air Force, gegangen ist. Mir war klar, dass er schon immer einen kleinen Sprung in der Schüssel hatte - spätestens als er damals vom Dach der Schule gesprungen ist - aber, dass er das wirklich durchzieht, hätte ich nicht gedacht. Irgendwie macht es mich auch ein klein wenig stolz auf ihn, dass er etwas so Sinnvolles mit seinem Leben anfängt. Ich gehe geradewegs auf meinen Briefkasten zu und ein breites Lächeln legt sich auf meine Lippen, als ich ihn öffne und mir ein großer Luftpolsterumschlag ins Auge springt. Ich klemme mir die Post unter den Arm und laufe eilig hoch in meine Wohnung, nur um meine Sachen in eine Ecke zu schmeißen und den Umschlag aufzureißen. Ich lasse mich aufs Sofa sinken, da fällt mir auch schon eine Musikkassette auf den Schoß. Ich drehe und wende sie, als wäre sie aus Gold. Wow, so ein Teil habe ich das letzte Mal gesehen, als ich noch ein Kind war. Aber warum schickt er mir das? Dann falte ich den Brief auseinander, der ebenfalls mit in dem Umschlag lag. Ich bin gespannt darauf, was er geschrieben hat. Irgendwie hat es sich in den letzten Monaten so eingeschlichen. Wir haben immer noch keine Handynummern ausgetauscht, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Alles, was ich von ihm weiß, ist, wo er sich momentan aufhält. »Liebe Mimi, Als Erstes: du hast es sicher schon gesehen, ich habe dir ein Mix-Tape geschickt. Da wir ja so ganz altmodisch Briefe schreiben und Spotify langweilig geworden ist … hier ein paar wirklich, wirklich gute Songs. Einige davon sind ziemlich alt, aber sie sind es Wert, gehört zu werden. Ich hoffe, sie gefallen dir. Ich habe die Playlist selbst zusammengestellt. Betrachte es als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk von mir ;-) Ist es wirklich schon Dezember? Die Zeit hier in Matsushima vergeht so schnell, dass ich das Gefühl habe, seit der Party, auf der wir uns getroffen haben, nur ein mal geblinzelt zu haben. Es ist immer noch anstrengend und das Training ist verdammt hart. Aber ich liebe es. Es war die beste Entscheidung meines Lebens, hierher zu gehen. Wenn ich da oben in der Luft bin, kann ich alles andere um mich herum vergessen. Irgendwann musst du mich hier mal besuchen kommen. Aber erst Mal komme ich an Weihnachten nach Hause, um meine Familie zu sehen. Darauf freue ich mich schon sehr. Ich habe dich neulich im Fernsehen gehört. Klingt komisch, oder? :-D Ich habe die Serie geguckt, von der du mir erzählt hast und deine Stimme sofort erkannt. Du machst deine Arbeit wirklich gut, Tachikawa. Ist doch irgendwie gemein, dass ich deine Stimme hören kann und du meine nicht, oder was meinst du? Vielleicht wäre es doch so langsam an der Zeit, Telefonnummern auszutauschen. Wobei ich momentan so sehr eingespannt bin, dass ich eh kaum zum telefonieren komme. Ob du es glaubst oder nicht, aber ich verstecke mich gerade auf dem Klo, um dir diesen Brief zu schreiben …« Ich lache laut auf. Oh mein Gott. Ich liebe seinen Humor. Deshalb freue ich mich auch immer so sehr, wenn er mir wieder schreibt. Seine Briefe heitern mich auf, sie bringen mich zum Lachen. Diese Leichtigkeit hat mir seit der Trennung von Kouji sehr gefehlt. Ich lese den Brief zu Ende, in dem mir Yamato noch mehr über sein Training und seine Ausbildung erzählt und fragt, was ich die letzten drei Wochen über so getrieben habe. Wie automatisch hole ich danach meinen Schreibblock und einen Stift und setze an, um ihm zu antworten. Doch schon nach der ersten Zeile halte ich inne. Ich werfe einen Blick auf den Kalender an der Wand. Noch fünf Tage, dann ist Heilig Abend. Er sagte, er würde über Weihnachten nach Hause kommen, um seine Familie zu besuchen. Das wäre eine fantastische Gelegenheit, um ihn zu überraschen. Schließlich habe ich seine Adresse und weiß, wo er wohnt. Ich kaue auf meinem Stift herum und überlege kurz, ob ich das wirklich machen soll. Immerhin haben wir bis jetzt nur schriftlichen Kontakt. Was, wenn wir uns privat total ätzend finden? Ich denke darüber nach. Natürlich kann der Besuch in die Hose gehen. Aber … wer nicht wagt, der nicht gewinnt, richtig? Und ich habe, wirklich, wirklich Lust, ihn zu sehen - persönlich. Am Abend vor Weihnachten mache ich mich auf den Weg zu Yamatos Wohnung, in die er seit seiner Ausbildung bei der Air Force nur noch selten zurück kehrt. Ich bin etwas nervös, weil er nichts davon weiß, dass ich gleich vor seiner Tür stehen werde. Ob er sich freuen wird, mich zu sehen? Ich war noch nie bei ihm zu Hause, wir haben noch nie miteinander telefoniert und wir haben uns seit der Retro Party auch nicht mehr gesehen. Alles, was wir haben, sind diese Briefe - und die Hoffnung, dass wir uns irgendwie gut tun. Es dauert nicht lange, bis ich Yamatos Wohnung in dem großen Wohnkomplex in Tokyo gefunden habe. Am Klingelschild steht nur »Ishida«, er wohnt also alleine. Erleichtert atme ich aus. Dann klingle ich, bevor ich es mir anders überlegen kann. Ich warte einige Sekunden lang, doch es macht keiner auf. Ist er vielleicht gar nicht zu Hause? Ich runzle die Stirn und klingle noch mal. Enttäuscht senke ich den Blick, als sich wieder niemand meldet. Ich mache auf dem Absatz kehrt und will schon gehen, als sich plötzlich die Tür hinter mir öffnet. »Äh, hallo?«, höre ich Yamato sagen und ich zucke zusammen. Mein Herz schlägt ganz aufgeregt gegen meine Brust, als ich mich verlegen zu ihm umdrehe. Unsere Blicke treffen sich und ich sehe, wie ihm die Überraschung ins Gesicht geschrieben steht. Er sieht mich an, als hätte er einen Geist gesehen. »Mimi?«, fragt er. »Was machst du hier?« Ja … was mache ich hier? Das ist nicht die Begrüßung, mit der ich gerechnet habe. »Yamato. Hey … ich äh …«, stammle ich und halte schnell das Päckchen in die Höhe, das ich mitgebracht habe. »Ich wollte dir nur schnell was vorbei bringen. Weil du ja sagtest, du wärst über Weihnachten zu Hause.« Verdutzt sieht er erst mich an, dann das Päckchen und dann wieder mich. Schließlich schleicht sich ein kleines, kaum merkbares Grinsen auf sein Gesicht. »Du wolltest mir nur das da geben?«, hakt er nach. »Mehr nicht?« Ich schlucke schwer. Oh, man. Was mache ich hier nur? Ich nicke schwach, doch Yamato lehnt sich lässig gegen den Türrahmen und sieht mich amüsiert an. »Na ja, also, wenn du schon mal hier bist, dann könntest du auch rein kommen. Meinst du nicht?« Wie angewurzelt stehe ich da und sehe ihn an. »Mimi? Was ist jetzt?«, rüttelt er mich wach und ich setze mich in Bewegung. »Klar will ich reinkommen.« Dafür bin ich schließlich hergekommen. Yamato schließt die Tür hinter uns und ich sehe mich kurz in seiner Wohnung um. Es ist eine kleine Wohnung, mit nur einem Schlafzimmer. Aber es ist gemütlich, sehr sogar. An den Wänden hängen alte Schallplatten und hier und da sehe ich ein Foto von ihm und Takeru, seinem jüngeren Bruder. »Ich bin überrascht«, sage ich aufrichtig. »Ich habe mir deine Wohnung immer etwas anders vorgestellt.« »So? Wie denn?« »Hmm, irgendwie … schmutziger?« Yamato lacht auf und tritt hinter mich. »Und ich bin überrascht, dich hier zu sehen. Ich hätte nicht erwartet, dass du her kommst.« Ich atme tief ein, weil er mir ziemlich nahe steht. Dann drehe ich mich zu ihm um und sehe zu ihm auf. »Na ja, ich wusste, du würdest nicht zu mir kommen. Deshalb bin ich zu dir gekommen«, sage ich schulterzuckend. »Woher willst du das wissen?« »Was?« »Dass ich dich nicht besucht hätte.« Yamato tritt einen Schritt zurück und grinst frech. »Tja, nun wirst du das nie erfahren.« Ich zische. »Du bist ein Idiot.« Yamato zuckt mit den Schultern und geht dann in die Küche, die sich direkt im Wohnzimmer befindet. »Ich weiß. Möchtest du eine heiße Schokolade?« »Ja, gerne.« Während ich ihm dabei zusehe, wie er Milch heiß macht und Schokolade einrührt, fällt mir auf, wie gut er aussieht. Ich meine, er war noch nie hässlich oder unattraktiv. Aber … es sind immerhin zehn Jahre vergangen. Er hat sich verändert. Er ist ein richtiger Mann geworden. Das Bild des schmächtigen Jungen mit der E-Gitarre in der Hand, dass ich die ganze Zeit in meinem Kopf hatte, wenn ich seine Briefe gelesen habe, gibt es nun nicht mehr. Yamato hebt den Kopf, als er fertig ist und bemerkt, dass ich ihn die ganze Zeit über beobachtet habe. Seine Mundwinkel zucken. »Was ist da drin?« Mit einer Kopfbewegung deutet er auf das Päckchen, dass ich immer noch in den Händen halte. Ich stelle es auf dem Tisch ab und ziehe nun auch endlich meinen Mantel aus. »Tja, das wirst du nun nie erfahren«, kontere ich und strecke ihm die Zunge raus. Er lacht auf, während ich ihm das Päckchen nun doch rüber schiebe. »Was wohl? Es sind natürlich Plätzchen. Die, die du so gerne hast.« Seine Augen leuchten auf. Was für ein Anblick. Dann stürzt er sich auf das Päckchen und reißt es auf. Seit ich ihm das erste Mal Plätzchen geschickt habe, ist er ganz vernarrt in die Dinger. Kein Wunder. Wenn er wüsste, was für eine Geschichte dahinter steckt … »Und ich habe noch etwas mitgebracht.« Ich ziehe eine Kassette aus der Handtasche. »Das Mix-Tape, das du mir geschickt hast. Ich habe leider keinen Kassettenrecorder, deshalb dachte ich, wir könnten es vielleicht bei dir anhören. So … so wie früher.« Mit gleich zwei Plätzchen im Mund und einem Seufzen sieht er zu mir auf. »Mmh, himmlisch. Äh, ich meine, klar, das können wir gerne machen.« Ich lächle zufrieden. Genau das hatte ich gehofft. »Wenn du weiter so viel davon futterst, wirst du noch Bauchschmerzen bekommen.« Wir liegen in seinem Wohnzimmer auf dem Fußboden, während wir das Mix-Tape anhören. Yamato hat extra seinen alten Walkman ausgekramt, der tatsächlich noch funktioniert. Er gab mir einen Kopfhörer und steckte sich den anderen ins Ohr und nun leckt er sich die Finger zu »Sweet Child O'Mine« von »Guns N' Roses« ab. »Ich kann einfach nicht damit aufhören«, schwärmt er, was mich ein wenig verlegen macht. »Das ist wie eine Sucht. Sie erinnern mich irgendwie an früher.« Ich grinse unsicher und weiche seinem Blick aus, als er mich ansieht, weil ihm gerade etwas auffällt. »Wie hast du das vorhin eigentlich gemeint? Als du sagtest: wenn wir das zusammen anhören, wäre es wie früher?« Ich stütze mich auf meinen Ellenbogen ab. »Das ist dir nicht entgangen, ja?« Er grinst. »Mir entgeht nie etwas.« Fast hätte ich aufgelacht, aber das verkneife ich mir. Die Situation ist eh schon unangenehm genug. Trotzdem räuspere ich mich. »Du weißt es nicht mehr, oder?« Yamato zieht fragend eine Augenbraue in die Höhe. »Nein, was denn?« Oh, man. Er schenkt mir eine Musikkassette und hat ernsthaft keine Ahnung, wovon ich rede. Im Grunde könnte ich beleidigt sein. »Du hast mir mal Nachhilfe gegeben«, erzähle ich ihm, als wäre er nicht selbst dabei gewesen. Jetzt sieht er noch irritierter aus. »Habe ich?« »Ja, du Idiot!«, fauche ich nun doch etwas beleidigt. Wieso weiß er das nicht mehr? »Ich war gerade aus Amerika zurück gekommen und hatte ein paar Probleme beim Lernstoff wieder Anschluss zu finden. Du hast mir mal geholfen, ein Referat vorzubereiten. Erinnerst du dich wirklich nicht mehr daran?« Hoffnungsvoll sehe ich ihn an, doch Yamato runzelt nur mit der Stirn. Dann weiten sich seine Augen und er schnippt mit dem Finger. »Jaah, aber natürlich«, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. »Du konntest dich überhaupt nicht konzentrieren und hast nicht einen vernünftigen Satz zustande gekriegt.« Jetzt verzieht sich sein Mundwinkel zu einem amüsierten Lächeln, während ich erröte, weil ich mich noch sehr genau daran erinnern kann, wie furchtbar dämlich ich mich angestellt habe. »Richtig«, stimme ich ihm trotzdem zu. »Du meintest, ich soll mich mal etwas entspannen und hast mir dann …« » … ich habe dir mein Mix-Tape gezeigt. Wir haben es zusammen angehört. Genau wie jetzt gerade, auf dem Fußboden.« Ich nicke lächelnd und sehe in Yamatos Gesicht, während hinter seinen Augen genau dieselben Erinnerungen aufflackern wie bei mir. »Ja, deswegen dachte ich, das wäre der Grund, warum du mir dieses Mix-Tape geschenkt hast«, sage ich, doch er verzieht nur peinlich berührt das Gesicht. »Oh Gott«, nuschelt er. »Ehrlich gesagt hatte das gar nichts damit zu tun. Ich fand es einfach eine schöne Idee. Aber jetzt, wo ich mich wieder daran erinnern kann, ist es schon ziemlich cool. Und auch ein bisschen romantisch, findest du nicht?« Er grinst breit und wirft mir einen triumphierenden Blick zu, woraufhin ich auflache und ihm gegen den Oberarm schlage. »Du bist so albern.« »Gleichfalls. Was ist eigentlich aus unserem Spiel geworden?« »Du meinst, Wahrheit oder Lüge?« Er sieht mich herausfordernd an. »Ja, das haben wir lange nicht gespielt.« Ich lege den Kopf schief und schürze die Lippen. »Willst du das wirklich spielen? Du warst nicht besonders gut darin. Bis jetzt habe ich viel öfter gewonnen als du«, reize ich ihn, was ihn nur noch mehr anstachelt. Er grinst schief. »Nur, weil ich dich immer habe gewinnen lassen, du freche Göre.« »Sicher, genau so war es«, lache ich und zucke dann mit den Schultern. »Gut, wenn du die Demütigung ertragen kannst. Aber ich fange an.« »Klar, bitte«, überlässt er mir den Vortritt und sieht mich erwartungsvoll an, während ich rasch überlege, welche Lüge ich ihm auftischen könnte. Mit der Wahrheit verhielt es sich ähnlich schwierig. Durch unsere zahlreichen Briefe wusste er ohnehin schon ziemlich viel, doch ich wollte noch nicht alles von mir preisgeben. »Ich habe mal eine streunende Katze bei mir aufgenommen. Sie war einer Nachbarin entlaufen, was ich allerdings erst später erfahren habe. Als ich es wusste, habe ich die Katze trotzdem noch über eine Woche bei mir behalten, weil ich mich nicht von ihr trennen konnte.« Yamato wirkt schockiert. »Puh, das ist ziemlich fies, Mimi.« »Warte, es kommt noch schlimmer«, sage ich verheißungsvoll und lehne mich weiter nach vorne, als würde ich ihm gleich mein schlimmsten Geheimnis anvertrauen. »Als ich noch bei meinen Eltern gewohnt und nur Taschengeld bekommen habe, wollte ich mir unbedingt ein Shirt kaufen, hatte aber kein Geld mehr dafür. Also habe ich es geklaut - und wurde erwischt. Ich habe so getan, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf, das hat den Verkäufer wohl verunsichert und er hat mich laufen lassen. Meine Eltern wissen bis heute nichts davon.« Yamato prustet los und nickt dann schwergewichtig. »Das ist einfach. Die erste Geschichte ist gelogen und die zweite wahr. Du würdest niemals so egoistisch handeln und etwas für dich behalten, obwohl du weißt, dass es anderen weh tut. Aber du fährst total auf Klamotten ab. Kann mir gut vorstellen, dass du deine Finger nicht bei dir behalten konntest und das Teil geklaut hast. Ja, das passt zu dir.« Ich seufze. Dann hole ich tief Luft. »Falsch.« Yamato reißt die Augen auf. »Falsch?« Ungläubig zieht er die Augenbrauen in die Höhe. »Du hast ernsthaft eine Katze behalten, obwohl du wusstest, dass sie dir nicht gehört und ihre Besitzer sie suchen?« Er wirkt ehrlich schockiert über diese Erkenntnis und kurz bereue ich es, dass ich ihm etwas derart Schlechtes von mir erzählt habe. »Tja, was soll ich sagen?«, meine ich und streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich bin nicht stolz drauf, aber niemand ist perfekt, oder? Ich kann ziemlich egoistisch sein, wenn ich will. Das ist eine meiner schlechten Eigenschaften. Und ich wusste, du würdest mir die Nummer mit dem geklauten Shirt eher glauben, als das.« Irgendwie erwarte ich, dass er jetzt keine Lust mehr hat, zu spielen, weil wir bisher immer nur lustige oder positive Geschichten erzählt haben. Doch dann entspannen sich seine Gesichtszüge wieder und er lächelt sanft. »Okay, das hat mich jetzt wirklich überrascht.« »Tut mir leid«, sage ich schulterzuckend, dann nicke ich ihm zu. »Du bist dran.« »Puh, okay«, sagt er und rollt sich auf den Rücken, um an die Decke zu starren. Er überlegt ziemlich lange, während ich ihn dabei beobachte und mich frage, was gerade in seinem Kopf vorgeht. Schließlich grinst er. »Mir ist mal die Badehose gerissen, im Schwimmbad.« Ich keuche auf. »Oh Gott.« »Ja, das war ziemlich peinlich«, lacht er. »Ich musste mir ein Schwimmbrett davor halten, um irgendwie wieder zurück in die Umkleidekabine zu kommen. Ein paar Mädchen haben das gesehen und mich ausgelacht. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.« »Das glaube ich sofort«, lache ich auf. Auch Yamato grinst bei der Vorstellung daran, doch sein Lachen erstirbt, als ich ihn nach der zweiten Geschichte frage. »Und weiter?« Warum sieht er plötzlich so ernst aus? Wieder überlegt er. Doch diesmal wirkt sein Gesichtsausdruck beinahe so, als müsste er körperliche Schmerzen aushalten. Er presst die Kiefer aufeinander und ich spüre, wie ich mich anspanne. Ich ahne schon, dass gleich etwas kommt, dass ich nicht hören will. »Ich wünschte, ich wäre niemals mit Sora zusammengekommen.« Oh mein Gott. Ich schlucke hart. »Manchmal wünschte ich einfach, dass sie damals nie zu diesem verfluchten Konzert gekommen wäre. Dass sie mir niemals diese verfluchten Plätzchen geschenkt hätte und dass sie mir niemals ihre Gefühle gestanden hätte. Dann hätte ich mir den ganzen Schmerz ersparen könne, weil sie mich ja letztendlich doch nur verlassen hat.« Ach du scheiße. Mir läuft es eiskalt den Rücken runter und ich muss mich anstrengen, um die Fassung zu wahren. Eine ganze Weile sagt keiner was von uns. Wir hören einfach nur die Musik, die immer noch aus den Kopfhörern klingt. Diese bedrückende Stille ist kaum auszuhalten. »Hmm«, mache ich schließlich irgendwann und räuspere mich. »Ich würde sagen, dass die erste Geschichte wahr ist.« Yamato sieht immer noch ausdruckslos zur Decke. Dann zeichnet sich ein leichtes Grinsen auf seinen Lippen ab. »Natürlich. Verdammt, du hast schon wieder gewonnen.« Er rollt sich wieder zurück auf den Bauch, um mich anzulächeln und jegliche negativen Schwingungen, die eben noch wie eine dunkle Wolke über uns schwebten, sind verschwunden. »Tja, ich sagte doch, dass du keine Chance hast.« Der Song, der eben läuft, verklingt und ein neues Lied beginnt. Ich keuche auf. »Was ist?«, fragt Yamato erschrocken, als er meine geweiteten Augen sieht. »Das ist einer meiner Lieblingssong. Woher wusstest du das?« Yamato lacht auf. »Pure Intuition. Oder einfach nur Glück.« Ich kann mich nicht halten und wippe im Takt mit, während meine Finger ungeduldig auf den Boden trommeln. Dann schließe ich die Augen und singe. »I've been wandering around the house all night, wondering what the hell to do. But I'm trying to concentrate but all I can think of is you.« Ich bin voll in meinem Element, singen habe ich schon immer geliebt. Plötzlich spüre ich, wie Yamato nach meiner Hand greift und mich auf die Beine zieht. Etwas perplex sehe ich zu ihm auf, während er mich an sich zieht und beginnt zu tanzen. Dann singt er die zweite Strophe des Liedes und ich bekomme eine Gänsehaut, weil er so eine schöne Stimme hat. Wir tanzen und drehen uns im Kreis, was mich auflachen lässt. Beim Gitarrensolo in der Mitte lässt er meine Hand los und wir hüpfen wild herum, wie kleine Kinder. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viel Spaß hatte. Mit ihm fühlt es sich so leicht an. So einfach. So natürlich. Bei der letzten Strophe zieht er mich wieder an sich und nun singen wir beide aus voller Kehle. »Baby, when you're gone, I realize I'm in love. Days go on and on and the nights just seem so long.« Wir sind so laut, dass sogar noch die Nachbarn was davon haben werden, da bin ich mir sicher. Aber das ist uns egal. Als das Lied endet, lachen wir und fallen uns in die Arme. »Das hat Spaß gemacht«, sage ich immer noch breit grinsend an seine Brust gelehnt. »Ich hatte ganz vergessen, dass du so gut singen kannst.« Yamato lacht. »Gleichfalls, Goldkehlchen.« Wir hören das Mix-Tape noch zu Ende, danach bestellt Yamato uns eine Pizza und wir essen gemeinsam zu Abend. Als es schließlich spät geworden ist und ich mich verabschieden muss, werde ich plötzlich sentimental. Das soll es jetzt schon gewesen sein? Ein paar gemeinsame Stunden, mehr nicht? »Es war wirklich schön, dich zu sehen«, sage ich, während wir beide im Türrahmen stehen. »Weißt du schon, wann du wieder mal hier sein wirst?«, frage ich und versuche dabei nicht all zu viel Hoffnung heraushören zu lassen. Yamato fährt sich durch die blonden Haare und zuckt mit den Schultern. »Die Ausbildung lässt nicht viel Freizeit zu. Aber in ein paar Monaten habe ich Urlaub, dann komme ich nach Hause.« In ein paar Monaten … Ich versuche mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und grinse stattdessen. »Gut. Dann bis bald. Grüß Takeru von mir, wenn du ihn morgen besuchst.« Wir umarmen uns eine Sekunde zu lang und am liebsten würde ich ihm sagen, wie schwer es mir fällt, ihn wieder ziehen zu lassen. Verdammt. Ehe ich es richtig realisiert habe, hat er sich in mein Herz geschlichen. Wie konnte das nur passieren? Wie konnte ich das nur zulassen? Das ist nicht gut. Gefühle auf Distanz sind niemals gut - einseitige schon gar nicht. »Mach's gut«, verabschiede ich mich und will gehen, doch Yamato hält meine Hand fest. »Warte«, sagt er und kommt einen Schritt auf mich zu. Ich weiche unwillkürlich zurück, als er sich hinab beugt, dann aber einfach nur in meine Hosentasche greift und mein Handy hervor holt. Mit einem Grinsen tippt er darauf herum. Ich runzle die Stirn, als er es mir wieder überreicht. »Hier. Meine Nummer.« Überrascht sehe ich auf mein Telefon und auf die Nummer, die er eben eingegeben hat. »Du kannst dich immer bei mir melden, wenn dir danach ist.« Ich sehe zu ihm auf und mir wird ganz schwer ums Herz. Ich möchte so sehr, dass er bleibt. Das tut weh. »Das mache ich, danke.« Wir lächeln uns an, als wäre alles gut, aber das ist es nicht. Nicht mehr. Dann drehe ich mich um und gehe, ohne noch mal zurück zu blicken. Kurz und schmerzlos. Weil es so das beste ist … für uns beide. Kapitel 4: Uniform ------------------ Es ist Frühling geworden in Matsushima. Es kommt mir vor, als würde ich in einer Zeitkapsel leben. Manchmal fühle ich mich wie in einer Blase, während das Leben da draußen an mir vorbei zieht. Ich tue nichts, außer lernen und fliegen - das ist es, was ich immer wollte. Der Himmel gibt mir die Freiheit, nach der ich mich immer gesehnt habe. Die Ausbildung ist hart, schon vom ersten Tag an. Aber ich bereue es nicht. Keine Sekunde. Was ich bereue, ist, dass ich zwei Menschen in mein Leben gelassen habe, die nun nicht mehr Teil davon sind. Die mich verletzt haben. Sora. Als ich die Ausbildung bei der Japan Air Self-Defense Force begonnen habe, habe ich die ganzen Altlasten mit mir rumgeschleppt. Ich bin vor ihr geflohen, doch sie war immer in meinem Kopf, begleitete meine Gedanken. Mit der Zeit wichen diese Gedanken anderen Gedanken. Plötzlich war da Mimi. Seit unserem Wiedersehen musste ich an sie denken und je mehr Briefe wir uns schrieben, umso mehr Platz nahm sie in meinem Kopf ein. Doch dabei blieb es nicht - leider. Kurz vor Weihnachten besuchte sie mich zu Hause und wir verbrachten nur ein paar Stunden miteinander. Ein paar Stunden, die ausreichten, um seitdem permanent an sie denken zu müssen. Ich hasse das! Doch was ich noch mehr hasse, ist, dass sie sich seitdem nicht mehr gemeldet hat. Kein. Einziges. Mal. Ich habe ihr Briefe geschrieben, mehrfach. Ich habe ihr sogar meine Nummer gegeben, doch sie rief kein einziges Mal an. Nachdem ich vier Wochen lang kein Lebenszeichen von ihr erhalten habe, wurde ich unruhig und dachte, ihr könnte etwas zugestoßen sein. Doch ein Blick auf die Website ihrer Firma, wo angekündigt wurde, dass sie bald einen großen Kinofilm synchronisieren würde, inklusive aktuellem Foto aus dem Tonstudio genügte, um die Wahrheit zu erkennen: sie wollte keinen Kontakt mit mir. Aber warum? Was war geschehen? Hatten wir nicht so was wie eine Verbindung? Und ich meine nicht nur, weil unsere Ex-Partner miteinander schliefen. Seit ich wusste, dass sie mich offensichtlich mied, hörte ich auf, ihr Briefe zu schreiben. Jetzt ist es Ende März und ich habe immer noch kein Wort von ihr gehört. Das tut weh. Ich frage mich die ganze Zeit, was ich getan haben könnte, um sie zu verschrecken. Oder … vielleicht ist es einfach … vielleicht hat sie einen Freund und möchte mir deshalb nicht mehr schreiben. Aber dann könnte sie das wenigstens sagen. Mich derart im Unklaren zu lassen ist einfach nur beschissen. Ich bin wütend auf sie, weil sie das, was wir hatten, einfach so wegwirft - ohne eine Erklärung. Aber vielleicht habe ich mir auch einfach nur eingebildet, dass da was Besonderes zwischen uns ist. Gerade steige ich aus meinem Flieger, weil die Jungs und ich den ganzen Nachmittag Training hatten. Beim Fliegen habe ich mich etwas abreagiert, doch das hält nicht lange an. Ein Kollege der anderen Staffel kommt durch die Fliegerhalle auf mich zugelaufen. »Hey, Yamato?« »Was gibts?«, frage ich, nachdem ich meinen Helm abgenommen habe. Warum sieht er so aufgewühlt aus? »Da … da ist jemand für dich«, sagt er und deutet immer wieder hinter sich. Ich werfe einen Blick über seine Schulter, kann aber niemanden ausfindig machen. Besuch für mich? Kann nicht sein. Mich hat noch nie jemand in Matsushima besucht. »Ich habe versucht, sie aufzuhalten, Bro, ehrlich«, stammelt er und läuft rot an. »Aber sie hat mir gedroht, sie würde mich an den Eiern packen und so lange zudrücken, bis ich nach meiner Mama schreie. Man, die hat mir echt Angst gemacht. Die ist völlig verrückt.« Entsetzt sieht er mich an, während ich mir nur gegen den Kopf schlage. »Alles klar, danke für die Info. Ich bin gleich wieder da.« Ich drücke ihm meinen Helm in die Hand und stürme aus der Halle. Und dann sehe ich sie auch schon. Angsteinflößend sieht sie jedenfalls nicht aus, so wie sie da in ihrem hellblauen, knielangen Kleid steht. Aber dafür löst ihr unerwartetes Auftauchen ganz andere Gefühle in mir aus. »Das hier ist Trainingsgelände, das weißt du, oder?«, kommt es forsch von mir, anstatt einer Begrüßung. »Du kannst hier nicht einfach rum spazieren.« Schnellen Schrittes gehe ich auf Mimi zu und bleibe direkt vor ihr stehen. »Ich muss dich bitten, auf der Stelle zu gehen. Es wird nicht gern gesehen, wenn Außenstehende sich hier aufhalten.« Ihr Blick wandert an mir hinab und dann wieder zurück zu meinen Augen. Ein zartes Lächeln umspielt ihre Lippen und lässt mich innerlich ausflippen - vor Wut. Wie kann sie nur hier stehen und mich anlächeln, nachdem sie mich ewig ignoriert hat? »Du siehst gut aus, in deiner Uniform«, sagt sie und streicht sich eine offene Haarsträhne hinters Ohr. Ich verschränke die Arme vor der Brust und entgegne ihrem sanftmütigen Blick eine Spur zu hart. »Es ist gefährlich, hier rum zu laufen. Du könntest verletzt werden.« Wie auf Kommando hebt ein Flieger in einiger Entfernung gen Himmel ab. Wir verfolgen ihn beide mit den Augen, bis wir wieder einander ansehen. Sie macht den Eindruck, als wäre nichts gewesen, was mich innerlich zum Kochen bringt. »Willst du gar nicht wissen, warum ich hier bin?«, fragt Mimi mich. Ich schnaufe verächtlich. »Und danach? Gehst du mir dann wieder monatelang aus dem Weg?« »Okay«, meint sie nun nickend und lässt geknickt den Kopf sinken. »Das hab ich wohl verdient.« »Und noch mehr als das. Hast du eine Ahnung, wie beschissen es war, die ganze Zeit über nichts von dir zu hören?«, platzt es aus mir heraus. Sie sieht, wie wütend ich bin und wirkt nun noch frustrierter. »Ich weiß«, gibt sie leise zu und seufzt. »Ich könnte sagen, ich habe mein Handy verloren, aber … das wäre gelogen.« Bei diesen Worten lasse ich die Zunge schnalzen und trete unruhig von einem Bein auf das andere. Ihre Aufrichtigkeit verletzt mich. Und das weiß sie. Warum tut sie das? »Es tut mir leid, Yamato, wirklich. Mich einfach nicht mehr zu melden, war … sehr egoistisch von mir. Ich habe all deine Briefe gelesen und dir einfach nicht mehr geantwortet. Das ist ziemlich unfair.« Am liebsten würde ich sie anschreien, aber ich bewahre die Fassung, auch wenn es weh tut. »Da hast du recht. Das war unfair. Ich würde dich ja gerne fragen, warum du das getan hast, aber irgendwie habe ich keine Lust dazu. Ich will es gar nicht wissen.« Okay, das hat gesessen. Mimi nickt wieder. Dann sieht sie traurig zu mir auf. Eine Träne glitzert in ihrem Augenwinkel und schlagartig tut es mir leid, dass ich so ein Arschloch bin. »Ich bin auch eigentlich nur gekommen, um dir das zu geben«, sagt sie und zieht einen Umschlag aus ihrer Handtasche. »Ich habe es nicht fertig gebracht, dir das zu schreiben oder es dir am Telefon zu sagen. Aber ich finde trotzdem, du solltest es wissen. Ich habe sie vor einer Woche erhalten.« Ich nehme den Umschlag entgegen, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Gut, dann hast du das ja jetzt erledigt«, entgegne ich kühl. Ich kann sehen, wie sehr sie sich vor den Kopf gestoßen fühlt. Aber mir geht es nicht anders und das soll sie wissen. »Gut«, sagt sie ebenfalls. »Ciao, Yamato.« Traurig wendet sie sich ab und geht. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, aber wahrscheinlich ist es einfach besser so. Es war sowieso eine dumme Idee, es so weit kommen zu lassen. Ich habe keine Lust, erneut verletzt zu werden. Ich schaue auf den Umschlag in meiner Hand und öffne ihn. Mir wird klar, dass es etwas ziemlich Wichtiges sein muss, wenn sie deshalb diesen weiten Weg auf sich genommen hat. Mein Herz verkrampft sich noch mal und jetzt tut es doppelt so weh, als ich die Worte »Wir heiraten!« lese. Daneben ein Bild von Kouji … und Sora. Oh mein Gott. »Warte!«, rufe ich prompt. Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. Sofort sehe ich, wie traurig sie aussieht und jetzt weiß ich auch, warum. Es ist nicht wegen mir. Es ist … deshalb. »Lass uns reden, Mimi.« Ich versuche meine Gedanken zu ordnen, während wir spazieren gehen, aber es will mir einfach nicht gelingen. Sora und Kouji werden heiraten? Gott, ich weiß gar nicht, wie ich darüber denken soll. Geschweigedenn wie ich fühlen soll. Diese Nachricht hat mich offengestanden echt umgehauen. »Du hast es also letzte Woche erfahren?«, frage ich Mimi und sie nickt. »Ja. Erst habe ich gedacht, es wäre ein schlechter Scherz. Doch als ich Sora dann angerufen habe, um sie anzuschreien, hat sie geweint und meinte, dass sie alle ihre alten Freunde einlädt und sie sich sehr wünscht, dass ich komme. Die Tatsache, dass sie meinen Ex-Freund heiratet, hat sie dabei völlig außer Acht gelassen.« Ich schlucke schwer. All ihre alten Freunde? Außer mich, so wie es aussieht. Aber wir waren ja auch schon lange keine Freunde mehr. »Das … ist hart«, bringe ich mit trockener Kehle hervor. »Wenn du mich fragst, hat sie völlig den Verstand verloren, wenn sie denkt, du würdest wirklich zu ihrer Hochzeit kommen.« »Ehrlich gesagt überlege ich hinzugehen.« Abrupt bleibe ich stehen. Mir klappt der Mund auf. »Was?« Mimi zuckt mit den Schultern, als wäre es keine große Sache, doch das ist es. »Das wäre pure Folter für dich, Mimi. Das ist dir doch klar, oder?« »Ich habe eher gedacht, es könnte eine Art Selbsttherapie sein«, eröffnet sie mir, doch ich zweifle gerade ernsthaft an ihrem Verstand. »Die Trennung von Kouji hat mich ziemlich fertig gemacht und ich habe mich so lange schlecht deswegen gefühlt. Es wäre eine Chance, endlich loszulassen. Konfrontation ist vielleicht die beste Heilung. Ich muss einsehen, dass er und Sora … na ja, dass die beiden anscheinend füreinander bestimmt sind.« Zweifelnd schüttle ich den Kopf und kann nicht fassen, dass sie das ernsthaft in Erwägung zieht. »Wenn du mich fragst, ist das eher Selbstmord als Selbsttherapie. Ich würde es an deiner Stelle nicht tun.« Aber ich bin ja auch nicht eingeladen. »Wie geht es dir dabei?«, wechselt sie plötzlich das Thema. Soll ich ehrlich sein? »Ich weiß nicht«, antworte ich unentschlossen. »Ich denke, es sollte mir inzwischen egal sein. Unsere Trennung ist länger her, als die von Kouji und dir. Aber im Grunde wurmt es mich trotzdem. Es tut weh, zu wissen, dass ich nicht der Mensch sein konnte, den sie gebraucht hat. Ich wünschte manchmal wirklich, ich hätte uns beiden das alles erspart und mich damals nicht auf sie eingelassen, als wir noch Teenager waren. Das wäre wohl besser für uns beide gewesen.« Ich werfe einen Blick zu Mimi, die kommentarlos neben mir hergeht und nicht mit der Wimper zuckt. Aber ich sehe an ihrer ganzen Haltung, wie angespannt sie ist. »Hast du Lust, was trinken zu gehen?«, frage ich, obwohl ich das eigentlich nicht vorhatte. Aber aus irgendeinem Grund habe ich Angst, dass sie sonst wieder verschwindet. Sie seufzt, schenkt mir dann jedoch ein dankbares Lächeln. »Und wie.« Ich lächle zurück, nehme ihre Hand und breche somit das Eis zwischen uns. Zwei Stunden später sind wir in der einzigen Bar versackt, die es in der Gegend gibt. Wir versuchen, unseren Frust in Alkohol zu ertränken und bis jetzt, funktioniert das ganz gut. »Wahrheit oder Lüge?«, fragt Mimi mich und kippt den fünften Shot runter, ehe sie das Glas auf den Tisch knallt. Ich tue es ihr gleich und sehe sie dann herausfordernd an. »Okay, schieß los!« Mimi räuspert sich, doch dann muss sie zeitgleich aufstoßen, woraufhin ich lospruste. Peinlich berührt hält sie sich die Hand vor den Mund, dennoch kichert sie angeheitert, was echt süß ist. »Tut mir leid.« »Ich bitte dich«, zische ich. »Ich verbringe seit Monaten meine Zeit fast ausschließlich mit Männern. Ich denke, ich habe Schlimmeres gehört und gesehen.« Abwehrend hält Mimi die Hände hoch und schüttelt so kräftig mit dem Kopf, dass ihre Haare fliegen. »Nein, nein, nein, das will ich gar nicht wissen!« Ich grinse und bestelle und noch zwei Shots. »Na gut«, sagt Mimi schließlich und beugt sich weiter über den Tisch. »Wahrheit oder Lüge, Yamato? Ich finde, deine Uniform …«, sie deutet mit dem Finger auf mich. » … echt wahnsinnig sexy.« Ich nicke anerkennend. »Schön, dass es dir aufgefallen ist.« »Warte, ich bin noch nicht fertig«, unterbricht sie mich und lehnt sich mir nun so weit entgegen, dass ihre Lippen mein Ohr berühren. Dann flüstert sie: »Ich habe kein Höschen an.« Wie vom Donner gerührt sitze ich da und starre sie perplex an, während sie sich zurück in ihren Stuhl fallen lässt und triumphierend die Arme vor der Brust verschränkt. »Gott«, stöhne ich und reibe mir übers Gesicht. »Es tut jetzt schon weh, dass eins davon eine Lüge ist.« Mimi muss fast lachen, während ich noch mit mir kämpfe. »Na, schön«, sage ich schließlich und verziehe das Gesicht. »Da ich weiß, wie gemein du sein kannst, befürchte ich, dass die erste Aussage gelogen ist und du mich mit der zweiten Tatsache in den Wahnsinn treiben willst.« Mimi verschränkt die Beine und zischt. »Pfft, als ob ich kein Höschen anhabe. Yamato, ich bitte dich. Was denkst du von mir?« Erleichtert werfe ich den Kopf in den Nacken. »Gott sei Dank. Moment mal …« Ich werfe ihr einen wissenden Blick zu. »Das heißt, du findest mich wirklich sexy?« Lachend verdreht sie die Augen, wirkt jedoch ein bisschen ertappt. »Ich habe gesagt, ich finde deine Uniform sexy - nicht dich.« »Oh, schon klar«, entgegne ich grinsend, während sie meinem Blick ausweicht. »Willst du sie mal anprobieren?« Fragend sieht sie mich an. »Was?« »Meine Uniform? Ich würde zu gerne wissen, wie sie an dir aussieht.« Jetzt wird sie rot, doch zu meiner Überraschung nickt sie. »Okay, warum nicht?« Ich nehme sie mit auf mein Zimmer, was eigentlich nicht erlaubt ist und mir eine Menge Ärger einhandeln wird, wenn irgendjemand mitkriegt, dass eine Frau hier ist. Diese Regeln sind so was von beschissen, aber unsere Ausbilder wollen, dass wir uns auf das Training konzentrieren und am Morgen fit sind. Allerdings habe ich so eine Ahnung, dass daraus morgen nichts wird. »Du kannst dir gerne irgendeine nehmen«, sage ich zu Mimi, während sie meinen Kleiderschrank durchwühlt, als wäre es super spannend. Dabei sehen ja alle gleich aus. Sie dreht sich zu mir um und lächelt. »Kann ich sie behalten?« Ich lehne mit verschränkten Armen an der Wand gegenüber und lege zweifelnd den Kopf schief. »Ich denke, das würde ziemlichen Ärger geben.« »Wieso?«, fragt sie unverständlich. »Es muss ja keiner erfahren. Ich habe ja nicht vor, sie beim Einkaufen zu tragen, oder so.« Bei dieser Vorstellung muss ich lachen. »Na, schön. Dann such dir eine aus.« Kurz hält sie inne und überlegt. Dann klappt sie den Schrank zu, ohne etwas herausgenommen zu haben. Ich sehe sie stirnrunzelnd an, als sie zu mir rüber kommt. »Gut, ich nehme die hier.« Ihr Finger landet auf meiner Brust und sie schaut mich mit großen Augen an. Etwas Unergründliches liegt in ihrem Blick. Etwas, von dem ich dachte, es schon ein mal bei ihr gesehen zu haben. Mein Herz zieht sich schmerzvoll zusammen, weil sie mir so nah ist, dass ich sie körperlich spüren kann, jedoch nicht wage sie auch zu berühren. »Treib keine Spielchen mit mir«, entgegne ich flüsternd und sie lässt die Hand sinken. »Das hatte ich nie vor.« »Wieso hast du's dann getan?« Die Frage kommt mir schneller über die Lippen als beabsichtigt. Aber jetzt, wo sie hier ist … wo sie endlich wieder vor mir steht … muss ich es einfach wissen. Mimi seufzt. »Ich habe dich nicht ignoriert, weil ich dich nicht mehr leiden kann, Yamato«, offenbart sie mir. »Ich habe mich nicht mehr bei dir gemeldet, weil ich mir selbst nicht über den Weg getraut habe.« Ich schüttle den Kopf, unzufrieden mit dieser Antwort. »Was, zum Teufel, soll das heißen?« »Es soll heißen, dass ich dich ziemlich gern habe und zwar mehr, als mir lieb ist. Mehr als es für uns beide gesund ist.« Dann hebt sie den Kopf und sieht mir direkt in die Augen. »Ich hatte Angst, dass das, was wir hatten, vielleicht irgendwann zu tief gehen könnte. Und wir uns dann in etwas verrennen, was wir nur bereuen können. Wir haben uns so gut verstanden, ich … ich wollte das nicht kaputt machen.« Oh, Gott. Dieses Geständnis lässt mich aufatmen. Ich hebe eine Hand und lege sie an ihre Wange. Sie zuckt unter meiner Berührung zurück, lässt es dann jedoch zu. »Du bist so dumm«, sage ich flüsternd und sie verengt die Augen zu zwei schmalen Schlitzen. Ich kann nicht anders, ich muss grinsen. Dann küsse ich sie. Ihre Lippen sind so weich, wie ich es mir schon lange vorgestellt habe. Ich kann sie sehr gut verstehen - alles, was sie gesagt hat, ergibt einen Sinn. Auch ich habe Angst, mich wieder zu öffnen und etwas kaputt zu machen, was doch schon gut war und gut hätte bleiben können. Aber nun, da diese letzte Grenze überschritten ist, gibt es kein Zurück mehr. Wir küssen uns weiter und ihre Hände gleiten über meine Brust, während meine auf ihren Hüften landen und ich sie enger an mich ziehe. Jetzt will ich sie so sehr spüren, dass es fast schon körperlich weh tut. So lange nichts von ihr zu hören, war eine Qual und ich habe das Gefühl, eine Menge aufholen zu müssen. Ich dränge sie in Richtung Bett, doch plötzlich schiebt sie mich von sich. Ihr Mund löst sich von meinem und hinterlässt eine Kälte auf meinen Lippen, die mir gar nicht gefällt. Und da ist noch etwas, das mir nicht gefällt - ihr Blick. »Was hast du?«, frage ich verwirrt, weil doch für ein paar Minuten alles perfekt war. Doch ihr Gesicht verrät mir, dass nur ich so empfinde. Mitleidig sieht sie mich an. »Yamato, ich muss dir etwas sagen«, wispert sie und reibt sich mit den Händen übers Gesicht, ehe sie schwer ausatmet. »Und ich weiß, dass du mich dann hassen wirst.« Ich runzle die Stirn und mache einen Schritt auf sie zu. »Was redest du da? Ich könnte dich niemals hassen.« Ihr gequälter Gesichtsausdruck versichert mir das Gegenteil und mit einem mal macht sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend breit. »Ich wollte es dir schon lange sagen, aber habe mich nicht getraut«, sagt Mimi. »Meine letzte Beziehung bestand größtenteils aus Lügen und Halbwahrheiten und schau, wohin es mich geführt hat. Ich will nicht, dass es bei dir auch so wird. Ich möchte keine Geheimnisse zwischen uns.« Ungeduldig sehe ich sie an. »Was soll das bedeuten?« Sie soll doch keine Spielchen mit mir spielen. Mimi strafft ihre Schultern und sieht mir nun direkt in die Augen. »Das soll heißen, dass ich es damals war, nicht Sora. Sie wollte dir nie ihre Gefühle gestehen. Ich habe sie dazu ermutigt. Ich habe sie dazu gebracht. Ich habe für sie die Plätzchen gebacken und sie gedrängt, sie dir zu geben. Das war alles ich.« Ich kann nicht verhindern, dass mir der Mund aufklappt. Was erzählt sie mir da? Sie war es gewesen? Mimi war der Grund dafür, dass ich damals mit Sora zusammengekommen bin? Sie hatte das alles eingefädelt? Sora hatte mir das Herz gebrochen und beinahe hätte ich mich auf die Frau eingelassen, die für das Ganze verantwortlich war. Das ist zu viel. Sie weiß, wie sehr ich mir wünsche, ich wäre niemals mit Sora zusammen gekommen. Ich schlucke schwer, während die Worte immer noch zu mir durchsickern und mir klar machen, was da damals hinter meinem Rücken abging. Ich komme mir vor, wie eine lächerliche Schachfigur auf einem Spielfeld. Jetzt ist nicht nur das Ende unserer Beziehung ein Drama gewesen, sondern auch der Anfang beruht auf nichts weiter als einer Lüge. Ich kann mir das nicht länger antun. »Yamato«, höre ich Mimi flüstern. »Es tut mir so leid.« Sie kommt einen Schritt auf mich zu und will nach meiner Hand greifen, doch ich ziehe sie zurück. Dann sehe ich sie mit festem Blick an und zeige ihr gegenüber zum ersten Mal das kaltherzige Arschloch, das ich in Wahrheit bin. »Verschwinde!« Ihre Augen weiten sich. »Was?« »Verschwinde!«, wiederhole ich und sehe sie mit all der Härte an, die ich aufbringen kann. »Raus hier, ich will dich nicht mehr sehen.« »Aber …«, beginnt sie. »Willst du denn gar nicht wissen, warum ich …?« »Nein, ich habe genug von dir gehört. Hau endlich ab!«, schreie ich sie nun an und sie zuckt so heftig zusammen, dass sie beinahe zurück stolpert. Dann dreht sie sich endlich um und geht und als ich höre, wie die Tür zufällt, balle ich meine Hand zur Faust. Ich sehe ihr nicht hinterher und in diesem Moment verspreche ich mir selbst, dass ich sie nicht vermissen werde - nie wieder. Kapitel 5: Blumen ----------------- Ich fühle mich beschissen. Seit ich Yamato in Matsushima besucht habe, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Aber das habe ich auch nicht erwartet, nachdem er mich rausgeschmissen hat. Ich habe nicht mal mehr versucht, mich bei ihm zu entschuldigen, weil ich weiß, es hätte ohnehin keinen Sinn. Er ist wütend. Und das zurecht. Er hat mir so vieles anvertraut, hat mir so oft von Sora und ihrer Beziehung erzählt, hat mir sein Herz ausgeschüttet. Und ich dumme Kuh schenke ihm diese verfluchten Plätzchen, mit denen alles angefangen hat. Es muss ihm vorkommen, als hätte ich ihn heimlich verhöhnt und ausgelacht, weil er die ganze Zeit keine Ahnung hatte. Er kennt immer noch nicht die ganze Geschichte von damals und nun wird er sie auch niemals erfahren. Ich kann ihn verstehen, wahrscheinlich hätte ich an seiner Stelle genauso reagiert. Wenn ich mir vorstelle, jemand, den ich sehr mag, hätte einen Einfluss darauf gehabt, dass ich überhaupt erst mit Kouji zusammengekommen bin, wird mir ganz übel. Es würde sich nicht mehr echt anfühlen. Als wäre das Fundament unserer Liebe auf einer Lüge errichtet worden. Ich komme mir so lächerlich vor. Warum habe ich es überhaupt so weit kommen lassen? Schweren Herzens gehe ich nach Feierabend die Straßen entlang und kann einfach nicht aufhören, an ihn zu denken. Inzwischen habe ich eine Ahnung, wie er sich gefühlt haben muss, als er Wochenlang nichts von mir gehört hat. Dieses Gefühl ist schrecklich. Am liebsten würde ich ihn anrufen, nur, um kurz seine Stimme zu hören. Ich vermisse ihn. Ich vermisse meinen Freund. Als ich zu Hause ankomme, schäle ich mich aus meinen Klamotten und werfe mich in Jogginghose und XXL-Shirt aufs Sofa. Ich bestelle mir eine Pizza übers Handy und bin sehr überrascht, als es eine viertel Stunde später schon an der Tür klingelt. »Das ging aber schnell«, wundere ich mich, gehe zur Tür und öffne sie mit knurrendem Magen. Doch anstatt des Pizzaboten, steht ein junger Mann, mit weißem Shirt und einem Cappy vor mir. In der Hand hält er einen riesigen Strauß Blumen - und einen Brief. »Bin ich hier richtig bei …« Er wirft einen Blick auf den Umschlag. » … Tachikawa?« »Ja«, nicke ich und schon drückt er mir den Blumenstrauß in die Hand. »Bitteschön.« »Äh … Dankeschön?«, stammle ich verwirrt. »Von wem ist der?« »Steht auf dem Briefumschlaf. Ciao!« Der hat es aber eilig. Irritiert schließe ich die Tür und sehe mir den Strauß genauer an. Er ist so schwer, dass ich ihn mit beiden Händen halten muss. Rosa Rosen, lila farbene und weiße Anemonen und noch einige andere Blumen, die ich nicht kenne. Er ist atemberaubend schön. Ein seltsames Gefühl beschleicht mich und bestätigt sich auch sogleich, als ich auf den Briefumschlag schaue. Die Blumen sind von Yamato. Oh, Gott. Ich versuche mich, erst ein mal zu sammeln und stelle die Blumen ins Wasser. Dann setze ich mich zurück aufs Sofa und starre auf den Brief in meiner Hand. Er hat mir geschrieben. Er hat mir wirklich geschrieben. Ich kann es gar nicht fassen. Mit zittrigen Fingern, öffne ich den Brief und fange an zu lesen. »Liebe Mimi, …« Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter, als ich sofort seine Handschrift erkenne. Mein Herz springt fast aus meiner Brust … es ist so lange her, dass er mir geschrieben hat. »Leidest du eigentlich immer noch an Privinismus? Falls ja, sollen dir diese Blumen baldige Genesung bringen …« Stirnrunzelnd hebe ich den Kopf. »Was?« »… das ist natürlich ein Witz und soll das überspielen, was mir so schwer fällt, auszusprechen. Ich habe immer noch nicht deine Handynummer. Das ist nicht in Ordnung. Du hast schließlich auch meine und dich nicht ein mal bei mir gemeldet. Aber ich kann dich verstehen. Warum solltest du auch, nachdem ich dich so behandelt habe?! Ich fühle mich wahnsinnig schlecht deswegen, weißt du das? Es war nicht okay von mir, dich nicht ausreden zu lassen und dich einfach rauszuschmeißen. Das war kindisch und impulsiv von mir und es tut mir leid. So, jetzt ist es raus. Es tut mir leid.« Ich blinzle ein paar Mal und lese diese Zeile immer und immer wieder, um sicherzugehen, dass ich es mir nicht eingebildet habe. Er entschuldigt sich bei mir? Das habe ich, offengestanden, nicht erwartet. »Die Wahrheit ist, dass ich dich einfach unheimlich vermisse. Ich wollte dich nicht vermissen, aber ich tue es trotzdem. Das klingt so gar nicht nach mir, oder? Normalerweise schließe ich Menschen sehr schnell aus meinem Leben aus, wenn sie mir wehgetan haben. Bei dir ist das anders und ich habe keine Ahnung, warum. Ich habe versucht, sauer auf dich zu sein und ich bin es auch, aber … ich vermisse dich viel mehr, als dass ich wütend auf dich bin. Ich vermisse meine Freundin Mimi. Ich vermisse unsere Gespräche. Ich vermisse deine Briefe. Und ich vermisse deine Nähe. Wir haben uns, wie oft, persönlich getroffen? Wenn man unser erstes Treffen in der Schule nicht mitzählt, waren es genau zwei Mal. Zwei Treffen, die ausreichten, um zu wissen, dass ich dich in meinem Leben haben möchte. Und diese Tatsache wiegt für mich mehr als das, was da zwischen uns steht. Ich bin sauer, weil du mich angelogen hast. Ich komme mir wie eine Spielfigur vor, die von dir und Sora genau da platziert worden ist, wo ihr sie haben wolltet. Es fällt mir nicht leicht, meine Gefühle in Worte zu fassen, aber es geht besser, wenn ich sie dir aufschreibe. Würde ich jetzt vor dir stehen, würde ich garantiert keinen Ton herausbekommen. Was du mir erzählt hast, hat mich verwirrt. Es hat meine Sicht auf damals mit einem Mal verändert. Ich habe mich gefragt, ob wir auch zusammengekommen wären, wenn du nicht deine Finger im Spiel gehabt hättest? Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn du es nicht getan hättest? Ganz sicher nicht so, denn ich wäre nicht verletzt worden. Ich hätte mir all das Leid erspart, was Sora mir an dem Tag angetan hat, als sie gegangen ist. Aber ich hätte auch all das Schöne verpasst. Am Ende einer Beziehung neigt man anscheinend häufig dazu, nur noch das Schlechte zu sehen. Besonders, wenn man selbst derjenige ist, der verlassen wird. Das war damals bei der Scheidung meiner Eltern nicht anders. Aber das ist ein Trugschluss. Es war nicht alles schlecht und auch Sora und ich hatten unsere schönen, unsere guten Jahre. Ich habe aufrichtige Liebe für sie empfunden und ich kann nur hoffen, dass es ihr genauso ging. Letztendlich kannst du nichts dafür, dass mein Leben sich so entwickelt hat. Du hast zwar den ersten Stein gelegt, weil du es damals (warum auch immer) so wolltest, aber den Weg sind wir selbst gegangen - bis an unser Ende. Und für dieses Ende kannst du nichts, das ist mir nun klar geworden. Was ich damit sagen will … es tut mir leid … nochmal! Das Ganze ist schon mehr als ein Jahrzehnt her, also … verhalten wir uns wie die Erwachsenen, die wir sein sollten. Keine Geheimnisse mehr zwischen uns! Du wolltest etwas sagen, kurz bevor ich dich rausgeschmissen habe. (Habe ich schon erwähnt, dass mir das leidtut?) Ich möchte dir die Möglichkeit geben, dich zu erklären. Wenn du das nicht möchtest, ist das auch okay. Aber wenn da noch etwas ist, was du mir sagen möchtest, dann tu es. Ich verspreche dir, dass ich diesmal besser damit umgehen werde. Ich verspreche dir, dass ich dir zuhören werde. Das bin ich dir schuldig.« Ich stoße die Luft aus, die ich die ganze Zeit über angehalten habe. Natürlich war da noch mehr. Aber ich weiß nicht, ob es jetzt noch klug wäre, es zu sagen. Es laut auszusprechen, macht es irgendwie … real. Und das habe ich doch damals, als wir beide jung waren, so gut vermieden. Ich habe erfolgreich verdrängt, warum ich Sora damals überredet habe, mit Yamato zusammenzukommen. Und jetzt kommt alles wieder hoch. »Ansonsten wünsche ich mir eigentlich nur, dass du mir antwortes. Bitte antworte mir, Mimi. Ich halte diese Funkstille zwischen uns nicht mehr aus. Das sind doch nicht wir, oder? Und was deine Zweifel angeht, du weißt schon … dass du mich zu gern hast, um weiter Kontakt mit mir zu haben (was ist das denn eigentlich für eine Logik?). Da kann ich dich beruhigen: wir gehen nicht weiter, wenn du das nicht willst. Wir können einfach befreundet sein und es wäre mir genug. Ich will dich einfach nur wieder bei mir haben, Mimi.« Kopfschüttelnd werfe ich mich zurück in die Sofakissen und lasse den Brief wie betäubt auf meine Beine sinken. Seine Worte gehen mir direkt unter die Haut. Ich kann mir vorstellen, was für ein riesen Schritt das für ihn war, mir diese Zeilen zu schreiben. »Wir können einfach befreundet sein und es wäre mir genug.« Das ist wohl das Problem: nämlich, dass ich keine Ahnung habe, was ich eigentlich will. Will ich nur mit ihm befreundet sein? Was soll ich ihm antworten? Soll ich überhaupt antworten? Ich könnte diesen Brief einfach ignorieren, so wie all seine vorherigen Briefe auch. Aber das würde ich niemals übers Herz bringen, jetzt, wo er sich mir so sehr geöffnet hat. Er hat mir einen Einblick in sein Innerstes gewährt und das bedeutet mir viel. Ein schweres Seufzen kommt mir über die Lippen, während ich mit mir hadere, was ich nun tun soll. Mein Blick fällt auf diese wunderschönen Blumen. Dann schlage ich die Hände über den Kopf zusammen und fluche laut. »Oh, verdammte Scheiße!« Bevor ich es mir anders überlegen kann, lege ich den Brief zur Seite und springe auf. Ich renne aus meiner Wohnung und die Treppen hinunter, in den Keller, wo allerhand alte Kisten von mir gestapelt sind. Ich gehe sie nacheinander durch und ziehe dann genau die richtige Kiste heraus. Als ich sie öffne und den Inhalt sehe, wird mir übel, denn der Geruch von alten Büchern schlägt mir entgegen. Ich finde schnell, wonach ich gesucht habe. Als ich es in den Händen halte, schlucke ich schwer. Mein altes Tagebuch … Den Karton klappe ich wieder zu und stelle ihn zurück an seinen Platz. Nicht ganz so eilig gehe ich wieder nach oben in meine Wohnung und lasse mich zurück aufs Sofa fallen. Mit den Fingern fahre ich über den roten Einband des Buches, während bereits all die Erinnerungen an die zahlreichen Seiten, die ich damals in diesem Buch mit meinen Gedanken gefüllt habe, wieder hochkommen. Soll ich das wirklich tun? Vielleicht bin ich es mir und ihm schuldig. Aber vielleicht ist das auch die dümmste Idee, die ich je hatte. Ehe ich es bereuen kann, greife ich nach meinem Handy und scrolle durch meine Kontakte. »Du bist so dumm, Mimi«, wiederhole ich Yamatos Worte, bevor ich seine Nummer wähle. Es tutet ein paar quälende Sekunden und ich denke schon, dass er sowieso nicht abheben wird. Doch dann … »Hallo? Wer ist da?« »Yamato …«, kommt es mir flüsternd und mit trockener Kehle über die Lippen. Ich hole tief Luft und fasse all meinen Mut zusammen. »Ich bin es, Mimi.« Kapitel 6: Märchengeschichte ---------------------------- Es ist totenstill am anderen Ende, dann plötzlich … »Mimi?«, höre ich Yamato ungläubig sagen. »Du bist es?« Ich grinse unsicher, während mir das Herz bis zum Hals schlägt. Zum Glück kann er gerade nicht sehen, wie nervös ich bin. »Ja, ich bin es. Ich wollte mich für deinen Brief und für die Blumen bedanken. Sie sind wirklich wunderschön.« »Freut mich, dass sie dir gefallen. Moment«, kommt es jedoch eilig von ihm und wieder wird es für eine Weile still. »Äh … Hallo? Yamato?«, frage ich, weil ich nicht sicher bin, ob er noch dran ist. Ein Rascheln am anderen Ende. »Bin wieder da. Musste nur schnell deine Nummer einspeichern, bevor wieder irgendwas schief geht.« Ein Lachen dringt aus meiner Kehle und schon entspanne ich mich ein wenig. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass du mich anrufst«, sagt Yamato, nachdem ich mich wieder beruhigt habe. »Ich auch nicht«, gestehe ich schulterzuckend. »Aber ich dachte, ich bin dir eine Antwort schuldig und das ist der schnellste Weg. Außerdem … tut es gut, deine Stimme zu hören.« Ich kann förmlich hören, wie er am anderen Ende leise lächelt. »Geht mir genauso.« Räuspernd setze ich mich in den Schneidersitz, das Tagebuch immer noch auf meinem Schoß liegend. »Ich würde gerne mit dir über etwas sprechen. Du solltest es dir bequem machen«, schlage ich Yamato vor. »Das hier könnte etwas länger dauern.« »Kein Problem, ich habe Zeit und ich sitze bereits«, antwortet er lachend. »Was hast du denn vor?« »Ich möchte dir etwas vorlesen.« Oh, Gott. Habe ich das gerade wirklich gesagt? Nun gibt es kein Zurück mehr. »Du willst mir was vorlesen?«, entgegnet Yamato zweifelnd. »Etwa so was, wie eine Märchengeschichte?« »Nun«, sage ich und fahre mir durchs Haar. »So könnte man es auch nennen. Vielleicht fällt es mir leichter, wenn ich so tue, als wäre es eine und als würden du und ich nicht die Hauptrollen darin spielen.« »Jetzt machst du mir Angst.« Zurecht - denke ich, denn auch mein Herz springt mir fast aus der Brust, vor lauter Aufregung. Ich werde ihm gleich einen Einblick in mein früheres Ich geben. Das habe ich noch nie getan, nicht mal bei Kouji. Niemand kennt diese Zeilen, außer ich. Ob er mich danach noch genauso sieht, wie er mich jetzt sieht? Oder werde ich danach eine Andere für ihn sein? Aber dieses Risiko muss ich eingehen. »Keine Geheimnisse mehr zwischen uns, okay?«, zitiere ich aus seinem Brief und schlage das Buch auf. »Keine Geheimnisse«, wiederholt er mit fester Stimme. Ich suche die Seite, die ich im Kopf habe und finde sie ziemlich schnell. »Das … das sind verschiedene Einträge aus meinem alten Tagebuch«, erkläre ich ihm mit zittriger Stimme. »Mimi, das … Gott, das ist …« »Nein«, unterbreche ich ihn sofort. »Bitte sag nichts und hör es dir einfach an.« Bitte. Ich muss das jetzt loswerden. »Okay. Ich höre dir zu«, antwortet er mit ruhiger Stimme. Ich räuspere mich, unsicher, was ich hier eigentlich tue. Aber ich versuche, Mut zu fassen, während ich die ersten Zeilen laut vorlese … »13.09.2007 Liebes Tagebuch, Heute habe ich gesehen, wie Sora und Tai sich hinter der Turnhalle geküsst haben. Es ist schon ein bisschen verrückt, weil sie selbst ja immer abstreitet, dass sie ihn toll findet. Ja, schon klar. Die denkt doch auch, ich wäre bescheuert. Na, wie auch immer … jedenfalls habe ich sie später gefragt, wo sie in der Mittagspause gesteckt hat und sie hat mich eiskalt angelogen. Das ist echt voll daneben. Wobei ich sie auch ein bisschen verstehen kann. Auch ich habe ein Auge auf jemanden geworfen, wovon ich ihr bisher noch nichts erzählt habe. Ich finde Yamato Ishida unglaublich toll. Er ist so wortgewandt und talentiert und schlau und schön. Er ist einfach nur unglaublich. Ich hoffe, ich schaffe es irgendwann, ihm das zu sagen …« Kurz halte ich mitten im Text inne und warte auf eine Reaktion von Yamato, die allerdings aus bleibt. Also blättere ich ein paar Seiten um und lese weiter. »01.10.2007 Liebes Tagebuch, Ich kann es nicht fassen, aber ich war bei Yamato zu Hause - in seinem Zimmer - ALLEIN!!! Bisher war sonst immer jemand dabei, Tai oder Kari oder T.K. Heute war alles anders. Die Lehrerin hat ihn dazu verdonnert, mir bei meinem Referat zu helfen. Was für ein Glück ich doch habe. Sollten wir später mal heiraten, wird sie einen Platz in der ersten Reihe erhalten. Aber dazu später noch mehr. Ich war super aufgeregt, weil wir beide nach der Schule allein waren und ich glaube, er hat es gemerkt. Ich habe echt gar nichts hinbekommen, dann haben wir uns eine Musikkassette von ihm angehört und es war … magisch, einfach MAGISCH. Oh Gott, ich bin total verknallt in ihn. Noch nie habe ich jemanden so unfassbar toll gefunden. Er war heute so nett zu mir. Ganz anders, als in der Schule. Dort wirkt er oft distanziert und kühl. Dabei hat er so ein reines Herz. Hach … ich glaube, ich liebe ihn wirklich … 25.10.2007 Liebes Tagebuch, Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sora beginnt, Interesse an Yamato zu haben. Sie meinte heute beim Sportunterricht, er wäre richtig heiß und diese kühle, zurückweisende Art von ihm, würde sie total sexy finden. Was soll das? Sie hat doch gerade erst angefangen, mit Tai rum zu knutschen … ist das schon wieder Geschichte? Jedenfalls weiß sie nicht, dass ich in Yamato verliebt bin. Soll ich es ihr sagen? Ich habe keine Ahnung … Eigentlich wollte ich es ihr sagen. Aber jetzt zweifle ich. 17.11.2007 Liebes Tagebuch, Ich bin so dumm! Wie konnte ich nicht mitkriegen, was sich die ganze Zeit vor meinen Augen abgespielt hat? Das mit Sora und Tai war anscheinend nichts Ernstes, stattdessen wird mir immer klarer, dass sie es auf jemand anderen abgesehen hat. Heute wollte ich ihr sagen, dass ich Hals über Kopf in Yamato verliebt bin, aber sie ist mir zuvor gekommen. Bevor ich überhaupt irgendetwas sagen konnte, fiel sie mit der Tür ins Haus: er wäre der Mann ihrer Träume und sie habe noch nie derartige Gefühle für jemanden gehabt. Es ist ihr wirklich Ernst mit ihm … scheiße … was mache ich denn jetzt? Ich möchte unsere Freundschaft nicht gefährden. Sie sagt, sie möchte es ihm nicht sagen. Sie traut sich nicht, weil sie nicht sicher ist, ob er genauso fühlt. Oh Gott … das ist doch ein Albtraum! 23.12.2007 Liebes Tagebuch, Heute ist der Schlimmste Tag in meinem Leben. Ich habe etwas getan, was ich vermutlich bis an mein Lebensende bereuen werde. Ich habe Sora dazu ermutigt, Yamato ihre Gefühle zu gestehen und habe ihr sogar noch beschissene Plätzchen gebacken, die sie ihm als Geschenk überreichen kann. Heute Abend hat sie sie ihm gegeben und ihm ihre Gefühle gestanden. Ich weiß, dass sie sich für Sonntag verabredet haben und ins Kino gehen wollen - das ist ein richtiges Date. Fuck! Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt. Aber ich konnte ihr einfach nicht die Wahrheit sagen. Sie ist so unglaublich verknallt in ihn, dass sie es mir sicher nie verziehen hätte, wenn ich ihm stattdessen meine Gefühle gestanden hätte. Wenn die beiden wirklich ein Paar werden, springe ich aus dem Fenster, weil ich so UNFASSBAR DÄMLICH (!!!) bin. Aber was sollte ich tun? Sie ist nun mal meine beste Freundin und wichtiger, als irgendein Typ. Oder? 28.01.2008 Liebes Tagebuch, Kouji Kimura hat mich heute gefragt, ob ich mal mit ihm ausgehen würde. Er ist echt süß, alle Mädchen stehen auf ihn. Aber das hilft alles nichts. Es tut immer noch weh, Sora und Yamato zusammen zu sehen. Sie sind jetzt seit zwei Wochen offiziell zusammen und wirken sehr glücklich. Ich dachte, ich könnte mich langsam mal daran gewöhnen, aber ich kann es nicht. Ich bin immer noch in Yamato verliebt. Und werde es ihm niemals … niemals sagen können. Warum war ich nur so dumm, und habe so lange gewartet? Ich wünschte, ich könnte ihnen ihr Glück gönnen. Stattdessen fühle ich, wie Sora und ich uns immer weiter voneinander distanzieren. Sie scheint es nicht ein mal zu merken. Ich bin unendlich traurig. Es fühlt sich so an, als hätte ich nicht nur die Liebe meines Lebens, sondern auch meine beste Freundin verloren. Ich weiß, ich bin gerade etwas dramatisch. Aber dieser Liebeskummer bringt mich noch um!!! Was, wenn ich einfach nicht aufhören kann, ihn zu lieben?« »Ende«, sage ich und schlage das Buch zu. Danach kommen keine Einträge mehr, die Yamato betreffen, weil sich unsere Freundschaft immer mehr und mehr im Sand verlaufen hat. Ich bin ehrlich traurig über diese Zeilen. Es ist, als würde ich noch ganz genau spüren, wie es sich damals angefühlt hat. Dieser Liebeskummer hat mich förmlich aufgefressen. Eine Zeit, an die ich nicht all zu gerne zurück denke, auch wenn sie schon etliche Jahre her ist. »Es tut mir leid«, füge ich hinzu. Am anderen Ende der Leitung war es die ganze Zeit totenstill. Ich frage mich kurz, ob er überhaupt noch dran ist, doch dann räuspert er sich. »Was denn?«, fragt er mit rauer Stimme. »Dass ich dir das alles nie gesagt habe.« Ein Seufzen. »Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.« »Aber ich war … gemein und eifersüchtig. Ich habe euch eure Beziehung nie wirklich gegönnt und war verbittert darüber, dass ich nicht den ersten Schritt gewagt habe. Ha! Aber mal ehrlich: ich hatte so sehr Angst davor, dass du mich zurückweist, wenn ich dir meine Gefühle gestehe und ich glaube, du hättest es auch getan. Du hättest sicher irgendwas fieses zu mir gesagt. So was wie: scher dich zum Teufel, du Göre.« Jetzt steigen mir doch ernsthaft die Tränen in die Augen und ich schniefe ins Telefon, während Yamato am anderen Ende zu lachen beginnt. »Hey, das ist nicht komisch!«, beschwere ich mich. »Scher dich zum Teufel?«, lacht er. »So was hätte ich niemals gesagt.« »Dann eben irgendwas anderes Gemeines«, wimmere ich unter Tränen, weil mir doch ernsthaft bei diesen alten Tagebucheinträgen ein zweites Mal das Herz entzwei bricht. »Auf jeden Fall wärst du nie mit mir zusammen gekommen.« »Oh, ich denke, du siehst das falsch«, entgegnet Yamato. »Ich wäre nur nie mit Sora zusammen gekommen, wenn du es mir eher gesagt hättest.« Ich hole mir ein Taschentuch und putze mir die Nase. Was ich dabei für eklige Geräusche mache, ist mir gerade total egal. »Was soll das heißen?«, frage ich verwirrt nach, aber Yamato kommt nicht dazu zu antworten, denn just in diesem Augenblick klingelt es an der Tür. Ach ja, die Pizza. Ich seufze. »Moment, es hat an der Tür geklingelt. Ich bin gleich wieder da.« Was für ein schlechter Zeitpunkt. Der Appetit ist mir sowieso vergangen. Ich öffne die Tür und diesmal schlägt mir tatsächlich der Pizzaduft entgegen, der allerdings Übelkeit in mir aufsteigen lässt. »Hallo«, sage ich, ohne den Blick richtig zu heben. »Ich hole schnell mein Geld, kleinen Augenblick bitte.« »Ist nicht nötig«, sagt der Pizzabote und ich fahre erschrocken herum. »Die Rechnung wurde bereits unten an der Tür beglichen.« Mit großen, ungläubigen Augen sehe ich ihn an. »Yamato?« »Hey, meine Schöne«, grinst er, während er wahrhaftig vor mir steht, mit diesem Pizzakarton in der Hand … als wäre es das Normalste von der Welt. »Was … was machst du denn hier?«, stammle ich und schaue abwechselnd auf mein Handy und dann zu ihm. Er hält sein Handy in die Höhe, als Beweis, dass er die ganze Zeit dran war. »Ich war bereits auf dem Weg zu dir, als du anriefst. Bevor ich abgehoben habe, habe ich noch den Pizzaboten abgefangen und mich unten ins Treppenhaus gesetzt, während du mir vorgelesen hast.« Fassungslos beende ich den Anruf und stecke das Handy in die Hosentasche. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Er war quasi die ganze Zeit vor meiner Tür? »Müsstest du nicht in Matsushima sein?« Er grinst dieses verdammt süße Grinsen, was mich schlagartig dahinschmelzen lässt. Ich glaube, meine Knie werden gerade weich. »Ich hatte dir ja kurz vor Weihnachten gesagt, dass ich in ein paar Monaten Urlaub habe.« Oh, ach so. Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. »Und ich musste dich einfach sehen«, fügt er noch hinzu. Irritiert sehe ich zu ihm auf. »Warum?« »Um das hier zu tun …« Plötzlich kommt er einen Schritt auf mich zu, drängt mich zurück in die Wohnung. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss, ehe er den Pizzakarton auf der Kommode abstellt. Keine Sekunde später drückt er mich gegen die Wand im Flur und seine Finger landen an meiner Taille. Eine Hand gleitet hoch, bis zu meinem Gesicht und ich ziehe scharf die Luft ein, als er sie an meine Wange legt und mir so nahe kommt, dass ich seinen Atem auf meinen Lippen spüren kann. »Ich habe dich so vermisst«, haucht er mir entgegen, kurz bevor er mich küsst. In mir zieht sich alles zusammen. Selbst, wenn ich es gewollt hätte, hätte ich dieser Anziehungskraft nicht entkommen können. Gerade sind wir einfach nur wie zwei Magnete, die sich anziehen und nicht mehr loslassen können. Auch ich habe ihn schrecklich vermisst, das wird mir gerade bewusst. Er zieht mich noch weiter an sich, während ich die Hitze seines Körpers spüre, der sich eng gegen meinen presst. Dann löse ich mich von ihm und schnappe nach Luft. Seine Augen suchen meine und ein trauriger Blick legt sich auf sein Gesicht. »Du solltest nicht weinen«, sagt er mit sanfter Stimme und wischt mir die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. »Tut mir leid«, entschuldige ich mich schon wieder. »Diese Tagebucheinträge haben mich ein wenig mitgenommen.« »Hmm, kann ich verstehen«, entgegnet er und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Aber ich mochte deine kleine Märchengeschichte sehr gerne.« »Ach ja«, lache ich fast schon auf. »Wieso? Ich war nicht wirklich eine Prinzessin und es gab auch kein Happy End.« »Jedenfalls nicht für uns, da hast du recht«, stimmt er mir zu und legt den Kopf schief. Seine Mundwinkel zucken. »Allerdings weiß ich jetzt, dass du schon damals in mich verliebt warst. Und ein kleiner Teil in mir hofft wohl, dass da immer noch etwas ist. Zumindest weiß ich, dass ich dich nicht mehr gehen lassen kann. Ich habe große Angst davor, wieder verletzt zu werden, Mimi. Aber ich denke, du bist das Risiko wert.« Bei diesen Worten vergesse ich alles, was vorher geschehen ist. Die alten Tagebucheinträge verblassen und alles, was bisher geschehen ist, rückt in den Hintergrund. Kouji, Sora, mein Vorhaben, ihm aus den Weg zu gehen, um mich nicht in ihn zu verlieben. Das alles ist mit einem Mal völlig egal. Es zählt nur noch das hier und jetzt. Ich schenke ihm ein liebevolles Lächeln und das heimliche Versprechen, dass diese Zeilen der Vergangenheit angehören. Jetzt ist es an der Zeit, unsere Geschichte neu zu schreiben. Kapitel 7: Hochzeit ------------------- Ich habe das Gefühl, dass heute der beste Tag meines Lebens ist. Genauso wie gestern und vorgestern und letzte Woche. Eigentlich seit dem Tag, als Yamato wieder vor meiner Tür stand. Seit drei Wochen ist er nun schon bei mir und jeder Tag fühlt sich besser als der vorige an. »Ich will nicht, dass du wieder gehst«, sage ich ehrlich und lege den Kopf auf seine nackte Brust. Ich kann seinen Herzschlag hören und sofort wird mir warm ums Herz. Yamato seufzt und schließt die Arme fest um mich, während wir beide bei mir im Bett liegen - seit gefühlt zehn Tagen. »Ganz ehrlich«, flüstert er in mein Haar. »Ich könnte für den Rest meines Lebens genauso hier mit dir liegen und mich die ganze Zeit von Fast Food ernähren.« Ich kichere und stütze mich auf, um ihn anzusehen. Ich streiche ihm eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und bewundere seine tiefblauen Augen. »Du bist jetzt noch genau eine Woche hier, dann musst du zurück nach Matsushima«, stelle ich traurig fest. »Was möchtest du machen? Hast du Lust, irgendetwas zu unternehmen? Wir haben in den letzten Tagen kaum das Haus verlassen.« Um genau zu sein, nur dann, wenn ich für eine Aufnahme ins Tonstudio musste und selbst da hat Yamato mich begleitet. Er sagt, er liebt es, mir bei meiner Arbeit zuzusehen. Seine Mundwinkel zucken und ein verheißungsvolles Grinsen legt sich auf seine Lippen. Ich weiß genau, was das bedeutet. Er legt die Hände auf meine Hüfte und mit einem Ruck, dreht er mich auf den Rücken, so dass er zwischen meinen Beinen liegt. »Wir können gerne etwas unternehmen«, haucht er mir ins Ohr und küsst dann meinen Hals. Ich schnappe nach Luft. Ein angenehmes Kribbeln macht sich in meiner Magengegend breit. Gott, ich bin total verrückt nach ihm. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir es heute aus dem Bett schaffen.« Er grinst an meinen Lippen, während seine Hände weiter verlangend meinen Körper erforschen, als würden sie nicht bereits schon jeden Zentimeter davon kennen. Begierig recke ich ihm mein Becken entgegen, während mir ein Stöhnen entfährt. Er versteht den Wink mit dem Zaunpfahl sofort und streckt den Arm, um in meiner Nachttischschublade nach einem Kondom zu wühlen. Aber stattdessen greifen seine Finger nach etwas anderem. Yamato hält inne und runzelt die Stirn, während ich ihn nur irritiert mustere. »Was ist?« »Du hast das noch?« Er hält die Karte so, dass ich sie sehen kann. »Die Einladung zu Sora und Koujis Hochzeit?« Genervt stöhne ich auf, schnappe ihm das Ding aus der Hand und pfeffere es quer durch den Raum. »Ich habe vergessen, sie wegzuschmeißen. Ich bin durch damit.« Zweifelnd zieht Yamato eine Augenbraue in die Höhe. »Ehrlich?« »Ehrlich!« »Aber die Hochzeit ist genau heute, wenn ich mich recht erinnere.« Ich zucke mit den Schultern, weil es mir ehrlich egal ist. Seit ich mit ihm zusammen bin, habe ich nicht einen Gedanken mehr an Kouji verschwendet. »Gut«, lächelt er diabolisch und ich ahne Böses. »Mir ist nämlich gerade eingefallen, was ich gerne unternehmen möchte.« Ich schnappe nach Luft und schubse ihn von mir, so dass er lachend neben mir ins Laken fällt. Dann setze ich mich auf. Jegliche Romantik ist dahin. »Du machst wohl Witze. Bist du noch ganz bei Trost?«, werfe ich ihm vor, doch er grinst nur breit. Er meint es wirklich ernst. »Warum sollten wir uns diesen Spaß entgehen lassen?«, fragt er und ich schenke ihm einen fassungslosen Blick. »Warum sollten wir uns das antun, ist wohl eher die Frage? Außerdem bist du nicht eingeladen.« »Korrigiere mich, wenn ich falsch liege, aber hattest du nicht ursprünglich vor, zu der Hochzeit zu gehen, um dich selbst zu therapieren?« Demonstrativ verdrehe ich die Augen. Dann krieche ich zu ihm rüber und lächle ihn an. »Du bist meine Therapie. Und das hier.« Innig küsse ich ihn, was mein Herz erneut flattern lässt. Ich brauche weder Kouji, noch Sora, noch irgendwen. Alles, was ich brauche, ist das, was wir haben. Dieses Gefühl erfüllt mich zu einhundert Prozent. »Trotzdem«, meint Yamato, als wir uns voneinander lösen. »Ich würde so gerne die Gesichter der beiden sehen, wenn wir dort zusammen aufkreuzen, als Paar.« Als Paar? Ich schlucke. »Sind … sind wir denn ein Paar?«, hake ich vorsichtig nach. Er legt den Kopf schief und sieht mich an, als hätte ich gerade die dümmste Frage der Welt gestellt. Dann grinst er und springt aus dem Bett. »Du bist meine Freundin und das darf ruhig jeder wissen. Außerdem glaube ich, dass diese Tatsache ganz schön an dem Ego der beiden nagen würde. Und ich finde, irgendwie hätten sie das verdient. Vor allem Kouji. Ich meine, er hat dich mit Sora betrogen und sie lädt dich zu ihrer Hochzeit ein - ausgerechnet dich. Das ist, als wollte sie dir ihren Triumph noch mal so richtig unter die Nase reiben.« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ja, das weiß ich selber. Er hebt die Einladung vom Fußboden auf und liest sie sich durch. »Die Party findet in einem Hotel, ganz hier in der Nähe statt.« »Aber du fandest die Idee blöd, da hin zu gehen«, werfe ich ein und er nickt. »Richtig, die Idee alleine da hinzugehen, ist ja auch blöd. Aber die Idee, zusammen da hin zu gehen, ist genial. Stell es dir einfach nur mal kurz vor. Wir könnten eine Menge Spaß haben, wenn du verstehst, was ich meine?« Seine Augenbrauen wackeln und er grinst vielsagend, was mich zum Lachen bringt. Er springt zu mir aufs Bett und küsst mich. »Lust, eine Hochzeit zu crashen, Baby?« Ich verdrehe zwar die Augen, aber eins muss ich zugeben: die Vorstellung reizt mich schon ein wenig. »Okay, überredet«, grinse ich. »Aber vorher muss ich noch ein Geschenk machen, das so richtig von Herzen kommt …« Drei Stunden später stehen wir piekfein rausgeputzt vorm Eingang des Hotels. Die Trauung haben wir glücklicherweise verpasst - Gott sei dank, ich hätte im Strahl gekotzt. Aber das restliche Spektakel wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Zunächst war ich zwar dagegen gewesen, aber als wir die Lobby durchqueren und gemeinsam, Hand in Hand auf Kouji und Sora zugehen, die gerade die Gäste begrüßen, legt sich ein breites, triumphierendes Grinsen auf mein Gesicht - vor allem, weil den beiden gerade die Kinnlade runter fällt. Was für ein unbezahlbarer Anblick. Sie werfen sich fragende Blicke zu und Sora zuckt kurz mit den Schultern, während Koujis Augen an mir und meinem knallroten, kurzen Kleid haften. Vielleicht erinnert es ihn an die Farbe seines Blutes, das ihm aus der Nase gelaufen ist, als ich ihm eine runtergehauen habe. »Mi … Mimi …«, stottert Sora verdattert, bevor ihre Augen zu Yamato huschen, der meine Hand fest im Griff hat. »Was … äh, was macht ihr hier?« »Du hast mich eingeladen, schon vergessen?«, zucke ich mit den Schultern. »Ja, aber du sagtest mir ziemlich deutlich, dass ich mir diese freche Idee in die Haare schmieren kann.« Oh. War ich wirklich so direkt gewesen? Na ja. »Ich hab's mir anders überlegt und Yamato mitgebracht. Es macht euch doch nichts aus, oder? Auf der Karte stand doch, dass man gerne in Begleitung erscheinen kann.« Ich schenke Kouji ein zuckersüßes Lächeln, während er die Zähne aufeinander presst und Yamato grimmig mustert. Dieser jedoch lässt sich davon gar nicht beirren und überreicht stattdessen Sora ein ganz besonderes Geschenk. »Hier, als Zeichen der Versöhnung.« Zögernd nimmt sie die schön verzierte Dose entgegen und öffnet sie, dann hebt sie irritiert die Augenbrauen. »Kekse?« »Plätzchen, um genau zu sein«, korrigiert Yamato sie. »Ich dachte, so wie es angefangen hat, so kann es auch enden, nicht?« Wie makaber. Aber da es meine Idee war, lächle ich zufrieden, vor allem, als sie dankend nickt. Ich denke, sie hat uns die Lüge abgekauft. Kouji eher weniger, der sieht immer noch aus, als würde er gleich aus seinem schicken Sakko springen. Sora macht eine einladende Geste, um uns reinzubitten. Wir nehmen die Einladung dankend an und gehen an den beiden vorbei in den Saal, während ich hinter mir schon Koujis Gemecker höre. Ich kichere leise. »Du genießt es«, stellt Yamato schief grinsend fest, als ich mich bei ihm einhake. »Nur ein wenig. Ich hoffe, die Plätzchen schmecken ihnen«, sage ich zuckersüß. »Mimi?« Wissend, dass hier irgendwas im Busch ist, sieht er mich von der Seite her an. »Was stimmt mit den Plätzchen nicht?« »Ach«, sage ich und winke ab. »Kann sein, dass mir aus Versehen ein bisschen Haschisch in die Dinger gefallen ist.« »Mimi!«, rügt er mich, doch ich grinse nur. »Ist das dein Ernst? Wie viel?« »Kann sein, dass es ein bisschen viel war.« Zufrieden lächle ich einige Gäste im Vorbeigehen an, die uns beide natürlich erkennen und gebannt die Luft einatmen, als würden wir gleich eine Bombe zünden. Yamato lacht. »Gott, ich habe gerade das Gefühl, ich bringe deine schlechtesten Seiten in dir zum Vorschein.« »Überhaupt nicht«, streite ich ab. »Ich genieße das hier nur in vollen Zügen. Sieh doch nur, wie sie uns alle anschauen. Um nichts in der Welt, hätte ich das verpassen wollen.« Wir rutschen noch enger zusammen, um auch allen zu zeigen, wie Ernst es uns ist und ich kann in den Gesichtern der Leute genau erkennen, wie skandalös sie unser Auftreten finden. Aber davon lassen wir uns nicht beirren. Wir gehen zur Bar, trinken ein paar Cocktails, klauen hier und da ein bisschen Essen von den Tellern, woraufhin sich die Leute immer wieder wundern, wo es denn plötzlich hin ist und ab und zu tanzen wir sogar zur Musik. Bei den langsamen Liedern, die der DJ spielt, hüpfen wir wie die verrückten umher und bei den schnellen, fallen wir uns in die Arme und kuscheln miteinander, was wirklich ausnahmslos alle auf der Tanzfläche nervt. In so was habe ich ja Übung. Immer wieder sehe ich, wie Sora uns nervöse Blicke zuwirft und Kouji sie daraufhin anmeckert, wenn wir uns mal wieder total daneben benehmen. Allerdings traut sie sich nicht uns vor aller Augen rauszuwerfen, also ziehen wir die Show so lange durch, bis wir keine Lust mehr haben. »Ich brauche eine Pause von dem ganzen Quatsch«, meint Yamato und schnappt sich im Vorbeigehen ein Glas Sekt vom Kellner, der uns nur böse mustert. »Ich auch«, stimme ich ihm zu und bin schon völlig außer Atem vom vielen Tanzen. »Wir haben uns hier wirklich keine Freunde gemacht. Ich glaube, Soras Tante Dorothea würde dich am liebsten von unten bis oben aufschlitzen.« Yamato folgt meinem Blick zu einer älteren Dame, die ganz verbittert an ihrem Weinglas nippt und meinen Freund mit ihren Augen tötet. Belanglos zuckt er mit den Schultern. »Ich konnte sie noch nie leiden.« Ich muss lachen, als Yamato mich auch schon mit sich zerrt. »Hey, was hast du vor?« Er zieht mich weg von den Leuten und wirft einen suchenden Blick durch so manche Tür, bis sein Gesicht sich erhellt und er mich in einen menschenleeren Raum führt. Ein Blick über die Schulter, dass es auch ja keiner gesehen hat, dann packt er mich und drängt mich weiter in den dunklen Raum hinein. Seine Lippen landen fordernd auf meinen und ich schmecke den Geschmack von Champagner - lecker. »Willst du hier etwa fummeln?«, lache ich halb betrunken auf, während er seine Hände fordernd über meinen Körper wandern lässt. »Why not? Auf jeder guten Hochzeit gibt es irgendein freaky Pärchen, das Sex hat.« Allein bei dem Gedanken daran, dass wir es hier tun werden, kribbelt es in meinem Bauch. Dann legt er beide Hände auf meinen Po und hebt mich hoch, um mich auf einen der zahlreichen Tische abzusetzen. Ich schreie auf. Erschrocken presse ich mir beide Hände auf den Mund und sehe Yamato mit großen Augen an. »Was ist?«, fragt er. Ich sehe hinter mich. Mein Hintern ist definitiv nicht auf dem Tisch gelandet, sondern in etwas sehr Weichem und Kalten. Mein Finger wandert in das Zeug, was an meinem Kleid klebt. Ich ahne Schlimmes. Yamato schaltet das Licht an, genau in dem Moment, als ich mir den Finger in den Mund stecke und wir beide realisieren, dass ich mich auf eine Torte gesetzt habe. Nicht auf irgendeine Torte - sondern auf den Rand einer dreistöckigen Hochzeitstorte. »Hmm, schmeckt nach Erdbeeren«, stelle ich fest und Yamato muss sich ein Lachen verkneifen. »Shit«, sage ich dann und springe vom Tisch, um mein Kleid zu inspizieren. »Das Teil ist jedenfalls hin.« »Na, das da auch«, meint Yamato und deutet auf die Torte, in der der Abdruck meines Hinterteils soeben verewigt wurde. »So eine Verschwendung«, sage ich. Yamato wirft einen Blick auf meinen Po. »So würde ich das jetzt nicht sagen. Sahne auf deinem Po … das ist mein geheimer Traum.« Ich lache und schlage ihm gegen den Oberarm. »Mist. Und was machen wir jetzt?« Yamato legt den Kopf schief und überlegt. »Vielleicht können wir sie irgendwie retten. Warte mal …« Er beginnt in sämtlichen Schubladen zu wühlen und erst jetzt bemerke ich, dass wir in einer Küche gelandet sind. Hier haben sie wohl die Hochzeitstorte bis zum großen Spektakel um Mitternacht aufbewahrt. Als Yamato anfängt, den Kühlschrank zu durchsuchen und plötzlich »Aha« ruft, ahne ich nichts Gutes. »Was hast du denn vor?«, frage ich, als er mit einer großen Spritztüte wieder kommt. »Das hab ich im Kühlschrank gefunden. Ist anscheinend noch ein Rest Buttercreme.« Ich ziehe eine Augenbraue hoch, weil die Buttercreme rot ist und nicht wie der Rest der Torte zartrosa. »Und was willst du damit anfangen?« »Vertrau mir. Hab ich dir erzählt, dass ich an der Uni ein Semester lang einen Kunstkurs besucht habe?«, beginnt er zu plaudern, während er sich bereits über die Torte hermacht. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe ihm interessiert dabei zu. »Ach, wirklich? Und warum nur ein Semester lang?« »Weil ich grottenschlecht darin war. So … fertig.« Okay, das ging schnell. Er tritt einen Schritt zurück und als ich sehe, was er getan hat, weiß ich ehrlich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ganz oben, auf der dreistöckigen Torte steht ein Brautpaar, was offensichtlich Kouji und Sora symbolisieren soll. Unter Koujis Figur steht in fetter, roter Buttercremeschrift geschrieben: »Ich habe einen kleinen Penis.« Ich pruste los. »Bist du irre?«, frage ich ihn unter Tränen. Verständnislos sieht Yamato mich an. »Hey, ich habe mein Bestes gegeben.« Dann muss auch er lachen, weil das so ziemlich das Schrägste ist, was wir je gesehen haben. »Wenn es ihnen nicht gefällt, können sie die Torte ja einfach umdrehen. Ich meine, dein Hinterteil ist ja nur auf einer Seite zu sehen«, sagt Yamato grinsend, während ich mich langsam wieder beruhige. Wir schalten das Licht aus und verlassen den Raum, als wäre nichts gewesen. Genau in diesem Augenblick kommen Kouji und Sora auf uns zu - deutlich angeheitert. »Mimmmmmiiii«, ruft Sora freudestrahlend und ich weiche instinktiv vor ihr zurück, weil sie mir total aufdringlich um den Hals fallen will. »Wir haben vorhin deine Plätzchen probiert. Man, waren die lecker. Was hast du da reingemacht? Bitte, bitte verrate es mir.« Ach, herrje. Ich verstehe kaum ein Wort, weil sie so undeutlich spricht, während Kouji einfach nur neben ihr steht und wie ein Trottel grinst. »Schön, dass ihr Spaß habt«, antworte ich jedoch nur grinsend, als Yamato mir etwas ins Ohr flüstert. »Bin gleich wieder da.« Er verschwindet in der Menge und ich lasse mich von Sora auf die Tanzfläche schleifen, weil sie dank der Haschkekse nicht mehr so richtig schnallt, was abgeht. Das wird sicher eine super Hochzeitsnacht. Alle sehen uns entgeistert an, als sie ausgerechnet mit mir auf der Tanzfläche erscheint. »Warum ist dein Hintern so dreckig?«, stellt sie fragend fest, lässt mich jedoch nicht ein mal Luft zum Antworten holen. »Ich war ehrlich überrascht, dass du ausgerechnet mit Matty hier aufgetaucht bist«, lallt sie mir ins Ohr und ich verdrehe die Augen. Matty? Oh, Gott! »Findest du, ihr zwei passt gut zusammen? Ich weiß ja nicht … bei Matty darf man nicht prüde sein. Er ist eine Kanooone im Bett«, erzählt sie einfach weiter, ohne, dass ich es wissen will. Sie redet wie ein Wasserfall, was furchtbar ätzend ist. Vor allem, weil sie nur von Yamato spricht. »Bist du sicher, dass du den richtigen Typen geheiratet hast?«, frage ich sie, doch sie verzieht nur das Gesicht. »Hä, was?« Sie hört mich nicht, wow. Anscheinend wollte sie einfach nur einen Monolog darüber führen, wie toll ihr Ex-Freund ist. Normalerweise müsste ich mich darüber schlapp lachen, weil mein Plan mit den Haschkeksen aufgegangen ist, aber gerade finde ich es einfach nur scheiße. Was, wenn Yamato wüsste, wie sie von ihm redet? Er hat ihr schließlich ziemlich lange hinterher getrauert. Würde er mich verlassen und wieder zu ihr gehen? Diese Frage bohrt sich in meinen Kopf, ehe ich es verhindern kann. Und es kommt noch schlimmer. Plötzlich geht die Musik aus und Yamato steht neben dem DJ. »Hey, Leute«, spricht er ins Mikro, wobei sich alle verwundert zu ihm umdrehen. Schmachtend sieht Sora ihn an und seufzt. Ich überlege gerade ernsthaft ihr eine reinzuhauen. »Das nächste Lied ist für eine ganz besondere Frau.« Oh, nein. Warum wirkt er so nervös? Ich schiele zu Sora, die beginnt wie ein kleines Kind auf und ab zu hüpfen. Eindeutig keine gute Idee, die doppelte Menge Haschisch in den Teig zu rühren, Mimi. »Um genauer zu sein«, redet Yamato weiter. »Der Song ist für meine erste, große Liebe.« Meine Kinnlade landet auf dem Boden der Tatsachen, während sich Sora neben mir an die Brust fasst und tief seufzt. Das kann nicht sein. Hat er mich ernsthaft nur mit hierher geschleppt, um Sora so eifersüchtig zu machen, dass sie am Ende wieder auf ihn fliegt und um ihr dann diese Liebeserklärung vor ALLEN Leuten zu machen? Verständlicherweise schauen einige Leute irritiert zur Braut, denn jeder in diesem Saal kennt die Geschichte der Beiden. Mir rutscht das Herz in die Hose und ich möchte augenblicklich im Erdboden versinken. Doch dann erhebt Yamato erneut die Stimme. Ein sanftes Lächeln legt sich auf seine Lippen. »Für meine erste, wahre Liebe, meine ich. Mimi?« Er sucht meinen Blick und ich erstarre. »Ich war schon verrückt nach dir, als du damals deine Tagebuchseiten mit mir gefüllt hast. Du hast das nie gewusst, weil ich mich nie getraut habe, es dir zu sagen, aber … heute möchte ich es nicht mehr für mich behalten. Ich liebe dich, Mimi.« Mir stockt der Atem. Genauso wie Sora, die fassungslos zu Yamato sieht und der gerade so einiges dämmert. Ebenso wie mir. Das hat er mir noch nie gesagt … nicht früher, als wir uns jeden Tag in der Schule gesehen haben und auch nicht in den letzten drei Wochen, als wir quasi jede freie Minute zusammen verbracht haben. Der DJ beginnt das Lied »When You're Gone« zu spielen, welches wir zusammen bei unserem ersten Treffen gesungen haben. Mein Herz weitet sich vor lauter Glück und würde mir am liebsten aus der Brust springen, als er endlich auf mich zukommt und unsere Finger miteinander verkreuzt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Sora uns verständnislos mustert und dann geht, aber das interessiert mich nicht mehr. Ich habe nur noch Augen für ihn. »Mit so einer Liebeserklärung habe ich nicht gerechnet«, sage ich, woraufhin er zufrieden lächelt. »Es sollte ja auch eine Überraschung werden«, antwortet er und nimmt mich in den Arm. »Ich wollte, dass jeder weiß, dass ich jetzt zu dir gehöre. Ich wünsche mir, dass das ab jetzt immer so ist.« »Ich auch«, seufze ich an seiner Brust. »Ich liebe dich wirklich sehr, Yamato.« Ich schaue zu ihm auf und gehe auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. Wir tanzen zu unserem Lied, bis ein spitzer Schrei den Saal durchdringt und alle verwundert aufsehen. Unsere Köpfe wirbeln herum und wir sehen sofort, dass der Schrei aus dem Raum mit der Torte kam. Es folgt wütendes Geschimpfe und Gerede von Sora und Kouji, während einige Gäste bereits nervös werden und neugierige Blicke in den Raum werfen. Was für eine Show. Ich kichere, als Yamato mich anstupst. »Zeit zu gehen?« »Zeit zu gehen«, sage ich und wir schlüpfen unerkannt an der Meute vorbei, bis wir dieses ganze Hochzeitschaos hinter uns lassen und raus auf die Straße treten. Wir nehmen uns ein Taxi und als wir endlich auf der Rückbank sitzen, kuschle ich mich an Yamatos Schulter, während er einen Arm um mich legt. »Das war eine ziemlich verrückte Aktion«, grinse ich immer noch breit, weil ich mir vorstelle, wie Sora gerade völlig high vor dieser Torte steht und ausrastet. »Stimmt«, meint Yamato und zieht mich noch enger an sich. »Aber ich finde, es hat sich gelohnt.« »Das finde ich auch«, lächle ich und gebe ihm einen Kuss, weil wir beide ganz genau wissen, dass wir nicht die Hochzeit meinen. Denn das, was wir heute gefunden haben, hatten wir eigentlich schon die ganze Zeit über. All die Jahre sind verstrichen, ohne dass wir voneinander wussten. Erst dachte ich, diese Zeit wäre verschwendet gewesen. Doch nach den letzten drei Wochen und nach heute Abend weiß ich, dass das nicht stimmt. Stattdessen habe ich das Gefühl, dass an jedem einzelnen Tag in der Vergangenheit, an dem wir getrennt waren, unsere Gefühle füreinander nur noch stärker geworden sind. Wir haben sicherlich vieles aufzuholen, aber wir sind beide nicht mehr verbittert über unsere gescheiterten Beziehungen, denn sie ließen uns reifen und wären sie nicht gewesen, hätten wir vermutlich niemals den Mut aufgebracht, uns unsere Gefühle zu gestehen. Wir wären nicht die Menschen, die wir heute sind, das ist mir nun klar geworden. Trotzdem: das heute, war der allerletzte Ausflug in die Vergangenheit, die wir nun endgültig und ein für alle Mal hinter uns lassen. Ab jetzt sehen wir nur noch in die Zukunft - gemeinsam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)