Herz über Kopf von Centranthusalba ================================================================================ Kapitel 18: Der Anruf --------------------- Als Viktor an diesem Tag durch die Tür des Vereinsbüros tritt, begrüßt ihn das Klingeln des Festnetztelefons. Gerade will er sich eilig darauf stürzen, da gefriert ihm das Blut in den Adern. Wie gebannt starrt er auf die Nummer im Display. Er kennt sie. Bis vor etwa einem Jahr hatte er genau diese Nummer gebetsmühlenartig jedem diktiert, der sie wissen wollte, und auch jenen, die sie nicht wissen wollten. Noch immer kommt ihm die Ziffernfolge ohne Anstrengung über die Lippen. In seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Wie kommt Mario auf Sapporo? Hat er es herausgefunden? Ist es Zufall? Die Mannschaft spielt gut genug, um nicht quer durch Japan nach Freundschaftsspielen anfragen zu müssen. Nein, Viktor ist sich ganz sicher: Das ist keine Spielanfrage. Mario will zu ihm. Woher nur? Er zuckt zusammen, als das Klingeln plötzlich erstirbt und mit einem lauten Klacken der Anrufbeantworter anspringt. Zu lange hat er auf die Nummer gestarrt ohne abzuheben. Erst jetzt merkt er, dass seine Handflächen feucht sind. Nach dem schrillen Piepton ertönt zunächst ein leicht frustriertes Seufzen. „Guten Tag, Mario Hongo hier. Ich würde gerne Viktor Uesugi sprechen. Ich habe erst letzte Woche während des Spiels gegen Yokohama erfahren, dass er bei euch spielt. Äh.. Glückwunsch übrigens. Ja, also… wär schön, wenn er mal zurückrufen könnte. Die Nummer ist…“ Wieder ertönt die bekannte Nummer und lässt ihm einen seltsamen Schauer über den Rücken fahren. Dann legt Mario auf. Das Spiel also. Kurz erinnert Viktor sich, wie sehr Elsa sich gesträubt hatte an diesem Abend mit ins Stadion zu kommen. Wie recht sie gehabt hatte. Elsa… Mario hatte nicht nach ihr gefragt. Wusste er es dennoch? Aber von wem? Und wenn nicht? Was würde Elsa zu seinem Anruf sagen? Sein Blick schweift gedankenversunken durch den Raum. Dann fällt er einen Entschluss. Er greift nach dem Telefon und wählt. „Hallo Becky, Viktor hier. Ich bräuchte deine Hilfe…“ ~~~ „Und dann hat Becky ihr einfach das Foto gezeigt und gesagt…“ „Hm“ „Und dann hat sie zu mir…“ „Hmm“ „Viktor?“ „Hmm“ „Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?“ „Entschuldige, ich…“ Seufzend legt Elsa ihr Gemüsemesser und die Karotten beiseite und tritt auf Viktor zu. „Was ist denn los? Du wirkst heute Abend so abwesend. Ist irgendetwas passiert?“ „Hmm“ „Heee“ Sie piekst ihm mit dem Zeigefinger gegen die gerunzelte Stirn. Er muss darüber grinsen, aber es ist ein schiefes Grinsen. Für einen Moment sieht er sie an und überlegt. Wenn er es jetzt sagt, dann ist der Abend gelaufen. Das weiß er. „Ich habe einen Anruf bekommen“, sagt er schließlich trocken, „Von Mario.“ Elsas aufmunterndes Lächeln gefriert. Er kann sehen, wie 1000 Fragen durch ihren Kopf strömen. „Und?“, bringt sie schließlich hervor. Er zuckt mit den Schultern. „Er hat mich wohl beim Spiel gegen Yokohama im Fernsehen gesehen.“ „Ah“ Sie tritt einen Schritt von ihm zurück. Der plötzliche Abstand zwischen ihnen lässt Viktors Herz schneller schlagen. „Und was hast du ihm erzählt?“ „Nichts. Ich habe nicht mit ihm gesprochen.“ Elsa zwinkert irritiert mit den braunen Augen. „Er hat auf den Anrufbeantworter gesprochen. Ich habe noch nicht zurückgerufen.“ „Achso“, sie senkt den Blick und kaut nervös auf ihrer Unterlippe herum, „Hat er nach mir gefragt?“ „Er weiß doch gar nicht, dass du hier bist.“ „Ach ja, stimmt.“ Plötzlich durchzuckt ihn ein Gedanke, der wie ein Blitz durch seine Eingeweide fährt. „Oder weiß er es doch?“ „Nein!“ Ihre Stimme überschlägt sich. Beinahe schreit sie. „Natürlich nicht!“ „Elsa“, Viktor greift nach ihren Händen und zieht sie sanft, aber bestimmt, an sich heran, „Es war nur eine Frage der Zeit, bis das passiert.“ „Nein!“, heftig schüttelnd windet sie sich aus seinem Griff, „Ich will aber nicht, dass das passiert!“ „Elsa!“ „Lass mich! Lasst mich alle in Ruhe!“, schreit sie und knallt die Badezimmertür hinter sich zu. ~~~ „Und, hat sie dort die Nacht verbracht oder ist sie doch noch wieder herausgekommen?“ Becky zieht fragend eine gezupfte Augenbraue in die Höhe, doch um ihre Mundwinkel zuckt es verräterisch. Ganz unlustig scheint sie die Geschichte nicht zu finden. „Natürlich“, bekommt sie brummelnd zur Antwort, „Ich habe ihr gesagt, dass es albern ist, sich im Badezimmer einzuschließen und dann ist sie mit hochrotem Kopf wieder erschienen.“ „Gut. Sonst wäre ich gekommen und hätte mal ein paar Takte mit ihr geredet. Was ist denn eigentlich so schlimm daran, dass ihr Ex-Freund wissen könnte, dass sie hier ist? Sie hat sich doch im Frühjahr von ihm getrennt, bevor sie hieraufgezogen ist, oder? Dann muss sie sich doch nicht vor ihm verstecken. Oder… Oh Gott!“, entsetzt über ihren eigenen Gedanken, reißt Becky die Augen auf, „Ist das etwa so einer, der ihr auflauert und sie entführt, um sie zurückzubekommen?“ Viktor unterdrückt ein prustendes Lachen und winkt ab. „Nein, nein, nicht Mario, keine Sorge.“ Dann wird er schlagartig wieder ernst. „Es ist eher so, dass er nicht weiß, dass Elsa jetzt mit mir zusammen ist. Und, nun ja, wenn das rauskommt….“ „Ihr wart Freunde, richtig?“ „Hmm, und nicht nur er. Es gibt auch noch weitere langjährige Freunde in Osaka, darunter auch Elsas Bruder und meine Schwester. Sie wissen es alle nicht.“ Beckys Augenbraue wandert erneut in die Höhe, sie sagt aber nichts. „Dass Elsa und ich zusammen sind, dürfte einige von ihnen erschüttern. Darum haben wir uns auch noch nicht wieder gemeldet. Sapporo ist unsere neue Heimat geworden. Hier müssen wir uns für unsere Beziehung nicht rechtfertigen. Dass unsere alten Freunde uns nun entdeckt haben könnten, fühlt sich an, als würden sie in unsere heile Welt eindringen.“ „Aber Viktor“, energisch dreht sich Becky zu ihm um, „ihr könnt euch doch nicht ewig verstecken. Irgendwann wäre es sowieso herausgekommen, dass ihr hier seid. Und euch kann es doch eigentlich auch egal sein, was die anderen über euch denken.“ „Sicher, du hast Recht. Ich weiß auch gar nicht, warum wir uns damit so viel Zeit gelassen haben. Es hat sich irgendwie ergeben. Und Elsa war immer sehr zurückhaltend bei dem Thema. Ich glaube schon, dass sie sich vor einem Zusammentreffen mit den alten Freunden fürchtet.“ Becky seufzt theatralisch. „Hat sie sich für dich entschieden oder nicht?“ Abrupt bleibt Viktor stehen. Er schiebt die Hände tiefer in die Taschen seiner Jacke und sieht sie mit ernstem Blick an. „Um ehrlich zu sein, habe ich das bisher genauso gesehen wie du, Becky. Aber seit gestern Abend, bin ich mir nicht mehr so sicher, was passiert, wenn Mario plötzlich in Sapporo auftauchen würde.“ Für einen Moment sieht auch Becky ihn nachdenklich an, dann deutet sie mit einer Hand auf die massive, schwarz glänzende Tür, vor der sie beide gerade angekommen sind. „Und trotzdem willst du immer noch da rein?“ Ein Grinsen huscht über Viktors Gesicht: „Du kennst mich doch inzwischen. Jetzt erst recht!“ ~~~ „Hast du ihn immer noch nicht zurückgerufen?“ „Nein“ „Warum nicht?“ „Was soll ich ihm sagen? Hallo Mario, wie geht‘s meiner Mannschaft?“ „Es ist nicht mehr deine Mannschaft.“ „Ich weiß. Es fühlt sich aber immer noch so an.“ Elsa kichert in ihren dicken Schal hinein. Es ist schlagartig kalt geworden auf Hokkaido. Viktor und sie nutzen den Samstagnachmittag für einen Bummel durch die Stadt. „Aber genau das ist es Elsa: Was soll ich ihm sagen?“ „Redet doch über Fußball. Das ging doch sonst auch immer.“ Verschmitzt streckt sie ihm die Zunge heraus. „Und über dich? Darf ich deinen Namen erwähnen?“ Schlagartig huscht ein Schatten über Elsas Gesicht. „Es wäre schön, wenn du das verschweigen könntest. Noch…“ „Und wenn er mich fragt, ob ich von dir gehört habe?“ „Dann weißt du von nichts.“ Rasch dreht sie sich um und schreitet weiter die Einkaufsstraße hinunter. „Und wenn er wissen will, ob ich eine Freundin habe?“ Viktor muss sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. „Dann hast du halt keine. Man kann doch auch mal keine Beziehung haben, oder?“ Bevor er antworten kann, unterbricht sie ein schriller Schrei. „IIIIEEEEEEEKKKKKSSSSS!!!!! Oh mein Gott!!!! Er ist es wirklich!“ Vollkommen perplex bleiben die beiden inmitten der Menschenmenge stehen und sehen sich fragend um. Da stürzt sich plötzlich jemand auf Viktors Arm und reißt ihn an sich. „Uesugi-san vom Sapporo S.C.? Natürlich, ich kann mich nicht täuschen. Ich bin ja so froh, dich endlich richtig zu treffen!“ „Ähm…“ Etwas unbehaglich blickt Viktor an seinem Arm hinunter. An ihm hängt ein junges Mädchen in Schuluniform mit zwei großen, gelben Schleifen im Haar und sieht ihn aus riesigen, braunen Augen an. „Du siehst live noch viel besser aus als im Fernsehen! Könnte ich ein Autogramm bekommen?“, flötet sie und reckt ihren Hals näher zu seinem Gesicht, „Du darfst es mir auch gerne direkt auf die Haut schreiben.“ „Äh, also…“ Viktor reckt nun ebenfalls seinen Hals, um den Abstand zu den aufreizend geschürzten Lippen möglichst zu vergrößern. Kurz fällt sein Blick auf Elsa, die die Szenerie mit ungläubig aufgerissenen Augen verfolgt. „Möchtest du mit mir einen Kakao trinken gehen? Ich lade dich ein. Und dann darfst du mir gerne alle deine Fußballerfolge erzählen. Die kenne ich natürlich bereits, aber aus deinem Mund werden sie sich anhören wie…“ „Hm hm hmmm“, räuspert sich Elsa lautstark. Viktor und das Mädchen sehen sie gleichermaßen erstaunt an. Aus der Deckung ihres Schals heraus wirft Elsa böse Blicke auf den Eindringling. Doch so einfach lässt die Kleine sich nicht beeindrucken. Sofort greift sie fester nach Viktors Arm und schmiegt sich wie eine Katze an ihn heran. „Oh, tut mir Leid für dich“, flötet sie wieder und wirft Elsa einen abschätzigen Blick zu, „aber ich war zuerst da. Viktor-san wird zuerst mit mir ausgehen.“ „Also eigentlich…“, versucht dieser zu widersprechen, kommt aber nicht weit. „Ich muss dich leider enttäuschen“, bringt Elsa zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, „aber ich war hier zu erst da und Viktor wird mit niemandem Kakao trinken gehen.“ Ihre gezwungen freundliche Stimme lässt Viktor einen Schauer über den Rücken laufen. Die Schülerin zieht einen Schmollmund und blickt fragend zu ihm auf. „Wer ist das? Ist das deine Schwester? Oder eine Cousine?“ „Was?“ „Was?“ „Also deine Freundin kann sie nicht sein. Ich habe sie noch nie im Fernsehen gesehen. Und Spielerfrauen zeigen sie immer im Fernsehen“, stellt sie mit einem kokett an die Lippen gelegten Zeigefinger fest. Dann leuchten ihre Augen plötzlich auf: „Ich habs! Sie ist deine Fake-Freundin! Sie soll in der Öffentlichkeit deine Freundin spielen, damit sich kein Mädchen an dich heranwagt. Du bist so schlau, aber mich legst du damit nicht rein. Schick sie weg und dann lass uns irgendwo ganz allein in einem kuscheligen Café einen Kakao trinken gehen.“ „Also sie ist wirklich…“, beginnt Viktor erneut und beugt seinen Kopf inzwischen soweit zur anderen Seite, dass er droht das Gleichgewicht zu verlieren. Da legt sich eine Hand auf die Schulter des Mädchens und zieht sie mit überraschender Kraft von ihm weg. „Jetzt hör mal genau zu.“ Elsa atmet einmal tief ein, baut sich zu ihrer vollen Größe vor dem Mädchen auf und funkelt sie mit wütenden Augen an. Selbst Viktor hält den Atem an. „Ich - bin - seine - Freundin“, erklärt sie und betont dabei jedes Wort extra deutlich, „Die richtige und die einzige. Und auch wenn ich nicht jeden Abend in den Nachrichten zu sehen bin, bleibe ich es trotzdem. Geht das in deinen oberschlauen Kopf?“ Beim letzten Satz ist sie so laut geworden, dass sich einige Passanten neugierig zu ihnen umdrehen. Doch Elsa scheint das gerade nicht zu kümmern. Mit verschränkten Armen fixiert sie das entsetzt dreinblickende Bündel an Viktors Arm. Die großen braunen Augen huschen zwischen Viktor und Elsa hin und her. Als er zustimmend nickt, füllen sie sich mit Tränen. „Ihr seid so doof!“, bringt sie schließlich heraus, lässt Viktors Arm endlich frei und stürzt davon, „Ich feuere dich nie wieder an!“ Sprachlos sehen die beiden ihr nach, wie sie in der Menge verschwindet. Elsa schüttelt noch einmal den Kopf und wendet sich zum Gehen, als sie merkt, dass Viktor immer noch wie erstarrt an der gleichen Stelle steht. Doch es ist nicht mehr das fremde Mädchen, dem er ungläubig hinterherblickt, sondern sie, Elsa. Seine Augenbrauen sind weit nach oben gezogen, mehrmals blinzelt er, als könne er das Geschehene immer noch nicht richtig fassen. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, klappt ihn jedoch gleich wieder zu. „Was?“ fragt sie mit einem Schmunzeln, „Stimmt doch!“ Sie greift nach seiner Hand und zieht ihn mit sich. „Ich hätte jetzt Lust auf einen heißen Kakao, du auch?“ ~~~ Tut tut tut „Hallo?“ Noch einmal schaut Viktor auf das schwarze Kästchen, das vor ihm auf dem Tisch steht „Hallo Mario, hier ist Viktor…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)