Des Nachts sind die Labore still von mikifou (Wie Josh zu Mael fand) ================================================================================ Kapitel 9: Krankheit -------------------- Kapitel 9: Krankheit Joshuas Anweisung ließ mir keinen Spielraum um zu insistieren. Freitagabend hatten wir ein Date. Ein Richtiges. Ein Echtes. Während ich noch wie ein Blatt im Wind dasaß, wanderte Joshua gut gelaunt nochmals aus dem Labor. Eben hatte er nicht alles finden können und ist sporadisch zurückgekommen. Nur um … Mir stieg erneut die Hitze in den Kopf. Nur um zu lauschen und die perfekte Vorlage von seinem Best Buddy zu bekommen. Ich konnte all das noch immer nicht begreifen. Elias saß vor mir auf seinem Stuhl und sah äußerst zufrieden aus. „Endlich“, sagte Elias. „Weißt du wie anstrengend es mit euch ist? Vor allem Joshua. Immer, wenn er kurz davor war dich anzusprechen, kam was dazwischen. Als Zuschauer wurde ich langsam echt ungeduldig.“ Ich stützte meinen Kopf auf meiner Hand ab und starrte immer noch vor mich hin. Da Elias keine Antwort bekam, rollte er mit dem Stuhl näher und musterte mich. „Was ist los? Freust du dich nicht?“ Bei diesen Worten blühte mein Herz protestierend auf und ich wurde rot. Schnell sah ich zur Seite. „Doch. Das ist es nicht.“ „Sondern?“ Ich biss auf meiner Unterlippe rum. Es war schwer zu antworten, wenn ich selbst noch verwirrt war. Dennoch versuchte ich es. „Ihr seid anders…“ „Ja, schon klar. Wie meinst du das?“ Ich fuhr mir übers Gesicht und atmete tief durch. „Bisher da … hatte ich nur romantische Verhältnisse mit Frauen. Ich weiß selbst, dass ich auch Männern hinterher sehe, aber das war bisher immer irgendwie … nicht machbar… Darüber zu reden auch nicht. Und ihr … seid da so locker. Total lapidar als redeten wir über Käse… Das raff ich noch nicht ganz.“ Mein erstes Geständnis an einen Mann war so was von schief gelaufen. Dazu musste ich sagen, dass ich von meinen Eltern ein eher konservatives Liebesbild und Familienverhältnis vermittelt bekommen hatte. Als ich das erste Mal realisiert hatte, dass ich auch Männer attraktiv fand, war das ein riesiger Schock für mich. Ich dachte sogar daran mich dem Pastor anzuvertrauen, damit er mich gegebenenfalls exorzieren konnte. Zum Glück tat ich es nicht. Die Zeit verstrich einfach und ich erfuhr von externen Quellen, was außerhalb, der von meinen Eltern suggerierten Welt, noch alles möglich war. Liebe, Beziehungen in allen Formen und Farben. Männer und Männer, Frauen und Frauen. Frauen die Männer werden, Männer die Frauen werden oder sich überdreht wie welche Stylten. Menschen in falschen Körpern… Ich fasste Mut und dachte, wenn das alles möglich wäre, dann wäre nichts falsch daran, wenn ich auch Jungs und Männer attraktiv fand. Jahre später verliebte ich mich dann wirklich in einen männlichen Freund und nachdem ich den Mut aufgebracht hatte, ihm zugestehen was ich fühlte, hatte ich mit allem gerechnet. Nur nicht damit in die mittelalterliche Welt meiner Eltern zurückgedrängt zu werden. Diese Ansichten besserten sich als ich auf der Uni war. Hier gab es wirklich alles und keiner ließ sich von irgendwem etwas vorschreiben. Dennoch traute ich mich noch nicht, mich auf jemand festes einzulassen. Mein Herz hing einfach noch zu sehr an diesem Freund. Nach der Exmatrikulation war ich umgezogen und hatte mich damit abgefunden, dass mein Leben einfach so weiterlaufen würde. Mir einen Runterholen konnte ich auch alleine und es reichte aus, um das Verlangen nach mehr zu stillen. Seit ich Joshua kennengelernt hatte, wirbelte alles Bekannte durcheinander. Ich kannte die offene Art zu reden von der Uni. Prüde war dort keiner gewesen. Dennoch war es mit Elias und Joshua etwas gänzlich anderes. Die eigene Gesinnung gab man nicht sofort preis und doch wusste ich von Anfang an, worauf Joshua und Elias standen. Gut, Elias war außen vor mit Frau und Kindern. Elias lachte nur. „Käse… Ja, warum auch nicht?!“, fasste er sich wieder und rollte näher an meinen Schreibtisch heran. „Ist es denn etwas anderes? Käse ist Nahrung für den Körper und Liebe ist Nahrung für die Seele. „Hör zu, egal was aus euch wird, Josh ist niemand, der dir einen Strick aus deinen Neigungen dreht. Er ist auch eigen. Selbst wenn du nach eurem Date sagen solltest, er ist nichts für dich oder du kannst dich darauf nicht einlassen, ist es ok. Keiner verurteilt dich. Aber willst du nicht erstmal probieren, was dich erwarten könnte?“ Ich musterte Elias und mein Herz schlug schwer und aufgeregt. Schließlich senkte ich meinen Blick und nickte. „Entschuldige mich kurz“, meinte ich, stand auf und verließ das Labor. Ich fand mich auf der Bank von letztens wieder. Der Wind war kräftiger und es zogen mehr Wolken über den Himmel. Ich starrte ihnen nach und für eine ganze Weile wusste ich nicht, was ich fühlen oder denken sollte. Schließlich ließ ich meinen analytischen Teil des Hirns erneut arbeiten und trug alle Fakten zusammen: Ich war mir bewusst, was ich für Joshua empfand und war super neugierig, wie es an seiner Seite sein würde. Es mir vorzustellen, schaffte ich nicht, da sofort die Angst hochschoss. Eine Ablehnung, ein vernichtender Blick, verletzende Worte. Jedoch … was Elias gesagt hatte, ließ mich hoffen, dass Joshua wirklich tolerant genug war und mich nicht verurteilte. Egal, ob ich ihm gestand, was ich fühlte oder weiterer Nähe absagte. Der Gedanke daran ließ meinen Bauch wild kribbeln und meine Finger unruhig werden. Freitag. Ein Date. Ich sah in das Blau des Himmels, das durch eine Lücke zwischen den Wolken hervorblitzte und grinste unwillkürlich. Na gut. Ich probiere es! Mit gutem Gefühl kehrte ich ins Labor zurück. Mich erwartete das Übliche. Elias stand vor Joshuas Tisch und Joshua hatte alles bereitgelegt. Als ich reinkam, sahen beide zu mir. „Da bist du ja. Komm her. Ich würde gerne das neue Verfahren durchgehen.“ Meine Freude von Joshua so wie immer behandelt zu werden, wich fachlicher Genauigkeit. Ich eilte dazu. Damit ich nicht wieder ungeschickt hinter Joshua stehen würde, wollte ich mich zu Elias auf die andere Seite des Tisches gesellen. Doch noch während ich näherkam, wich Joshua etwas zur Seite, sodass wir beide gleich viel Platz vor dem Experiment hatten. Ich lächelte und trat an seine Seite. Es fühlte sich gut an. Zumindest bis ich das wissende Grinsen von Elias bemerkte. Schnell verschloss ich meine Mimik und blieb konzentriert. Zum Feierabend war ich erschöpft, aber überaus guter Laune. Joshua würde sich für die nächsten Tage ins Homeoffice zurückziehen. Er überließ es mir, ob ich des Nachts oder am Tag arbeitete, solange ich die wichtigen Daten sammelte. Dienstag und Mittwoch ließ ich mir die Nacht. Es war schön ruhig und ich hatte viel Zeit nachzudenken ohne schelmische Seitenblicke zu kassieren. Donnerstagvormittag war ich jedoch so nervös, dass ich mir nicht vorstellen konnte wie ich meinen freien Freitag überleben sollte. Ich wechselte kurzerhand Freitag in den Tag, um mich abzulenken. Jedoch stellte sich schnell heraus, was für eine schlechte Idee das gewesen war. Mit Elias an meiner Seite fühlte ich mich noch angespannter als alleine. Am späten Nachmittag kam Elias auf mich zu, das Handy in der Hand. „Max! Gut, dass du noch da bist, dann brauch ich dir nicht schreiben. Ich soll dir ausrichten, dass Josh es heute nicht schafft. Er wird dich aber morgen zu 12 Uhr hier abholen. Hm? Na, was soll da schon gegen sprechen?“ Den letzten Satz sprach Elias zu seinem Handy und tippte synchron eine Antwort. Ich nahm an, dass Joshua noch einen Nachsatz gesendet hatte, der Elias amüsierte und mich verdammt neugierig machte. „12 Uhr? Will er dann die Mittagspause nutzen, oder was?“ Wenn ich darüber nachdachte, hatte ich mir eigentlich ein Abendessen vorgestellt und nun ja … etwas mehr Zeit als eine halbe Stunde. Zudem morgen kein guter Tag für so was war ... „Warum nicht nach der Arbeit?“, fragte ich nach und fand es zugleich zu voreilig. Schließlich kannte ich seinen Terminplan nicht. Wenn er mich in die Mittagspause quetschte, obwohl er viel zu tun hatte, könnte ich mich doch glücklich schätzen, oder? Im nächsten Moment ging mir auf, dass Joshua heute seine Abhandlung zum ersten Teil einreichen wollte und dass er demnach den Samstag arbeiten kommen müsste, beziehungsweise mehr Zeit hätte! Etwas verwirrt und nicht wissend, ob ich mich nun freuen sollte oder nicht, verzog ich missmutig das Gesicht. „Besorgt?“, fragte Elias. „Warum sollte ich?“ Ich sah schnell zur Seite. Elias schmunzelte nur und steckte sein Handy weg. „Josh ist nicht nur auf Arbeit akkurat. Auch privat nimmt er Absprachen sehr ernst. Er würde dich nie absichtlich versetzen.“ „Und warum dann mittags und nicht abends?“ „Das musst du ihn fragen. So oder so freue dich drauf. Josh führt seine Dates immer elegant aus.“ Ich wurde leicht rot und wollte mich am liebsten rausreden. „Sicherlich ist er heute nur geschafft vom ganzen Schreiben. Ich wette mit dir, dass er die letzten Tage im Akkord gearbeitet und viel zu wenig auf sich geachtet hat. Das hat er schon zu Unizeiten immer so gemacht. Sicherlich muss er sich nur ausschlafen.“ Ich nickte und hoffte das Beste. Ich hatte bereits drei Tage auf dieses Date gewartet. Da könnte ich noch einen Tag länger warten. Bisher hatte ich noch kein Date mit einem Mann gehabt. Nicht mal einen One-Night-Stand. Mit Frauen war ich deutlich öfter ausgegangen, doch hatte keine meinen Geschmack getroffen. Dieses Date mit Joshua wollte ich wirklich haben. Selbst wenn es morgen nichts werden würde, so würde ich auf das Nächste warten. Immerhin schien es, als wollte Joshua es auch. Vielleicht würde morgen doch kein allzu dröger Tag werden. Da wir praktisch während der Arbeit essen gehen würden, zog ich mich von vornherein etwas vornehmer an. Ich betrachtete mich im Spiegel und gratulierte mir selbst. Auch in Hinblick auf das, was noch kommen möge. Samstag war wenig los und die meisten Kollegen achteten nicht darauf, was man unter dem Kittel trug. Ich brachte meine Hauptarbeit schnell hinter mich und vertrödelte den Vormittag in angespannter Vorfreude. Gegen halb Zwölf verließ ich das Labor und wartete im Foyer. Einige Kollegen marschierten an mir vorbei und grüßten mich. Ich wartete weiter und versank allmählich in grüblerische Gedanken. Hauptsächlich darüber, wie ich mich benehmen oder zeigen musste, um eine gute Figur zu machen. Ich bin mir sicher, dass ich, während dieser Denkarbeit, ziemliche Fratzen zog. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, war es zehn nach zwölf. Ich wartete mit zunehmender Unruhe. Mein Magen verkrampfte sich so sehr, dass ich aufstand und hin und her lief. Die Zeit lief und Joshua kam nicht. Um halb eins zog ich meine Karte durch den Checkpoint und lief vor die Tür. Das Wetter war herrlich warm und es wehte ein leichter Wind. Draußen sah ich niemanden. Also zum Parkplatz. Die Autos, die heute hier parkten, waren sehr übersichtlich. Ein blauschwarzes Auto mit getönten Scheiben war nicht darunter. Nervös begann ich auf meiner Unterlippe zu kauen. Ob er verhindert wurde? Vielleicht waren die Straßen verstopft oder es gab einen Unfall und er kam nicht durch? Hoffentlich hatte nicht Joshua selbst den Unfall. Meine Gedanken rasten und ich wurde leicht panisch. Die Möglichkeit, dass er mich schlicht versetzt hatte, ohne Bescheid zu geben, kam mir gar nicht erst. Elias hatte selbst gesagt, dass Joshua akkurat war und es mit Verabredungen genau nahm. Es musste also einen triftigen Grund geben, warum Joshua mich derart versetzte. Wieder im Foyer wollte ich sofort ins Labor eilen und das Radio anschalten. Vielleicht würde ich den Verkehrsfunk noch abhören können oder nein, besser ich benutzte gleich mein Handy und sah im Netz nach. „Mr. Finnigan.“ Ich erschrak so sehr, dass ich mein Handy beinahe fallen ließ. Hinter mir stand McFloyd und musterte mich von oben bis unten. „Nette Kleidung“, sagte er mit einem Lächeln und ich kam mir blöd vor. Ich steckte mein Handy weg und verdrängte für einen Moment meine Sorgen. Der Chef musste von solchen Dingen ja nichts wissen. „Ja, danke. Was kann ich für Sie tun?“ McFloyd lächelte. „Wie läuft die Zusammenarbeit mit Joshua?“ „Gut, danke der Nachfrage. Die Zusammenarbeit ist sehr aufschlussreich für mich. Joshua besitzt ein breites Wissen und ist sehr geduldig mit mir.“ „Ach, dass höre ich gerne. In dem Fall habe ich eine schlechte Nachricht für Sie.“ Mir lief es eiskalt den Rücken runter und ich presste die Lippen fester aufeinander. Mein Hirn malte sich Horrorszenarien aus, wie etwa, dass McFloyd unser Team doch auflösen wollen würde. „Joshua hat sich krankgemeldet. Er wird wohl die nächsten Tage nicht zur Arbeit kommen können.“ Der eiserne Griff um mein Herz lockerte sich und machte einer leichten Sorge platz. „Seine Abhandlung hat er mir zwar gestern zukommen lassen, aber ich habe noch diesen USB-Stick, den er sich unbedingt ansehen müsste.“ „Sind es Daten vom Experiment?“ „So was ähnliches. Sie haben doch sicherlich schon alles erledigt, nicht wahr?“ „Ja, aber-“ „Sehr gut, dann seien Sie so gut und bringen ihm das vorbei, ja?“ „Aber … wa-wann denn?“ „Jetzt gleich.“ Etwas überrumpelt stand ich da und blickte den Chef an, als hätte er mir ein chinesisches Ballettstück vorgeführt. „Aber ich weiß nicht mal, wo er wohnt.“ „Das ist kein Problem. Ich gebe Ihnen die Adresse." "A-Aber-" "Also machen Sie es? Das ist sehr schön.“ Dann griff McFloyd in seine Jacketttasche und holte einen kleinen Block und einen Stift hervor. Im Nu hatte er mir eine Adresse darauf geschrieben, mir den Zettel inklusive USB-Stick in die Hand gedrückt und war von dannen gerauscht. "Aber er ist doch krank ..." Da kann ein Fremder doch nicht einfach so vorbei schauen ... Mir war als wäre ein Tornado an mir vorbeigezogen und ich hätte irgendwas Wichtiges verpasst. Erst der Gruß eines Kollegen weckte mich aus meiner Trance. Was solls, dachte ich mir und rannte schnell ins Labor, versicherte mich, dass alles ordentlich und weggeräumt war, ehe ich mir meine Tasche griff und zur Bahn eilte. Nebenbei fragte ich mich, wie es sein konnte, dass McFloyd die Wohnanschrift eines Angestellten kannte? War Joshua wirklich so speziell? Oder kannte der Chef womöglich die Anschrift aller Angestellten? War das ein Tick oder eine beängstigende Angelegenheit? Am Bahnsteig tippte ich die Adresse in mein Handynavi ein. Mit Auto brauchte man tatsächlich nur circa dreißig Minuten. Mit Bus und Bahn kam es auf die Strecke und die Verbindung an. Ich bräuchte eine gute dreiviertel Stunde mit der Bahn. Plus Minus fünf Minuten. Ich hatte die Wahl zwischen zwei Linien. Die nächste Bahn, die kommen würde, brauchte länger als die, auf die ich noch zehn Minuten warten müsste. Beide kamen etwa zeitgleich an. Von einem inneren Druck getrieben, nahm ich die nächste Bahn und blieb in der Nähe der Tür stehen. Auch wenn es unnütz war, sah ich alle paar Minuten auf mein Handy und kontrollierte die Strecke. Dass Joshua tatsächlich nur krank war, beruhigte mich. Dass er nicht erschienen war, beunruhigte mich. Wenn er nur leicht erkältet oder so was war, dann hätte er doch im Labor anrufen können, eine E-Mail schicken oder Elias Bescheid geben können, so wie gestern. Es gab so viele Wege mich zu erreichen, auch wenn einer umständlicher war als der Nächste, je mehr ich darüber nachdachte. Bisher hatte ich mich einfach nicht getraut, Joshua nach seiner Handynummer zu fragen. Obwohl ich Elias seine hatte, da er mein Abteilungsleiter war und spontane Krankschreibungen oder Schichtwechsel so einfacher und zügiger vonstattengingen als via E-Mail oder per Anruf, kam es mir bei Joshua zunächst unangebracht vor. Irgendwie zu früh. Vielleicht lag es auch an Joshuas Ruf und der Grafen-Sache. Oder einfach daran, dass ich nicht den Mut hatte, ihn nach so etwas Privaten zu fragen ohne mich hinterher diebisch zu freuen. Dann schien der richtige Zeitpunkt Joshua zu fragen nie zu kommen. Es war wie verhext. Alles wichtige viel mir immer erst dann ein, wenn ich allein war und Zeit hatte nachzudenken. Ich umklammerte mein Handy und zwang mich zur Ruhe. Um mich abzulenken, sah ich aus dem Fenster. Büsche und Häuser zogen rasend schnell vorbei, dann folgte ein kleiner Tunnel. Als wir durch den Tunnel durchgefahren waren, bot die Stadt einen noch zugepackteren Anblick. Die typischen Plattenbauten waren fort, dafür reihten sich alte Herrenhäuser dicht an dicht. Frühere Villen umgebaut zu Mehrparteienhäuser. Ich war schon eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen. In meinem Viertel gab es die gleichen Geschäfte und Lieferdienste wie hier. Ein Grund in Richtung Innenstadt zu fahren war, um Freunde zu treffen. Aber die hatten sich, außer in den sozialen Medien mit Likes und dergleichen, nicht weiter gemeldet. Die Bahn hielt und ich stieg aus. Eilig marschierte ich zur Bushaltestelle. Der Bus stand schon bereit und ich stieg ein. Ein paar Minuten später, fuhr er los. Durch die Stadt fahrend, konnte ich weitere alte Baukünste bewundern, die hier und da mit schlechten Graffiti besudelt worden waren. Würde ich bei der nächsten Haltestelle aussteigen und in die Nebenstraße gehen, käme ich zu Marcels Wohnung. Er war vor kurzem erst mit seiner neuen Freundin zusammengezogen. Laut seinem Status zog sie zu ihm und sie schienen sehr frisch verliebt zu sein. Der Bus fuhr weiter und ich ließ den Gedanken an Marcel fallen. Die nächste Kreuzung kam mir bekannt vor und auch die Übernächste. Als ich eine Station später ausstieg, wusste ich nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Wer hätte auch gedacht, dass Joshuas Wohnung so nah an der von Binks liegen würde? Mein Navi führte mich in die entgegengesetzte Richtung. Ich hatte weitere zehn Minuten zu gehen, dann wäre ich da. Der Bus fuhr weiter und ich starrte in jene andere Richtung. Binks hatte ich seit seinem vorzeitigen Abgang von der Uni nicht mehr gesehen. Er war nicht so freigiebig mit seinem Privatleben im Netz wie Marcel, darum wusste ich nicht, was er gerade tat oder mit wem er zusammen war. Aber zum Glück wollte ich das auch nicht mehr wissen. Ich lächelte in seine Richtung und fühlte mich beinahe erhaben. Leichtfüßig drehte ich auf dem Absatz um und ging beschwingt in Joshuas Richtung. Erst nachdem ich auf mein Handy sah, stellte sich die Unruhe von vorhin wieder ein. Mittlerweile war es halb zwei. Ob Joshua noch zu Hause war? Schlief er vielleicht oder war er vielleicht doch hochgeschreckt und auf dem Weg ins Labor? Meinen Schritt beschleunigend war ich binnen von fünf Minuten vor seiner Haustür. Joshuas Auto stand zwischen all den anderen geparkten Autos direkt am Bürgersteig. Das Haus, welches sich vor mir erhob, war himmelblau angestrichen. Scheinbar in einem Anflug von Kunst oder dergleichen. Es war ein typischer Altbau mit fünf Etagen. Wahrscheinlich ohne Fahrstuhl und mit muffigem Treppenhaus. Die Briefkästen wirkten sauber und die Türklingeln waren akkurat beschriftet. Dort stand „Fritz“. Meine Hand zitterte leicht als ich sie zur Klingel bewegte. Ich schluckte und riss mich zusammen. Einen Klingelton hörte ich nicht und durch die Sprechanlage antwortete keiner. Ich klingelte öfter. Nach dem fünften Mal knackte die Sprechanlage und eine entnervte Stimme war zu hören. „Ja?!“ Es war Joshua. Er klang genervt. Trotzdem fiel mir ein Stein vom Herzen. „Hallo. Ich bin‘s. Also … Josh? Kann ich kurz hochkommen?“ Die Anlage gab keinen Ton mehr von sich. Sie knackte ein paar Mal, dann glaubte ich gehört zu haben wie der Hörer aufgelegt wurde. Meine Hoffnung begann zu sinken, als der Türknauf plötzlich aufsummte. Schnell drückte ich mich gegen die Tür und betrat das himmelblaue Haus. Joshua hatte nichts gesagt, aber ein summender Türknauf war ein Äquivalent für „tritt ein“, oder nicht? Wäre nur schön gewesen, wenn ich seine Etage hätte erfahren können. Nun gut. Dann stiefelte ich eben so lange aufwärts, bis das richtige Türschild zu sehen war. Während ich aufstieg, zog ich mir eine Atemschutzmaske der einfachsten Art über Nase und Mund und schob die Bänder hinter meine Ohren. Ich wusste nicht genau, was Joshua hatte. Sicherlich hatte ich kein Problem mit Keimen und der Gleichen, jedoch wäre es für das Experiment hinderlich, sollten wir beide zeitgleich ausfallen. Ich passierte gerade die erste Etage, als lautes Getrampel von oben zu hören war. Dieses Haus schien lebhafter zu sein, als es aussah, dachte ich bei mir und rechnete nicht mit dem, was mich auf der nächsten Treppe entgeistert anstarrte. Joshua war der Trampler gewesen. Erschrocken über den Gegenverkehr, blieb ich mitten auf der Treppe stehen und Joshua hielt mitten im Lauf inne. Beide starrten wir uns eine Weile an. Wie auch nicht. Joshua war barfuß, trug eine kurze, schwarze Hose und ein graues Shirt. Seine Haare waren leicht unordentlich und auf seinen Wangen prangte eine feine Röte, sowie eindeutige Abdrücke eines Kissens. Scheinbar war Joshua doch eingeschlafen. Durch die Röte auf seinen Wangen erschienen seine eh schon hellen Augen noch größer und glänzender. Sein Anblick verschlug mir schlicht die Sprache. „Ha-hallo“, begann ich mit gedämpfter Stimme durch die Maske und verkrampfte meine Hand um den Gurt meiner Tasche. Joshua starrte mich weiterhin an. Vielleicht hätte ich doch nicht kommen sollen? „Entschuldig-“ „Entschuldigung!“ Ich brach ab, als ich Joshua dasselbe zeitgleich sagen hörte. Überrascht blickte ich ihn an, ehe sich ein Lächeln bei mir breit machte. Durch den Mundschutz sah er es sicher nicht, dennoch war ich erleichtert. Wer, der es nicht aufrichtig meinte, würde sich so inbrünstig entschuldigen? Der Teil von mir, der sich die letzten zwei Stunden gesorgt hatte, eine Absage zu kassieren, wurde von diesem einem Wort in alle Winde zerstreut. „Schon ok. Wie geht es dir?“, fragte ich nach. Joshua stellte sich entspannter hin und fuhr sich durch die wuhligen Haare. „Sag nicht „schon gut“. Ich habe dich schrecklich versetzt. Ich wollte nur ein kurzes Nickerchen halten und habe den Wecker überhört.“ „Ja“, gestand ich ernst ein, nur um milder fortzufahren. „Aber jetzt bin ich ja hier. Darf ich mit hochkommen oder willst du weiterhin so lumpig im Treppenflur stehen?“ Nichts gegen dieses Outfit! So legere Kleidung stand Joshua ungemein gut! Jedoch klang seine Stimme etwas kratziger als sonst und allgemein betrachtet sah er wirklich nicht sehr gesund aus. Joshua räusperte sich und nickte. Schweigend begann er den Aufstieg. Seine Reaktion amüsierte mich und ich folgte ihm erheitert. Erst als ich seine Gestalt leicht schwanken sah, kehrte meine eigentliche Sorge zurück. „Du hättest nicht hier runterlaufen müssen“, sagte ich mit reumütigem Ton. „Du bist doch krank, oder? Wa-was hast du denn? Geht es dir wirklich gut?“ Die Sorge sprudelte aus mir heraus, aber Joshua antwortet nicht. Etwas geknickt senkte ich meinen Kopf. Wir kamen im vierten Stock an und ich sah, dass Joshuas Wohnungstür weit offenstand. „Du hattest es wirklich so eilig?“ „Was hast du gesagt?“, fragte Joshua und drehte sich zu mir um. „Ich habe gerade leichten Druck auf den Ohren.“ Verwundert sah ich ihn an und schloss daraus, dass er mich auf der Treppe gar nicht gehört hatte. Ich schüttelte meinen Kopf und lächelte ihn an. „Nein, nichts.“ Joshua nickte, starrte mich aber noch einen Moment an. „Willst du den Mundschutz nicht abnehmen?“ „Ah, ich wollte nur sicher gehen, dass ich mich nicht anstecke. Sonst gehen uns noch die Kulturen ein.“ Joshua starrte immer noch. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Weiter als bis zu diesem Gedanken kam ich nicht, denn schon hob sich eine von Joshuas Händen und zwei Finger griffen nach meiner Maske. Es fühlte sich an, als würden diese zwei warmen Finger mir das Material in Zeitlupe von der Nase ziehen. Die Finger streiften meine Lippen und hielten erst an, als sie mein Kinn passiert hatten. Mein Gesicht war wieder frei. „Ich bin nicht ansteckend, also lass mich dein Gesicht sehen.“ Damit betrat Joshua seine Wohnung. Mein Gesicht flammte auf und ich riss mir die Maske von den Ohren. Schnell stopfte ich sie in meine Jackentasche und konnte nicht einmal gedanklich fluchen. Der Weg, den seine viel zu warmen Finger genommen hatten, brannte und prickelte noch immer nach. Ich atmete tief ein und schob jeden dieser Gedanken erstmal zur Seite. Ohne weiter darüber nachzudenken, dass ich gerade Joshuas Wohnung betrat, trat ich ein und schloss die Tür hinter mir. Er meinte zwar, ich könnte die Schuhe anlassen, aber da hatte ich sie bereits ausgezogen und vor die Tür gestellt. Wie es sich gehörte. Joshuas Wohnung war schlicht. Weiße Wände im Flur, eine einfache Garderobe, an welche ich meine Jacke hing, und Joshuas Schuhe, welche dort akkurat aufgereiht standen. Der Flur war nicht sehr breit. Der Boden bestand aus alten Holzdielen. Das grobe, dunkle Holz war leicht zerfurcht und wirkte ziemlich alt, womit es einen tollen Kontrast zu der modernen Einrichtung gab. Die Flurlampe, zum Beispiel, bestand nur aus einer dieser übergroßen Glühbirnen, welche auf halber Höhe von der super hohen Decke hing. Auch typisch für Altbauwohnungen waren die weiß überstrichenen Stuckverzierungen. Ich folgte dem Hausherrn auf Socken ins Wohnzimmer. Dieses war groß und geräumig, mit halb offener Küche und Zugang zum Balkon. Da ich an der Front keinen Balkon gesehen hatte, musste dieser auf den Hinterhof führen. Zwei Wände des Wohnzimmers waren weiß gestrichen, die anderen grau. Joshua besaß eine große Couch, einen Couchtisch, zwei große Schränke, eine Vitrine und einen großen Fernseher, welcher an der Wand befestigt worden war. Direkt neben dem Flureingang, also rechts von mir, befand sich die halb offene Küche. Diese hatte ein Fenster, welches zur Straße hinausführte. Die Verbindung zwischen Wohnzimmer und Küche wurde durch einen hohen Küchentresen abgetrennt. Noch weiter rechts von mir, am Ende der Küche, öffnete sich ein weiterer Flurabschnitt, in welchem gerade so zwei Menschen nebeneinanderstehen konnten, wenn sie sich nicht bewegen wollten. Eine Tür führte nach links, womöglich in ein Zimmer, dass ebenfalls auf den Innenhof sehen konnte und eine Tür führte nach rechts, Richtung Straße. Ich vermutete hinter einer Tür das Bad und hinter der anderen das Schlafzimmer. Von der Einrichtung mal abgesehen, war diese Wohnung aufgeräumt, klar strukturiert und sauber. Unwillkürlich bewunderte ich alles. „Wow … hier ist es ja gar nicht möhlig.“ Joshua stand vor dem Küchentresen und sah verwundert drein. „Glaubst du, nur weil ich als Mann alleine wohne, ist es hier unordentlich?“ Verlegen hob ich die Hände. „So meinte ich das nicht. Ich wollte dir nicht unterstellen unordentlich zu sein, sondern habe sie nur automatisch mit meiner eigenen Wohnung verglichen. Die ist zurzeit ziemlich möhlig.“ „Das würde ich gerne mal sehen“, gab Joshua schmunzelnd zu. „Möchtest du etwas trinken?“ „Ja, gerne“, antwortete ich und bereute es so gleich. Ich startete eine ungeschickte Ablenkung. „Deine Couch!“, blaffte ich raus und Joshua hielt inne. Verwirrt sah er mich an. „Was ist damit?“ Ich griff nach seiner Hand und zog ihn mit mir zu der Couch. „Na, sie ist zum Sitzen da. Setz dich. Du siehst wirklich nicht gut aus… Was hast du denn?“, fragte ich zögerlich nach. Zum Glück folge Joshua meinem Vorschlag und setzte sich. Seine Hand noch haltend, blieb ich vor ihm stehen. Die Wangen waren rot, die Haut fahl, die Augen leicht glasig, mit geweiteten Pupillen. Ich sah mich um, doch die Wohnung war bereits verdunkelt. Trotzdem ließen die dünnen Vorhänge noch viel zu viel Licht über den Balkon herein. „Nichts weiter. Nur etwas überarbeitet. Das hatte ich früher schon. Ein bisschen Schlaf und mir geht es wieder gut.“ Etwas ähnliches hatte Elias auch gesagt. Aber konnte man sich wirklich selbst so sehr unter Stress setzen, dass man derart Krank wurde? „Bist du sicher?“ Ich trat direkt vor ihn, löste unsere Hände und legte meine auf seine Stirn. Sie glühte. Vorsichtig glitten meine Finger in Joshuas Nacken und den oberen Rücken. Joshua zuckte unmerklich als ich ihn dort berührte, ließ mich aber gewähren. „Du glühst. Hast du Fieber gemessen?“ Er schüttelte seinen Kopf und schnappte meine Hand, als ich sie zurückzog. Er hielt meine rechte zwischen seinen viel zu warmen Händen und spielte mit den Fingern. Da er krank war, ließ ich ihn gewähren. „Manchmal ja, manchmal nein. Es schwankt immer zwischen 38 und 39 Grad. Wie gesagt, ein bisschen Schlaf und ich bin wieder fit.“ Er lächelte meine Hand an und küsste mir den Handrücken. Mein Herz setzte einmal aus und doch zwang ich mich dazu ruhig zu bleiben. Nicht jetzt, sagte ich mir, nicht jetzt. „Dann leg dich wieder hin.“ „Das wäre unhöflich, wo du doch extra hergekommen bist“, seine Stimme blieb leicht kratzig. „Gar nicht wahr. Ich mache einen Krankenbesuch. Ah, da fällt mir ein!“ Ich griff mit der Linken in meine Hosentasche und holte den USB-Stick heraus. „McFloyd wollte, dass ich dir das hier gebe. Scheinbar wichtige Daten. Er war es auch, der mir deine Adresse verraten hat.“ Joshua hatte meine Finger und Fingerkuppen befühlt. Ich lenkte mich durch Reden ab, dennoch kribbelte jede einzelne Zelle in meiner rechten Hand! Und als ob das nicht ausreichen würde, führte er meine Hand zu seiner linken Wange und schmiegte sich in meine Handfläche. Wenn meine Hand in Flammen hätte aufgehen können, wäre jetzt der richtige Moment gewesen. Mit klopfendem Herzen hielt ich still und ließ ihn gewähren. Kranken konnte man doch eh nichts abschlagen. Mit seiner freien rechten Hand, griff Joshua nach dem Stick und betrachtete ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ich konnte kaum mehr ruhig bleiben, also begann ich wieder zu reden. „Keine Ahnung was drauf ist, aber er fand es wichtig. Dafür dufte ich extra früher gehen. Ich nehme an, dass ich mir die Zeit hier anschreiben kann, also ist alles gut“, sagte ich und schmunzelte. Es war komisch, dass McFloyd mich extra herschickte und das auf einen Samstag. Wenn Joshua krank war, würde er nicht weiterarbeiten. Aber ich wollte nicht nach dem Haar in der Suppe suchen, wenn ich mich gerade freute hier zu sein. „Aber sag mal, hätte das nicht auch Zeit gehabt, bis du wieder gesund bist?“ „Ich glaube, er hat sich nur Sorgen gemacht und wollte, dass jemand nach mir sieht.“ „Das ist … sehr zuvorkommend von ihm.“ Verwirrt zog ich die Augenbrauen tiefer. So besorgt war er mir gar nicht vorgekommen. „So ist er. Er würde sicherlich selbst kommen, aber zum einen ist heute Samstag, da spielt er Golf und zum anderen habe ich ihm gesagt, dass er nicht wegen jeder Kleinigkeit herkommen soll.“ Nun war ich wirklich verwirrt. Sich Sorgen um seine Angestellten zu machen, war ja gut und schön, aber das ging etwas zu weit. Wurde Joshua vielleicht vom Chef belästigt? Aber wenn man die beiden sonst zusammen sah, wirkten sie nicht so. Obwohl ich es schon die ganze Zeit sonderbar fand, dass McFloyd Joshua immer Joshua und nicht Mr. Fritz oder nur Fritz nannte, wie McFloyd es für gewöhnlich mit seinen Angestellten tat. „Das ist … Findest du es nicht überfürsorglich, dass dein Chef sich derart um dich sorgt? Dass er sich so sehr um einen Angestellten bemüht, finde ich etwas besorgniserregend.“ Joshua beäugte mich von unten, ehe er leise lachte. Es kam so überraschend und ließ mein Herz blühen, hätte er nicht im nächsten Moment die Augen zusammengekniffen und aufgehört. Meine Sorgen überwucherten mein Glücksgefühl erneut. Joshua fand indes zu einem Lächeln zurück und küsste meine Handfläche, in die er sich eben noch geschmiegt hatte und nun frei gab. „Du hast Recht. Als Chef eines Labors ist das wirklich zu viel der Fürsorge. Aber als mein Adoptivvater nicht. In Unizeiten, nein, schon auf dem Gymnasium, war er noch viel aufdringlicher. Dass er dich stattdessen schickt, rechne ich ihm hoch an.“ Auf den letzten Kommentar hin wurde ich rot, doch verblasste dieser Schimmer in meinem allgemeinem Schockzustand schnell. „Dein Adoptivvater?“, brachte ich heraus. „Mhm“, bestätigte Joshua und spielte erneut ungeniert mit meinen Fingerkuppen. Ich war so geschockt, dass mein Hirn alles viel zu langsam verarbeitete. „Warte, warte, warte! … McFloyd ist dein Adoptivvater?“ Ich hatte meine Hände zurück und hob sie abwehrend vor mich. Da Joshua nun sein Spielzeug fehlte, sah er auf und wirkte viel zu gefügig. „Ja.“ „Aber … eure Nachnamen sind ganz anders!“ „Er bestand darauf, dass ich meinen behalte. Nur für den Fall, dass meine Eltern doch Interesse an mir zeigen sollten.“ „Aber … seit wann?“ „Ich glaube, er hat mich mit elf Jahren adoptiert“, sinnierte Joshua. „Ist das schlimm? Dass ich adoptiert bin?“ Die Frage riss mich aus meinem Schock. Ich wollte ja mehr über Joshua erfahren, aber das war viel zu spontan und ohne Vorwarnung gekommen! Schnell schüttelte ich den Kopf. „Nein, gar nicht. Ich bin nur überrascht. Du wirkst nicht so … also ihr kommt nicht wie eine Familie rüber, wenn man euch zusammen sieht.“ „Wir sind beide recht pragmatisch miteinander, aber er war mir immer ein guter Vater. Wie … sähe denn eine Familie zusammen aus?“ Die Frage überraschte mich noch mehr. Wenn Joshua adoptiert wurde und seine Eltern scheinbar nichts von ihm wissen wollten, war er dann ein Heimkind? In dem Fall war er komplett anders aufgewachsen als ich. Eine richtige Familie hatte er nie gehabt. Nur seinen neuen Vater im Alter von elf Jahren. Mitgefühl überfiel mich, als ich mir den jungen Joshua vorstellte. Er musste unheimlich niedlich ausgesehen haben! Die Frage, wie eine Familie sein musste, konnte ich nicht ohne weiteres beantworten. Wenn ich darüber nachdachte, wie eine Familie für mich sein sollte, fiel mir nicht meine eigene ein. Ich selbst war ja froh von ihnen so lange wie möglich getrennt zu sein. Mit einem verlegenen Lächeln gab ich zu: „Ich weiß nicht.“ Ich senkte meinen Blick und wusste nichts mehr zu sagen. Das Thema Familie war mir so unliebsam wie nichts zweites. Joshua konnte das natürlich nicht wissen und seine Situation war auch eine ganz andere als meine. Trotzdem wollte ich das Thema nicht vertiefen. „Darf ich mir was zu trinken holen?“, fragte ich nach einer Weile. „Ich mach schon.“ Bevor Joshua aufstehen konnte, drückte ich ihn mit beiden Händen an den Schultern zurück. „Nichts da. Du bist krank. Ruh dich aus. Sag mir, wo ich was finde, das reicht doch.“ „Aber ich habe dich heute schon versetzt. Da kann ich dich hier nicht alles selbst machen lassen.“ Ich schmunzelte. „Dann verwöhnst du mich das nächste Mal eben doppelt.“ Ich hatte meine Hände immer noch auf Joshuas Schultern zu liegen und wir waren uns gerade nicht unnah, ehe mir aufging, was ich gesagt hatte und wie das klingen musste. Ich blinzelte ein paar Mal und hoffte nicht rot zu werden, während Joshua mich mit großen Augen ansah. Er packte mein Handgelenk und sah mir entschlossen entgegen. Ein Feuer brannte in seinen grauen Augen, sodass mein Magen eine Karussellfahrt wagte. „Ok.“ Jetzt wurde ich rot! Oh verdammt, wie auch nicht?! Er ließ mich los und ich flüchtete in die Küche. Seinen Anweisungen folgend, holte ich mir ein Glas aus einem der oberen Schränke und ignorierte den frischen Adrenalinschub. Zu meiner Überraschung verschwand dieser sofort, als ich den Kühlschrank öffnete. Ich nahm für gewöhnlich das, was offen war. Aber in diesem Kühlschrank herrschte gähnende Leere. In der Tür befand ich sich eine Milch, drei Bier und eine blaue Kühlkompresse. Im Gemüsefach lag eine verwaiste Lauchzwiebel. Die übrigen Fächer enthielten eine halbe Packung Streukäse, eine halbvolle Eierschachtel, zwei Butterstücken und eine Petrischale mit einem angeschmolzenen Eiswürfel. „Josh? Was macht ein Eiswürfel in deinem Kühlschrank?“, rief ich ihm zu, schloss die Kühlschranktür und holte mir etwas Leitungswasser. „Ach, ignorier den.“ Das wird mir nicht schwerfallen, dachte ich bei mir. „Erzählst du es mir trotzdem?“ Joshua zögerte und ich wurde umso neugieriger. Schließlich rückte er mit der Sprache raus. „Das ist meine Art einen Timer zu setzen.“ Ok, das verstand ich. An der Luft war es leicht zu berechnen, wie lange ein Eiswürfel brauchen würde, um vollständig geschmolzen zu sein. Lufttemperatur und dergleichen waren einfache Variablen, die man schnell zusammengetragen hatte. Mit dem Umstand von konstant kalten drei Grad (was ich etwas sehr kühl für einen Kühlschrank fand) schmolz der Eiswürfel entsprechend langsamer. Wenn man wollte, konnte man es immer noch ausrechnen, jedoch stellte sich mir weiterhin die Frage: Warum? „Wofür brauchtest du so einen Timer?“ Ich lehnte mich an den Küchentresen und nippte am Wasser. „Ich kann manchmal zu impulsiv sein, wenn ich etwas haben möchte. Dann setzte ich mir einen Timer oder sage mir, dass ich bis dann und da warte. Manchmal regelt sich der Drang und ich merke, dass es doch nicht so wichtig war. Wenn nicht, hol ich mir, was ich wollte.“ „Und was holst du dir, wenn der geschmolzen ist?“ Meine Frage war frei von der Leber weggestellt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand sich wirklich auf diese Art und Weise davon abhalten konnte etwas zu kaufen. Geschweige denn, dass jemand sich an seine eigenen Regeln halten würde, wenn der Drang doch so groß erschien. Joshua antwortet nicht, sondern sah mich von unten her an. Sein Blick war schneidend und klar. Sofort spürte ich das bekannte Flattern in der Magengegend. Ich räusperte mich und sah auf das Glas in meiner Hand. „Davon mal ab. Hast du überhaupt etwas zu essen da?“ Joshua zuckte mit den Schultern und stand auf. „Wenn nichts da ist, gehe ich morgen einkaufen.“ „Morgen ist Sonntag.“ „Dann bestell ich mir was?“, sagte er mehr fragend und zog eine Augenbraue hoch. Ich seufzte und stellte mein Glas ab. „Du bist krank. Selbst wenn es nur eine Überarbeitung ist, solltest du was ordentliches Essen und kein Fastfood.“ Es reichte doch, wenn sich in meiner Wohnung die Pizzaschachteln stapelten. „Was hältst du davon: Da ich ja heute nicht mehr arbeiten muss, kauf ich für dich ein und koch dir ´ne Suppe. Die reicht ein paar Tage und dann bist du hoffentlich wieder erholt.“ „Du kannst kochen?“ Joshuas Augen begannen zu strahlen. Er sah süß aus mit den zerzausten Haaren. „Nur das Nötigste. Nichts Großes. Eine Hühnersuppe ist einfach zu machen. Suppengrün und ein Huhn und fertig. Wenn wir eines aus der Kühltruhe nehmen, bin ich damit auch in eineinhalb Stunden fertig.“ „Ich zeige dir den Weg“, sagte Joshua begeistert. „Und so ein Huhn haben die da bestimmt auch.“ Ich verschränkte die Arme und sah ihn streng an. „Du? In dem Aufzug?“ „Ich zieh mich schnell um“, insistierte Joshua. „Du hast Fieber, du bleibst hier!“ „Ich sagte doch schon, das kommt und geht wie es will. Ich fühle mich fit genug. Ich komme mit.“ Ohhhh, wie konnte man nur so stur sein? Wenn sein Fieber sporadisch war, was wäre dann, wenn er mitten im Laden umkippte?! Er war bestimmt schwerer als ich, da würde ich ihn kaum Huckepack nehmen können und zur Wohnung tragen. Aber sein Blick kochte mich weich. Seufzend legte ich mir meine Hand an die Stirn und schloss für einen Moment die Augen. Joshua war erwachsen und konnte selbst entscheiden. Ich bot ihm nur meine Hilfe an. Dass er es überhaupt in Erwägung zog, mich kochen zu lassen, zeugte schon von etwas Vertrauen. In dem Fall sollte ich es ihm gleichtun und ihm in den Belangen zu seinem Körper vertrauen. Schließlich kannte den keiner so gut wie Joshua selbst. „Hast du ein Thermometer da? Wenn deine Temperatur unter 38 Grad ist, habe ich nichts dagegen, wenn du mitkommst.“ Joshua schritt an mir vorbei und griff in eine der Schubläden. Er holte ein modernes Fieberthermometer heraus, womit man die Temperatur im Ohr messen konnte. Immerhin hatte er eines. Da ich selten krank wurde, besaß ich so etwas nicht einmal. Joshua drückte einen Knopf und es piepte. Nach dem zweiten Piep nahm er es und sah auf das Display. Grinsend hielt er es mir vor die Nase. „37,9 Grad.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)