Katzenjammer von yamimaru ================================================================================ Kapitel 8: Lektion 8 - Erwarte das Unerwartete ---------------------------------------------- Das Klingeln des Weckers riss ihn so erbarmungslos aus seinem Schlaf, dass er zusammenzuckte und sich stärker gegen das warme Ding presste, auf dem sein Kopf so bequem lag. Besagtes Ding murrte, Finger landeten unkoordiniert auf seinem Kopf, bevor sie begannen, ihn zu kraulen. Der Lärm wurde abgestellt, ein leises Schmatzen war zu hören, dann kehrte wieder Ruhe ein. Kaoru war gerade dabei, erneut einzuschlafen, als sich sein lebendiges Kopfkissen, das er mittlerweile als Die identifiziert hatte, versteifte und den Atem anhielt. Automatisch tat Kaoru es ihm gleich, wartete gespannt darauf, was passieren würde, hatte aber noch keine große Lust, die Augen zu öffnen. Ob Die verschlafen hatte? Möglich. Wobei er sich zu erinnern glaubte, dass bis zum frühen Nachmittag keine Termine geplant waren.   „Kaoru?“ Er brummte und stellte enttäuscht fest, dass Die aufgehört hatte, ihn zu streicheln. „Was machst du in meinem Bett?“   ‚Blöde Frage‘, dachte er sich und gähnte herzhaft gegen den Stoff von Dies Schlafshirt. ‚Als hätte ich nicht die ganzen letzten Nächte in deinem Bett verbracht. Manchmal bist du morgens echt noch nicht fit im Kopf, mein Guter.‘ „Schlaf weiter“, nuschelte er und erstarrte, kaum waren ihm die beiden Worte über die Lippen gekommen.    Seine Augen sprangen auf und er war so schnell von Die abgerückt, dass ihm schwindlig geworden wäre, würde er nicht noch immer liegen. Ihre Blicke trafen sich, die Augen seines Freundes waren kugelrund und vermutlich spiegelte sich in den seinen derselbe Unglaube wider, den er in Dies erkennen konnte. ‚Fuckfuckfuck‘, jaulte sein Hirn panisch und weigerte sich, eine angemessene Reaktion auf das Dilemma zu liefern, in das ihn die Zauberkatze erneut gebracht hatte. Ja, er hatte wieder ein Mensch werden wollen und ja, wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich dieser Spuk vor Tagen schon erledigt, aber verdammt noch mal, hätte sie ihn nicht in seinem eigenen Bett zurückverwandeln können?   Rascheln und Dies leises, etwas beschämt klingendes Glucksen rissen ihn aus seinen panisch herumwirbelnden Gedanken. Blinzelnd fixierte Kaoru seinen Freund. War im Oberstübchen des anderen gerade endgültig eine Leitung durchgebrannt oder weshalb fand er ihre Situation plötzlich zum Lachen komisch?   „Tschuldige, das letzte Glas gestern muss schlecht gewesen sein.“ Wovon redete Die da nur? Doch Kaoru entschied sich, diese Frage vorerst nicht zu äußern und stumm abzuwarten. „Warum musstest du auch darauf bestehen, dass das Bett groß genug für uns beide ist? Jedes Mal dasselbe.“   Langsam dämmerte es ihm, was Die meinte, auch wenn er sich weder daran erinnern konnte, mit ihm getrunken, noch darauf bestanden zu haben, dass der Große nicht auf seiner Couch nächtigte. Da letztere Forderung allerdings genau dem entsprach, wie er in einer Situation wie der Beschriebenen reagiert hätte, brummte er nur zustimmend und richtete sich zum Sitzen auf.   In der Vergangenheit hatte es schließlich so einige dieser trinkfreudigen Abende gegeben, während derer Die irgendwann darauf bestanden hatte, dass Kaoru nicht mehr fit genug war, um nach Hause zu fahren, und lieber bei ihm übernachten sollte. Auch die Diskussionen, wer von ihnen das gemütliche Bett nötiger hatte, und der unweigerliche Kompromiss daraus, waren ihm nur allzu bekannt. Nur lagen besagte Abende schon Jahre zurück und er war noch nie in die Verlegenheit gekommen, noch halbwegs in der Gedankenwelt einer Katze steckend und daher Die als Kopfkissen missbrauchend aufzuwachen.   „Mir ist es eindeutig lieber, von dir am frühen Morgen angeschrien zu werden, als mir den ganzen Tag dein Gejammer über Rückenschmerzen anhören zu müssen“, entschied er sich letzten Endes mit deutlicher Übertreibung auf Dies seichte Anschuldigung zu reagieren und lächelte schief, als sein Freund daraufhin entrüstet die Wangen aufplusterte. Entweder war sein Pokerface derart gut oder Die noch recht matschig in der Birne, denn sein Freund schien ihm seine Scharade ohne Weiteres abzukaufen.  „Gib mir fünf Minuten im Bad, um mich an meine gestrigen Schandtaten zu erinnern, und dann reden wir weiter. Vorzugsweise während ich mindestens einen Liter Kaffee in mein System kippe.“   „Schön, dass sich manche Dinge nie ändern.“ Die grinste, bevor er leise wimmernd das Gesicht verzog und beide Hände gegen seine Schläfen presste. „Du hattest wirklich recht damit, dass der Klare uns nicht guttun wird.“   „Na, wenn ich das gesagt habe, stimmt es auch.“ Kaoru schwang seine Beine über die Bettkante und blieb noch einen Moment sitzen, bis die Welt vor seinen Augen aufhörte, sich zu drehen. „Lagert dein Vorrat an Kopfschmerztabletten noch immer im Bad?“   „Im Bad, in der Küche, im Arbeitszimmer. Ich bin vollständig ausgerüstet, bedien dich also.“   „Die Firma dankt.“ Kaoru wusste nicht, wo er seine lockere Art in dieser Situation hernahm, aber er war unendlich dankbar dafür, dass er Die weder anstarrte wie eine Erscheinung, noch aus katzenhafter Gewohnheit versuchte, das Zimmer auf allen vieren zu verlassen. Dass er bis auf seine Jeans und Socken noch vollständig bekleidet war, war übrigens auch etwas, was ihn über die Maßen erleichterte.   Erst, als das warme Wasser der Dusche auf seinen Kopf und die Schultern prasselte – ein Gefühl, das er in den letzten Tagen schmerzlich vermisst hatte – gönnte er es sich, abgrundtief zu seufzen. Was hatte die Zauberkatze nun wieder angestellt? Hatte sie Dies Erinnerungen manipuliert? Es musste so sein, denn er selbst erinnerte sich nicht daran, mit Die getrunken zu haben, geschweige denn, sich wieder zurückverwandelt zu ha… Moment mal. Knirschend wie Hunderte verrostete Zahnräder setzte sich sein Denkapparat in Bewegung und begann ihn langsam mit Bildern und Unterhaltungsfetzen der letzten Nacht zu versorgen.   ~*~ Einige Stunden zuvor. ~*~   „Siehst du.“ Die Zauberkatze sah ihm tief in die Augen und blinzelte träge. „Das nenne ich einen Herzenswunsch.“   „Was meinst du?“ Kaum hatte Kaoru diese Frage ausgesprochen, krümmte er sich. Sein Bauch schmerzte so unerträglich, als würden Tausende Messer gleichzeitig auf ihn einstechen und sein Rücken brannte wie Feuer.   „Ruhig, es ist gleich vorbei.“   Kaoru hätte geschrien, würde der Schmerz ihm nicht sämtliche Luft aus den Lungen pressen. Seine Gliedmaßen zitterten so stark, als hätte er einen Krampfanfall und kurz bevor er glaubte, das Bewusstsein zu verlieren, war es mit einem Schlag vorbei.   „Oh Gott, was war das?“, keuchte er, beide Hände gegen die Stirn gepresst, hinter der sein Hirn sich mit jedem Herzschlag in seine Atome aufzulösen versuchte. Mit tränenden Augen starrte er nach oben an die Küchendecke, versuchte, erfolglos zu begreifen, was mit ihm passiert war, während ein stetiges Zittern in Wellen durch seinen Leib jagte. „Was hast du mit mir gemacht?“   „Ich habe dir einen Teil deines Herzenswunsches erfüllt, für den Rest bist du zuständig.“   Wo Kaorus Ohren nur ein Maunzen hörten, begriff sein Verstand, was die schwarze Katze neben ihm sagte. Er drehte den Kopf, sah in die grünen Augen, die seinen Blick ohne Blinzeln erwiderten, bevor eine raue Zunge kurz, beinahe wie zum Abschied, über seine Wange leckte. „Es war interessant mit dir, vielleicht sehen wir uns einmal wieder.“   Bevor Kaoru reagieren oder sich überhaupt darüber klar werden konnte, was er sagen wollte, war die Zauberkatze verschwunden, als wäre sie nie da gewesen. Zitternd hob er einen Arm, betrachtete seine von Fell befreite und wieder menschliche Hand.   „Ich bin wieder ein Mensch“, wisperte er und schaffte es beim dritten Versuch, sich in eine sitzende Position hochzurappeln. „Und ich bin angezogen, wie überaus zuvorkommend.“ Kaoru schnaubte und strich über das Shirt, von dem er sich sicher war, dass er es an dem Abend getragen hatte, als er der Zauberkatze zum ersten Mal begegnet war. Magie war wirklich praktisch … wenn sie nicht gerade gegen ihn verwendet wurde.   Dort saß er also, vollkommen durcheinander auf dem Küchenboden und versuchte, sich daran zu erinnern, wie um alles in der Welt er es jemals geschafft hatte, auf nur zwei Beinen zu stehen. Seine Knie fühlten sich an, als wären sie aus Gelee, als er versuchte, aufzustehen und seine Sinne schienen vollkommen aus dem Gleichgewicht gekommen zu sein. Die schummrige Nachtbeleuchtung in der Küche trug nicht dazu bei, dass er seine Umgebung besser erkennen konnte und ein hohes Pfeifen in seinen Ohren verstärkte seine Kopfschmerzen mit jeder verstreichenden Sekunde. Gott, er fühlte sich wie unter die Räder gekommen … oder als hätte er den Kater seines Lebens. Beinahe hätte er laut gelacht – Kater – was für ein Witz, aber gerade so konnte er sich noch davon abhalten.   Sollte es das nun wirklich gewesen sein? Es war kein Trick der Zauberkatze, keine Sinnestäuschung, hervorgerufen von seinem dringenden Verlangen, endlich wieder ein Mensch zu sein, oder? Fest kniff er sich in die Seite und zischte kurz, als sich zum stumpfen Pochen in seinen Gliedern nun auch noch ein stechendes Ziehen gesellte. Er war eindeutig wach.   Ein Geräusch aus Richtung des Wohnzimmers ließ ihn in jeder Bewegung erstarren und die Luft anhalten. Verdammt, er hatte ganz vergessen, dass er nicht in seiner eigenen Wohnung war. Die geisterte hier herum, war den Geräuschen nach zu urteilen gerade ins Bad gegangen. Es wurde höchste Zeit, dass er die Beine in die Hand nahm und das Weite suchte. Allerdings war das leichter gesagt als getan, denn seine Beine wollten noch immer nicht so wie er, sodass er nur wackelnd und schwankend in die Höhe kam. Die wenigen Meter, die ihn von der Eingangstür trennten, erschienen ihm wie eine unüberwindbare Hürde, als er sich schlurfend und an der Wand abstützend nach vorn bewegte.   Erst als die Badezimmertür ein zweites Mal knackte, hatte er es geschafft, die Klinke herunterzudrücken, und fiel beinahe hinaus in den Hausflur. Mit einer beherzten Verrenkung zog er die Tür hinter sich zu, bevor er die nächsten Minuten nur in der Kälte kauerte und nicht wusste, wie er es schaffen sollte, in diesem eigenartigen Zustand nach Hause zu kommen.   Mit Mühe rappelte er sich hoch, nutzte den Türrahmen als Stütze und musste dabei versehentlich gegen das Türblatt gestoßen sein. Keinen Moment später schwang selbiges nämlich nach innen auf und Die blinzelte ihn aus müden Augen an.   „Eh, Kaoru? Was machst du denn hier?“   ~*~ Zurück in der Gegenwart. ~*~   Ihm war nichts Besseres eingefallen, als Die irgendetwas davon zu erzählen, dass er nach seiner Rückkehr den Abend in einem Izakaya verbracht hatte, um sich etwas von den strapaziösen Tagen bei seiner Familie zu erholen. Er hatte behauptet, dem Taxifahrer die falsche Adresse genannt zu haben, und musste alles in allem so bemitleidenswert gewirkt haben, dass Die ihm seine haarsträubenden Ausreden ohne weitere Nachfragen abgekauft hatte. Sein Freund hatte ihn hereingebeten, ihn mit einer Kleinigkeit zu essen versorgt und nach weiteren Unwahrheiten, die Kaoru ihm aufgetischt hatte, den unheilbringenden Klaren auf den Wohnzimmertisch gestellt.   „Den hast du dir verdient, würde ich mal sagen“, hörte Kaoru erneut das Echo der Stimme seines Freundes und seine Antwort darauf, dass er sicher nicht allein trinken würde. Eines hatte zum anderen geführt und das Endergebnis war gewesen, dass sie sich gegenseitig stützend komatös in Dies Bett gefallen waren.   „Oh, Mann“, seufzte Kaoru, während er sich mit einem süßlich fruchtigen Shampoo die Haare wusch, das ihn an die Morgen erinnerte, die er eingerollt in Dies feuerrotem Schopf geschlafen hatte. Ein eigenartiges Ziehen stach in seinem Herzen, als ihm bewusst wurde, dass er nie wieder auf diese Weise wach werden würde. Energisch wischte er sich das melancholische Lächeln von den Lippen, spülte sich den Schaum aus den Haaren und machte auch mit dem Rest seiner Körperhygiene kurzen Prozess. Zumindest das war deutlich angenehmer, als sich durch Millionen von Haaren lecken zu müssen, um sich einigermaßen sauber zu fühlen.   Er war sich noch immer nicht sicher, ob er wirklich schon bereit für den Tag war, geschweige denn dafür, sich mit Die zu befassen, als er leise schlurfend in die Küche kam. Sein Freund lümmelte am Tisch, wie so oft in den letzten Tagen, und hatte sein Tablet gegen eine Packung Milch gelehnt, um bessere Sicht darauf zu haben. Statt jedoch die sozialen Medien zu checken oder die neusten Nachrichten durchzulesen, wie es sonst seine Angewohnheit war, starrte er nur blicklos in seine Kaffeetasse.   „Musst du so schlecht aussehen, wie ich mich fühle?“, neckte er den Großen und drückte im Vorbeigehen seine Schulter, bevor er sich den größten Kaffeepott schnappte, den Dies Küchenschränke zu bieten hatten.   „Dir ist bewusst, dass es solche Aussagen auch nicht besser machen?“   „Ziemlich.“ Er schenkte Die ein schiefes Lächeln, bevor er sich ihm gegenübersetzte und tief das Aroma seines Kaffees einatmete. Hatte er nicht gestern noch festgestellt, dass er das schwarze Gold überhaupt nicht vermisste? Tja, so schnell war eine Sucht zurück. Verstohlen beobachtete er seinen Freund über den Rand seiner Tasse hinweg. Die sah wirklich nicht gut aus, müde und abgeschlagen, was zum einen kein Wunder war, ihn zum anderen dennoch beunruhigte und eine nagende Frage in ihm aufkommen ließ – erinnerte sich sein Freund an Kao? Bislang hatte Die den kleinen Kater mit keinem Wort erwähnt, was Kaoru vermuten ließ, dass die Zauberkatze mehr getan hatte, als ihn nur zurückzuverwandeln. Aber, warum wirkte Die dann so niedergeschlagen?   „Plagt dich dein Kopf so sehr oder ist noch etwas anderes im Busch?“ Gut, okay, er hätte auch einfühlsamer nachhaken können, aber das war nicht seine Art. Die wusste das, oder etwa nicht? Wenn er von dem ungläubigen Blick aus dunklen Augen ausging, der ihm gerade zugeworfen wurde, hatte er sich gerade eher untypisch verhalten. Verdammt, er war wirklich nicht auf der Höhe.   „Ich, ehm, nur der Kopf, denke ich.“   „Denkst du das, ja?“   „Ja, schon … oder ich weiß nicht. Irgendwie werde ich das dumme Gefühl nicht los, dass ich etwas vergessen oder verloren habe, als würde ich was vermissen …“ Die schüttelte den Kopf und lachte dieses leise, beschämte Lachen, das es schaffte, Kaorus Magen in Aufruhr zu versetzen.   Er schluckte das Lächeln hinunter, das sich automatisch auf seine Lippen schleichen wollte und trank stattdessen endlich den ersten Schluck seines Kaffees. Gott, tat das gut. Dennoch konnte selbst das bittere Aroma seine Vorahnung in Sachen Kao nicht überdecken und dieses eigenartige Gefühl, das Die ihm gerade beschrieben hatte, verstärkte sie zusätzlich. So entschied er sich dafür, seinen Freund auf eine falsche Fährte zu führen. Das war zwar nicht ganz in Ordnung und sein schlechtes Gewissen protestierte schon wieder lautstark, aber in diesem Fall ging er lieber auf Nummer sicher. „Mh, das Gefühl kenne ich.“   „Was? Ehrlich?“   „Ja. Es überkommt mich immer, wenn ich zu viele Termine im Kopf habe und befürchte, was zu vergessen. Gibt sich meist nach einem Blick in meinen Terminkalender wieder.“   „Du bist irgendwie …“ Die schluckte den Rest seines Satzes hinunter und schüttelte den Kopf. „Du hast recht, vielleicht hab ich wirklich nur einen Termin vergessen.“   „Bestimmt.“ Es lag ihm schon auf der Zunge, nachzufragen, was er denn war. Was hatte Die sagen wollen? Verhielt er sich wirklich so anders? Vermutlich. Bedachte man, dass Die und er vor seiner Verwandlung kaum drei Worte am Tag miteinander gewechselt hatten und das über Wochen, war Dies Skepsis nicht verwunderlich. Kaoru hatte sehr wohl realisiert, dass er seinem Freund in letzter Zeit unrecht getan hatte und auch, dass er so Einiges wiedergut machen musste. Nicht, weil Die das von ihm verlangte, das würde er nie tun, sondern, weil Kaoru es wollte. Mehr als alles andere, das wurde ihm gerade jetzt erneut klar.   „Eben. Und wenn du später dabei bist, deine Termine zu checken, kannst du gleich nachsehen, ob du heute Abend Zeit hast.“   „Zeit? Wofür?“   „Um mich ins Kino zu begleiten. Ich hab zwar keine Ahnung, was läuft, aber wir waren definitiv schon zu lange nicht mehr gemeinsam unterwegs, denkst du nicht auch?“   „Denken? Ich? Nein, das lasse ich lieber.“, murmelte Die so leise, dass er glaubte, die Worte waren nicht für seine Ohren bestimmt.“   „Wie bitte?“ Großmütig tat Kaoru so, als hätte er seinen Freund tatsächlich akustisch nicht verstanden und verkniff sich das Schmunzeln, das mit Nachdruck an seinen Mundwinkeln zupfte. Vermutlich war es nicht fair, Die so zu verwirren, aber er musste zugeben, dass es anfing, ein klitzekleines Bisschen Spaß zu machen. „Hast du schon andere Pläne?“   „Ehm, nein, nein, ich denke nicht, aber ich schau nachher lieber erst nach.“   „Perfekt.“ Nun lächelte Kaoru doch und trank den Rest seines Kaffees in wohltuender Ruhe. Aus dem Wohnzimmer waberte leise Musik zu ihnen herüber und er stellte fest, wie sehr er sich in den letzten Tagen an diese ruhigen Momente der Zweisamkeit gewöhnt hatte. Es war eben doch etwas anderes, mit einem Freund zu schweigen, als allein in einer ungemütlich zweckmäßig eingerichteten Wohnung zu sitzen, die gerade morgens nach abgestandenem Zigarettenrauch roch. Hier roch es nach Kaffee, nach einem dezenten Raumduft und allem voran nach Die.   Kaoru blinzelte, als Die sich umständlich räusperte und bemerkte erst jetzt, dass er den anderen die ganze Zeit über angestarrt haben musste. Verdammt, er musste sich wirklich daran erinnern, dass Eigenschaften, die als Katze ganz normal für ihn gewesen waren, als Mensch nun eher seltsam auf seine Umgebung wirkten.   „Sorry, ich war in Gedanken.“ Er schenkte seinem Gegenüber ein entschuldigendes Lächeln und erhob sich. Die hatte die ganze Zeit über nichts gesagt, schien wie vor den Kopf gestoßen, was Kaoru ihm nicht verübeln konnte. Würde sein Freund sich so eigenartig verhalten, hätte er schließlich auch nicht gewusst, wie er damit umgehen sollte. Kaoru hoffte wirklich, dass die Welt aufhörte, sich so anders anzufühlen, wenn er erst einmal zu Hause war und Zeit hatte, all das Geschehene zu verarbeiten. Er spülte seine Tasse kurz mit warmem Wasser aus, stellte sie ins Abtropfgitter und blieb schräg hinter seinem Freund stehen.   „Danke, dass du meinen besoffenen Arsch bei dir aufgenommen hast“.   „Keine Ursache, hättest du doch nicht anders gemacht.“ Die hob den Kopf und sah über die Schulter zu ihm auf.   „Zumindest nicht bei dir.“ Kaoru zwinkerte und auf Dies Lippen schlich sich ein schadenfrohes Grinsen, als er sich sicher gerade auch daran zurückerinnerte, dass Toshiyas besoffener Arsch schon mal eine Nacht vor Kaorus Wohnung verbracht hatte. Tja, er ließ eben nicht jeden in sein Reich.   "Meldest du dich nachher wegen des Kinos?“ Einem Impuls folgend hob Kaoru eine Hand und legte sie auf Dies Schulter. Er gab es nicht gern zu, aber die Vorstellung, nun nach Hause zu gehen, allein zu sein und diesen Umstand in nächster Zeit auch nicht wirklich ändern zu können, war keine Angenehme. So froh er war, wieder ein Mensch zu sein, so sehr würde er gewisse Dinge vermissen, an die er sich während seiner Zeit als Katze gewöhnt hatte.   „Eh, ja, mach ich.“ Die schenkte ihm einen eigenartigen Blick, den er nicht wirklich einschätzen konnte. War es ihm unangenehm, dass Kaoru hinter ihm stand oder … Er schmunzelte, streichelte kurz über Dies Schulter und schlenderte aus der Küche. Sein Freund war rot geworden, da war er sich sicher.   ~*~   Wäre es nach Kaoru gegangen, hätte er diesen Ort nie wieder aufgesucht. Da er jedoch ein Versprechen einzulösen hatte, stand er am frühen Nachmittag vor den automatischen Schiebetüren des Tierheims und versuchte, sich zu überwinden, endlich hineinzugehen. Sein Magen war ein einziger, schmerzhafter Knoten und sein Shirt klebte an seinem Rücken. Würden seine dummen Hände nicht zittern, hätte er Letzteres auf die Hitze und Ersteres darauf schieben können, dass er noch nichts gegessen hatte, aber so?   „Verdammt noch mal“, knurrte er, trat einen beherzten Schritt nach vorn und durchquerte die Schiebetüren. „Ich werde mich von einem Gebäude nicht unterkriegen lassen, das wäre ja noch schöner.“   Die Gerüche trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht und auch, wenn er das Bellen und selbst das Maunzen diesmal nicht mehr verstehen konnte, richteten sich die feinen Härchen auf seinen Unterarmen auf. Ihm wurde schlagartig übel und am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht.   „Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“ Eine freundliche Frauenstimme, die er zum Glück nicht wiedererkannte, hielt ihn jedoch davon ab, kopflos die Flucht zu ergreifen.   „Guten Tag. Mein Name ist Niikura, ich bin auf der Suche nach meinem Kater, Red. Er ist mir am Wochenende entlaufen.“   „Oh, am Wochenende schon?“   „Ja, leider. Ich hatte ihn am Sonntag noch gesucht, musste dann aber auf Geschäftsreise, und frage seit ich wieder zurück bin in allen Auffangstationen und Tierheimen nach, ob er dort aufgetaucht ist.“ Kaoru war erstaunt, wie leicht ihm diese Lügen fielen, aber wenn er Fremde anschwindelte, schien sein schlechtes Gewissen nichts dagegen zu haben. Der Zweck heiligte die Mittel und so.   „Ah, ich verstehe. Haben Sie denn ein Foto von Ihrem Kater, das Sie mir zeigen könnten?“   „Ich bin nicht der Typ, der alles fotografiert, befürchte ich. Aber ich kann Ihnen Red beschreiben.“ Und genau das tat er. Es war erstaunlich, wie viele Details ihm an dem roten Kater aufgefallen waren – von der Farbe und Zeichnung seines Fells, über die Augenfarbe bis hin zu dem wie angenagt aussehenden rechten Ohr und dem Knick kurz vor seiner buschigen Schwanzspitze. Die Angestellte hörte ihm aufmerksam zu und nickte, als er seine Beschreibung beendet hatte. „Er ist eher ein Einzelgänger, aber mit Trockenfutter kann man ihn wirklich immer locken.“   „Ich will Ihnen keine zu große Hoffnung machen, aber wir hatten bis gestern einen Kater in Quarantäne, der auf ihre Beschreibung passen könnte.“   „Bis gestern?“ Kaorus Herz sank. Hieß das etwa, jemand anderes hatte Red abgeholt? Er hätte es nicht für möglich gehalten, aber der Gedanke, unverrichteter Dinge wieder gehen zu müssen, schmeckte ihm ganz und gar nicht. Und das tatsächlich nicht nur, weil er Red dann ein Versprechen schuldig blieb.“   „Ja, er ist nun zusammen mit den anderen Fundtieren in unserem Katzenhaus untergebracht. Wenn Sie möchten, sage ich meinem Kollegen Bescheid, dass er ihn holt? Leider können Sie aus Hygienegründen nicht selbst mitkommen und es könnte auch ein wenig dauern …“   „Das ist überhaupt kein Problem“, winkte Kaoru großmütig ab. Er war so erleichtert, dass Red noch hier war, dass er auch morgen noch einmal gekommen wäre, hätte sie das von ihm verlangt. Außerdem würden ihn keine zehn Pferde in die Nähe der Quarantänestation bringen.   „Sehr schön. Sie können dort drüben platznehmen.“ Sie deutete auf eine kleine Nische, in der zwei Stühle gegen die weiße Wand gelehnt standen, die wie alles hier nicht sonderlich gemütlich aussahen. Aber er hatte ohnehin nicht vor, Wurzeln zu schlagen.   ~*~   „Herr Niikura?“ Kaoru nickte und legte die Zeitschrift, in der er die letzte halbe Stunde gelangweilt geblättert hatte, zurück auf die Ablage, bevor er sich erhob. „Mein Name ist Kanazawa.“ Der Pfleger verbeugte sich knapp und Kaoru tat es ihm gleich, obwohl sich ihm sämtliche Nackenhärchen aufstellten. Er war sich sicher, diese Stimme schon einmal gehört zu haben. Kanazawa musste der Kerl sein, der ihn eingefangen hatte. Gerade so konnte er sich davon abhalten, zu knurren und sein Gesicht nicht vor Zorn zu verziehen. „Ich habe den Kater in einem unserer Zimmer separiert, wenn sie möchten, bringe ich Sie zu ihm.“   „Sehr gerne.“ Seine Zähne fühlten sich an, als klebten sie aufeinander und er hatte die beiden Worte kaum herausgebracht. Der Pfleger schien sich an seiner abweisenden Art jedoch nicht zu stören, war vorausgegangen und Kaoru folgte ihm. Er konnte diesen Ort wirklich nicht schnell genug hinter sich lassen. Glücklicherweise dauerte es kaum zwei Minuten, bis sie an einer unscheinbaren Tür ankamen, die der Pfleger sogleich aufdrückte. Im Inneren stand ein Kratzbaum in der Ecke, mehrere Katzenspielzeuge lagen auf dem wischbaren Boden aus blassgrünem Linoleum und der Tür gegenüber, unter dem Fenster standen je ein Wasser- und Futternapf auf einem schwarzen Untersetzer. Unwillkürlich schlich sich ein Grinsen auf Kaorus Züge, als das erste, was er hörte, ein zufriedenes Knacken und Schmatzen war. Der große, dicke Kater saß vor dem Futternapf und ließ sich deutlich zufrieden das darin befindliche Trockenfutter schmecken.   „Ist das Ihrer?“   „Ja.“ Kaoru nickte knapp, bevor er seine komplette Aufmerksamkeit auf den Kater richtete. „Hallo, Red.“ Er hatte nicht sofort mit einer Reaktion gerechnet, doch kaum hatte er etwas gesagt, stoppten die Kaugeräusche und orange Augen fixierten ihn interessiert. „Ich bin es, Kaoru.“ Langsam näherte er sich, blieb jedoch eine Armeslänge vor dem Kater stehen und ging in die Hocke. „Du erinnerst dich doch noch an mich, oder?“, flüsterte er in der Hoffnung, der Pfleger wäre ausreichend von seinem Handy abgelenkt, auf dem er geschäftig herumtippte, seit sie das Zimmer betreten hatten. Er streckte eine Hand aus, nicht um die Katze zu berühren, sondern damit Red an seinen Fingern schnuppern konnte, wenn er das wollte. Ob sein Geruch als Mensch derselbe war wie als Katze? „Ka-o-ru, weißt du noch? Ich hatte dir versprochen, dich abzuholen, sobald ich wieder ein Mensch bin.“ Die letzten Worte sprach er so leise, dass er sie selbst kaum hörte. Aber Reds Augen fixierten ihn noch immer interessiert und Kaoru hoffte inständig, der Kater würde ihn begreifen, was er ihm sagen wollte. Während seiner Zeit als Katze hatte er nie Probleme damit gehabt, Menschen zu verstehen, aber er wusste nicht, ob er das dem Zauber der magischen Katze zu verdanken gehabt hatte oder ob alle Katzen dazu in der Lage waren. Letzteres war eine seltsame Vorstellung, aber darum ging es gerade nicht.   Eine weiche Berührung an seinen Fingern und ein dunkles Schnurren rissen ihn aus seinen Gedanken. Red war näher gekommen, rieb sein Gesicht nun gegen seine Hand, bevor er sich hinlegte und auffordernd zu ihm aufsah. „Streicheleinheiten? Jetzt schon? Du gehst ja ran.“ Er grinste, strich über den Kopf des Katers und begann, ihn hinter dem rechten Ohr zu kraulen. Das Schnurren wurde lauter und Kaoru fühlte, wie sich ein Großteil seiner Anspannung löste. Die erste Hürde des wieder Menschseins hatte er geschafft, alles andere würde sich auch noch geben. „Komm, Großer, ich zeig dir dein neues Zuhause.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)