Solution X von Karo_del_Green (Zwischen Schatten und Licht) ================================================================================ Kapitel 11: Der beste Freund im Geiste - 3 ------------------------------------------ Folge 3 ~Teil 3 - Der beste Freund im Geiste ~ Der Morgen kommt wie immer schneller, als mir lieb ist und obwohl ich erst am späten Nachmittag offiziell den Dienst antreten muss, treibt mich die Unruhe in die Senkrechte. Die Nacht war bescheiden. Meine Träume schwankten zwischen harmlosen Blödsinn und brutalen Märchenadaptionen hin und her. Es gibt in erstaunlich vielen Märchen große böse Vierbeiner. Es endete mit dem allzu realen Gefühl des Atems des schwarzen Tiers in meinem Nacken, dem Schmerz zur Ache zu werden, zu zerfallen und ich schreckte auf. Dieser verdammte Köter. Augen so schwarz und leer, wenn sie ihre Beute beobachten, dass man einzig sich selbst darin sieht, wenn er einen erfasst. Nur sich selbst, mit all den Fehlern und mit jedem Frevel, den man in seinem Leben je begangen hat. Wurden sie rot, als er einen Entschluss fasste? Rot wie der Faden des Schicksals? Weisen sie auf das Ende? Er ist mit Sicherheit nicht ohne Grund dort. Ehe ich mich anziehe, mache ich einen Abstecher zum Schreibtisch, starte den Laptop und tippe ‚schwarzer Hund‘ in den Suchverlauf ein, bevor ich mit Zahnbürste im Mund wiederkomme. Neben etlichen Links zu Hunderassen und Unmengen an Adoptionsportalen gibt es Seiten, die mir das liefern, was ich vermute. In den Mythologien und der Traumdeutung stehen der schwarze Hund für Unheil und bösen Vorahnungen. Nichts anderes schreit mein Gefühl und ich werde damit bestätigt. Allein die Präsenz des Wesens war bedrohlich und schwer gewesen. Ich klicke weiter und lande auf einer Seite, die verweise zu mythologischen Themen zeigt. Der schwarze Hund ist ein erstaunlich hefig auftretendes Bild, auf allen Kontinenten und in vielen Ländern. Er wird auch Dämonen- oder Geisterhund genannt. Eine Seite zieht eine Parallele zu Werwölfen. Ich spüre das unangenehme Ziehen in den Knochen anschwellen und schüttele die Gedanken fort. Trotzdem. Das Unbehagen ging tiefer als das furchterfüllte Urempfinden gegenüber wilden Tieren. Normalerweise tauchen solche Kreaturen nicht aus dem Nichts auf. Böse Omen finden sich häufig in den Verweisen auf katastrophale Ereignisse und Unglücke der Geschichte. Ich bin mir daher nicht sicher, warum er sich gerade mir gezeigt hat und ob er mit den Boscop-Morden zu tun hat. Ferner noch, stehen die Tollkirsche und der Eisenhut wirklich damit im Zusammenhang? Wenn es wirklich Hexenbeutel sind, dann könnten diese der Grund sein, der die Geister an Ort und Stelle hält. Doch warum sollte man sie an ihre irdischen Körper binden wollen? Was ist die Bedeutung? Kündigt der schwarze Hund lediglich wie vermutet weitere Opfer an? Gehört es zu einem Ritual? Ich brauche mehr Informationen. Mit diesem bestimmten Gedanken im Kopf sondiere ich die offensichtlichen Oberflächen des Wohnzimmers nach meinem Handy, kann es aber nicht finden. Erst unter einem Berg schmutziger Wäsche mache ich es aus und ziehe einen weißen Fussel aus der Lautsprecheröffnung. Als nächstes verschwinde ich ins Bad, putze mir die Zähne und suche mir eine löchrige Arbeitshose, streife mir Socken und ein langarmiges, schwarzes Shirt über, während ich darauf warte, dass mein Kontakt ans Telefon geht. Ohne Erfolg. Auch ein zweiter Versuch schlägt fehl. Ich tippe die Anfrage stattdessen als Nachricht zusammen und versichere, dass ich die Bücher zum Dibbuk bei nächster Gelegenheit zurück in ihre Hände gebe. Eines der historischen Werke liegt aufgeschlagen auf der weniger benutzten Seite meines Bettes. Ich kann die Schimpftirade der Bibliothekarin quasi vor mir her sprechen, während ich über das Bett robbe und nach dem Wälzer angle. Ich inspiziere es kurz. Keine Knicke und keine Eselsohren. Ich tätschele den groben Einband, als wäre das Buch ein Haus und bringe es zur Sicherheit in die Küche, wo ich es auf dem Kühlschrank ablege. Mein Kühlschrank singt Leere und mein Magen duettiert prompt im Gleichklang. Ich sollte mir dringend einen gemäßigten Lebensrhythmus anschaffen und Regelmäßigkeiten etablieren, wie einzukaufen oder einfach meines Alters entsprechend agieren. Eigentlich sage ich mir das jede Woche. Mein Körper würde es mir danken, aber es ist nicht gerade einfach für mich. Nichts von dem, was ich tue, ist dafür eine gute Voraussetzung. Polizeiarbeit ist selten ein Achtstundendienst mit regulären Endzeiten. Überstunden und Nachtschichten sind die Regel, vor allem bei meinem Spezialfeld. Ausgehungert schließe ich die Kühlschranktür, greife mir die Schlüssel, eine Jacke und mache mich auf den Weg zu dem Ort, an dem man laut gemeinen Volksglaubens frische Lebensmittel erhält. Zur Sicherheit stecke ich mir auch meinen Dienstausweis in die Tasche. Man kann nie wissen. Das Licht im Treppenhaus ist defekt und in einem Flur wurden alle Glühbirnen aus den Lampen entfernt. Sie liegen feinsäuberlich am Boden unter den Leuchten. Ich mache einen Abstecher zum Hauswart, der in einer der unteren Wohnungen lebt und hinterlasse ihm eine Nachricht, die ich zwischen Tür und Rahmen klemme, nachdem er auf wiederholtes Klopfen nicht reagiert. Es ist kälter als gestern und der zügige Wind lässt mich den Reißverschluss der Jacke vollständig schließen, ehe ich meinen Weg fortsetze. Trotz des fortgeschrittenen Vormittags ist es eigenartig dämmerig, als wäre der Tag noch nicht aus dem Bett gekommen und würde mit der Decke über dem Kopf vor sich hindösen. Für die Schatten ist es perfekt. Die graue Jahreszeit machte es mir schon immer schwerer, alles klarer zu sehen. Es gibt mehr Nischen zum Verstecken, mehr Raum, um zu verschwimmen und im weichen Dämmern zu verbleiben. Es ist wie schwelende Stille und verharrendes Abwarten. Ruhe vor dem Sturm, dabei sind wir bereits mittendrin. Der Gedanke lässt mich unwillkürlich innehalten und ich bleibe direkt vor einem neuen Geisterfahrrad mit blütenreiner, weißer Lackierung stehen. Es lehnt am Baumschutz eines frisch gepflanzten Straßenbaumes. Er selbst ist kahl und vermittelt den Ausdruck purer Trostlosigkeit und Trauer. Blumen umringen das Damenrad wie eine blütengehäkelte Decke. Sie sind frisch. Sie müssen in den letzten Tagen angebracht worden sein. Diese Fahrräder dienen der Mahnung und Obacht. Sie werden zur Erinnerung an die Opfer von Verkehrsunfällen aufgestellt. An der Mahnstelle angekommen verlangsame ich meinen Schritt und bleibe letztendlich vollkommen stehen. Die Temperatur ist mit nur einem Schritt um mehrere Grade kälter geworden, so, als wäre ich in einen plötzlichen Übergang geraten, in die Zwischenwelt. Der Unterschied ist so prägnant, dass ich sofort merke, wie sich die Haut an meinem Hals hervorperlt, wie es um meinen Brustkorb herum kribbelt. Suchend richte ich meinen Blick gen Himmel und mir fallen ein paar helle Flocken entgegen. Doch als ich danach greife, fasse ich ins Leere. Es ist kein Schnee. Es ist Staub und doch sehe ich meinen Atem kondensieren. Ein weiteres Omen? Ich zerreibe den grauen Staub zwischen den Fingern. Irgendwas geschieht hier. Ich schaue mich um. In geringer Entfernung auf der anderen Straßenseite steht ein weiteres Geisterfahrrad. Ich komme öfter daran vorbei und jedes Mal erfasst mich ein kalter Hauch. Weniger intensiv als der heutige, aber spürbar. Wie ein Echo des Todes, welches sie umgibt. Doch diesmal ist es nicht nur das. Um das Fahrrad herum verweilen Schatten. Sie simmern im fahlen Licht des wolkenverhangenen Himmels. Flattern und fliehen, wie unruhige Gedanken. Ich sehe zurück zu dem neusten Rad, doch nichts ist zu erkennen. Die Schatten verweilen an Ort und Stelle direkt neben den weißen Rädern, während die Passanten an ihnen vorbeieilen und keines der Gesichter der entgegenkommenden Personen wahrnehmen. Wir bewegen uns in einer Welt, in der niemand mehr genau hinsieht, in der kaum jemand das Flackern im Dunst ausmacht oder die geringste Veränderung im Schatten vernimmt. Und am wenigsten stellen wir Dinge in Frage. Im Grunde sind wir alle blind. Erst, als ein junger Mann im Kapuzenpulli und darunter befindlichen Käppi die Stelle passiert, bemerke ich, wie sich einer der Schatten löst und ihm folgt. Der Junge strauchelt inmitten des Schritts. Der erhobene Fuß schwebt unbewegt über dem Asphalt und es scheint in Zeitlupe zu geschehen. Im Sekundenbruchteil. Seine Augen wandern umher, als fürchtete er das Wispern im Wind und die Stimmen im Dunkel. Gleich darauf starrt er zu dem kleinen Kiosk, nur drei Ladenfronten weiter. Bei mir beginnen sämtliche Alarmglocken zu schrillen. Ich mache mit fokussiertem Blick einen Schritt nach vorn. Es hupt wild im selben Augenblick, Reifen quietschen und ich weiche abrupt zurück. Dabei verliere ich den jungen Mann kurz aus den Augen und sehe nur, wie ein schwarzer Wagen direkt vor meinen Füßen an mir vorbeifährt. „Shit!“, fluche ich mit hämmernder Brust. Als ich den Jungen wieder finde, sieht er mich erschrocken an. Scheinbar reichte das laute Geräusch der Hupe aus, um den Schattenbann bei ihm zu lösen. Zum Glück. Doch es wird nicht das letzte Mal sein. Die Schatten wissen, wen sie wählen müssen, wen sie beeinflussen können und wer empfänglich ist. Doch es ist selten, dass ich direkter Zeuge werde. Erst, als Mister Hoodie stolpernd weitergeht und keinen Abstecher in den Laden macht, schaue ich zurück zu dem Geisterfahrrad. Die Schatten sind fort und auch der eisige Hauch auf meiner Haut ist verschwunden. Neben mir kommt ein Auto zum Stehen. Ich erkenne den Wagen sofort als den meines neugierigen Kollegen, ohne ein zweites Mal hinzusehen. Pastor winkt mir vom Fahrersitz aus zu, als wäre ich eine nachschwärmerische Bordsteinschwalbe. Es fehlt nur das heruntergekurbelte Fenster und ein Schnauzer in seinem jugendlichen Gesicht. Wie hat er mich hier gefunden? Mit einem abfälligen Schnaufen, welches Pastor nicht hört, öffne ich die Beifahrertür und steige ein. „Wolltest du dich überfahren lassen?“, fragt mein Kollege ohne vorangestellte Begrüßungsformel und sein Blick huscht über das weißbemalte Fahrrad hinter uns. „Dir auch einen guten Morgen“, watsche ich zurück, „Hast du mich verwanzt?“ Pastor grinst verlegen, beantwortet die Frage aber nicht. Er hält mir stattdessen einen Einwegpappbecher mit weißem Deckel vor die Nase, den er aus der mittleren Halterung zerrt. „Schon im Dienst?“ „Eigentlich…“, setze ich an, komme aber nicht weit, denn mein Kollege plaudert gleich weiter. „Gut. Das dritte Opfer ist tatsächlich Willem Pannek. Anhand der Zahndaten konnte eine Übereinstimmung festgestellt werden“, offenbart er euphorisch, während ich mich einhändig versuche anzuschnallen und mir überlege, wie ich den Kaffee unauffällig loswerde. „Begleite mich zur Wohnungsdurchsuchung.“ „Wieso sollte ich? Es ist nicht mein Fall.“ Nicht mal Pastors. Nicht offiziell zu mindestens. Es ist damit mehr ein Hinweis zur Güte, der mit wedelnden Händen boykottiert wird. Das zu den klaren Zuständigkeiten. „Kollegialität. So oder so haben die Kollegen genug um die Ohren. Wir tun ihnen damit einen Gefallen“, kommentiert Pastor heiter, wirft einen Blick in den Rückspiegel und löst die Handbremse. Seine gute Laune ist befremdlich. Ich lasse es mir nicht nehmen, den anderen Polizisten kritisch zu mustern. Pastor ist ein typischer Paragraphenreiter der Dienstvorschriften. Warum ist es ihm hier egal? Misstrauisch nehme ich den Deckel vom Pappbecher und linse hinein. „Das ist nur heißes Wasser“, merke ich an und sehe den anderen Polizisten irritiert an. „Oh, ja! Vergessen…hier…“, sagt er, greift in seine Jackentasche und hält mir eine Auswahl zerknüllter Teebeutel vor die Nase. „Ich wusste nicht, was du morgens lieber trinkst.“ Ich nehme ihm das Knäuel ab und Pastor reiht sich in den Verkehr ein. Die Schnüre der Teebeutel haben sich verknoten und bevor ich verzweifele, lasse ich einfach zwei Sorten ins lauwarme Wasser fallen und setze den Deckel wieder drauf. Erst danach bemerke ich Pastors kritischen Blick, der zwischen mir und der Straße hin und her wechselt. Noch immer haftet etwas weißer Staub an meinen Fingerspitzen. Ich streiche sie davon. „Was? Ich habe eigentlich keine Teepräferenz“, erkläre ich und ernte eine skeptisch hochgezogene Augenbraue. Die einzige Sorte, die ich nicht mag, ist Rooibusch-Tee. „Sicher. Sag mal, hast du schon mal etwas von der Verwaltungsvorschrift zur Dienstbekleidung…“ „Verschone mich. Ich kenne die Vorschriften“, unterbreche ich ihn prompt, „Schlipse gehen mir auf die Nerven.“ Und Menschen, die sie tragen, auch. Das sage ich nicht, lasse ihn das aber durch meinen Blick wissen. „Dir ist klar, dass es Gründe gibt, wieso auch wir im ermittelnden Feld konservative Businesskleidung tragen sollen?“, belehrt mich der Möchtegernpinguin neben mir, der einen aschgrauen Anzug und ein hellblaues Hemd trägt. Ich verdrehe die Augen. Pastors gestärkte Hemden verursachen mir schon beim Hinschauen Juckreiz. „Ich bin undercover…“ Und eigentlich nicht im Dienst. Wieder lässt er mich nicht ausreden. „Als was? Als Straßenraudi? Deine Hose ist ungewaschen und hat Löcher.“ Wenn er könnte, würde er vermutlich auf den Gras-Ketchupfleck am linken Oberschenkel deuten. Ja, ich weiß, dass er da ist und er ist mir egal. Pastors unmissverständlicher Blick wandert dennoch richtend über mein heutiges Outfit und zurück auf die Straße. Ich schaue entrüstet an mir hinab und zurück zu meinem Kollegen. „Vortreffliche Beobachtungsgabe, Detective. Du hättest zur Pradapolizei wechseln sollen, nicht zur Mordkommission“, spotte ich und klinge abfälliger als beabsichtigt, das zeigt sich auch in Pastors Gesicht. „Hey, ich habe Freunde in der Zollfahndung und die leisten herausragende Arbeit.“ „Weiß ich selbst. Schau auf die Straße!“, mucke ich zurück und ziehe dennoch bei einem Bein den unteren Teil der Hose höher, so dass das Loch am Knie kaschiert wird und der Fleck in einer Falte verschwindet. „Kauf mir das nächste Mal Frühstück, wenn du mich schon auf offener Straße kidnappst.“ „Du bist freiwillig eingestiegen.“ „Du hast eine Waffe!“ „Ich bin Polizist… Du auch…okay, lassen wir das.“ Nun grinse ich und sehe mit Genugtuung dabei zu, wie Pastor mit den Zähnen knirscht. Wenn er mich nervt, nerve ich zurück. Da bin ich rigoros. Ich nehme einen Schluck des aromatisierten Wassers und wünschte, ich hätte es nicht getan. Schwarzer Tee mit Pfefferminz ist eine schlechte Idee. Trotz der Ablenkung durch meinen grummelnden Magen bemerke ich, dass Pastor auf der Stadtautobahn nicht die richtige Ausfahrt nimmt. „Um in den Lennè-Distrikt zu kommen, hätten wir abfahren müssen“, merke ich an. „Ich weiß. Wir fahren vorher noch woanders hin.“ Jetzt fühle ich mich doch entführt. Als hätte ich es nicht geahnt. Die vielen parkenden Autos und die aufgestellte Staffelei mit dem Bildnis eines freundlich lächelnden Mannes und einem weißen Blumenkranz am Eingang des Einfamilienhauses sind ein klarer Hinweis darauf, dass wir in eine Gedenkfeier platzen. Mein Kollege trägt einen gemischten Gesichtsausdruck vor sich her, als er die Wagentür schließt, sich die Krawatte zurechtrückt und mit wachsamem Blick unser Ziel beäugt. „Bevor du etwas sagst, ich habe gestern mit der Schwester telefoniert und sie hat mich ausdrücklich darum gebeten, herzukommen“, erklärt Pastor, während er seinen Blick über die wettergegerbte Fassade schweifen lässt. An der zum Nachbarhaus zugewandten Seite ist erkennbar, dass das Haus in besseren Zeiten einen Vanilleton trug und die Holzvertäfelung weiß gewesen ist. Es muss wie ein Puppenhaus gewirkt haben. Nun ist es eher gräulich und trüb. „Was genau willst du hier in Erfahrung bringen?“, frage ich, ohne ungeduldig zu klingen und betrachte einen zerfaserten Buchsbaum, der einst eine Kugel war und jetzt einem lodernden Feuer gleicht. Formschnitt. Ich dachte immer, sowas existiert nur in Vorstädten und Klöstern. „Es gibt etliche zeitliche Diskrepanzen…“ Mehr sagt er nicht und es reicht mir. Ehrlich gesagt interessiert mich auch, wie es sein kann, das Pannek erst seit drei Monaten vermisst gemeldet, aber wesentlich länger tot gewesen ist. Wieso fiel sein Fehlen nicht früher auf? „Ich gehe Panneks Schwester suchen“, erklärt er. Ich folge Pastor mit einem Abstand von wenigen Schritten und halte mich im Hintergrund. Mein Kollege verschwindet direkt ins Wohnzimmer. Ich biege in die Küche ab und sehe dabei zu, wie einige der Gäste, zwei ältere Damen, verschiedene mitgebrachte Speisen auf den Anrichten arrangieren. Kuchen. Aufläufe. Häppchen. Sie flüstern unter vorgehaltener Hand und schütteln ungläubig ihre Köpfe. „Ich wusste, dass er tot sein muss“, höre ich sie sagen. „Es ist schrecklich.“. „Aber ich habe gehört, dass es Streit gab.“. „Es ging ums Erbe.“. Sie sehen auf, als sie mich bemerken und ich grüße sie höflich. Beide mustern mich ungeniert, dann tuscheln sie unbeirrt weiter. Nur etwas leiser. Nach einem kurzen Blick über das Angebot, entscheide ich mich für den angemessenen Weg. Ich gieße mir etwas vom Tee ein. Es riecht nach einem klassischen Earl Grey. Er ist bitter und es hat sich bereits die schimmernde Schicht gebildet, die daraufhin deutet, dass der Tee mit stark kalkhaltigem Wasser gekocht wurde. Die Tannine, also die Gerbstoffe des Tees, verbinden sich mit den Magnesium- und Kalzium-Molekülen des Wassers und bilden diesen wasserlöslichen Film. Er ist unbedenklich, aber unschön. Ich suche mich nach Milch um, um den herben Geschmack zu reduzieren, kann aber keine finden. Also öffne ich einige Schränke und danach den Kühlschrank. In der Tür stehen Flaschen mit regulärer Kuhmilch und ein Karton mit Sojamilch. „Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?“, ertönt eine resolute Stimme hinter mir. Ich drehe mich behutsam mit der Flasche Milch in der Hand um und lächele der zur strengen Stimme passenden Erscheinung unschuldig entgegen. Die betagte Dame trägt ein schwarzes, maßgeschneidertes Kostüm und hält ein dazu passendes, dunkles Taschentuch in den aderreichen Händen. Es ist mit kleinen Stickereien und Spitze verziert und ich bin mir fast sicher, dass ich vor der Besitzerin des Hauses stehe. Willem Panneks Mutter. Die beiden älteren Damen, die zuvor noch munter tratschten, sind verstummt und beobachten uns aufmerksam, versteckt hinter ihren gefüllten Kuchentellern. „Der Earl Gray ist etwas intensiv“, bekenne ich und gieße einen großzügigen Schluck Milch in die abgestellte Tasse. Sie mustert mich kritisch, kräuselt ihre Stirn und sieht dann abrupt zu der Kanne, in der sich der Tee befindet. Mit festem Schritt geht sie darauf zu, öffnet den Verschluss und stiert hinein. Als nächstes kippt sie den gesamten Inhalt in den Ausguss. Neben der tiefbraunen Flüssigkeit fallen auch die Teebeutel ins Becken, die in der Kanne verblieben sind. Flugs greift sie meine Tasse und auch deren Inhalt landet in der Spüle. Mein Blick flackert zu den beiden anderen Frauen im Raum, die nun ihre Köpfe zusammenstecken. Sie flüstern erneut. Ich greife in meine Hosentasche, um meinen Ausweis herauszuholen, da ich damit rechne, dass sie mich jeden Moment aus dem Haus wirft. Doch zu meiner Überraschung setzt sie neuen Tee auf. „Ich habe es meiner Tochter schon hunderte Male erklärt. Ein guter schwarzer Tee bedarf nur dreier Dinge“, beginnt sie ruhig zu erklären. Ihre Stimme verliert dabei jedoch nichts der Härte. „Erstens; gefiltertes Wasser. Zweitens; das Wasser darf nicht mehr kochen.“ Sie setzt ihre Erklärung direkt um, greift zum gefüllten Wasserfilter und gießt den Inhalt in den Wasserkocher. Sie nimmt eine neue Tasse aus dem Schrank und eine Dose mit losem Tee. Eineinhalb Teelöffel gibt sie in ein Sieb hinein. Mittlerweile kocht das Wasser und kurz darauf steht es still. Es hat etwas Beruhigendes, ihr dabei zuzusehen. Ihre sanften, aber trotzdem bestimmte Bewegungen zeigen, dass sie diese Tätigkeit jahrelang ausgeführt hat. Wiederholung für Wiederholung. Für manche Menschen ist es Meditation. Ein Weg, zur Ruhe zu kommen. Es ist sorgfältig und fast liebevoll, wie sie die Tasse beim Einguss des Wassers rotieren lässt. Ich beobachte die feinen Schwaden des Wassersdampfes, empfange mit Wohlbefinden, wie sich ein fruchtig blumiger Duft ausbreitet. „Drittens; lassen Sie ihn niemals länger als drei Minuten ziehen.“ Ihre Erklärung endet und sie reicht mir die Tasse mit dem frischgebrühten Tee. „Dies ist ein Darjeeling.“ Ich nehme sie dankend entgegen und atme zunächst das herrliche Bukett ein. „Ein First Flush?“, erkundige ich mich. Dabei handelt es sich um den Erntezeitpunkt der Teeblätter, der bei diesem spezifischen Charakter zwischen Ende Februar bis Ende April liegt. Die alte Dame lächelt und die Falten um ihre Augen werden tiefer. Sie muss in der Vergangenheit vielen fröhlichen Momenten beigewohnt haben. Ich nehme einen Schluck. Das Aroma umschmeichelt meine Geschmacksknospen. Er ist perfekt. „Der Anlass ist bitter genug, um auch noch herben Tee trinken zu müssen. Mein Sohn hätte darauf Wert gelegt. Bitte verzeihen Sie, ich habe mich noch nicht vorgestellt, Melodia Pannek“, sagt sie als nächstes. „Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.“ Ich stelle die Tasse Tee zur Seite. „Ich bin von der Polizei, Detective Vikar Damast. Leider muss ich Ihnen ein paar Fragen zu ihrem Sohn stellen.“ Während ich mich vorstelle, zeige ich ihr den Ausweis. Sie lächelt erneut, doch diesmal erreicht es nicht ihre Augen. Sie deutet mir an, ihr zu folgen, jedoch nicht, ohne mir vorher einen Teller mit einem Küchlein in die Hand zu drücken. Zusammen gehen wir ins Wohnzimmer hinüber, welches ebenfalls mit etlichen Gästen gefüllt ist. Ich sehe über die Köpfe hinweg den braunen Haarschopf meines Kollegen. „Pastor!“, rufe ich ihm zu, der aufblickt und gleich darauf einen Weg durch die anderen Trauerenden bahnt. „Sie sind Geistlicher, junger Mann?“, fragt die Mutter hoffnungsvoll, als der andere Detective zu uns durchdringt. Sein Gesicht macht etwas Seltsames, als er die Frage vernimmt. „Oh, nein, nein. Bitte verzeihen Sie, ich diene dem Herrn, aber nicht… so. Das ist lediglich mein Familienname.“ Die ältere Dame nickt, wirkt sonderbar enttäuscht und tupft sich ein weiteres Mal die tränenfeuchte Spur von der Wange. Ich bemerke das Zögern und das kurze Flackern seines Blickes in meine Richtung, als er es erklärt. „Das ist Melodia Pannek, Andrews Mutter“, stelle ich sie vor. „Mein herzliches Beileid zu Ihrem Verlust“, versichert Pastor augenblicklich. Es ist subtil, aber seine Stimme ist bei diesen Worten weicher geworden. Müsste ich sie beschreiben, dann wäre sie wie das beruhigende Flüstern am Nachmittag eines sturmerprobten Mittsommertags. Wenn sich die tiefstehende Sonne wie ein Mantel über das Land bettet und jeder Windhauch Frieden schenkt. „Wir sind von der Polizei, Detective Vikar Damast und Luis Pastor. Wir hätten ein paar Fragen an Sie wegen des Verschwindens ihres Sohnes.“, wiederholt mein Kollege. Wir vernehmen die stillen Klagen der alten Frau und für wenige Sekunden verflüchtigen sich die Schatten der Trauer um sie herum und machen Resignation Platz. Sie schließt die Augen, während sich ihre rechte Hand gegen ihren Brustkorb bettet. Direkt über ihrem Herzen. Ob es den Namen ihres Sohnes schlägt? Verlust ist laut und dröhnend, auch wenn es sich anfühlt, als würde man in der Stille versinken. Wir erkundigen uns zunächst nach den grundlegenden Basisinformationen. Hatte das Opfer Feinde? Nein. Er war ihrer Meinung nach ein beliebter Dozent an der Universität. Es gab ab und an Reibereien mit einigen Studenten, die mit ihrer Note unzufrieden waren, aber nie etwas Ernstes. Er verstand sich gut mit den Kollegen. Keine auffälligen Ex-Partner. „Warum haben Sie ihren Sohn erst vor drei Monaten vermisst gemeldet?“, fragt Pastor. Der Mandelkuchen ist trocken und obwohl ich ihm den Teller mehrere Male hinhalte, ignoriert er ihn. „Er war viel unterwegs, wissen Sie. Er arbeitet an der Fakultät für Botanik und plante ein Sabbatical im zentralen Amazonas-Regenwald, um dort seine nächste Forschungsarbeit vorzubereiten. Es war nicht ungewöhnlich, dass er längere Zeit wie vom Erdboden verschluckt war“, erklärt sie mit schweren Lidern, „Bei unserem letzten Zusammentreffen hat er von seinen Plänen berichtet. Er hatte bereits Flugtickets… Dort gibt es kaum Empfang … und er musste sich doch erst wieder neu einrichten, deswegen gingen alle Briefe zur Universität. Ich ging davon aus, dass er… Oh, hätten wir doch nur...“ Sie schluchzt leidend auf und presst sich erneut das Taschentuch gegen Nase und Lippen. „Was genau meinen Sie damit, dass er sich neu einrichten musste?“, hakt Pastor irritiert nach. „Oh, er war erst vor kurzem in die neue Eigentumswohnung gezogen.“ „Umgezogen? Wo hat er denn vorher gelebt?“, frage ich. „Unten im Harrow-Distrikt. Er hatte eine längere Beziehung beendet. Er wollte mehr Zeit in der Natur verbringen und neu anfangen, verstehen Sie.“ Diesmal sind es Tränen, die sich einen Weg über ihre trockenen Wangen bahnt. Ich sehe zu Pastor, der die Lippen aufeinanderpresst und ich ahne, dass ihm das Gleiche durch den Kopf geht wie mir. „Erinnern Sie sich noch an die konkrete Adresse?“ „Geben Sie mir einen Moment, ich habe sie mir aufgeschrieben“, informiert sie uns und nickt. Beim Davongehen drückt sie sich das Taschentuch gegen die Brust. „Also wohnte er zum Zeitpunkt seines Todes gar nicht im Lennè-Distrikt“, sprudelt es aus Pastor heraus, als sich die alte Frau entfernt und im benachbartem Zimmer nach ihrem Adressbuch sucht. Es ist wie ein Funke, der in seinen Iriden aufleuchtet und das warme Braun darin wie die Sonne strahlen lässt. Zu euphorisch für meinen Geschmack und ebenso dem der anderen Anwesenden. Ich halte ihm ein letztes Mal den Teller mit dem Rest des trockenen Kuchens hin, diesmal nimmt er den Happen. Als Melodia Pannek wiederkommt, nennt sie uns eine Adresse, die sich im Harrow-Distrikt befindet. Wir sprechen ihr erneut unser Beileid aus und verabschieden uns. Die Türen schlagen gleichzeitig zu, als wir zum Wagen zurückkehren. Anschließend sitzen wir einfach nur da. Atmen. Grübeln. Oxidieren. Resümieren inwendig. In den Lennè-Distrikt müssen wir wohl nicht mehr. Mein Magen knurrt leise vor sich hin. „Harrow, nicht Lenné-Distrikt“, spricht Pastor irgendwann aus. „Ja.“ „Ändert das etwas?“ Wahrscheinlich versucht er, genauso wie ich, sich die Karte vorzustellen. Den imaginären Punkt zu fixieren und damit das Muster herauslesen zu können. „Immer noch drei von sechs.“ Der andere Detective holt sein Telefon hervor, mit dem er die Adresse aus dem Büchlein abfotografiert hat. Wir müssten ins Revier fahren, um eine konkrete Verortung vornehmen zu können, doch Pastor macht keine Anstalten, das Auto in Gang zu setzen. „Was hatte dich heute Morgen eigentlich so eingenommen?“ „Eingenommen?“ Der plötzliche Wechsel irritiert mich. „Bevor ich dich eingesammelt habe. Du wärst beinahe in ein Auto gerannt“, präzisiert er. Ich begreife, worauf er hinauswill und ich denke zurück an die Schatten, die den jungen Kerl manipulieren wollten. Mein Daumen reibt unwillkürlich über die Fingerbeere meines Zeigefingers, wo sich vor kurzem noch die Reste der Staubflocke befunden haben. „Gekidnappt hast du mich“, werfe ich ein, „Und nichts weiter. Ich war nur in Gedanken.“ „Du hattest diesen Blick“, hebt er unerwartet hervor, ohne auf meinen Widerstand einzugehen. „Blick? Was für einen Blick meinst du? Unsinn, denn es gibt keinen Blick“, erwidere ich, ohne seine Erklärung abzuwarten, lache auf, um das mulmige Gefühl zu negieren, welches sich in mir aufbaut, jedes Mal, wenn Pastor entscheidet, tiefer zu graben. Ich vergesse gern, dass er eine guter Detective ist, dass er hinsieht und deutet, dass er ahnt und begreift, ob ich es will oder nicht. Auch diesmal lässt er sich nicht beirren. „Als würdest du in eine andere Welt schauen, Dinge erkennen, die ich nicht sehen kann…“, fährt er schlicht mit seiner eigenen Agenda fort. Mein willkürliches Lachen verdorrt und hinterlässt nichts als das Gefühl von Asche in meinem Mund. Meine Zunge fühlt sich träge und fahl an. Da ich nichts erwidere, ist es Pastor, der sich fängt, aufschnauft und den Kopf schüttelt, als wäre das, was er eben sagte, nicht mehr als die Rezitation der Zeile eines Fantasyromans. „Erkläre es mir. Hilf mir, es zu verstehen.“ Er verlangt zu viel. „Es ist nicht so einfach zu erklären… Es ist... Du kannst es dir nicht vorstellen.“ Der Gedanke, an den Klippen des Unglaublichen zu zerschellen, ist nicht nur Angst, sondern Wissen. Zu oft habe ich diesen Schritt gewagt und stieß auf Leere, gar Verlassen. Diese Welt und das Bekennen, darin zu existieren, ist ein Risiko. Ein Wagnis. Es ist Schicksal und keine Freiheit. „Vielleicht überrasche ich dich“, bretzelt Pastor mir entgegen, als wäre mein Schicksal das Unterhaltungsprogramm einer Kirmes. Ehe ich reagieren kann, fährt er fort. „Wage es ja nicht, zu entscheiden, was ich will und was nicht.“ „Du bist nerviger als Bettwanzen. Hat man dir das schon mal gesagt?“ Pastor antwortet nicht, sondern starrt mich mit diesen erweichenden braunen Augen an wie der unschuldigste aller Teddybären. „Okay, wie du willst. Ich kann… Ich sehe Schatten.“ Es ist raus. Im Auto bleibt es längere Zeit still und ich wage es nicht, zu dem anderen Mann hinüberzusehen. „Schatten? Also…“ Er gestikuliert zu seiner Hand, auf der sich ein deutlicher Schatten durch das hineinscheinende Licht abbildet. „Nicht die Abwesenheit von Licht, die hinter einem undurchsichtigen Objekt entsteht. Die Schatten, die ich sehe, sind nicht explizit an ein Objekt gebunden, sie existieren außerhalb dieses Konzeptes und können sich frei bewegen. Aber es sind überwiegend Menschen, die diese Art Schatten um sich herum tragen. Für gewöhnlich deutet er auf eine gewisse Negativität in der Person hin.“ „Wie muss ich es mir das vorstellen?“ „Wie ein Schatten, der dem Körper folgt. Sie sind unterschiedlich präsent. Mal leicht grau. Mal fast schwarz. Mal figural. Mal nur…“ „Wie ein Nebel? Eine Aura?“, beendet er den Gedanken. „Nenn es, wie du willst“, watsche ich ab. Ich bin nicht sehr gut darin, es in Worte zu fassen, da es nicht mal für mich einen Sinn ergibt. Ich weiß nicht, warum sie existieren. Ich weiß nicht, woher sie kommen oder wie sie es tun. Trotz all der Zeit bin ich noch nicht vollständig schlau aus ihnen geworden. „Und diese Schatten tun was genau? Wie lange siehst du sie schon?“ „Ich sehe sie seit meiner Kindheit. Sie deuten meistens auf etwas Schlechtes hin, manchmal auch...“ Der letzte Teil verliert sich im Flüstern. „Etwas Böses?“, übertölpelt er mich nochmals. „Es ist nicht so einfach. Böse ist eigentlich das falsche Wort. Es ist mehr wie…“ Ich breche kurz ab. „Diese Schatten suchen scheinbar negative Energien oder auch Empfindungen und Gedanken. Menschen, die bereits Unmoralisches getan haben oder darüber nachdenken. Zorn, Wut und auch Neid sind Nährböden. Dieses Negative ist scheinbar wie ein Magnet für sie. Und diejenigen, die von den Schatten heimgesucht werden, werden durch sie beeinflusst. Sie senken die Hemmschwelle, was dann zu einer Spirale führt“, erkläre ich. Manchmal ist die betroffene Emotion auch Trauer, Verzweiflung oder simpler Schmerz, ausgelöst durch Verlust. Das ist nichts Böses. Es ist menschlich. „Vorhin hast du demnach einen solchen Schatten gesehen?“ „Mehrere, sie hingen im Raum und warteten.“ „Worauf?“, fragt er berechtigterweise und ich zucke lediglich mit den Schultern. Manchmal sind sie einfach da, ohne dass ich einen eindeutigen Grund dafür ersehen kann. Diesmal bin ich mir jedoch sicher, dass es an dem Geisterfahrrad lag. Es war die Trauer. Der Schmerz. Es hat sie dort gebündelt, durch die Gedanken der Passanten und der niedergelegten Blumengaben. „Keine Ahnung, aber da war dieser junge Mann. Einer der Schatten sprang an ihn heran und ich hatte das Gefühl, dass er gleich etwas Dummes macht.“ Pastor gibt ein unbestimmtes Geräusch von sich. Ich weiß nicht, ob er mir glaubt. „Vielleicht sind es wirklich Geister. Hast du Shay deshalb danach gefragt? Sie meinte doch, dass Geister, die nicht hinübergehen, irgendwann zu Schatten werden.“ „Sie sagte auch, dass die meisten Geister nichts Schlechtes im Sinn haben.“ Die Schatten jedoch schon. „Aber wenn sie keine erfüllte Ruhe finden? Ich wäre frustriert.“ Das hieße folglich, die Welt wäre voller Geister und wir sind die Sklaven ihrer Schatten. Eine beunruhigende Vorstellung. „Siehst du sie immer und überall?“, fragt Pastor mich nach einem Moment der Stille. „Nicht immer.“ „Klingt anstrengend?“ Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich eine Antwort darauf möchte oder ob es rhetorisch gemeint ist. Als Kompromiss nicke ich lediglich, höre, wie sich sein Kopf bewegt und er dabei über den rauen Bezug der Kopfstütze reibt. Pastor sucht nach etwas in seiner Hosentasche und lässt dann ein leises Seufzen erklingen. „Gut und jetzt?“, frage ich, als ich die Last der unausgesprochenen Worte nicht mehr ertrage, „Wir fahren zurück zum Boscop- Areal und suchen nach dem vierten Toten.“ Irgendwas sagt mir, dass der Täter dorthin zurückkehrt. Sei es aus rituellen Gründen oder aus psychischen. Er hat aus einem Grund genau diesen Ort gewählt, warum sonst sollte er sich die Mühe machen, die Toten dorthin zu transportieren und die Geister mit den Hexenbeuteln dort festzuhalten. „Weil unsere Zeugin angeblich seinen Geist gesehen haben will?“ Der dringende Wunsch danach, die Geistererscheinung als Humbug abzutun, erleuchtet sein Gesicht wie ein Neonschild. Er soll es ruhig versuchen, weiter zu leugnen. Von mir aus kann er alledem schnellstmöglich den Rücken kehren, dann habe ich eine Sorge weniger. „Hast du eine bessere Idee?“, frage ich schlicht, ohne auf all die Dinge einzugehen, die sich in meinem Kopf abspielen. Falls es ein viertes Opfer gibt, sollten wir nicht darauf warten, dass er durch Zufall gefunden wird, so wie die anderen. „Hast du kein hilfreicheres Abrakadabra zur Hand?“, gibt er den Ball mit dieser feinen Spitze an mich zurück. Ich wünschte, ich könnte ihn direkt zerplatzen lassen und ihn ebenso dumm aussehen lassen wie er mich. „Was glaubst du, dass ich eine Leichen-Wünschelrute aus der Hose ziehe?“, gebe ich meinen Senf zu dieser Lächerlichkeit dazu. Pastors Blick wandert in meinen Schoss und seine rechte Augenbraue Richtung Haaransatz. „Selbst wenn du was in der Hose hast, lass es lieber drin, wir kommen nur in Erklärungsnöte. Schon wieder!“, kommentiert er trocken und startet das Auto. Ich verdrehe schlicht die Augen und schnalle mich an. „Ich denke, so lange wir keine ausreichenden Beweise oder zu mindestens Anhaltspunkte haben, wo das nächste Grab sein könnte, brauche wir nicht unsere Zeit verschwenden.“ Ich befürchte, dass meine bisherigen Kenntnisse seine Meinung nicht ändern, also erwidere ich nichts darauf. Ich hinterfrage auch nicht, dass Pastor kurz darauf im Geiger-Distrikt bei einer kleinen Einkaufsstraße hält und, ohne mir den Grund mitzuteilen, aussteigt. Nach einem kurzen Check der Uhrzeit folge ich ihm. Das trockene Mandelküchlein von der Gedenkfeier ist auf dem Weg zu meinem Magen verpufft und langsam merke ich, wie sich der Hunger Löcher durch meinen Körper frisst. Pastor pfeift und ich verdrehe die Augen. Vor einem Café bleiben wir stehen und nun wage ich es doch, ihm einen Ausdruck der Verwunderung entgegenzubringen. „Bitte sag mir, dass wir hier etwas essen.“ „Wir befragen eine Zeugin“, erläutert Pastor schlicht und meine Hoffnung segelt davon. Er öffnet die Tür und hält sie mir auf. Schon beim Eintreten wandert mein Blick automatisch zu der jungen Frau mit den grünen Haaren, die hinter dem Verkaufstresen steht. Sie diskutiert angeregt mit einem aufmüpfigen, plumpen Jungen, der bei seinen schlechten Zähnen lieber keine weiteren Süßigkeiten essen sollte. Der Junge erwidert keck, dass sie sich lieber öfter die Haare waschen sollte, denn sie würde schon schimmeln. Pattsituation würde ich sagen. Sie funkeln sich an. Ohne ein weiteres Wort reicht sie ihm das Baiser und scheucht ihn davon, dabei sieht sie zum ersten Mal auf. „Euch wird man nicht mehr los, oder?“, spricht Shay aus, was uns ihr Blick längst sagt, als sie Pastor und mich erkennt. Trotz eines fulminanten Augenrollens verrät sie das amüsierte Lächeln auf den Lippen. „Du musst uns noch mal helfen.“ Da keine weiteren Kunden zu sehen sind, schließen wir zum Tresen auf. Shay verschränkt die Arme vor der Brust. Damit verdeckt sie die Worte ‚Zucker-Shay‘ auf ihrer Schürze. „Nein. Wegen euch habe ich ein Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit am Arsch.“ „Du bist unerlaubt an einem Tatort rumgeschlichen“, stellt Pastor klar und sieht ebenso wenig entschuldigend aus wie ich. Trotzdem maßregele ich ihn mit meinem Blick und versuche als nächstes, die Wogen zu glätten. „Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen und dann werden es höchstens ein paar gemeinnützige Stunden.“ Die kleine Frau packt mich geschwind und fest am Kragen und zieht mich über den Tresen zu sich runter. Überrascht lasse ich es geschehen und blicke gebannt in funkelndes Eisblau. „Wehe, ich muss ein Krankenhaus betreten, dann werden es als nächstes eure Seelen sein, die ich ins Licht führe. Verstanden?“ Eine lockige grüne Strähne fällt ihr während des Drohens ins Gesicht und kitzelt ihre wutgerötete Wange. Krankenhäuser sind ein Sammelbecken für verwirrte Geister, habe ich gehört. Ich nicke beschwichtigend und sie entlässt das Shirt aus ihrem Griff. „Seid ihr fertig mit Flirten?“, will Pastor wissen, fragt es lauter als nötig und schiebt mich offensiv zur Seite. Er holt zusammengefaltete Papiere aus der Jackeninnentasche hervor und legt sie auf dem Tresen ab. Als Nächstes sucht er schnell etwas in seinem Telefon und legt dieses daneben. Shay schaut genauso wie ich dabei zu, wie er sie vor ihr arrangiert und lehnt sich vor. Sein schlanker Finger tippt energisch auf das Papier, auf dem vier Fotografien gedruckt sind. Erst jetzt fällt mir auf, dass auf seinem Handy das Bild von Willem Pannek von der Gedenkfeier zu sehen ist. Er muss den Aufsteller fotografiert haben. „Sieht einer dieser Männer aus, wie das vierte… Opfer, das du gesehen hast?“ Er stockt leicht, während er spricht, als wäre er nicht sicher, wie es er am besten ausdrücken soll. Vermutlich stellt er die ganze Geistergeschichte weiterhin in Frage. Ich kann es ihm nicht verübeln. Shay stützt sich auf beide Ellenbogen und bettet ihr Kinn in die Handflächen, während sie jedes der Bilder kritisch betrachtet. Sie lässt sich Zeit, was grundsätzlich ein gutes Zeichen ist. Zeugen, die überstürzt handeln, liegen oft falsch. Was bei dem ohnehin fragwürdigen Wert von Zeugenaussagen eine beträchtliche Rolle spielt. Ich kann nicht verhindern, dass meine Hand ungeduldig gegen eines der mit Süßkram gefüllten Gläser tippt. Shay greift danach, schiebt es zur Seite und stiert mich an. Ich grinse. Pastor rollt mit den Augen. „Nein, der Mann, den ich gesehen habe, ist nicht dabei“, sagt sie daraufhin, „Aber den hier, den habe ich vor zwei Wochen gesehen.“ Sie deutet auf das Bild in Pastors Handy. Das Bild von der Gedenkfeier. „Von den anderen hier kommt dir keiner bekannt vor?“, fragt Pastor ruhig. Er prüft. Auch das Opfer Nummer 1 ist unter den Ausdrucken, doch diesen scheint sie nicht zu erkennen. Shay lässt ihren Blick erneut über die Bilder wandern und bestätigt mit einem Kopfschütteln. „Nein, ich denke nicht, aber…Geister sind auch nicht immer so klar und deutlich zu sehen, wie du und ich gerade. Ich bin schon auf welche getroffen, die keine richtige Form mehr hatten, weil sie sich kaum noch an sich selbst erinnern konnten“, teilt sie uns mit. Diesen armen Geschöpfen kann sie auch nicht mehr helfen, da sie nicht mehr in der Lage sind, zu kommunizieren. Shay beobachtet mich mit ihren klaren, hellen Augen. Doch ich schaue leicht an ihr vorbei, denn erneut regt sich die Präsenz, die an ihr haftet, formt das Gesicht, welches ich in den Block gezeichnet habe. Es sieht ihr so unglaublich ähnlich. Und doch unterscheidet es sich. Ich kann es nicht richtig fassen und ich glaube, dass sie es bewusst nicht zulässt. Ich löse meinen Blick mit einem Räuspern, als mich Pastor anstößt. Für ihn muss es wirken, als würde ich jedes Mal Shay anstarren. „Wenn wir dir eine Karte zeigen, könntest du ungefähr einschätzen, wo dich das vierte Opfer hinführen wollte?“, versucht er es weiter. Erstaunlich diplomatisch, in Angesicht der Tatsache, dass er sich eben noch weigerte, über das übernatürliche Phänomen nachzudenken. „Ich könnte es versuchen, aber meine Orientierung ist nicht besonders gut.“ Ich schnaube bei diesem Kommentar und erinnere mich gut daran, dass sie bei unserer Verfolgungsjagd im Kreis gelaufen sein muss, da sie plötzlich wieder hinter mir auftauchte, statt weiter vor mir wegzurennen. „Offenkundig“, bemerke ich salopp, starre auf die Kuchenauslade neben mir. „Hey“, erwidert sie laut, sodass sich ein paar der verbliebenen Gäste zu uns umdrehen. „Ich kenne da noch jemanden“, kontert Pastor und mustert mich auffällig von oben nach unten. „Hey“, kommt nun von mir, weniger laut, aber genauso beleidigt. Shay lacht gehässig auf und klingt dabei wie ein morsches Sägewerk. „Ihr wollt wirklich zurück in den Wald?“, fragt sie. Ich höre Sorge in ihrer Stimme schwimmen. „Wir müssen“, erwidere ich. Shay nickt. „Ich würde vermuten, dass er ganz dort in der Nähe liegt, wo ihr mich aufgegriffen habt. Da war das Gefühl am stärksten“, erklärt sie und die Eingangstür kündigt mit hellem Gebimmel neue Kundschaft an. Es ertönen die Stimmen von eingetreten Kunden und Shay schaut auf. Pastor und ich machen Platz. „Okay, wir kommen wieder“, sagt mein Kollege, signalisiert ihr ein Goodbye und wendet sich ab. „Lässt sich wohl nicht vermeiden“, ruft sie uns ungeniert hinterher und winkt übertrieben. Mit einem Grinsen im Gesicht verlasse ich hinter Pastor das Café. Sein Blick lässt meinen Optimismus jedoch gleich wieder schwinden. „Was?“, erkundige ich mich bei dem Sauertopf. „Sie hat das erste Opfer nicht erkennt.“ „Dafür aber Pannek ohne Zweifel.“ Eins von drei. Pastor ist nicht überzeugt, das zeigen mir seine zusammengezogenen Augenbrauen und das stetige Mahlen seines Mundes. Ich wäre es bei dem Stand seines Wissens auch nicht. „Und zu deiner Information, das da drin war kein Flirten“, stelle ich richtig, weil ich das dringende Bedürfnis verspüre. Ich bin unkonventionell, aber nicht unprofessionell. Für wen hält er mich? „Wenn du das sagst“, erwidert er reserviert. „Vikar, warte, bitte!“ Shay ruft mich zurück, ehe wir zum Wagen gehen können, “Mir ist noch etwas eingefallen, etwas, was ich dir unbedingt sagen muss. Unter vier Augen.“ Pastor wirft uns einen fragenden Blick zu. Ich nicke beschwichtigend und sende ihn damit fort. Es war der Ton ihrer Stimme, der mich innehalten ließ, der mich die Dringlichkeit vernehmen ließ und ihr meine volle Aufmerksamkeit einbrachte. Sie hält sich nicht mit weiterem Small-Talk auf, sondern kommt gleich zur Sache. „Ihr müsst da draußen vorsichtig sein… irgendwas Eigenartiges geschieht im Wald. Ich konnte es… spüren“, führt die Geistseherin an. „Spüren oder sehen?“ Ihr Blick huscht suchend über mein Gesicht, bettet sich nachfolgend auf meine Hände. Doch sie fährt nicht fort, also hake ich nach. „Was hast du gesehen?“ „Ich bin mir nicht ganz sicher, was es war, aber es… es könnte ein großes Tier gewesen sein. Schwarz. Übelriechend. Nicht von hier.“ Nicht von hier. Ich weiß, was sie meint, ohne dass sie es erklären muss. „Es war dessen Aura… nein, es waren sogar drei verschiedene Auren. Verstehst du? Drei! Als wäre, was auch immer es war, zu gleicher Zeit dreigeteilt. Ich habe es… ihn...“ Sie bricht ihre Erklärung ab, hadert und ich sehe, wie sich Gänsehaut über ihren Hals zieht. Der gleiche Schauder, der auch mich erfasst, wenn ich an den schwarzen Hund zurückdenke. „Er ist kein Geist?“, frage ich, wohlwissend, dass ich die Antwort bereits weiß. Es ist ein Höllenwesen. Ein Dämonenhund. Ein Wächter der Unterwelt, wie es laut griechischer Mythologie auch Cerberus war. Dieser wird in den Schriften als Hund mit drei oder mehr Köpfen beschrieben. „Nein, kein Geist“, bestätigt sie überrascht, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass ich es ebenfalls gesehen habe, „Es ist durch und durch physisch und ich denke, er verfolgt dich.“ Die Luft um uns herum füllt sich mit dieser ganz besonderen Schwere einer Vorahnung. Wenn ich es wollte, könnte ich sie in Scheiben schneiden. Dick und undurchsichtig. Simmernde Obacht. „Wenn es das ist, was ich denke, dann ist er ein böses Omen. Ein sehr böses. Du könntest sterben.“ ~Fortsetzung folgt~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)