Solution X von Karo_del_Green (Zwischen Schatten und Licht) ================================================================================ Kapitel 10: Der beste Freund im Geiste - 2 ------------------------------------------ Folge 3 ~Teil 2 - Der beste Freund im Geiste ~ „Bitte was?“, platzt Pastor verwirrt hervor, nachdem sich die aufgebaute Pause über uns ergießt wie ein imaginärer Regenschauer, „Was bedeutet ‚mit parabolischen Zahnbogen‘?“ Auch er flüstert den letzten Teil, nachdem er meinen und Vincents Gesichtsausdruck studiert und darin Anzeichen fand, dass er vorher zu laut war. „Sie sind von einem Menschen“, spreche ich das für mich Offensichtliche aus. Für die Dramatik ebenfalls flüsternd. Der Forensiker nickt. Pastors Mund öffnet sich in Zeitlupe und erstarrt einen eindringlichen Moment lang, ehe er mögliche Worte identifiziert, die seinen Gedankenprozess widerspiegeln. „Wie bitte?“ Glorreich. „Homo sapiens“, lege ich unbeeindruckt nach und klappere mit den Zähnen. „Ihr verarscht mich doch?“ Das Entsetzen steht dem anderen Polizisten ins Gesicht geschrieben und er sieht zwischen mir und Vincent hin und her, als würde das die Wahrheit negieren und seine Vermutung bekräftigen. Der Techniker bestätigt erneut mit einem Nicken und das letzte bisschen Hoffnung in Pastors Gesicht wandelt sich zu blankem Horror. „Kein Scherz? Nein? Okay…“ Er zieht scharf die Luft ein, hält sie länger in den Lungen und stößt sie langsam aus. „Es gibt Wölfe bei uns im Wald?“, frage ich, um die Pause sinnvoll zu nutzen. Doch es funktioniert nicht wie gewünscht, denn Pastor hakt sofort wieder ein. „Schön für die Wölfe! Erkläre mir, wieso du nicht so überrascht wirkst wie ich?“, richtet er an mich. Sein Gesichtsausdruck ist verkrampft, als er in meinem Gesicht nach Hinweisen sucht, die er niemals finden wird. Ich wusste bereits, dass einige der gefundenen Bissspuren von einem Menschen sind und ich weiß auch, warum die Ermittler die Information zurückhalten. „Quatsch, das ist mein schockierende News-Gesicht“, erwidere ich abgebrüht und weitestgehend regungslos. „Das ist dein Ich-weiß-mehr-als-du-Gesicht.“ Pastors Augen kneifen sich zusammen, doch statt verbissen auszusehen, sieht er aus, als hätte er Blähungen. „Und da bist du dir sicher, Herr Meisterdetektive?“, verprelle ich ihn unbeeindruckt. Es klappt, denn Pastor zieht pikiert eine Schnute. „Damit hätten wir das geklärt, ich sehe mir jetzt die Befragung an. Schockierend. Ciao!“ Ich patte dem amüsiert dreinblickenden Techniker zum Abschied dankend die Schulter, ignoriere Pastors wenig glücklichen Gesichtsausdruck und gehe schnurstracks davon. Ich komme nicht weit, dann ruft mich der Nervtöter bereits zurück. „Willst du gar nicht wissen, wer unsere Verdächtige ist?“ So viel zu meinem gelungenen Abgang. Ich mache auf den Absatz kehrt und bleibe mit verschränkten Armen vor Pastor stehen, ohne etwas zu erwidern. Er greift nach der Akte, die er zu Beginn auf dem Schreibtisch abgelegt hat. Doch statt sie mir zu geben, klappt er sie auf und hält sie mir mit unüberbrückbarem Abstand vor die Nase. Es reicht, um den Namen zu lesen, das Alter und die Wohnanschrift zu entziffern. Mit einem schweifenden Blick entgeht mir ebenfalls nicht, dass ein paar Auszüge gelistet sind, die auf weitere Strafen verweisen könnten. Doch ehe ich etwas lesen kann, schlägt Pastor die Akte wieder zu und lässt sie mit einem siegessicheren Grinsen in eine überfüllte Schulblade verschwinden. Als ich mich erneut umdrehe, höre ich Vincent heiter kichern. Er wird von mir hören. Als ich den Zuhörerraum betrete, steht unerwarteterweise Captain Lamark vor dem großen Einwegfenster und abrupt beginnen sich die Schwingungen der Umgebung zu verändern. Die träge Statik der Ungewissheit, die in diesen Räumlichkeiten liegt, wird schwer und tief. Es ist nur ein Seitenlicht eingeschaltet. Es zeichnet viele Schatten in den Raum, auch um meinen Chef herum und in seinem Gesicht. „Sir“, kommentiere ich seine Anwesenheit. „Das ist die Zeugin, die am Boscop-Pfad aufgegriffen wurde.“ Wie zum…? Er formuliert es nicht wirklich als Frage, sondern wie eine Feststellung. Er sieht unerlässlich durch den Einwegspiegel, fokussiert die junge Frau dahinter. Seine Hände sind locker hinter seinem Rücken verschränkt und er lässt keine Emotion durchblicken. Ich versuche, nicht zu hinterfragen, wieso er hier ist, obwohl es nicht sein zuständiges Revier ist und wieso er bereits jetzt von ihr erfahren hat. Ich bekäme keine Antwort darauf. „Ja. Wir bemerkten sie in der Nähe des Fundortes im Wald. Bisher hat sie jegliche Aussage zu ihrer Anwesenheit dort verweigert.“ Nun blicke auch ich zu der jungen Frau, die sich über die dreckigen Knie reibt und danach sofort die Arme verschränkt. Die graue Strumpfhose, die sie unter der dunkelgrünen Shorts trägt, hat an mehreren Stellen Löcher. Sie schwingt die Knie gelangweilt zusammen und wieder auseinander. Ihre Stirn liegt in Falten und sie beißt sichtbar die Zähne zusammen. Noch dazu deuten ihre Füße zur Tür. Eine klassische Fluchtgeste. Dennoch wirkt sie kaum nervös auf mich. Vielleicht täusche ich mich. Sie wirkt auf mich beharrlich und stur. „Ist uns ihr Name bekannt?“, fragt Lamark. „Wir haben ihre Fingerabdrücke mit der Datenbank abgeglichen. Sie heißt Shay Connor. Einen Personalausweis trug sie nicht mit sich.“ Mein Chef summt einen tiefen Ton und betätigt etwas an seiner Armbanduhr, ehe er sein mobiles Telefon herausholt. Ich verschränke die Arme vor der Brust und schiele unauffällig zu dem großen Franko-Amerikaner. „Sie werden die Befragung führen“, entgegnet mein Vorgesetzter plötzlich. Seine Stimme ist fast nur ein Flüstern und beinahe hätte ich es überhört. „Ich bin in den Fall nicht involviert“, stelle ich klar und lasse die Tatsache, dass ich dennoch in diesem Zuhörerraum stehe, außen vor. Genauso verschweige ich, dass ich schon seit längerem darin rumschnüffele. Wahrscheinlich weiß er es längst. Der Captain wirft mir zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten habe, einen Blick zu. Er ist lang und intensiv. Er durchschaut mich. Er durchschaut mich immer. Im selben Zug begutachtet er mein unprofessionelles Erscheinungsbild. Ich kann durch die Dunkelheit seine Augen kaum erkennen, noch irgendeine Begründung in seiner Haltung erlesen. Er wird auch nicht mehr sagen. So ist es jedes Mal. Eine Akte, die auf meinem Tisch auftaucht. Ein kurzer Kommentar zu einem laufenden Fall. Ein Nicken. Ein Blick. Manchmal nicht mal das und ich stehe vor den Tatsachen. Doch diesmal sehe ich eine Chance. „Ich möchte Luis Pastor mit dazunehmen.“ Für einen Sekundenbruchteil umhüllt ihn Zögern, bis er schlicht als Zustimmung nickt und den Raum verlässt. Ich sehe ihm nicht nach, denn mein Blick haftet sich an das verbleibende Dunkel an der Stelle, an der er eben noch stand. Es erscheint mir wie ein feiner Nebel, wie blasser Dunst im Morgenrot. Doch es fühlt sich kälter an als Trockeneis. Er löst sich nur langsam auf und verschwimmt mit den scharfen Kanten des Interior. Es ist nicht das erste Mal, dass mich dieses unbestimmte Gefühl heimholt und ich es nicht wage, es in Worte zu fassen. Ich richte meinen Blick durch den Einwegspiegel zurück zu der jungen Frau mit den grünen Haaren und den nun unaufhörlich wippenden Knien. Bevor ich der Verdächtigen gegenübertrete, suche ich nach meinem Zwangskumpan, der mit einer älteren Kollegin über einer Akte lehnt, eifrig nickt und dann Kopf schüttelt. Ohne mein aktives Zutun blickt er plötzlich auf, schaut mich direkt an. Ich strauchele in meinem Schritt durch die Intensität, die er mir entgegenbringt und widerstehe dem Drang, mich unvermittelt abzuwenden, weil ich mich ertappt fühle. „Doch noch da?“, stichelt Pastor, bedankt sich bei der Kollegin und sieht zu, wie sie sich entfernt. „Neue Aufgabe. Wir beide!“, hole ich aus, als wir allein sind und schaue mich suchend auf den Schreibtischen der Kollegen um. „Kannst du ganze Sätze formulieren, die Sinn ergeben?“ Das wäre durchaus möglich, aber ich bin längst damit beschäftigt, über das weitere Vorgehen nachzudenken. Wie könnten wir sie am besten knacken? Konfrontation? Eher nicht. In Sicherheit wiegen? Vielleicht. „Zweiwortsätze sind auch Sätze.“, watsche ich abgelenkt ab. Ich bin eher selten in der Situation, Verdächtige zu befragen und wünschte nun, ich konnte ein Blick ins Handbuch werfen. „Für Zweijährige.“, kontert er und verschränkt die Arme vor der Brust, „Was machst du da?“ „Wir führen das Verhör bei der Waldfee.“, lege ich nach, nachdem sich Pastor nicht vom Fleck bewegt und mich mit rehgroßen Augen beobachtet. „Führen wir? Wieso das? Von wem kommt die Order dafür?“, fragt er verständlicherweise, bei uns liegt immer noch kein Funken der Zuständigkeit. Statt zu antworten, greife ich mir ein paar unauffällige Akten vom Schreibtisch eines Kollegen, die überwiegend ballistische Untersuchungen enthalten und einen kleinen Schreibblock, der neben Pastors Tastatur liegt. „Okay, kein Warum. Scheint dein Ding zu sein. Verdächtig, das weißt du?“, kommentiert Pastor angefressen. Ich unterbreche meine wüste Suche nach Utensilien für einen Moment, um ihn anzustarren und er reicht mir unbeeindruckt einen Kugelschreiber, den ich mir in die Hosentasche stecke. „Wir können sie ohne ausreichenden Verdacht nur bedingt lange festhalten. Grund genug?“, erkläre ich letztendlich doch, lasse das plötzliche Auftauchen vom Captain meines Reviers dabei aus. „Aber um deinem Bestreben nach der Einhaltung von Dienstvorschriften gerecht zu werden, es ist genehmigt.“ Ich mache einen Abstecher zur Küche, wo ich ein Glas mit Wasser fülle, während mir Pastor seltsam gehorchend folgt. Bevor ich die Tür zum Verhörraum öffnen kann, hält er mich zurück. „Von wem genehmigt und wie willst du vorgehen?“ „Captain Francis Lamark und ich habe noch keine Idee“, erkläre ich ehrlich. Verhöre sind keine meiner Stärken, dafür habe ich es zu selten mit normalen Fällen zu tun. Pastor presst unzufrieden die Lippen zusammen und nibbelt mit den Zähnen an einem trockenen Hautfetzen, bevor er hinnehmend nickt. Wenn ihn die Tatsache, dass der Captain des 17. Reviers eingreift, stört, dann lässt er es sich nicht weiter anmerken. „Okay, lass mich vorgehen. Ich nehme die Belehrung vor, lasse es ernst klingen und übernehme den strengen Regelpart. Danach beginnen wir ein lässiges Gespräch. Wir lassen sie glauben, dass sie die Oberhand hat.“ Pastor geht vor und ich warte einige Minuten, ehe ich ihm folge. Von draußen höre ich seine klare, warme Stimme. Die Worte der rechtlichen Belehrung kann ich ebenso auswendig, wie jeder andere Polizist auch. Nach dem Eintreten setze ich mich, während Pastor hinter mir stehen bleibt und ich platziere die mitgebrachten, falschen Akten auf dem Tisch sowie das Glas Wasser. Ich stoße die Akten an, sodass sie sich etwas auffächern und entschuldige mich, als ich sie schnell wieder zusammenstaue. Trotzdem waren kurz etliche Berichte zu erkennen. Ich kaschiere das feine Flattern meiner Nervosität mit der Zurschaustellung von geplantem Chaos und bediene damit die Technik, die Pastor und ich uns zurechtgelegt haben. Wir wiegen sie in Sicherheit. Sie soll ruhig glauben, dass wir keine Ahnung haben. Bevor ich beginne, checke ich das rote Lämpchen an dem Aufnahmegerät und rücke den Stuhl zurecht. „Verzeihen Sie. Wasser? Sie sind sicher durstig. Im Wald verliert man schnell das Zeitgefühl. Einmal falsch abgebogen und hui…“, plaudere ich locker, „Ich bin Detective Vikar Damast, wie Sie mein Kollege bereits aufgeklärt hat. Ich bin der, vor dem Sie weggelaufen sind.“ Ich schiebe ihr das Wasser zu und lege den von Pastors Schreibtisch entwendeten Block vor mich hin. Dann taste ich meine Jacke auffällig nach dem Stift ab und ziehe ihn schlussendlich mit einem Ausdruck der Überraschung aus der Hosentasche. Pastor bleibt hinter mir stehen und Shays wachsame Augen beobachten jede meiner Handlungen mit wachsamem Blick. Auch ich achte auf die kleinste Änderung in ihrer Gestik und Haltung. Aber nicht nur darauf. Ich möchte das Flackern wieder sehen, was ich auf der Fahrt hierher um sie herum ausmachen konnte. „Gut, dann fangen wir an. Nennen Sie uns bitte ihren vollständigen Namen fürs Protokoll“, fordere ich mit ruhiger Stimme, tippe mit der Spitze meines Kugelschreibers im gleichmäßigen Takt auf den leeren Block vor mir und hinterlasse jedes Mal einen kleinen blauen Punkt auf dem Papier. Ihr Blick wandert zwischen meinem Gesicht und dem colorierten Fleck hin und her, ehe sie grinst. „Haben meine Fingerabdrücke etwa nichts ausgespuckt?“, kommentiert sie spottend. „Was denken Sie?“ „Ich denke, Sie vergeuden hier meine Zeit“, gibt sie trotzig kund und das unruhige Flackern um sie herum stabilisiert sich zu einem deutlichen Schatten. Es zeigt sich ein nahezu menschliches Abbild. Doch klare Gesichtszüge erkenne ich nicht. Ich gehe nicht auf ihre Provokation ein, ebenso wenig wie Pastor. „Was wollten Sie dort mitten im Wald, Miss Connor?“ „Spazierengehen.“ Simpel. Schnell. Ihr Gesicht ist mit all der stoischen Ausdrucksstärke kaum lesbar. Doch ihr linkes Knie zuckt. Ich tippe im gleichmäßigen Takt die Spitze des Kulis gegen das geöffnete Blatt des Blocks. Jedes Mal bleibt ein blauer Punkt zurück. Mal dichter beieinander, mal weiter entfernt. Zunächst wirkt es willkürlich, doch mein Fokus liegt auf etwas ganz bestimmten. „Keiner der üblichen Spazierwege, finden Sie nicht? Sehr abgelegen, dunkel, einsam.“, mische ich mich ein, „Und einen Hund hatten Sie auch nicht dabei.“ „Und deshalb gehen Sie davon aus, dass ich dorthin gegangen bin, um was? Gebeine abzuladen, die ich in der Tasche mit mir rumtrug? Das ist doch lächerlich“, entgegnet sie furchtlos und vollkommen überspitzt. Ehe sie geantwortet hat, huschte ihr Blick zu dem Stift in meiner Hand. Ich behalte meinen ruhigen Rhythmus bei, setze Punkte für mich und beobachte sie aufmerksam. „Ist das ein Geständnis?“ „Natürlich nicht!“ „Warum ausgerechnet dort?“ „Einfach so.“ „Dann waren Sie nur neugierig?“, hake ich nach. „Nein… Doch! Hören Sie, ich bin oft im Wald. Ich habe es durch Zufall gesehen. Man hört ja ständig etwas darüber in den Nachrichten.“ Sie schnauft, blickt von mir zu Pastor und danach auf den Block vor mir. „Halten Sie mich wirklich für die Täterin und glauben, ich bin an den Tatort zurückgekehrt?“ Sie malt dieses hinreichende Szenario und schnaubt ungläubig, fast belustigt. Sie weiß nicht, dass die Opfer nicht dort getötet, sondern nur abgelegt wurden. Um sie herum pulsiert es, flackert und simmert. Es ist nicht bedrohlich, sondern beschützend. Ich tippe den Kuli schneller auf das Papier vor mir. „Interessant, denn im öffentlichen Bericht und in der medialen Meldung wurde nicht gesagt, wo genau die Leichen gefunden wurden. Das Gebiet ist groß und das Boscop-Areal umfasst eine Strecke von knapp 30 Kilometern und mehrere Hektar dichten Wald. Warum also genau dort?“, erläutere ich. „Glaubt ihr wirklich, dass eine Entourage von leuchtenden Gelbwesten an einem stadtnahen Areal nicht bemerkt wird? Kommt schon.“ Ich lehne mich etwas zurück und platziere den Block mit den vielen kleinen Punkte weiter in ihrem Blickfeld. „Unumstritten ist nun mal, dass sie dort waren und uns bisher keine plausible Erklärung dafür geliefert haben. Neugier, okay, aber nicht ausreichend, noch dazu wurde über die die dritte Fundstelle bisher nicht berichtet“, setzt Pastor im scharfen Ton an, „Wieso lassen Sie diese Spitzfindigkeiten nicht sein und fangen an zu reden?“ Auch dem anderen Detective schenkt sie diesen leicht genervten Blick, ehe sie zu mir zurücksieht und mit der gesamten Hand ihren Daumen umfasst. Danach beginnt sie, ihre Hände abwechselnd zu kneten. Sie hadert mit irgendwas. Ich kann es sehen. Nicht nur in ihrem Gesicht oder in den Gesten. Das, was auch immer um sie herumschwirrt, erhält plötzlich ein Gesicht. Klar und deutlich. Es ist weiblich. Jung. Es stiert mir mit offenen Argwohn entgegen. „Ich habe nichts weiter zu sagen und wenn Sie glauben, dass sich der Fund von toten Kerlen im Wald verheimlichen lässt, dann sind Sie naiv. Ganz einfach.“ Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie sich Pastors Schultern nach oben ziehen. Ich beuge mich weiter vor, bette das Kinn auf die Fingerknöchel meiner rechten Hand. „Woher wissen Sie, dass es sich bei den Toten um Kerle handelt?“ „Was?“ „Sie sagten gerade ‚tote Kerle‘. Männlich. Nicht Körper oder Opfer“, wiederhole ich ihre Worte. Ihr Knie stoppt in der Aufwärtsbewegung. „Wissen Sie, wir können bei solchen weitreichenden Ermittlungen niemals verhindern, dass darüber berichtet wird, aber wir können beeinflussen, worüber im Konkreten informiert wird. Das Geschlecht der Opfer wurde nie erwähnt.“ Sie neigt es nach innen und ihre Hände betten sich in ihren Schoß. Shay weicht meinem Blick aus. „Es war geraten“, verkündet sie mit einem Hauch mehr Verunsicherung in ihrer Stimme. Sie ist wie der Ruf eines Kuckucks im Gedenken abergläubischer Weissagungen. „Sie erraten also das statistisch eher unwahrscheinliche? Fantastisch, sie sollten damit ins Fernsehen gehen“, kontert Pastor. Die meisten Serientäter fixieren sich auf weibliche Opfer. „Was soll ich sagen, ich wusste es einfach“, pfeffert sie uns entgegen. „Sind Sie Hellseherin, oder was? Sie sind durch Zufall an der Fundstelle von menschlichen Gebeinen. Sie wissen zufällig, dass die Toten männlich sind. So viele Zufälle“, spottet Pastor. Sie zuckt und presst die Lippen aufeinander. Für einen Moment wird der feine, dunkle Schimmer um sie herum wieder stärker und deutlicher. Es ist keiner der Schatten, wie ich sie so häufig sehe. Es ist definitiv eine andere Präsenz. Es kitzelt in meinem linken Ellenbogen und als es aufhört, ist es erneut verschwunden. Es wird jedes Mal stärker, wenn sie sich angegriffen fühlt. Shay weicht Pastors direkten Blick aus, rutscht auf dem Stuhl etwas zur Seite und umfasst mit beiden Händen ihre Ellenbogen. Ein deutliches Zeichen von Zurückweisung und ein Abwenden von Pastor. Er wird bei ihr nichts erreichen, also verhindere ich mit einem Blick und einem Kopfschütteln, dass er erneut ansetzt. „Shay, warum warst du dort?“, frage ich erneut, benutze diesmal bewusst ihren Namen, gehe auf die persönliche Ebene, indem ich sie zusätzlich duze. Ich spüre deutlich, dass sie uns etwas mitteilen will. Dass mehr dahintersteckt als das Vermutete. Sie war aus einem bestimmten Grund dort. Nicht, weil sie etwas mit den Tötungen zu tun hat, dessen bin ich mir sicher. Unauffällig schalte ich die Aufnahme ab, während ich den Blick nicht von ihr löse. „Was ist es?“, fordere ich, aber mit ruhiger Stimme. Sie schüttelt den Kopf und ihr Blick flackert zurück zu Pastor. „Nein, nein, sehe mich an. Nicht ihn“, sage ich und strecke meinen Arm aus, sodass er zwischen Pastor und Shay schwebt. Meine Hand schirmt sein Gesicht von ihr ab. „Sag es mir.“ Ich sehe, wie der Widerstand in ihr bröckelt, wie der Ruf ihrer Augen leuchtet. „Ich bin den Geistern gefolgt.“ Ihre Stimme ist voller Trotz und doch besorgniserregend fragil. Geister also. Es ergibt unglaublicherweise sogar Sinn. Jedenfalls für mich. Sie wird es in dem Moment lächerlich machen, in dem ich es nicht ernst genug nehme. Ich muss behutsam reagieren. „Geister?“, echot Pastor mit hörbarer Skepsis, ehe ich antworten kann. „Ignoriere ihn einfach“, sage ich mit ruhiger Stimme und schirme Pastors Gesicht mit meiner flachen Hand ab, sodass Shay seinen argwöhnischen Gesichtsausdruck nicht sehen muss. Natürlich zum Unmut des anderen Detectives, der direkt meine Hand wegschlägt und sie festhält, als ich gleich darauf einen weiteren Versuch starte, es zu wiederholen. „Was genau bedeutet Geister in dem Kontext? Ist das etwas Spirituelles?“, fragt er aufgeschlossen, aber skeptisch und starrt mich dabei an. Es ist fast schon komisch. Erst, als sich die Hand endgültig in den Schoss senkt, schenkt er seine Aufmerksamkeit wieder vollkommen ihr. Ich allerdings hefte meinen Blick an Pastor. „Du fragst das, als gäbe es verschiedene Möglichkeiten. Ich rede von Geistern“, gibt Shay entrüstet von sich. PADING!, das ist das Geräusch, was Pastors Herz gerade machte, als es in seine Hose rutschte. Ich kann mir nur schwer einen verräterischen Laut verkneifen und beiße mir auf die Lippe. Pastors Augen flackern zu mir und zurück zu der grünhaarigen Frau. Ich kann quasi sehen, wie sich die gleiche Frage aus Ermangelung an Verständnis erneut auf seine Zunge legt. Er unterdrückt es mit Mühe und Not, sie ein weiteres Mal zu stellen. „Ein Geist.“, wiederholt er, seltsam monoton, „Also eine Erscheinung?“ „Geister“, berichtet die Zeugin sogleich. Wohl gemerkt die Mehrzahl. Drei Tote. Drei Geister. Eine eindeutige Rechnung. „Geister.“ Pastor formt das Wort, als hörte er zum aller ersten Mal davon. Als wäre er niemals mit einem derartigen Begriff in Berührung gekommen. Dabei zuzusehen, wie sich in Schneckentempo das Verstehen bei ihm einstellt, ist spektakulär. „Könnt ihr das spezifizieren?“, hakt er zögerlich nach. Er gibt sich Mühe. Wirklich große Mühe, ich kann es an seinem starren Gesichtsausdruck ablesen. Sein Adamsapfel hüpft auf und ab, als er wiederholt schwer schluckt. „Immaterieller und spiritueller Rückstand des menschlichen Seins“, erklärt Shay gefasst. „Also wirklich, wie Schreckgespenster?“ „Ah, genaugenommen gibt es da Unterschiede.“, erläutere ich, „Den Gespenstern hängt zumeist eine eher negative, mit Angstzuständen behaftete Bedeutungsebene an.“ Shay nickt, als wären meine Worte ein selbsterklärender Wikipediaeintrag, den Pastor längst hätte lesen müssen. „Sie sind eine furchteinflößende Manifestation, aber nicht die reguläre Erscheinung.“ „Na klar. Also, sagt ihr mir gerade, dass Geister per se nicht furchteinflößend sind, sondern harmlos?“, jodelt er sarkastisch und versucht es nicht mal zu verstecken, „Gut zu wissen.“ Er sieht in keiner Weise beruhigt oder überzeugt aus. Im Gegenteil, denn die kleine Falte zwischen seinen prominenten Augenbrauen tritt deutlicher hervor, also zuvor. „Nicht unbedingt.“, übernimmt die Grünhaarige das Wort, „Die meisten sind eher verwirrte Seelen, die sich nicht mehr an ihren Tod erinnern oder wegen etwas Unerledigtem nicht hinübergehen können. Sie sehen aus wie du und ich. Etwas transluzenter vielleicht, aber wie du und ich.“ „Vielleicht. Vielleicht?“, wiederholt Pastor ungläubig. „Das heißt, du hast die Geister der getöteten Männer gesehen?“, erkundige ich mich nun bei unserer Zeugin, um das ganze Gespräch wieder zum eigentlichen Punkt zu führen. Mir sind Geister die meiste Zeit über egal, denn sie richten selten Schaden an. Ich bin auch nicht vielen persönlich begegnet. „Ja. Ich gehe in den Wald, weil es dort normalerweise ruhig ist. Nicht wie in der Stadt. Sie ist laut und voll. Aber seit ein paar Wochen spüre ich etwas Bedrückendes, sobald ich auch nur einen Fuß in den Wald hinein setze. Ich habe deswegen andere Routen eingeschlagen, aber ich konnte anfänglich nichts entdecken. Erst vor ein paar Tagen, da stand einer plötzlich auf der Lichtung, wie ein… ein Geist eben.“ Shay zuckt mit den Schultern, während Pastor das passende lautmalerische Geräusch von sich gibt. Aktuell sieht er aus, als wäre ihm ein Geist erschienen. „Das dritte Opfer?“, erkundigt sich Pastor, nachdem er sich erstaunlich schnell fängt. Doch an seinen zuckenden Lidern kann ich erkennen, dass er auch weiterhin mit dieser dargelegten Wahrheit zaudert. Er muss es nicht verstehen, nur als Möglichkeit hinnehmen. Mehr verlange ich nicht. Shay auch nicht. „Nein. Das vierte Opfer.“ „Vier?“, hake ich überrascht nach. Shay nickt auf meine Nachfrage hin. Ich sehe zu Pastor, der, ebenso wie ich, seine Stirn kräuselt. Auch ihm ist sofort klar, was es bedeutet. „Bevor ihr mich einkassiert habt, hatte ich den Geist endlich so weit, mir zu zeigen, wo er liegt. Aber ich habe keine Ahnung, ob ich ihn wieder so weit kriege.“ „Vier?“, wiederholt Pastor und streckt seine Hand nach dem Block aus, der auf dem Tisch vor mir liegt. Sein Blick fällt auf die angeordneten Punkte, die ich während des Verhörs darauf hinterlassen habe und seine Hand zuckt zurück. „Ja, vier menschliche Geister. Vier Männer. Sie waren sehr unruhig.“ Ich lehne mich zurück und klappe bei dieser Gelegenheit den Notizblock zu. „Okay, stopp! Nehmt mich mit. Ich brauche noch etwas mehr Erklärung. Menschlicher Geist? Gibt es noch etwas anderes?“, schnaubt Luis ungläubig. „Ja, es gibt auch nichtmenschliche Geister“, erklärt Shay und schenkt uns erneut diesen Blick. Ich habe fast das Gefühl, ich müsste mich für Pastor entschuldigen. „Das sind Geister, die niemals als Mensch auf der Erde lebten.“ „Dämonen“, sage ich geradeheraus. Shay gibt einen unwilligen Laut von sich. „Klar.“, äußert Pastor. Sein Gesichtsausdruck ist unlesbar. „Sie sind die Ausnahme. Hört zu, die Geister Verstorbener sind meistens eher harmlos. Sie sind verwirrt und wissen oft nicht mehr, was passiert ist. Es dauert länger, bis sie begreifen, dass sie einfach loslassen müssen und hinübergehen müssen. Die, die es nicht schaffen, verblassen meistens irgendwann.“ „Das heißt, ihre Seelen verschwinden?“, frage ich. „Im besten Fall. Manche bleiben als Schatten zurück und haften sich an Objekte, mit denen sie zu Lebzeiten etwas verbanden oder…“ „Oder an Menschen?“, unterbreche ich sie. Meine Stimme hüpft leicht beim Sprechen und ging merklich nach oben. „Das kommt auch vor“, bestätigt Shay, nachdem sie mich intensiv mustert. „Okay, du sagst also, dass du im Wald den Geistern der Opfer begegnet bist?“ Ich bin mir nicht sicher, ob Pastor es wiederholt, weil er es nicht glaubt oder weil er versucht, es zu begreifen. „Ja, irgendwas hat mich dorthin gezogen. Ich weiß es nicht genau, aber etwas hält sie dort, wo ihre Körper verscharrt wurden.“ „Wie meinst du das? Etwas?“ „Ich kann es nicht erklären.“ „Kennst du den Namen des vierten Mannes? Kannst du ihn beschreiben?“, drängt sich Pastor dazwischen. „Nein, den Namen kenne ich nicht, aber ich kann ihn mit Sicherheit beschreiben.“ „Gut, dann brauchen wir einen Polizeizeichner und wir müssen das Boscop-Areal erneut absuchen lassen. Wir sollten…“, plätschert mein Kollege strategisch los. „Und mit welcher Begründung?“, werfe ich ein, ersticke den aufkommenden Enthusiasmus im Keim, „Ach übrigens, ein Geist hat uns geflüstert, dass da noch einer liegt. Lasst uns auf Verdacht weitere 100 Hektar Wald durchkämmen!“ Jeder andere würde meine Worte als Scherz abtun, würde lachen und nicht den traurigen Ernst erkennen. Pastor jedoch durchschaut es sogleich. Die wenigen Zentimeter, die er sich vor Elan vom Stuhl erhob, fällt er zurück. Die Frustration, die sich in seinem Gesicht widerspiegelt, verspürte auch ich einmal. Mittlerweile weiß ich es besser. Ein Klopfen zerreißt das Schweigen. Ein mir unbekannter Kollege steckt seinen Kopf durch die Tür. Sein Blick wandert von mir und meinem Sportkostüm zur Zeugin und zu Pastor. Ich bemerke das Zucken seiner Augenbraue, auch wenn er es gut verbirgt, ehe er sich an den Detective seines Reviers wendet. Pastor verlässt den Raum und ich bleibe mit Shay zurück. „Er weiß es nicht, oder?“, flüstert sie mir zu, beugt sich etwas nach vorn. Ich blicke auf, finde im hellen Blau ihrer Augen den Wunsch, es selbst vergessen zu können. All das hinter sich zu lassen. Die Zwischenwelt. Die Wesen. All das Unbegreifliche. In der gleichen Bewegung, in der sie sich vorbeugte, zieht sie den Block zu sich heran und bevor ich es verhindern kann, klappt sie ihn auf. Ihre Hand stoppt, ehe sie das Deckblatt vollständig umschlägt. Sie erstarrt. Als Nächstes sieht sie auf. „Bin ich das?“, fragt sie, während ihr Blick zurück auf das unfertige Portrait wandert. Es zeigt die Hälfte eines weiblichen Gesichts, welches Shays verdächtig ähnlich sieht. Doch sie ist es nicht. „Ja. Bin aus der Übung“, lüge ich. „Ist das eine gängige Verhörtechnik?“ Der Frage folgt ein amüsiertes Lachen, obwohl sie sich mit zittrigen Fingern eine Strähne zurückstreicht. Es sollte sie nervös machen. „Du solltest dir eine plausible Erklärung für deine Anwesenheit überlegen. Wir brauchen eine Aussage für die Akten.“, erkläre ich und staple die Akten ruhig vor mir auf. Ebenso den Block. „Ihr glaubt mir also wirklich und das ist keine…“ Sie macht mit den Händen eine nichts aussagende Geste und vollendet ihren Satz nicht. „Wir glauben dir“, beschwichtige ich ihr knapp, „Und wir werden herausbekommen, was dahintersteckt.“ „Ich glaube, dass irgendwas die Geister dort festhält.“, wiederholt sie, „Es ist nur ein Gefühl, als gäbe es einen Bann, irgendeinen Anker. Das habe ich noch nie erlebt. Die Geister waren sehr verzweifelt.“ Einen Anker. Was könnte es sein? Was übersehen wir? Ehe ich meine Gedanken fortsetzen kann, kommt Pastor zurück in den Raum. Er flüstert mir zu, dass er die Aufnahmekassette entfernt und eine neue eingelegt hat. Ein anderer Kollege wird ihre Aussage aufnehmen. Ich öffne ein weiteres Mal den Block, reiße ein Papier heraus und schreibe meinen Namen und meine Telefonnummer auf. Den Zettel schiebe ich Shay zu und wir verlassen den Verhörraum. Draußen drückt mir Pastor die kleine Kassette in die Hand und ich stecke sie in die Hosentasche. Zu unserem Glück ist die Digitalisierung nicht in allen Revieren gleichermaßen fortgeschritten. ‚Geister‘. Deswegen wollte Lamark, dass ich sie befrage und deshalb hat er sie während unseres kurzen Zusammentreffens ‚die Zeugin‘ genannt, nicht Verdächtige. Mein Blick wandert zu Pastor. Ich frage mich, was er über das Geisterthema denkt. Glaubt er ihr? Glaubt er mir? Ich sehe dabei zu, wie er geschäftig in seinem Schreibtisch kramt und dann erneut mit der rothaarigen Kollegin spricht. Ich schließe die Trainingsjacke und falte vorher das Papier mit dem Portrait, ehe ich es mir in die Tasche stecke. ‚Geister‘. „Lamark wusste es“, murmele ich vor mir her, reiße das Portrait aus dem Block heraus und schiebe ihn an seinen ursprünglichen Platz zurück. „Lamark wusste was?“, fragt Pastor, der plötzlich neben mir steht. „Unwichtig. Kannst du mich im Siebzehnten absetzen? Ich denke, wir müssen etwas überprüfen.“ „Wir?“, fragt er und ich schaue verblüfft auf. „Ich und die Geister, natürlich“, erwidere ich. Pastor verdreht die Augen. „Wusstest du, dass laut der offiziellen Statistik die meisten Mordopfer Männer sind? 80 Prozent weltweit.“ „Belehrst du mich gerade?“ „Ich wollte es nur erwähnen.“ „Oh, dann erwähne ich jetzt, dass die Wahrscheinlichkeit signifikant wächst, dass du zu deinem Revier läufst.“ „Wieso bist du so empfindlich?“, frage ich und reiche Pastor seine Jacke, die über der Lehne seines Stuhls hängt. „Wieso bist du so besserwisserisch?“, erwidert der Kollege und nimmt mir die Jacke ab. Unsere Diskussion benötigt den gesamten Weg zu seinem Wagen. Wir einigen uns zu Pastors Ungunst darauf, dass ich nicht laufe. Dank meiner Größe bin ich nämlich schwer wegzutragen. „Will ich wissen, woher du sie hast?“, fragt er nach einem langen Blick auf die Aktenkopien, „Der Fall liegt nicht mal in diesem Revier. Weißt du wieder etwas, was kein anderer weiß?“ „Möchtest du lieber über die Existenz von Geistern sprechen?“, frage ich mit unschuldiger Stimme und das Wasser testend. „Nicht wirklich“, gibt er rasch, aber mit zusammengebissenen Zähnen wieder und schnappt sich eine der Akten, die ich ihm hinhalte. Er murmelt irgendwas Unverständliches. „Kommst du wirklich damit klar?“, frage ich neugierig. „Wenn du aufhörst, zu fragen, bestimmt. Außerdem spielt es keine Rolle.“ Es ist wahrlich nicht einfach zu akzeptieren, was immer schon präsent, aber niemals real schien. Jeder hat schon mal über Geister gelesen, einen Film gesehen oder bei einem kühlen Windzug deutlich gesehen, wie sich ein Gegenstand wie aus Zauberhand bewegt. Doch zu wissen, dass sie wirklich da sind, ist eine ganz andere Nummer. Pastor scheint zu hadern, die Vernunft gegen die Beweise abzuwägen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich jemanden dabei beobachte und letztendlich daran zerbrechen sah. Es ist schwerer für diejenigen. Schwerer als für jene, wie Shay und mich, die damit aufgewachsen sind. Die Akzeptanz ist schneller. Ich drehe die Pinnwand um, offenbare meine begonnene Recherche zum Fall und zwei Karten. Einen umfänglichen Stadtplan und eine Katasterkarte, die das Boscop-Areal abbildet. Die Fundstellen der ersten beiden Opfer sind bereits mit einem X markiert. Wir nehmen uns jeder einer der Akten zur Hand. Ich blättere zuerst den gerichtsmedizinischen Bericht und suche nach den Verweisen auf die menschlichen Bissspuren und die Todeszeit. Das Opfer Nummer 2 ist laut Aussage des Gerichtsmediziners bereits neun bis elf Monate im Wald vergraben gewesen. Gegebenenfalls mehr als ein Jahr. Die Insektenfunde und der Grad der Zersetzung, in diesem Fall die vollständige Skelettierung, sind hinreichende Parameter. Ein konkreter Zeitraum lässt sich erst nach langwierigen Analysen im Zusammenhang mit den klimatischen und meteorologischen Faktoren festlegen. Es konnten keine hinreichenden DNA-Spuren gefunden werden. „Wie lange hat laut Bericht das Opfer Nummer 1 dort gelegen?“, frage ich, ohne aufzusehen und wandere mit dem Blick die nächste Seite ab. Ich höre Pastor durchblättern und schaue auf. „Beim gerichtsmedizinischen Bericht bin ich noch nicht. Hier…“ Als er an der richtigen Stelle ankommt, fährt sein Finger die Absätze ab, bis er zwei Mal gegen die gleiche Stelle tippt. „Die Überreste waren kaum zersetzt. Sehnen. Muskeln. Alles noch vorhanden. Das Grab war wohl nicht sonderlich tief. Einige Gliedmaßen fehlten. Wahrscheinlich durch Aasfresser abgetrennt. Der Gerichtsmediziner schätzte, dass der Todeszeitpunkt zwischen 1 bis 3 Monaten lag. Die Temperaturen waren in diesem Zeitraum wesentlich höher.“ „Opfer 3 war schon teilweise skelettiert, oder?“ Pastor nickt und greift zum Telefon, ehe wir den Gedanken fortsetzen können. Es dauert einen Moment, bevor sich sein Gesprächspartner meldet und Pastor seine Bitte formuliert. „Danke“, sagt er und legt auf, „Sechs bis 7 Monate. Die erste inoffizielle Schätzung.“ Ich notiere den Zeitrahmen auf die Tafel. Wir starren die Zahlen an. „Okay, also Opfer Nummer 3 ist länger tot als Opfer Nummer 1, aber Opfer Nummer 2 war scheinbar das erste Opfer?“ „Sieht so aus.“ Pastor seufzt und nimmt einen Stift zu Hand. Er notiert zunächst die Zahlen 1-3 auf eine Zeile mit dem Verweis F für Fundort, zieht darunter einen Strich und notiert danach die Zahlen Zwei, Drei und Eins mit einem O für Opferreihenfolge. F: 1 2 3 O: 2 3 1 „Wieso hat man nach dem Fund von Opfer Nummer 1 das Opfer Nummer 3 nicht gefunden?“, frage ich und sehe, wie Pastor kurz die Augen schließen muss, um dem Wirrwarr in seinem Kopf eine konkrete Ordnung zu geben. „Laut Aufzeichnungen lag der Fundort im Suchradius. Hier, Flurnummer 53. Er tippt mit dem Zeigefinger auf die entsprechenden Flure der aufgehängten Karte der Liegenschaftskataster. „Vermutlich waren keine äußerlichen Spuren mehr erkennbar, da das Opfer schon längere Zeit vergraben war.“ Ich hole eine Packung Pins aus der Schublade und schiebe sie ihm zu. „Wir haben hier den Fundort aller drei Opfer. Innerhalb eines Radius von 2000 Meter.“ Pastor setzt einen roten Pin in das Waldgebiet. Ich nenne ihm die Wohnadressen. Er wählt für diese jeweils einen blauen Stecker und wie erwartet, ergibt sich ein nichtssagendes Bild. „Was spricht nochmal für deine Theorie?“, fragt Pastor eindeutig stichelnd. Irgendwas regt sich in meinem Kopf, aber ich schaffe es nicht, es zu greifen. Ich habe mich zu sehr von den Zahlen ablenken lassen. „Es ist nicht meine Theorie. Mir fiel es nur auf.“ Das würde zudem darauf hindeuten, dass die Opfer gezielt ausgewählt wurden, nicht zufällig. „Außerdem warst du derjenige, der anmerkte, dass Serientäter selten in ihrem eigenen Wohnumfeld agieren. Die Vermutung hat demnach weiterhin eine Daseinsberechtigung. Drei Distrikte kommen in Frage.“ „Dem ist so. Und ist er das?“ „Was? „Ein Serientäter?“ „Laut Definition, mindestens drei oder mehr Tötungen.“ Stimmt es, was Shay sagt, dann sind es bereits vier. Wir starren beide schweigend auf die angepinnten Karten bis Pastors Handy zwei Mal aufpiept. Er zieht es hervor und seinem Gesichtsausdruck nach sind es keine guten Nachrichten. Das nachfolgende Seufzen unterstreicht meine Vermutung eindrucksvoll. „Izan will nicht mit mir sprechen“, sagt er, „Er antwortet nicht auf meine Nachrichten und die Sozialarbeiterin sagt, er macht dicht, sobald ich zur Sprache komme.“ Als er das sagt, zieht sich nur die Hälfte seines Mund nach oben, sodass ein schiefes Grinsen entsteht. Seine Augen fixieren einen unbekannten Punkt. „Gib ihm etwas Zeit.“ Es sind bisher nur drei, knapp vier Wochen vergangen, seit dem der Dibbuk bei Izan ausgetrieben wurde. Es war nicht einfach, das hat mir der Rabbi geschildert. Auch die Bücher, in denen ich nachträglich über Dibbuks und Besessenheit gelesen habe, schilderten es als alles veränderndes Ereignis. Es bleibt immer etwas zurück, sagen sie. Womöglich eine unterschwellige Präsenz, die ihn daran erinnert oder einfach das Wissen, wie es sich anfühlt, seinen Körper nicht für sich selbst zu haben. Ich kann nur erahnen, welch Trauma das in den Jungen ausgelöst hast. „Ich möchte verhindern, dass er sich vollständig verschließt. Irgendwie jedenfalls.“ Ich habe es Pastor bisher verschwiegen, aber auch ich habe ihn vor zwei Wochen im Geiger-Distrikt aufgesucht und ihm meine Karte dagelassen. Er öffnete mir die Tür und als er mich ansah, erblickte ich zunächst Leere, die sich nur langsam wieder füllt. Vielleicht hat der Dibbuk ebenso ein Stück von Izan mitgenommen. Da ich nicht antworte, fährt Pastor nicht fort, sondern greift nach seiner Tasse Kaffee. Es herrscht wieder Stille. „Warum dort? Wieso wählt er gerade das als Ablageort?“, fragt Pastor laut. Es dauert etwas, bis ich aus meiner Gedankenwolke herausfinde. Ich bin mir noch nicht sicher, ob es direkte Fragen an mich sind oder ob er einfach nur laut denkt. Er sieht mich jedenfalls nicht an, sondern starrt mit kräuselnder Stirn auf das Board vor uns. „Das Naheliegendste wäre Abgeschiedenheit, wenige Menschen. Kaum bis keinen Durchgangsverkehr“, erläutere ich, „Die anderen Möglichkeiten wären Gewohnheit, rituelle Aspekte, Zufall. Es kann vieles sein.“ `Rituelle Aspekte` echot einmal mehr durch meinen Kopf. Ich blättere in der Akte zu der Bestandsliste der am Fundort eingesammelten Stücke und fahre sie mit dem Finger ab. ‚Irgendwas hat sie dort festgehalten‘, das sagte Shay über die Geister. Vogelknochen; varia. An dem Punkt stoppt mein Finger. Ungewöhnlich, aber im Wald nicht unwahrscheinlich. Ich fahre die Liste weiter ab. Drei Zeilen darunter ist Baumwollstoff gelistet, der nicht der Kleidung des Opfers geordnet werden konnte. Das Grab war wahrscheinlich durch Wildschweine aufgewühlt gewesen und der Leichnam freigelegt, weshalb ein Hund Witterung aufgenommen hat. So fand man das erste, aber wohl letzte Opfer. Der Körper war nicht mehr vollständig und vieles in einem weiten Radius verteilt. Ich setze das Absuchen der Liste fort und finde an letzter Stelle noch den Verweis auf Pflanzensamen und Haare des Opfers, die abgeschnitten wurden. Sie lagen in der Nähe des Baumwollstoffes. Die Samen stellten sich als Aconitum napellus L. heraus. Eisenhut. Überaus giftig. „Alles zu wage“, murmelt Pastor unzufrieden und mir wird jetzt erst wieder klar, dass ich nicht allein bin. „Gib mir mal die Akte der ersten Fundstelle.“ „Opfer Nummer 2?“. Ich nicke bestätigend. Auch hier suche ich nach der Liste der gefundenen Gegenstände und Materialien. Knochen eines Nagetiers. Baumwollstoff. Haare. Samen der Atropa belladonna L.. Tollkirsche. Die Pflanze selbst ist ebenfalls giftig. „Die Anordnung der Gräber spricht nicht für einen Zufall“, spricht Pastor seine Gedanken weiter laut aus und ich sehe auf, „Sie wirken wie angeordnet. Er muss irgendwas damit verbinden. Er nimmt weite Wege auf sich, um die Opfer dort abzulegen. Das tut er doch nicht grundlos?“ Vermutlich hat er damit recht, doch bei dem jetzigen Wissensstand sind es alles nur Vermutungen und Annahmen. „Apropos weiter Weg. Ich brauche eine Dusche“, gebe ich kund und laufe auf der gegenüberliegenden Seite um den Schreibtisch herum. Ich streife mir die geborgte Jacke von den Schultern und schnüffele an dem darunterliegenden T-Shirt. Ich rieche wie nasser Hund im Sommer. Ich lasse Pastor mit den Akten in meinem Büro zurück und verschwinde für eine Viertelstunde in die Gemeinschaftsdusche. Ehe ich unter die Dusche steige, schreibe ich einem meiner Quellen eine Nachricht. Ich kenne einen Hexenmeister, den ich bei solchen Themen zu Rate ziehen kann. -Nagetierknochen. Baumwollstoff. Menschliche Haare. Getrocknete Pflanzensamen. Hinweis auf Hexenbeutel?- Als ich ins Büro zurückkehre, hat sich Pastor keinen Millimeter bewegt. Er lehnt an der gleichen Stelle am Schreibtisch wie zuvor und durchblättert eine der Akten. In der anderen Hand hält er sein Handy. „Und?“, frage ich und setze mich zu Pastor auf die Schreibtischkante. Er hat eine Satellitenkarten-App geöffnet und an die Fundstelle herangezoomt. „Nichts, was ein hinreichendes Muster offenbart.“ Pastor reicht mir sein Telefon. „Abgesehen davon, dass die Fundstellen quasi um eine Lichtung angeordnet sind.“ Ich blicke zwischen Katasterkarte und dem Satellitenbild hin und her. Pastor hat recht. Sie verteilen sich relativ gleichmäßig um eine deutliche Lichtung. Aber sie folgen keinem direkten Kreis, sondern mehr einem Dreieck. Das menschliche Gehirn beginnt automatisch Muster zu suchen, auch wenn da gar keine sind. Ich schaue zurück auf die Stadtkarte und suchen die Wohnungs-Pins der Opfer. Irgendwas zieht mich zu dem Pin, der Willem Panneks Wohnung darstellt. Es fühlt sich an, als würde Pannek nicht ins Schema passen, auch wenn mir nicht klar ist, was das Schema eigentlich ist. Ein langatmiges Schnauben durchbricht unseren Gedankenmoment und wir drehen uns synchron zur Tür. Detective James Marks steht in der Tür und für einen kurzen Moment trägt mich die unangenehme Annahme, dass sich auch sein Partner hier runter verirrt haben könnte. „Damast?“ Marks presst die flache Hand gegen seinen deutlichen Bauch und es wirkt, als käme er nicht so schnell wieder zu Atem. Ehe ich mich nach seinem Wohlbefinden erkundigen kann, winkt er ab. „Was kann ich für dich tun?“ Mit dem alternden Detective komme ich gut klar. Er war in seinen jungen Jahren einer der herausragendsten Polizisten des Reviers. Doch mittlerweile ist der Lack ab, wie man gerne sagt. Ich mag den alten Kerl. Er ist erstaunlich witzig und seine Gesellschaft ist ungezwungen. Eigenschaften, die man bei nur wenigen Polizeikollegen findet. Mit seinem Partner ist es schon anderes. Colton Barres und ich trafen im letzten Jahr der Akademie aufeinander und nicht nur damals hat es geknallt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben beim Sprengstofftraining die Übungshütte zerlegt. Unbeabsichtigt und aufgrund einer Auseinandersetzung. Er hat mir die Schuld gegeben und unsere Ausbilder haben es ihm geglaubt. Trotzdem ist er es, der einen tiefen Groll gegen mich hegt und ein internes Fass aufmachte, als sich abzeichnete, dass wir im selben Revier landen. Ich begegne ihm mit Ignoranz und er mir mit Hohn und Spott. Es funktioniert, wenn auch dürftig. „Pastor, nicht wahr?“, grüßt Marks nun auch den revierfremden Kollegen und muss erneut tief Luft holen. Mit jedem Atemzug werden es mehr Worte, die er mit einmal schafft. „Ich suche die Akte Duffort, Patrick Duffort. Hast du sie gesehen?“ Die Frage ist deutlich herausgepresst. Ich habe die Akte gesehen. Zuletzt auf Captain Lamarks Schreibtisch. Mein Handy meldet sich mit einer eingehenden Nachricht. „Duffort? Noch nie gehört“, verkündige ich, ohne zu schwanken oder auch nur den Ansatz einer Lüge erkennen zu lassen. Die Akte ist geschlossen, denn der arme Mann fiel dem Golem zum Opfer. Von dem ich Marks nichts erzählen kann. „Noch was?“ Der alte Detective sieht mich einen Moment lang unschlüssig an und kurz flackert sein Blick zu der angepinnten Karte. Ich habe das Gefühl, dass er weiß, um welchen Fall es geht. Doch als nächstes seufzt er schwermütig, stemmt sich die Hände in die Seite und schüttelt den Kopf. „Spurlos verschwunden. Sehr eigenartig.“ Murmelnd und wundernd kehrt er zurück zum Fahrstuhl. Gleichzeitig liegt auch Pastors Blick auf mir und dieser singt eine ganz andere Melodie. „Spars dir. Ich bin nicht an jeder verschwundenen Akte schuld“, kommentiere ich präventiv und die Wahrheit erneut biegend. Sein Blick flackert deutlich auf und ab, mit einer richtenden Note des Argwohns. „Das wird sich noch zeigen“, sagt er geradeheraus und funkelt mich verschwörerisch an. „Ich muss zurück ins Revier. Kann ich mir Kopien machen?“ „Tu, was du nicht lassen kannst“, seufze ich, umrunde den Schreibtisch und lasse mich in den alten Schreibtischstuhl fallen, der jedes Mal etwas mehr quietscht, wenn ich es tue. Ich widme mich dem Hochfahren meines PCs und beobachte nur aus dem Augenwinkel heraus, wie Pastor ein paar Bilder von der Pinnwand schießt und das Büro verlässt. Ich hole mein Telefon aus der Hosentasche und lese die erhaltene Nachricht. -Welche Pflanzen?“- -Atropa belladonna und Aconitum napellus -, tippe ich. Während ich auf eine weitere Nachricht warte, suche ich die Pflanze im Internet. Sie ist als Gift bekannt und als Bestandteil von Medizin in der Ophthalmologie. -Atropa belladonna wird auch Teufelsauge genannt. Hochpotent im Hexenbeutel. Ist nicht gut.- Das dachte ich mir längst. Schnell kommt eine weitere Nachricht rein. - Aconitum napellus ist auch hochgiftig. Sehr beliebt bei Mixturen. Eher ungewöhnlich im Hexenbeutel-, lese ich, während mir die drei Punkte anzeigen, dass meine Quelle weiter tippt. Meine Geduld hängt am seidenen Faden, also drücke ich den grünen Hörer und atme erst aus, als Aran wirklich rangeht. Die Wahrscheinlichkeit, dass er mich wegdrückt, war höher als alles andere. „Ernsthaft Damast, du lässt mich nicht mal zu Ende tippen…schäm dich.“, brummt er durchs Telefon. „Ich wollte dir den Aufwand ersparen, du tippst wie ein Opa.“ „Ich bin fast 200 Jahre alt, du kannst mich mal. Ich leg wieder auf…“ „Nein, bitte. Es tut mir leid.“, schreite ich hektisch ein. Ich brauche Antworten., „Du bist jung und frisch wie der Frühling.“ „Ich hasse dich.“ „Ich weiß, und ohne dich bin ich nur ein unwissender Wurm.“, entgegne ich dem Antiquar und Hexenmeister dreizehnter Generation ehrfürchtig. Ich versuche es zu mindestens. „Absolut wahr, du Wirbelloser“ Ich bin später beleidigt. „Deine Ingredienzien weisen auf Hexenbeutel hin, das willst du doch wissen, oder?“ „Ja und erfüllen sie einen bestimmten Zweck?“ „Kommt auf das Ritual an. Beide Pflanzen sind hochgiftig. Sie wirken sich auf das Herz-Kreislauf-System aus und schwächen. Die Anleitung für sowas findest du im Internet.“ Erbauend. „Wirken sie sich auf Geister aus?“ „Geister? Gut möglich, wenn in dem Beutel irgendwas Personifiziertes enthalten ist, können sie durchaus bindend wirken.“ Die Haare. Dann sind es die Hexenbeutel, die die Geister dort festhalten. Aber warum? „Wars das?“ „Weißt du, ob hier irgendwelche historischen Hexenhotspots existieren?“ Ich kann hören, wie sich bei dem Wort Hotspots seine Augen verdrehen. „Muss ich recherchieren“, entgegnet er knapp. „Du hast was gut bei mir.“ „Ja. Ja.“ Damit legt er auf und ich lehne mich zurück. Auf dem Weg nach Hause mache ich an der Tankstelle halt, besorge mir dort eine aktuelle Umgebungskarte mit den Fahrrad- und Wanderwegen und eine Dose Chili con Carne, die ich in der Mikrowelle erwärmen kann. Noch in Straßenschuhen öffne ich die Dose, kippe den Inhalt in eine Schüssel und stelle alles in die Erwärmungsmaschinerie. Es klopft an der Tür, während ich mir die Jacke abstreife und mir einhändig das Shirt über den Kopf zerren will. Die Jacke lasse ich auf den einzigen Stuhl, der in meiner Küche steht und kehre zur Tür zurück, erwarte fast Luis Pastor davor zu sehen. Der euphorische Detective wird noch mal mein Verderben. Seine lästigen Fragen gehen mir auf die Nerven. Mit einem stillen Seufzer lasse ich das Shirt wieder fallen. Aus Ermangelung eines Türspions öffne ich die Tür direkt und werde überrascht. Es ist nicht Pastor. „Hi, ich bin Gwen. Ich bin vor einer Weile hierhergekommen…ähm…Nein, hergezogen genauer gesagt“, berichtigt sich die junge Frau selbst, streicht sich dabei eine Strähne ihres leicht gewellten, braunen Haares zurück. Mein Blick fällt automatisch auf ihre freigelegten Ohren, deren Ohrläppchen mit daumendicken Tunneln durchstochen sind. In ihren Haaren hängen ein paar Spinnenweben. Sie trägt eine verschmutzte schwarze Latzhose und darunter nur ein rotes Crop-Top, welches ihre äußerst schmale Taille präsentiert. „Hi. Wie kann ich helfen?“, entgegne ich, schiebe mein eignes hochgerutschtes Shirt nach unten, welches ich gerade noch ausziehen wollte. Es ist selten, dass sich jemand zu meiner Tür verirrt, denn ich habe keine direkten Nachbarn. Meine Wohnung befindet sich in der abgelegenen obersten Etage, die ursprünglich als Hauptbüro und Übersichtsplattform der ehemaligen Brauerei genutzt wurde. Sie beugt sich nach vorn und stützt sich mit der Hand am Türrahmen ab. „Ich wollte fragen, ob du mir einen Hammer leihen kannst.“ Einen Hammer? Interessant. Sie lehnt sich zurück und lässt ihren Fingern nun über das Holz des Rahmens streichen. „Ich habe ein paar Reparaturen zu machen und bin leider nicht gut ausgerüstet.“ Es ist mittlerweile später Abend und sie sollte nicht mehr hämmern um diese Uhrzeit. „Ähm, ich bin mir nicht sicher, ob ich einen besitze“, gestehe ich ein, stelle mich weiter in die Tür und lehne mich zur Seite. „Wieso hast du keinen Nachbarn oder den Hausmeister gefragt?“ „Du bist doch auch ein Nachbar, ein guter bestimmt, oder etwa nicht?“, flirtet sie unverhohlen mit einem Tonfall, der selbst aromantische Steine zum Schwingen brächte. Ich bin nicht gerade der Werkzeugtyp, aber irgendwas lässt mich denken, dass ich es gern wäre. Mein Schädel fühlt sich seltsam schwammig an, sodass ich kurz den Kopf schütteln muss. Es ist das Ping der Microwelle, das mich vollends ins Hier und Jetzt zurückholt. Ich beuge mich kurz zurück, linse zur Küche und halte mich am Holzrahmen fest. „Und?“, fragt sie und streicht sich erneut eine Strähne zurück. „Und ich denke, ich kann Ihnen heute Abend nicht mehr helfen. Zudem sind laut Hausverordnung lärmverursachende Arbeiten ab 20 Uhr zu vermeiden.“ „Verstanden. Zu schade“, sagt sie und klingt kein bisschen enttäuscht, eher amüsiert. „Gute Nacht.“ Ich sehe ihr nach und schließe mit einem seltsamen Gefühl in den Händen die Tür. Sie fühlen sich taub an, als ich mit den Daumen über die kribbelnden Fingerbeeren fahre. Ich brauche Schlaf. Sofort. ~Fortsetzung folgt~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)