Meister-Rune von Futuhiro (Magister Magicae 13) ================================================================================ Kapitel 1: Wiedersehen ---------------------- Waleri sah gerade noch aus den Augenwinkeln etwas durch das geöffnete Fenster seines kleinen Häuschens hereinsegeln, dann sackten seine Kinder beide ohnmächtig zu Boden. Seine Frau brachte immerhin noch einen erschrockenen Aufschrei zustande und hechtete einige Schritte auf ihre Kinder zu, bevor auch sie die Umnachtung holte. Was immer es war, es brauchte wohl je nach Körpergröße seine Zeit um zu wirken. Als nächstes fühlte Waleri sich von unsichtbaren Kräften an Händen und Füßen gepackt und vom Stuhl gerissen. Mangels Körperkoordination wischte er dabei seinen Teller mit vom Tisch. Essensreste verteilten sich auf den Holzdielen. Er wurde regelrecht bäuchlings auf dem Fußboden gekreuzigt und keuchte halb schockiert, halb schmerzhaft auf. Die ungebremste Bruchlandung auf dem Boden war nicht eben sanft gewesen. Ein, zwei Sekunden war Ruhe, in denen Waleri sich wieder zu sortieren versuchte. Dann gab sich der Angreifer endlich zu erkennen. Gemächlich und absolut gelassen schlenderte er ins Zimmer herein. Waleri stöhnte bei diesem Anblick mürrisch auf und stellte seine reflexartige Gegenwehr gegen den Fesselzauber ein. "Victor ...", brummte er, als er den schwarzen Ledermantel und die langen, schwarzen Haare natürlich sofort einordnen konnte. Victor antwortete nicht, sondern nahm erst in Ruhe die Frau und die Kinder in Augenschein. Eher aus Neugier als aus Sorge, wie man sehr wohl merkte. Er hatte noch nie eine Elasmotherium-Frau gesehen. Genau wie die männlichen Vertreter dieser Art zeichneten sie sich durch eine breitschultrige Bodybuilder-Statur aus. "Du liebst große Auftritte, oder?", maulte Waleri beleidigt und zog an den unsichtbaren Fesseln, die ihn auf dem Boden festhielten wie auf einer Streckbank. Es war offenbar Bannmagie, aber wesentlich stärker und mächtiger als alles, was er je von Vladislav gewohnt gewesen war. Victors humorloser, regelrecht kalter Blick richtete sich auf ihn. "Meine e-mail ist also angekommen, ja?", plapperte Waleri weiter. "Ja, ist sie." Waleri wurde es etwas mulmig, als er die Pistole entdeckte, die Victor in der Hand hielt. Sie war nicht direkt auf ihn gerichtet, verbreitete aber dennoch eine unangenehme Macht und fehlende Kooperationsbereitschaft. Vielleicht war das Ziel ja gar nicht er selber, sondern seine Frau. Oder noch schlimmer, eines seiner Kinder. Dem ehemaligen Vize war inzwischen alles zuzutrauen. Victor ging vor ihm in die Hocke, die Unterarme samt Pistole über den Knien verschränkt, und schaute ihm direkt ins Gesicht. "Du hättest einfach an der Tür klingeln können", beschwerte sich der Hühne. "Sicher nicht! Wenn ich mich schon mit dir befassen muss, will ich dich in einer Lage sehen, in der dir deine Zeitpuffer-Fähigkeit nichts nützt." Er deutete auf die am Boden fixierten Hände seines Gegenübers. "Jetzt kannst du von mir aus die Zeit anhalten, bis du schwarz wirst. An mich kommst du trotzdem nicht ran." Waleri seufzte unmerklich. Neben diesen eiskalten Augen nahm er insgeheim auch zur Kenntnis, dass Victor immer noch aussah wie 21. So viele Jahrzehnte waren seit damals vergangen, aber Victor schien seither nicht einen Tag gealtert zu sein. "Ich habe dir gesagt, dass du tot bist, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Hab ich mich da irgendwie undeutlich ausgedrückt?", wollte Victor finster wissen. Er sah wirklich aus, als würde er Waleri jeden Moment eine Kugel in den Schädel pusten. Er war absolut nicht amüsiert darüber, hergerufen worden zu sein. "Glaubst du denn, ich habe zum Spaß versucht, dich zu erreichen?" "Spaß wohl kaum. Für gewöhnlich muss ich den Leuten, die nach mir suchen, dunklere Beweggründe unterstellen. ... Wie auch immer. Bevor ich dich abknalle, sollte ich mir wohl wenigstens noch anhören, was du wolltest. Der Höflichkeit halber. Also rede. Ich bin ganz Ohr." Entgegen dieser Behauptung stand Victor wieder auf und begann desinteressiert im Zimmer herum zu laufen. Er drehte eines der ohnmächtigen Kinder auf den Rücken, als wolle er sehen, welche Brut ein Typ wie Waleri wohl zeugen mochte. Selbst im Alter von drei, vier Jahren waren das schon ziemlich große, kräftige Rabauken, die zwischen anderen Kindergartenkindern wie Schlägertypen wirken mussten und sich ganz sicher nicht unterbuttern ließen. Waleri musste sich hart am Riemen reißen, nicht zu protestieren, oder Victor zu sagen, dass er seine dreckigen Finger von den Kindern lassen sollte. Der machte jedenfalls nicht den Eindruck, als würde er das Kind süß finden. Ob Victor Kinder überhaupt mochte? Waleri hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, aber darauf vertrauen würde er lieber nicht. Victor hatte schließlich etliche davon auf dem Gewissen. "Du hättest einfach per e-mail antworten können, wenn du mich nicht sehen willst. Wie hast du mich überhaupt gefunden?" "Das Wort 'gefunden' impliziert ja, dass ich dich vorher hätte suchen müssen. Ich darf dir versichern, dass das seit Vladislavs Tod nie mehr der Fall war. - Aber du solltest lieber aufhören, Zeit zu schinden. Ich werde dich umlegen, sobald ich den Eindruck habe, dass aus dir nichts Wichtiges mehr rauszuholen ist. Nur, dass wir uns da einig sind." "Hast du wirklich so einen Hass auf mich?" Genervt fuhr der Hänfling zu ihm herum, hob die Knarre und schoss. Die Kugel pfiff so dicht an Waleris Kopf vorbei, dass er den Streifschuss an der Schläfe spürte. Mit einem leisen, aber schmerzhaften Aufschrei zog der Muskelprotz den Kopf zwischen die Arme. Die Kugel heulte als Querschläger davon. Glücklicherweise in eine andere Richtung, statt direkt in Waleris Schulter. Der ließ ein leises Fluchen hören. "Die nächste trifft", versprach Victor kalt. Ja. Und dass die erste NICHT getroffen hatte, sollte wohl Beweis genug sein, wie Victor zu ihm stand, dachte Waleri grummelig. Jemand wie Victor, der Leute über mehr als einhundert Meter Entfernung mit einer simplen Faustfeuerwaffe wegrußte, schoss auf einen halben Meter nicht daneben. Er korrigierte seine fatale Fehleinschätzung. Er hatte den ehemaligen Motus-Vize als fröhlichen, stets zum Herumalbern aufgelegten Mann kennengelernt, der nur in den kaltblütigen Modus überging, wenn die Situation nicht mehr anders zu regeln war. Daher hatte er Victors Auftritt hier für protzige Selbstdarstellung gehalten. Aber Victor zog hier nicht nur eine Show ab. Es war verdammt ernst. Der war wirklich missgestimmt. Langsam bereute er es, Victor nochmal kontaktiert zu haben. "Hass habe ich auf dich nicht. Aber dein Haus wird überwacht, Kollege", stellte Victor so sauer klar, als wäre er in eine Falle gelockt worden. "Ich gedenke mich also nicht länger hier aufzuhalten. Wenn du jetzt nicht endlich zum Punkt kommst ..." "Überwacht?", hakte Waleri überrascht nach und schaute wieder auf. Das warme Blutrinnsal, das über seine Wange lief, ignorierte er. Einmal mehr ärgerte er sich über den Fesselbann, der ihn auf den Boden nagelte und seine Bewegungsfreiheit unterband. "Du meinst, von der Polizei?" Victor warf einen Blick in die Runde, als würde er etwas sehen, das anderen verborgen blieb. "Nein, Staatliche sind das nicht. Aber auch keine alten Motus-Mitglieder auf Vergeltungskurs." Er zog eine Augenbraue hoch und ging erneut vor Waleri in die Hocke, um mit ihm mehr Richtung Augenhöhe zu kommen. "Sag nicht, du hast das nicht gemerkt, dass du observiert wirst!?" "Doch, gemerkt hab ich schon, dass hier irgendwas nicht stimmt. Was übrigens der Grund ist, warum ich nach dir gesucht habe." Die bisher so düsteren Gesichtszüge des Gestaltwandlers hellten schlagartig auf, beinahe belustigt. "Du glaubst, ich war das." Es war eine Feststellung, keine Frage. "Wäre das nicht naheliegend gewesen?" Waleri wand sich kurz unbehaglich in seinen Bannmagie-Fixierungen, die langsam schmerzhaft wurden. "Andere Feinde, von denen ich wüsste, habe ich jedenfalls nicht mehr. Und, ja, du hast dich damals deutlich ausgedrückt. Eben darum wollte ich, meinen Kindern zuliebe, die Probleme aus der Welt schaffen, die du vielleicht noch mit mir hast. Und zwar BEVOR du glaubst, mich abknallen zu müssen. Wir haben uns schließlich nie ausgesprochen. Unsere letzte Begegnung endete mit einem Toten und einer Morddrohung." Victor seufzte nachgiebig. Die Pistole, die er unverändert locker in der Hand hielt, wirkte plötzlich nicht mehr ganz so bedrohlich. Wahrscheinlich, weil Victors gesamte Erscheinung jetzt nicht mehr so bedrohlich wirkte. "Keine Ahnung, wer dich überwacht. Ich jedenfalls nicht. Aber um dieses Problem wirst du dich selber kümmern müssen. Ich bin jetzt wieder weg, bevor ich deinen Aufpassern auch noch ins Netz gehe. Wenn du einfach bloß quatschen willst, dann nicht heute." Ein vielsagender Blick in die Runde. "Und schon gar nicht hier." Er erhob sich aus seiner hockenden Haltung und spazierte ohne übertriebene Eile zur Tür zurück, um zu verschwinden. Ein leichtes 'mit-sowas-muss-ich-meine-Zeit-verschwenden'-Kopfschütteln war das letzte, was er noch von sich gab. "Äh ... Was´n jetzt!?", rief Waleri ihm irritiert nach. "Knallst du mich jetzt doch nicht ab, oder was? ... Victor!" Mit flauem Gefühl im Magen sah er den schwarzen Ledermantel im Flur verschwinden. Ohne Verabschiedung. "He! Könntest du mich wenigstens wieder freilassen? ... Victor! Komm gefälligst zurück!" Er hörte, wie die Haustür aufging und nicht wieder ins Schloss zurückfiel. Sie blieb offen. Und dann setzte Stille ein. Er war allen Ernstes allein, stellte er empört fest. Waleri war drauf und dran, die Sekunden zu zählen, mahnte sich aber, dass er gerade weiß Gott andere Sorgen hatte. Mit Kraft begann er an den Bannketten zu zerren, die ihn nach wie vor bäuchlings auf den Boden kreuzigten. Victor hatte bei diesen Bannfesseln verdammt dick aufgetragen. Der Kerl war sich der körperlichen Stärke eines Elasmotheriums offensichtlich bewusst. Diese Fesseln hier bekam selbst ein Elasmotherium nicht mehr mit purer Muskelkraft gesprengt. Was sollte er tun? Victor hatte Recht. Er konnte die Zeit anhalten, so lange er wollte, es würde ihm nichts nützen. Die Bannmagie würde sich davon nicht lösen, und Victor zurückholen würde er damit auch nicht. Für einen Moment überwog sein Ärger sogar die Angst. Wahrscheinlich musste er jetzt wirklich warten, bis seine Frau wieder aus der Ohnmacht erwachte und Hilfe holte. ... Jedenfalls hoffte Waleri, dass sie überhaupt wieder erwachte. ... Und vor allem hoffte er, dass bis dahin keine brennende Fackel durch das offene Fenster hereingeflogen kam, oder sowas. Nach einer schier endlosen Minute fiel der Bann jedoch kraftlos in sich zusammen und gab ihn endlich wieder frei. Genug Zeit für Victor, in Ruhe das Weite zu suchen. Ihm jetzt noch folgen zu wollen, war vergebliche Mühe. Der war längst weg. Also raffte Waleri sich ächzend auf und ging stattdessen nach seinen Kindern und seiner Frau sehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)