Solution X von Karo_del_Green (Zwischen Schatten und Licht) ================================================================================ Kapitel 4: Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod - 4 ------------------------------------------------- Folge 1 ~Teil 4 - Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod~ Sofort rappele ich mich auf und suche nach meinem Kollegen. Pastor hockt nur ein paar Meter neben der Mülltonne, die mich hätte treffen sollen und blickt mir mit erschrockenen Augen entgegen. Ich sehe, wie sich sein Mund bewegt, aber kein Laut dringt aus seiner Kehle. Die Wucht der Energie hat Spuren an ihm hinterlassen. Seine Haare sind zerzaust und er hat Blut am Ohr. Ich stolpere auf ihn zu, packe ihn an den Schultern, sodass er mich vollkommen fokussiert und ziehe ihn hoch. „Was war das? Was ist hier gerade passiert?“, fragt er mit zittriger Stimme, „Wo ist er? Wo... ist Izan?“ „Er ist verschwunden und wir müssen ihn unbedingt finden. Aber wir werden vorher sicher gehen, dass sich niemand weiteres hier aufhält. Haben Sie mich verstanden?“ Meine Worte sind ein wenig harsch. Doch es klappt. Er scheint sich wieder zu fassen. Pastor nickt langsam, streicht sich die Haare zurück und tastet nach seiner Dienstwaffe im Holster. Sie wird ihm kaum helfen, aber sie gibt in solchen Situationen eine gewisse Sicherheit. „Sie gehen nach Westen. Gelände sichern. Ausschau halten. 10 Minuten, dann treffen wir uns wieder hier“, weise ich an. Ich krame mein Handy hervor, aktiviere die Ortung und einen Timer, während Pastor sich die wirren Haare zurückstreicht und erneut nickt. Ich habe das Gefühl, ich müsste irgendetwas Aufbauendes oder Erhellendes sagen, doch ich schweige. Stattdessen deute ich ihm die Richtung an, in die ich gehe und in die Izan verschwunden ist. Sich zu trennen, war, zugegebenermaßen, nicht die beste Idee, aber ich brauchte einen Moment, um nachzudenken, mich zu sammeln. Ich habe eine Ahnung, was mit Izan passiert sein könnte und hoffe inständig, dass ich falsch liege. Ich drücke mich dicht an der Wand entlang, während ich langsam durch die Gasse in den hinteren Bereich des Gebäudekomplexes gelange. Vor mir erstreckt sich ein unerwartet weites Gelände, welches erst nach mehreren hundert Metern in ein Nachbargrundstück mündet. Einige der anliegenden Häuser sind kaum mehr als Ruinen, verfallene Baracken. Berge von Schutt und Abfällen türmen sich auf und versperren mir die Sicht. Der Junge könnte überall sein. Die Möglichkeiten, sich hier zu verstecken, sind endlos. An einer der übriggebliebenen Wände leuchtet eine Außenlampe. Wenigstens flackert sie. Sie flackert, wiederhole ich leise und mir wird klar, dass entgegen meines ersten Gedankens, nichts Gutes bedeutet. Er ist hier. Ganz in der Nähe. „Izan?“, rufe ich den Namen des Jungen. Er verhallt in der Dämmerung und war ohnehin nicht sonderlich energisch. Wie war das doch gleich mit der bedrückenden Kulisse und den verlassenen Häusern? Horrorklischees und Warnung? Kaputte Straßenbeleuchtungen sind mitnichten ein gutes Zeichen. Mein Blick wandert aufmerksam hin und her. Diesmal bin ich definitiv gewarnt, aber ich fühle mich nicht wesentlich besser vorbereitet. Ein Schatten huscht über ein leergeräumtes Fundament und ich stoppe in der Bewegung. Das Kichern eines Kindes ertönt. Es verhallt mit Gewitter auf meiner Haut und lässt ein tiefes Lachen eines Mannes folgen. Beides dröhnt durch die Dämmerung und schürt die Obacht an mir noch weiter. Ich versuche etwas zu erkennen, aber sehe nur huschende Schatten, die durch das tiefstehende Licht überall und nirgends zu sein scheinen. Das Knacken von Glas. Ich wende mich ruckartig um. Es spielt mit mir. Ich halte ungewollt die Luft an, als wieder das Kichern ertönt. Diesmal ist es das einer Frau. Es ist hell und scheint an den vereinzelten Wänden widerzuhallen. Ich kann nicht verorten, woher es kommt. „Damast!“ Als ich mich umdrehe, erkenne ich, wie Pastor heftig atmend auf mich zu gelaufen kommt. Seine Haare sind mittlerweile klitschnass und er schnieft, während er bei mir ankommt. Der Regen hat die Schmutzspuren auf seiner Wange verwischt. Er streicht sich mit dem Handrücken Feuchtigkeit vom Philtrum und leckt sich über die Lippen. Ich sehe vermutlich nicht besser aus und merke deutlich, wie die nassen Klamotten unangenehm an meiner Haut kleben. „Dort drüben ist noch ein Teil des Friedhofs. Da habe ich jemanden angetroffen. Einen älteren Herrn und seine schwangere Tochter. Sie habe ich weggeschickt. Izan konnte ich nicht finden“, sprudelt es aus ihm hervor. Obwohl er außer Atem ist, sagt er das alles, ohne Luft zu holen. „Wo ist er?“ Ich schüttele den Kopf, um ihm zu verdeutlichen, dass ich ihn nicht gefunden habe. Aber ich kann ihn mit wachsender Sicherheit spüren. Das schwere Knistern in der Luft ist unverkennbar. Er beobachtet uns. Er spielt mit uns. Es ist kein Zufall, dass wir den Jungen hier angetroffen haben. Ich erkenne die Gegend. Hier wurde der tote Obdachlose gefunden. Ein paar Aufgänge entfernt. Und hier ich hatte die unangenehme Begegnung mit dem Golem. Irgendwas muss Izan hierhergezogen haben. Meine Vermutung, was es ist, hat sich verstärkt. Ein Dibbuk. Ein Totengeist. Es wird Pastor nicht gefallen. „Was machen wir jetzt? Wir müssen ihn finden!“, durchbricht der andere Detective das Schweigen und holt mich in die Realität zurück. Er hat Recht. Wir müssen etwas tun. „Vielleicht können wir ihn zu uns locken...“, schlage ich vor und taste nach der defekten Spieluhr in meiner Jackentasche. Pastor beobachtet mich und sieht fragend zu mir auf „Wieso sollte das Ding ihn herlocken?“ „Ich glaube, er will es zerstören, damit sie nicht wieder sein Gefängnis wird.“ Möglicherweise ist er deshalb nicht abgetaucht. Er hat gespürt, dass ich sie habe. Ein helles Lachen zerreißt den Moment und im nächsten Augenblick erfasst uns abermals eine Energiewelle, die uns zu Boden ringt. Pastor wird über den Beton hinweg gegen die Mauerreste des Hauses gedrückt. Ich hingegen falle rückwärts über die Kante des Fundaments und rolle in einen verwilderten Garten hinein. Durch den Schwung fliegt mir das Kästchen aus der Hand. Ich komme erst in einer flachen Pfütze zum Stehen. Das dreckige Wasser ist bitter auf meinen Lippen und ich will mir lieber nicht vorstellen, was alles darin rumschwimmt. Gut, dass es so dunkel ist, dass ich es nicht sehe. Ich rappele mich auf, streiche mir den Dreck aus dem Gesicht und blicke mich nach der Spieluhr um. Sie liegt nur ein paar Meter von mir entfernt und ich krabbele schnell darauf zu. Ich greife zu. Doch dann steht er unvermittelt vor mir. Sein Fuß auf meiner ausgestreckten Hand. Izan tritt nicht zu, und ich ziehe sie nicht weg. Stattdessen schaue ich auf. Wieder verfärbt sich sein linkes Auge in ein auffällig leuchtendes Blau. Von außen nach innen. Er starrt mich direkt an. Oder vielmehr es, denn nichts als die Hülle des Jungen steht vor mir. Sein Körper scheint mit der Dunkelheit zu verschwimmen und nur der Schein des Mondes umspielt die Gestalt, bevor er hinter einer weiteren Wolke verschwindet. Die Schatten tünchen es nur unwirklicher und der Regen macht es unangenehmer. Izans Mund öffnet sich, weitet sich zu bis an die Grenzen und darüber hinaus. Das Knacken ist leise, aber hörbar. Es durchbricht die Stille mit Intensität und tiefgreifenden Unbehagen, welches nicht allein ich spüre. Izan neigt seinen Kopf langsam zur Seite, ohne den Fokus auf mich zu brechen und ohne einen Ton von sich zu geben. Das Bild, welche es sich uns bietet, ist nahe zu grotesk. „Damast!“, ruft Pastor und rammt den Jugendlichen zur Seite, sodass ich mich endlich aufrichten kann. Ich greife mir die Spieluhr und sehe zu dem im Morast liegender Körper des Jungen. Ein Lachen zerreißt die Nacht. Erst schrill, dann wird es immer tiefer, bis es fast bebt. Pastor neben mir zuckt zusammen, als eine Stimme ertönt, die nicht die des Jungen ist. Sie spricht eine fremde Sprache. Für einen Moment spüre ich seine Hand, die nach meinem Ärmel greift. Nur eine hilflose Geste, um in irgendeiner Weise die Anspannung zu mildern, die uns beide mit festem Griff umklammert. Die Luft um uns herum ist zum Bersten gespannt. Ich habe keine Ahnung, wie stark der Dibbuk ist, wie viel Hoffnung noch besteht. Ein Stein neben meinem Fuß rückt näher, schlägt gegen die Gummisohle des Schuhs. Ich starre ihn an. Die Bewegung wird langsam stärker, bis der Stein erzittert. Ich sehe zurück zu Izan und die Atmosphäre, um ihn herum beginnt zu flimmern und zu verschwimmen. Dann... Der Aufschrei des Dibbuk durchdringt mich mit heftigem Schauder. Ich ducke mich und versuche den entstehenden Schmerz in meinem Kopf abzumildern. Doch es ist zwecklos. Die Energie, die er freisetzt, lässt die Luft vibrieren und ich erkenne durch zusammengekniffene Augen, wie sich langsam einige der kleineren Gegenstände um uns herum in die Höhe heben, so als wären sie nicht mehr den physikalischen Gesetzen unterlegen. „Pastor, wir sollten in Deckung gehen“, schlage ich vor und packe bereits seinen Arm. Als nächstes trifft ihn ein Stück Holz. Zum Glück nur am Bein. „Was passiert hier? Was ist das?“, ersucht er panisch und weichem einen vorbeischnellenden Ziegelstein aus, der geräuschvoll an der Hauswand zersplittert. „Ein Dibbuk.“, spreche ich aus. Mit dem nur einem leuchtenden Auge bin ich mir sicher. Gleichzeitig gehen wir hinter einem alten, liegenden Kühlschrank in Deckung. „Und was zur Hölle ist ein Dibbuk?“ „Ein Totengeist aus dem jüdischen Volksglauben.“, erkläre ich weiter und ohne großes Tamtam. „Jüdischer Volksglauben? Izan ist katholisch...“ „Na, das interessiert den Dibbuk herzlich wenig. Er freut sich einfach über einen willigen Geist und den hat er in dem Jungen definitiv gefunden. Glaubensrichtung hin und her. Er ist von ihm besessen.“ Mir ist egal, dass es unsensibel klingt und genauso gleich ist es mir, ob mir der andere Mann glaubt oder nicht. Wir haben keine Zeit für die sanfte Tour oder die heimelige Bibliotheksführung durch die Reihen der Religionswissenschaften. Der Dibbuk in Izan ist gefährlich und angenommen, dass Widerstand in dem Jungen herrscht, wird er töten. So lange, bis seine Gegenwehr bricht und er ihn vollständig besitzt. „Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich über einen jüdischen Totengeist sprechen.“, wettert Pastor fassungslos und eindeutig ungläubig. Dafür haben wir keine Zeit. Diese Diskussion führt uns zu nichts und wird uns auch nicht dabei helfen, den Dibbuk loszuwerden. „Von mir aus kannst du dir auch einreden, dass es ein Glücksbärchie ist, der statt Regenbögen Verwesung kotzt!“, belle ich übertrieben zurück und gebe einen Scheiß auf die sonst übliche Etikette. Wir müssen Izan außer Gefecht setzen, egal wie und ihn schnellstmöglich zum Rebbe bringen. Alles andere brächte nur größeres Unheil mit sich. „Dann mach einen Exorzismus.“ „Seh ich aus wie ein Rabbi? Und das ist nicht so einfach... Es darf nicht jeder wild irgendwelche Exorzismen vornehmen. Das ist gefährlich.“ „Was bist du denn für ein Geisterjäger?“, schnauzt er vorwurfsvoll. „Ich bin Polizist und kein Ghostb...“ Ich stoppe, weil sich der Kühlschrank ruckartig in unserem Rücken bewegt und uns dezent einen halben Meter wegschiebt. Izan ist nähergekommen und damit wird die Energie stärker. „Er steckt nach wie vor in einem menschlichen Körper. Die sind weich und gehen kaputt. Du hast doch deine Waffe dabei, oder?“, kommentiere ich, stemme mich gegen unsere Barriere, um nicht zerquetscht zu werden und versuche mit einer Hand in die Richtung seines Holsters zu deuten. „Das ist nicht dein Ernst?“, erwidert er entsetzt und sieht mich mit diesen hoffnungslos freundlichen Teddybäraugen entgeistert an. Echt wirkungsvoll. „Wir müssen ihn ja nur k.o. kriegen.“, relativiere ich meinen Vorschlag. „Ich werde nicht auf ihn schießen. Das ist gefährlich“, echot er bissig und diesmal schaffe ich es nicht, mir ein Augenrollen zu verkneifen. „Wo ist überhaupt deine Waffe?“ „Da, wo sie niemanden gefährlich werden kann“, entgegne ich gelassen, drehe mich um, weil sich der Kühlschrank nicht mehr bewegt und luge vorsichtig über diesen hinweg. Alle eben schwebenden Gegenstände fallen zu Boden. Überall ertönt leises Platschen und dumpfes Rumsen. Ein Surren in der Ferne und das gleichmäßige Prasseln des Regens runden die Kakophonie des Gespenstischen ab. Ich strecke meine Hand unbewusst nach Pastor aus, als dieser ebenfalls einen Blick riskieren will und spüre, wie mich gleich darauf ein tiefgehender Schauer erfasst. Heftig. Schnell. Er ist kalt, zerrend und legt sich um meine Glieder, wie eine beißende Fessel. Dieses Gefühl, es ist genau dasselbe, welches ich vor ein paar Tagen schon mal gespürt habe und kein gutes Zeichen ist. Ehe ich reagieren kann, ist es zu spät. Er ist da. Ich ziehe den Kollegen zurück, bevor etwas Undefiniertes, aber großes neben uns einschlägt und den Kühlschrank komplett verbeult. Eine Welle voller Schlamm und Schuttpartikel ergießt sich über uns und meine Sicht ist für einen Moment vollkommen getrübt. Ich höre das unterschwellige Grölen, kann es aber nicht verorten. Wie auch, ich kann absolut nichts sehen. Der schlanke Körper des besessenen Jungen schlägt neben einem Stapel Holzlatten auf und bleibt liegen. Der Dibbuk scheint sich zurückgezogen zu haben, denn ich höre das leise Wimmern des Jugendlichen und wie er wiederholt Pastors Namen sagt. Sein Murmeln ist pure Verzweiflung. Er will unseren Schutz und lässt dem Jungen kontrolliert die Oberhand. Pastor neben mir hustet. „Der ältere Mann vorhin vom Friedhof...trug er eine Kippa?“, frage ich hastig, als er wieder dichter zu mir aufschließt. Pastor hat keine Zeit, um zu antworten, denn erneut erfasst uns eine Schlammwelle, verursacht durch einen weiteren Schutthaufen, der in unsere Richtung gerammt wird. Er stoppt nur wenige Zentimeter neben uns und schon baut sich der Golem direkt vor uns auf. Ein Grölen zerreißt die Nacht und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Das darf nicht wahr sein. „Fuck!“, entflieht mir erstickt, als ich das unmissverständliche Zeichen deute. Wir werden elendig krepieren, echot es durch meinen Kopf zerquetscht. Zermatscht. Zerdrückt. Alles das. Einfach nur platt. Ich ersticke den Gedanken sofort im Keim. Sterben ist keine Option. Die nächste Welle wird durch den Aufschrei des wieder aktiven Dibbuks gebrochen, der eine Art temporären Energiewall um sich herum bildet, der uns praktischerweise miteinschließt. Ich nutze die Gelegenheiten, rappele mich auf und greife mir eine der Eisenstangen, die hinter uns auf einem der Haufen liegen. An einem Ende befinden sich Reste von Beton, was sie unhandlich, aber definitiv effektiver macht. Ruckartig erheben sich etliche kleinere Objekte vom Boden. Schutt. Steine. Metall. Sie schweben für einen Moment still in der Luft. Pastor schließt zu mir auf und schaut mich fragenden Augen an. Ein weiterer Schrei. Ich ziehe Pastor nach unten, ehe auch er sich eine Stange nehmen kann und verhindere somit, dass er als nächstes von den weggeschleuderten Gegenständen getroffen wird. Die anderen Eisenstangen zischen über unsere Köpfe hinweg und in die Richtung des Golems. Sie reißen etliches von ihm fort, aber halten ihn nicht auf. Ein Krachen. Ein Splittern. Es wird noch etwas dunkler, da eine der letzten Außenbeleuchtungen erlischt. Als ich wieder aufblicke, kann ich gerade noch sehen, wie das gewaltige Ungetüm den schlanken Körper des Jungen erreicht und wie dieser ihn mit einem impulsiven Ruck zur Seite zerrt. Die wirkenden Kräfte reißen die Seite des Tonkörpers in Zwei und schleudern den Jungen zu Boden inmitten des Schlamms. Ich denke nicht, ich handle und greife die Eisenstange fester und lasse mich von den Energien in die Richtung des Golems ziehen. Unvermittelt ramme ich die Stange in den massiven Leib, durchtrenne den letzten Verbindungspunkt und schaffe es, dass sich der gesamte obere Teil des noch frischen Tonkörpers zu Boden schiebt. Übrig bleibt die untere Hälfte, die verharrt und darauffolgend zusammenfällt. Das tiefe Raunen, welches in die Nacht entflieht, dämpft meine Freude ein wenig. Der Golem ist nicht besiegt. Er wird sich wieder zusammensetzen. Und er wird noch wütender sein als zuvor. „Verdammt, was um Himmelswillen war das?“, ruft Pastor aufgeregt als etwas Ruhe einkehrt. Seine Stimme wird dabei eine Oktave heller. Ich sehe, wie er mit entsetztem Gesichtsausdruck zuerst zu mir, zum Golem und dann zu Izan blickt, dessen erschöpfter und regloser Körper am Boden liegt. Ich versuche selbst wieder zu Atem zu kommen und ignoriere den Schmerz in meinem Handgelenk, der nach dem heftigen Schlag stärker geworden ist. „Ein Golem.“, antworte ich. „Ein... ein Golem... ein was?“, stottert er entsetzt. Sein Blick fällt zurück auf den scheinbar leblosen Körper des Jungen und der Gedanke ist erstmal verdrängt. „Izan!“ Damit springt er auf und stürzt auf ihn zu. Verzweifelt hockt er sich neben Izan, murmelt wieder und wieder den Namen des Jugendlichen und beginnt sorgsam, dessen Vitalwerte zu prüfen. Mit vor Kälte zitternden Fingern herrschen erschwerte Bedingungen vor und ich sehe zu, wie er immer aufgeregter wird. Selbst Pastors Unterlippe bebt. Ich versuche, sicherzugehen, dass wir nicht in einen Hinterhalt geraten und hocke mich ebenfalls hin. Auch ich prüfe den Puls des Jungen. Schwach, aber vorhanden. Sein Gesicht ist fahl. Seine Lippen kaum von der umgebenden Haut zu unterscheiden. Wir müssen ihn unbedingt hier wegbringen, sonst wird sein Körper weiteren Schaden nehmen. „Pastor? Pastor…Luis!“, brülle ich meinen Nebenmann entgegen. Erst mit seinem Vornamen reagiert er. Er versteht es nicht. Wie sollte er auch? Es bahnt sich ein Schock an, ich kann es sehen und das ist das letzte, was wir jetzt brauchen. Ich greife nach seinem Handgelenk, umklammere es mit Nachdruck. Ich deute auf den Jungen und danach in die Dunkelheit. Pastor begreift ohne Worte, dass ich will, dass wir ihn aus der Gefahrenzone bringen, während der Golem ungesehen damit beschäftigt ist, sich zu revitalisieren. Ich schaue mich ein letztes Mal um. Die Sicht ist schlecht. Das letzte übriggebliebene Licht ist bei dem kurzen Kampf erloschen. Uns umgibt nichts als Dunkelheit und ab und an wolkenverhangenes Mondlicht. Pastor tastet nach seinem Handy, bis ihm einfällt, dass es zerbrochen auf der Straße liegt. Ich gebe ihm meins und er lässt den Schein der Taschenlampe erleuchten. Ich entdecke einen Stapel mit Wellblechplatten und deute in diese Richtung. „Dort!“, weise ich an. Sein Blick folgt meinem ausgestreckten Arm. Er nickt, packt den Oberkörper des regungslosen Jungen, während ich nach seinen Beinen greife. Gemeinsam ziehen wir ihn zu den Wellblechen. Der Boden unter unseren Sohlen ist weich und matschig. Es ist nicht leicht, auch wenn Izan kaum etwas wiegt. Das dünne Metall vibriert schallend durch die Nacht, als wir eine der Platten vom Stapel zerren. Ein Knurren ist zu hören und ich halte inne, sehe in die Richtung des Golems. „Oh oh.“, murmele ich, mehr zu mir selbst als zu dem anderen Mann. Wir heben gemeinsam eine weitere Platte von dem Stapel und schirmen den ohnmächtigen Jungen bestmöglich ab. Es folgt ein bedrohliches Donnern, welches von dem Ungetüm ausgeht, das sich sichtbar von dem dunklen Erdboden erhebt. Erst nur der Rumpf. Massiv und gewaltig. Wie rückwärtige Tropfen schließen sich die Gliedmaßen an und es entsteht erneut ein vollständiger Leib. Die schwarzen Augenhöhlen scheinen alles zu verschlingen. Jedes Quäntchen Licht, jede noch so winzige Reflexion. Wir haben nur kaum Zeit, um zu reagieren. Pastor greift automatisch zu seiner Waffe und richtet sich auf. Es fallen drei Schüsse. Sie hallen laut durch die dicke, feuchte Luft um uns herum. Jede Kugel trifft, doch sie verschwinden nur in dem massiven Leib und richten keinerlei Schaden an. Irdische Waffen haben keine Chance und mir ist nicht klar, was er erwartet hat. Mein Kollege starrt auf die Löcher im Oberkörper des Wesens, welches sich fast vollständig aus dem Boden erhoben hat und scheinbar immer größer wird. Das mag nur der zunehmenden Furcht geschuldet sein, die wir beide empfinden, aber wer kann es uns verübeln. „Was machen wir jetzt?“, fragt Pastor und seine sonst beruhigende Stimme ist auffällig spitz. Ich schüttele vorsichtig und abwägend meinen Kopf, um ihm zu verdeutlichen, dass ich an einem geeigneten Plan arbeite. Eins nach dem anderen. Ich ziehe zwei weitere Wellpappen über den reglosen Körper des Jungen, sodass er vollständig versteckt ist und deute dem Detective an, dass wir ein neues Versteck suchen sollten, um den Golem von Izan abzulenken. „Denk schneller! Wie macht man dieses Ding unschädlich?“, platz es aus Pastor hervor, als wir beiden hinter einem Haufen mit Holzpaletten in Deckung gehen. Wenn es so einfach wäre, wäre ich beim letzten Mal nicht nur um Haaresbreite den Tod entkommen. Ein Gedanke, den ich ihm lieber nicht preisgebe. In meinem Kopf arbeitet es fieberhaft und der panische Druck Pastors ist nicht hilfreich. Ich beiße die Zähne zusammen, während ich allerhand Verse und Passagen der talmudischen Haggadah durchdenke, die etliche Erzählungen und Sagen vereint. Der Ursprung der Volkssage des Golems ist nicht bekannt, deswegen gibt es viele Mythen und Entstehungsgeschichten, was die Zerstörung leider unangenehm umständlich macht. Ich denke an das Buch der Schöpfung, einen Text der Kabbala. „Der Erweckungsspruch unter seiner Zunge…“, spreche ich den ersten greifbaren Gedanken aus, der sich hervor arbeitet. Wieso bin ich nicht früher darauf gekommen? Der Rabbi hatte beim letzten Mal den Spruch aus dem Mund des Golems hervorgeholt. „Sein was? Wo?“ Das verwirrte Entsetzen in Pastors Blick ist seltsam erheiternd. Ich grinse, schaffe es aber einen Lacher zu unterdrücken. „Ein Erweckungsspruch, der beim Heraufbeschwören verwendet wird. Er muss sich in seinem Mund befinden.“, gebe ich enthusiastisch von mir, gestikuliere wirr mit meinen Händen und sehe mich nach etwas um, was uns dabei helfen könnte, an den Golem heranzukommen. „Wieso der Mund?“ „Er hat ihn nicht auf Stirn stehen, oder?“, motze ich zurück. „Was? Wieso jetzt die Stirn?“, fragt sichtbar verwirrt. Ich gebe einen verzweifelten Laut von mir und bin sicher, dass der Golem nicht mehr lange auf sich warten lässt. „Okay, okay. Laut Mythologie gibt es verschiedene Methoden, einen Golem zu erwecken. Entweder ein Zettel mit dem Wort `Emeth` auf der Stirn oder unter der Zunge. Damit der Golem wieder zu unbelebtem Ton zerfällt, müssen wir ihn nur entfernen oder den ersten Buchstaben tilgen. Von Leben zu Tod“, erkläre ich hektisch und gestikuliere dennoch die Stellen zeigend mit. „Nur?“, entgegnet er bestürzt. Pastors Stimme ist mittlerweile konstant eine Oktave höher und sein Gesichtsausdruck spricht Bände. „Na ja, es wäre definitiv einfacher, wenn sein Erschaffer hier wäre. Der könnte ihn zurückrufen.“ „Erschaffer?“, wiederholt er seufzend, „Und wer, um Himmelswillen, würde sowas freiwillig erwecken?“ „Naja... der Rabbi... vermutlich den, den du nach Hause geschickt hast.“ Im Grunde bin ich mir sicher, denn er war es schon beim letzten Mal gewesen. Die Feststellung spare ich mir aber. „Der Rabbi?“, entflieht es ihm entsetzt, „Dieser Rabbi? Ist das dein Ernst? Wieso hast du nichts gesagt?“ Wieder das Du. Pastor deutet mehrmals zu dem angrenzenden Friedhof. Ich kann mir ein schuldbewusstes Grinsen nicht verkneifen. „Hättest du mir geglaubt, wenn ich von einem riesigen Ungetüm aus Ton erzählt hätte, das uns eventuell töten würde?“, kommentiere ich trocken. Noch dazu habe ich nicht damit gerechnet, dass der Rabbi meine durchaus ernstgemeinte Ermahnung ignoriert. Das gibt sicher Ärger mit Lamark. „Natürlich nicht...“, entgegnet Pastor resolut. Warum auch? Ich sehe ihn mit hochgezogener Augenbraue an, ohne irgendetwas zu entgegnen. „Okay, und wie ist der Plan?“ „Du musst die Erweckungsformel von seinem Körper entfernen. Der Golem will nicht uns, er will den Dibbuk. Das können wir also zu unserem Vorteil nutzen.“ Ich deute zu Izans besessenen Leib, der verborgen unter den Wellblechen ruht. „Das können wir nutzen? Moment mal, wieso ich?“ „Ich bin gehandicapt.“, erkläre ich und hebe meinen geschienten Arm in die Höhe. Ich sage nicht, dass daran der Golem schuld war. „Mein Rang ist höher und du bist jünger.“ Ein weiteres eher schleichendes Argument. Wir müssen von zwei Seiten angreifen und ich will ihn nicht entmutigen. Gerade als Pastor den Mund aufmacht, um zu widersprechen, kracht es neben uns und ein Teil der gemauerten Wand rieselt auf uns hinab. Der Golem schaltet auf Verwüstung und lässt dabei den abgeladenen Müll fliegen. Zum Glück ist er nicht sehr schlau. Er spürt die Anwesenheit des Dibbuks und wir stehen ihm im Weg. Ein größeres abgeplatztes Farbplättchen bleibt auf Pastors dunkler Augenbraue hängen, aber keiner von uns beiden bewegt sich. Ich bin mir sogar sicher, dass niemand von uns atmet. Wir lauschen, vernehmen das unmenschliche Raunen und Murren. Eigentlich sind es keine wirklichen Laute, sondern ein grollendes Echo. Es ist äußerst furchterregend und geht einem direkt in Mark und Bein über. Ich bin der Erste, der erneut eine auffordernde Geste in dessen Richtung macht und ernte zunächst ein vehementes Kopfschütteln, dann einen bissigen Gesichtsausdruck und zum Schluss die von mir erwünschte Resignation. Wir können nicht länger warten. Wir müssen handeln oder wir werden es nicht schaffen, den Jungen zu retten. Der Detective aus dem 12. Revier rappelt sich auf und lugt über die Holzpaletten hinweg zu dem stampfenden Ungetüm, welches sich aufbäumt und in Position bringt. Doch dann hält er mitten in seiner Bewegung inne, dreht sich ruckartig zu mir und packt meinen Oberarm. „Hat das Ding Zähne?“, fragt Pastor besorgt. Ich starre in das erschreckend symmetrische Gesicht des anderen Mannes und denke darüber nach. Pastors Augen weiten sich, als ich nicht sofort verneine. „Wieso sagst du nichts?“ Die wachsende Panik ist deutlich herauszuhören. „Ich überlege noch…“, erwidere ich zu seiner Unzufriedenheit. Ich sage ihm nicht, dass das das kleinste unserer Probleme ist. Pastor lässt mich los und ich höre ihn leise fluchen, während er in seine Angriffsposition zurückkehrt. „Was für ein Alptraum...“, murmelt er, streicht sich die feuchten Haare zurück und das Farbplättchen von der Augenbraue. Es bleibt an seiner Schulter hängen. Ich widerspreche nicht, denn aus diesen Erscheinungen wurden seit jeher Albträume gemacht. Pastor greift sich eine der rumliegenden Metallstangen, fasst sie fest mit seinen klammen Fingern und versucht zu atmen. „Okay, versuch unbemerkt hinter ihn zu gelangen, während ich versuche ihn...“, setzt er an und sieht sich um, „...dorthin zu locken.“ Er deutet zu einer schmalen Böschung. Eine Erhöhung könnte helfen, an den massiven Körper heran zu kommen. Auch ich begebe mich in Position und nicke. „Komm von der anderen Richtung, zieh dann die Aufmerksamkeit auf dich und versuche, an ihn ranzukommen.“, weist er mich an, ehe er die Metallstange gegen einen alten Bauzaun schlägt und ein schepperndes Geräusch verursacht. Es klappt. Der Golem brüllt und Pastor rennt los. Ich warte ein Fünkchen länger, bevor ich die Gegenrichtung nehme und von der anderen Seite zur Böschung gelange. Ich rutsche einen der Hügel hinab und halte nach Pastor Ausschau. Ich sehe zuerst den Golem und dann, wie Pastor einen Schlag ausweichend in die Böschung kullert. Mist. Ich taste hastig nach meinem Telefon, aktiviere den Musikplayer und stelle das Gerät auf die höchste Lautstärke bis Taylor Swifts ´Shake it off´ die Nacht durchdringt. Auch das funktioniert, denn das laute Geräusch lenkt das Ungetüm ausreichend ab, sodass Pastor es schafft, sich auf zu rappeln. Ich werfe das tönende Gerät in die Gegenrichtung der Böschung und sehe, wie der Kopf des Golems der lauten Musik folgt. Jeder Schritt verursacht ein klatschendes Geräusch, als ich durch den Schlamm auf den Golem zu renne. Mit aller Kraft packe ich den Arm des Ungetüms und ziehe ihn mit dem ganzen Körper zurück, sodass er nicht nach Pastor greifen kann. Der Riese strauchelt und stößt mich mühelos davon. Ich lande wenig grazil neben einem Schuttstapel, erkenne aus dem Augenwinkel heraus, wie Pastor hinter dem Golem auftaucht und sehe nur noch, wie der massive Leib den anderen Detective unter sich begräbt. Dann wird es still. Zu still. Ich wische mir mit einer schnellen Bewegung den feuchten Dreck aus dem Gesicht, der mein Blickfeld einschränkt und ignoriere den stechenden Schmerz in meinem Handgelenk als ich mich hochstemme. Die Dunkelheit und der Regen lassen alles zu einer gleichartigen Masse verschwimmen. Ich erkenne keine Konturen mehr. Nur grauen Matsch. „Pastor?“, rufe ich und versuche wieder zu Atem zukommen. Ich wiederhole den Namen des anderen Detectives. Einmal. Zweimal. Nichts regt sich. Einzig der Regen umhüllt mich mit seiner klaren Melodie, spielt seinen eigenen, besinnlichen Song auf den abgedeckten Wellblechen. Ich spüre Panik in mir simmern. Shit. Was, wenn er es nicht geschafft hat? Es ist nicht der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf jagt, als ich mich vollends aufrappele. „Detective?“ Diesmal klinge ich besorgt. „Pastor?“, erkundige ich mich erneut und krieche auf allen Vieren auf die Stelle zu, wo ich ihn vermute. Der Boden unter meinen Händen und Füßen ist kalt und zäh. Mit einem deutlichen Uff setzt sich der Angesprochene abrupt auf und ich falle erleichtert und erschrocken zur Seite, als er sich mit der Handfläche sein beschmiertes Gesicht freilegt. Er sieht mich benommen und ungläubig an. „Na geht doch…“, rufe ich überschwänglich aus, versuche den Druck aus meiner Brust zu nehmen, da ich selbst komplett fertig bin. Nichts als Galgenhumor und das Beste, was ich in diesem Moment zu bieten habe. „Echt jetzt?“, entflieht es dem anderen keuchend und eindeutig an meinem Verstand zweifelnd. Ich kann es ihm nicht verübeln. Pastor wischt sich eine weitere Schicht Dreck von der Stirn und hinterlässt eine neue. Ich gehe nicht auf den triefenden Sarkasmus ein, lasse mich stattdessen vorwärts auf die Knie fallen und schiebe suchend die feuchte Erde hin und her. So lange, bis ich endlich den festen Pergamentschnipsel freilege. Beruhigt greife ich zu und streiche mit dem Daumen über die fünf notierten Schriftzeichen. Der Regen macht den Rest. Mein Herz rast energisch, als ich vorsichtig den ersten Buchstaben abtrenne und erst jetzt fällt das letzte bisschen Beklommenheit von mir ab. Erleichtert rutsche ich zu Pastor und bleibe neben ihm sitzen. Ich übergebe ihm den Papierfetzen. Er starrt auf einen der Lehmklumpen zu seinen Füßen, der ein Arm gewesen sein könnte und ich erkenne deutlich, wie sich seine Brust hektisch auf und ab bewegt. Ich stoße mit meiner Schulter seine an und erst jetzt reagiert er. Er greift nach dem Papier und zerteilt es kurzerhand in drei weitere Stücke, ohne es anzuschauen. Sicher ist sicher. Ich ziehe meine Beine heran in den Schneidersitz und betrachte das Profil des anderen Mannes. Er ist ausdauernden als ich glaubte. „Ein Jahr, Damast. Ich bin nur ein Jahr jünger“, schnauft er und schließt die Augen. „Gut zu wissen“, erwidere ich grinsend. Einen Moment lang lauschen wir beiden dem stetigen Regenschauer und unserem rauen Atem. Dann rappele ich mich auf, streiche mir die schlammigen Hände an der Hose ab und halte sie dem anderen Detective hin. Obwohl er zögert, sehe ich Zustimmung in seinem Blick. Er greift zu und mit einem festen Ruck ziehe ihn auf die Beine. ´I, I, I shake it off, I shake it off´, ertönt durch die Nacht und der Song endet. Pastor wirft mir einen vielsagenden, aber ebenso erschöpften Blick zu und ich begebe mich auf die Suche nach meinem Telefon. Ich entdecke es in einer Graskuhle und folge Pastor, der sich auf den Weg zu dem Versteck des Jungen gemacht hat. Wieder perlt als allererstes dessen Name über seine Lippen wie ein Stoßgebet. Mit schnellen Schritten ist er bei ihm, stößt die Platten zur Seite und legt ihn frei. Er versichert sich, dass keine weiteren Verletzungen an dem schmalen Körper hinzugekommen sind. Sein Blick ist begierig und bittend als er sich an mich wendet, um zu erfahren, wie es weitergeht. Ich versuche ihm zu erklären, was folgend geschieht und erneut sehe ich die fragende Skepsis in seinem Gesicht. Ich ignoriere sie und wähle die Nummer der Synagoge, mit der ich schon öfter bei solchen Angelegenheiten zusammengearbeitet habe. Sie setzen alles in Bewegung und wir brauchen Izan nur zu ihnen bringen. Gemeinsam tragen wir den schlaffen Körper zurück zum Wagen. Der stetige Regen wäscht Schlamm und Dreck davon, aber nicht ausreichend genug, um zu verhindern, dass wir das Innere meines Autos vollkommen einsauen. Wir kommen nicht drum herum, den schlanken Körper des bewusstlosen Jungen zu fesseln. Es wäre zu gefährlich, wenn er das Bewusstsein zurückerlangt, während wir durch die halbe Stadt kutschieren und der Dibbuk erneut die Oberhand gewinnt. Zu meiner Überraschung lässt es Pastor ohne Widerworte geschehen. Vielleicht fehlt ihm auch nur die Kraft, irgendetwas zu entgegnen. Ich finde den Mechanismus der Spieluhr in Izans Jackentaschen, als ich ihn auf weitere gefährliche Gegenstände abtaste. Das Metall ist gedellt und beschädigt. Es wirkt, als hätte er versucht ihn zu zerstören. Es hängt alles miteinander zusammen. Es erleichtert und betrübt mich zu gleich. Zwei Menschen sind gestorben. Ich hätte mir einen weniger hektischen Verlauf gewünscht, aber das lag nicht in unserer Gewalt. Als wir mit dem Verpacken der Fracht fertig sind, setzt sich Pastor nach hinten und zieht den Kopf des Jungen auf seinen Schoß. Mehr nicht. Wir schweigen während der Fahrt. Wir schweigen weiter, als wir bei der Synagoge ankommen und ich zusammen mit dem wartenden Zaddik die Geschehnisse bespreche. Ich überreiche ihm die leere Spieluhr und den dazugehörigen ramponierten Mechanismus, während die Mitglieder des Minjans Izan auf einer Trage in die Synagoge transportieren. Nun liegt es in ihren Händen. Als ich zu Pastor blicke, kann ich erkennen, wie sich seine Schultern nach unten senken, wie die Schwere und der Druck von ihm abbröckeln, wie der Lack von den alten Fensterrahmen, weil sein ermüdeter Körper keinen Widerstand mehr bietet. Er starrt zum Eingang des eher schlichten Gebetshauses und ich kann mir nicht vorstellen, was gerade in seinem Kopf passiert. Ich kann es nur erahnen. Wie unwirklich muss es für ihn sein? Wie viele Fragen wird er wohl haben? Ich gehe zu ihm, doch er reagiert nicht auf mich, richtet seinen Blick unbeirrt auf das Gebäude, so, als würde er dadurch etwas Kontrolle zurückerlangen. Ich versichere ihm, dass Izan in den besten Händen ist, dass ihm nichts passieren wird und dass wir nichts mehr unternehmen können. Ich kann es jedenfalls nicht. Erst als ich erneut seinen Namen nenne, hebt er seine Hand und stoppt meine Phrasen. Er sieht mich kurz an und schüttelt seinen Kopf. Sein Blick sagt und zeigt mir mehr als tausende Worte es könnten. Er hat erstmal genug. Danach steigt er zurück ins Auto und schließt die Augen. Ich folge ihm und lasse den Motor an. Ich setze Pastor an seiner Wohnung ab und sehe erst nachdem er ausgestiegen ist, dass die Akte, in der er vor wenigen Stunden noch intensiv gewühlt hat, im Fußraum des Beifahrersitzes zurückgeblieben ist. Ich hebe sie auf den Sitz und blättere sie dabei auf. Zum Vorschein kommt ein Zipfel des Zeitungsartikels und ich ziehe ihn heraus. Das Foto zeigt eine Straße, auf der auf beiden Seiten diese klassischen Marktstände aufgestellt sind. Es zeichnet ebenfalls ein Blick in die Ferne und die Gesichter der beiden toten Männer im Profil, wie sie an einem Stand mit vielen Kunstgegenständen stehen. Genauso, wie es Pastor beschrieben hat. Hier sind sie aufeinandergetroffen. Das ist die Verbindung. Ich lasse meinen Blick über den Moment schweifen und stoppe. Am rechten Bildrand entdecke ich eine weitere bekannte Gestalt. Sein Gesicht ist abgewandt und die Fotografie ist an dieser Stelle seltsam unscharf, fast überblendet. Trotz alledem erkenne ich die Statur, den hellen Hoodie mit dem prägnanten bunten Schriftzug, den er auch heute Nacht trug. Es ist Izan. Es ist dasselbe Oberteil, welches die Gestalt in den Videoaufnahmen von der Tankstelle trug. Nur war mir das vormals nicht aufgefallen. Auf dem Bild hält Izan die Spieluhr in seiner Hand und das Kitzeln der Erkenntnis lässt mich bittersüß erzittern. Er war es die ganze Zeit. Der Dibbuk hatte von vornherein ihn ausgewählt. Doch wahrscheinlich war der er nicht sofort an das Objekt seine Begierde herangekommen. Ich lege den Artikel zur Seite und lehne mich zurück. Mit geschlossenen Augen bleibe ich etwas sitzen, ehe ich in meine eigene Wohnung zurückkehre. Stufe für Stufe nehme ich nach oben und ich fühle die Schwere der Erschöpfung, die sich wie ein Mantel über meine Glieder legt. Die letzten Reste des Adrenalins verabschieden sich aus meinem Blutkreislauf. Mein Puls hat sich schon vor etlichen Minuten normalisiert und dient als unterschwellige Müdigkeitsbekundung. Mein Blick verbleibt auf der Höhe des Treppenabsatzes, sucht zuerst den kleinen Brandfleck und entdeckt ein mittelgroßes, braunes Päckchen neben der Fußmatte. Ich bleibe instinktiv stehen. Im ersten Moment kann ich es nicht zu ordnen. Ich bestelle selten Dinge. Als ich oben ankommen, hebe ich es auf. Es ist schwer. Das Adressetikett ist mit der Hand geschrieben. In fast schon ästhetischer Kalligraphie. Fein verschnörkelt und ausgesprochen hübsch. Wie immer klemmt der Schlüssel im Schloss. Nur mit einem Ruck öffnet sich die Tür und ich betrete die durch fahles Mondlicht beleuchtete Wohnung. Die Konturen der Möblierung liegen im Schatten. Genauso wie meine eigene Gestalt. Ich lasse das Licht aus, streife Jacke und Schuhe ab und bewege mich wissend durch die Dunkelheit. Mit dem Päckchen unterm Arm mache ich einen Abstecher in der Küche, greife das kalte To-Go-Essen, die Stäbchen und gehe weiter. Im Türrahmen zum einzigen Zusatzzimmer der Wohnung bleibe ich stehen und schließe für einen Moment die Augen. Langsam spüre ich das gesamte Ausmaß des erneuten körperlichen Einsatzes. Jeder Muskel in meinem Leib scheint zu brennen und die Gelenke fühlen sich durch die unentwegte Kälte und Feuchtigkeit seltsam steif an, obwohl meine Kleidung seit geraumer Zeit getrocknet ist. In den nächsten Stunden werden sich etliche Blutergüsse entwickeln und vermutlich werde ich morgen früh dreimal so lange brauchen, um aus dem Bett zu kommen. Ich bin müde und ausgelaugt, aber ich weiß schon jetzt, dass mein Kopf so schnell nicht abschalten wird. Geräuschvoll stoße ich die Luft aus, trete über die Schwelle und schiebe das Päckchen ungeöffnet in ein Fach im Bücherregal. Als Nächstes strecke ich mich nach der Stehlampe aus, die neben der Tür steht und schalte sie an. Sie taucht den Raum in ein sanftes, dezentes Licht, welches nicht in den Augen brennt. Mein Blick fällt auf die alte Buchdruckpresse, die den größten Teil des Zimmers einnimmt. Sie stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert. Ihr Holz ist dunkel und übersäht mit Flecken von Ruß, Farbe und Blut. Ich erstand sie vor sechs Jahren bei einem Antiquitätenhändler. Seither habe ich schon viele Stunden damit verbracht die Lettern zu setzen, die Reihen perfekt zu positionieren und den Geruch der Druckerschwärze in mich einzusaugen, als wäre sie der Hauch des Verstehens. Ich öffne die Box mit dem kalten Gemüsegericht und manövriere eine Portion in meinen Mund. Kauend lege ich die Hand über die erhabenen Eisenlettern und senke die Lider. Ich beginne mit den Fingerspitzen die feinen Linien der Buchstaben nachzuzeichnen. Die gelegten Sätze kann ich auswendig. Jeden einzelnen Zeichen. Jedes Wort. Sie zu setzen beruhigt mich. Sie zu kennen, erfüllt mich mit Bitternis. Dieses Buch steht ganz am Anfang und es fehlen weitreichende Kapitel bis zur Vollendung. Ich nehme einen weiteren Happen, lasse den Kopf kreisen, um die Steifheit aus meinem Nacken zubekommen und stelle die Pappbox zur Seite. Dann greife ich mir eines der gusseisernen Lettern und beginne. `Am Anfang...` - Ende Folge 1 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)