Aoi von QueenLuna (Und die Kunst des Glücklichseins.) ================================================================================ Kapitel 1: 1 ------------ Aoi Und die Kunst des Glücklichseins. Kapitel 1 Schon wieder. Unruhig biss ich mir auf die Unterlippe, um nicht nervös auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Konnte Ruki nicht langsam mit seiner Rede fertig werden? Ich wollte hier raus. Luft schnappen, eine rauchen, meine Ruhe haben und Wunden lecken - irgendetwas davon oder am besten alles auf einmal. Aber vor allem Ruhe haben und Abstand gewinnen. Ja, besonders das. Diese intensiven Blicke durchbohrten mich regelrecht. Mein verräterisches Herz schlug viel zu schnell. Ich wurde hier noch irre. Heute war definitiv nicht mein Tag, dabei hätte es so einfach sein können. Ein ganz normales Meeting nach zwei Wochen Pause, das Finale der letzten Tour lag einen halben Monat zurück. Zeit für neue Pläne, Ablenkung. Also alles wie immer. Theoretisch. Nun rutschte ich doch auf meinem Stuhl herum, versuchte eine bequemere Position zu finden und gleichzeitig für meine Verhältnisse wenig elegant die Beine übereinander zu schlagen. Wirklich nicht mein Tag, aber das war schon beim Aufwachen klar gewesen. Um etwas zur Ruhe zu kommen, griff ich nach meinem Wasserglas und trank einen großen Schluck daraus, während ich mich zwang, endlich Rukis Ausführungen zu folgen. Kai hatte sich vorhin wenigstens kurz gehalten und die restliche Planung auf die nächsten Treffen verschoben. Nur Ruki hatte anscheinend während unseres kurzen Urlaubs wieder eine besonders kreative Phase gehabt und wollte jetzt alles auf einmal und so schnell wie möglich erledigen. Er gönnte sich nie eine Pause. Das Ende vom Lied war: Er hatte Unmengen an Ideen für neue Bandshirtdesigns und konnte sich für keins von ihnen entscheiden. Wenigstens hatten wir in der vergangenen halben Stunde die hundert Entwürfe auf drei reduziert. Den Rest würde er ja wohl alleine schaffen, wie sonst auch. Mir war es gleich, ob die Schrift auf den Shirts auf die linke oder rechte Seite gedruckt wurde. Sah beides nett aus und die Fanclub-Mitglieder freuten sich immer über neues Merch. „Was spricht denn gegen mehrere Designs?“, warf ich schließlich ein. „Gekauft wird es so oder so.“ Einen Moment lang herrschte Stille, alle Augenpaare lagen verwundert auf mir. Anscheinend hatte keiner von ihnen damit gerechnet, dass ich überhaupt zuhörte, da ich heute noch nichts Konstruktives von mir gegeben hatte. Ich unterdrückte, den Drang die Schultern hochzuziehen und den Blick unangenehm berührt abzuwenden. Stattdessen sah ich möglichst gelassen und abwartend zu unserem Sänger, hinter dessen Stirn es sichtbar angefangen hatte zu arbeiten. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. „Stimmt, du hast recht. Dann haben wir eben dieses Mal drei verschiedene Designs statt zwei.“ Er griff schnell nach Block und Stift und machte sich einige Notizen. „Und am besten, wir bringen gleich eine Frauen- und Männerversion der Shirts raus. Hatten wir in der Art schon lange nicht mehr. Super Idee, Uruha. Dass ich nicht selbst drauf gekommen bin.“ Begeistert lächelte er mich an, ehe er sich wieder seinen Notizen widmete. „Fehlen nur noch die Farben.“ War das sein Ernst? Er entschied doch sonst alles auf eigene Faust, was in diese Richtung ging, selbst wenn es mal ein paar Tage länger dauerte, und stellte uns dann vor vollendete Tatsachen. Das hatte immer gut funktioniert. Warum musste er sich ausgerechnet heute an die semi-demokratischen Anwandlungen der Band erinnern? Hilfesuchend blickte ich zu den anderen. Ich wollte doch nur, dass das Meeting endlich zu Ende war, ich hier raus- und zu meiner Zigarette kam – oder wahlweise nach Hause auf mein Sofa, wo ich den dumpfen Druck in meinem Kopf bekämpfen und endlich wieder klarkommen konnte. Doch meine übrigen Kollegen wirkten nicht so, als würden sie mein Leid teilen. Kai schien sich über die Situation köstlich zu amüsieren. Er versteckte sein Lachen erfolgreich hinter der Hand, während er hinter Ruki stand und über dessen Schulter hinweg, auf die Notizen linste. Ich fing Reitas Blick auf, der breit grinste und mir mit einem kleinen Nicken zu verstehen gab, dass wenigstens er meinen Gedanken teilte, den ersten Tag nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Verdammt, warum sah er so frisch aus, während ich das Gefühl hatte, dass mir die Liste der alkoholischen Getränke von gestern immer noch auf der Stirn stand? Unfair war das. Ich war einfach nur noch bereit für mein Sofa. Resigniert seufzend lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück. Blieb nur zu hoffen, dass Ruki zeitnah Erbarmen mit uns hatte. Ich war im Moment einfach wehleidig und nicht aufnahmefähig. Unbewusst wanderte mein Blick weiter, zu demjenigen, der teilweise schuld an meiner Verfassung war. Insgeheim hatte ich gehofft, dass seine Aufmerksamkeit mittlerweile auf den anderen lag, doch nein. Entspannt saß er neben Ruki auf dem Sofa, aber statt dessen Ausführungen zu folgen, musterten mich seine dunklen Augen intensiv. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel, rief Erinnerungen in mir hoch, die ich nicht haben wollte. Und nicht gebrauchen konnte. Besonders nicht jetzt. Mir wurde warm. Wieso musste alles plötzlich wieder so kompliziert sein? * Stunden zuvor Wie ein warmer Lufthauch strichen raue Fingerkuppen meinen nackten Rücken entlang und brachten mir eine wohlige Gänsehaut. Leise seufzend drückte ich mein Gesicht tiefer in das weiche Kissen und genoss das Gefühl auf meiner Haut, das sanfte Streicheln, dem ein leichtes Kribbeln folgte und das mich nur ganz allmählich aus dem Reich der Träume holte. Fast wäre ich wieder eingedöst. Wann war ich das letzte Mal so sanft geweckt worden? Ich spürte, wie sich ein zufriedenes Lächeln auf meinen Lippen ausbreitete, während ich den leichten Berührungen, die über meinen Körper zu tanzen schienen, nachspürte. So könnte es immer sein. Meist war ich allerdings der Frühaufsteher, während Ayako lieber bis mittags im Bett blieb. So teilten wir selten solche Momente. Und sie – Mit einem Mal war ich hellwach und riss erschrocken die Augen auf. Nein! Ayako konnte nicht hier sein. Wer –? Zischend kniff ich die Lider zusammen, als in meinem Kopf der Schmerz explodierte. Shit! Was war hier los? Hinter meinen Schläfen hämmerte es, das widerliche Gefühl von Galle stieg in meinem Hals auf. Fuck! Es dauerte eine ganze Weile, bis ich nicht mehr das Gefühl hatte, mich in der nächsten Sekunde übergeben zu müssen und ich wieder einigermaßen ruhig atmen konnte. Das Hämmern in meinem Kopf wich einem dumpfen Druck, meine Zunge fühlte sich pelzig an. Shit. Erst jetzt spürte ich, dass das Streicheln gestoppt hatte und dafür eine warme Hand beruhigend zwischen meinen Schulterblättern lag. Augenblicklich schlug mein Herz schneller. Wer –? Was war geschehen? Nur ganz vorsichtig wagte ich es, die Augen ein weiteres Mal zu öffnen. Weniger aus der Angst heraus, die Kopfschmerzen würden erneut explodieren, sondern vielmehr davor, was mich erwartete. Sanftes Sonnenlicht schien durch das überdimensionale Fenster ins Zimmer herein und brachte die weiße Bettwäsche zum Leuchten. Das war eindeutig nicht meine Wohnung. Ich besaß keine weiße Bettwäsche, auch waren meine Wände nicht in diesem seltsamen, verblassten Gelb gestrichen. Ich hob den Kopf leicht an, um noch mehr vom Raum sehen zu können. Er glich keiner Wohnung, die ich kannte. Vielmehr sah es hier aus wie in einem Hotel. Lautlos seufzend ließ ich mich tiefer ins Kissen sinken. Wie war ich hier gelandet? Ich konnte mich nur schemenhaft erinnern. Soweit ich noch wusste, war gestern einer meiner schlechteren Tage gewesen. Ich hatte mich im Alkohol ertränken wollen, was anscheinend ganz gut geklappt hatte, wenn ich die Kopfschmerzen und das flaue Gefühl im Magen richtig deutete. Ach scheiße. Mühsam versuchte ich in meinen Erinnerungen nach Anhaltspunkten zu kramen, ignorierte dabei die warme Hand in meinem Rücken, die erneut damit begonnen hatte, Muster auf meine Haut zu zeichnen. Wollte ich wirklich wissen, wer mit mir im Bett lag? Eigentlich nicht, aber ich würde nicht drum herumkommen, so viel war klar. Denn die Hoffnung, dieser Jemand würde abhauen, wenn ich nicht reagierte, konnte ich getrost aufgeben, sonst wäre er bereits verschwunden. Ganz langsam kamen die Erinnerungen zurück, während ich gezwungen ruhig ein und ausatmete, um mein aufgeregtes Herz zu beruhigen. Die Bar. Stimmt. Ich hatte Reita angerufen, ob er mit mir trinken ging. Viel Überzeugungsarbeit hatte es dafür nicht gebraucht. Ablenkung, mehr hatte ich gestern nicht gewollt. Meine Wohnung war mir zu groß und leer vorgekommen, dass es mich beinahe erdrückte. So war ich geflüchtet. Erneut. Und Reita musste als mein ältester Freund einmal mehr Kummerkasten spielen, was ihn aber selten störte, solange der Alkohol schmeckte. Doch da war noch jemand gewesen. Wer -? Fuck. Ich drückte mein Gesicht schnaubend in das Kissen, versuchte die ungewollte Flut an Erinnerungen, die über mich hereinzubrechen drohte, zurückzudrängen. Eine harte Holztür in meinem Rücken. Ein warmer Körper, der sich gegen meinen drängte und mir schier den Atem raubte. Dieser vertraute Duft. Raue Hände, die überall gleichzeitig zu sein schienen und mich zum Glühen brachten. Und – Oh Gott. Mit einem Ruck drehte ich mich auf den Rücken und starrte in das mild lächelnde Gesicht aus meinen Erinnerungen. Die schwarzen Haare waren verstrubbelt und fielen ihm vorwitzig in die Stirn, die dunklen Augen sahen mich aufmerksam an. Mein Herz geriet ins Stolpern. „Aoi.“ * Eine warme Abendbrise wehte um meine Nase. Die Schwüle des Tages hatte nur wenig nachgelassen, doch auf meinem kleinen Balkon ließ es sich einigermaßen aushalten. Erschöpft schloss ich für einen Moment die Augen und lehnte mich tiefer in meinem Stuhl zurück. Blind tastete ich nach den Zigaretten, die irgendwo auf dem kleinen Beistelltisch neben mir lagen. Was für ein Tag. Ich war fertig. Nachdem ich die Nacht kaum geschlafen hatte, war das Meeting für mich heute nicht sonderlich anders verlaufen als gestern. Ich war immer noch neben der Spur und ich hasste nichts mehr als das. Von den neuen Zielen und Ideen, die Kai uns heute detailliert unterbreitet hatte, hatte ich nur am Rande etwas mitbekommen und eigentlich war es mir auch egal gewesen. In meinem Kopf herrschte zu viel Chaos, als dass ich mich auf so etwas in dem Maße konzentrieren konnte, wie ich es sollte. Wobei es nicht ausschließlich an der Nacht mit Aoi lag, nur hatte diese nicht viel zur allgemeinen Besserung beigetragen. Seufzend strich ich mir die Haare aus dem Gesicht, ehe ich den ersten Zug von der Zigarette nahm und dabei beiläufig einen kurzen Blick durch die geöffnete Balkontür in die halb leere Wohnung warf. Ayako hatte alle ihre Sachen mitgenommen. Nicht einmal die Bilder hatte sie an der Wand gelassen. »Du bist ein netter Kerl, aber das mit uns funktioniert nicht. Es passt nicht. Ich erwarte anderes vom Leben, als immer auf dich warten zu müssen.« Das und vieles mehr fiel ihr nach einem Jahr ein – und nachdem sie wenige Tage zuvor einen „guten“ Freund von früher wieder getroffen hatte... Alles klar. Frustriert wandte ich mich von dem traurigen Anblick meines Wohnzimmers ab und starrte blicklos auf das gegenüberliegende Haus. Ach, es war doch scheiße. Mein Kiefer schmerzte, so sehr hatte ich ihn zusammengepresst, ohne es zu merken. Immer noch krampfte mein Herz leicht zusammen, obwohl sie bereits seit mehr als zwei Wochen weg war. Es wurde zwar von Tag zu Tag besser, aber es dauerte dennoch für meinen Geschmack zu lange. Ich wollte mich nicht so fühlen, so verletzt und einsam. Ständig stiegen die Selbstzweifel in mir auf und ich stellte jeden und alles infrage. Warum wollte es mit den Beziehungen bei mir nicht klappen? Es war nicht so, dass ich Ayako über alles geliebt hatte – vielleicht in den ersten Wochen, aber der rosafarbene Zauber war schnell verflogen. Ich hatte sie gemocht und sie hatte mir das Gefühl gegeben, etwas Besonderes für sie zu sein. Jemand war für mich da gewesen, hatte nach Feierabend auf mich gewartet und so vieles mit mir geteilt. Egal, wie oft wir in unserer Beziehung anderer Meinung gewesen waren und gestritten hatten, in meinem Herzen hatte ich immer gehofft, dass wir es schaffen könnten, langfristig. Dass es zwischen uns mehr als ein kurzes Intermezzo war. Ich wollte nicht allein sein. Umso größer war der Schock gewesen, als ich nach der erfolgreichen Tour plötzlich in der verwaisten Wohnung gestanden hatte, mit dem Brief in der Hand, in dem sie es beendete. Es hatte weh getan und der Schmerz und die Enttäuschung ließen sich leider immer noch Zeit, zu verschwinden. Wie ich es drehte und wendete: Keine meiner Beziehungen in den letzten anderthalb Jahren hatte lange gehalten. Mit Ayako war es die längste gewesen. Lag es an mir? An meinem Job? Warum schaffte ich nicht, sie bei mir zu behalten? War ich nicht gut genug, um mit mir zusammen zu bleiben und auf mich zu warten, wenn wir auf Tour waren? War ich es nicht wert? Meine Augen brannten leicht, als ich frustriert den Zigarettenstummel mit mehr Kraft als nötig im Aschenbecher ausdrückte und mir sofort eine neue ansteckte. Genau diese Gedanken waren es, die mich ständig heimsuchten und die mich vorgestern dazu verleitet hatten, mich gemeinsam mit Reita in der Bar einmal quer durch die Getränkekarte zu trinken. Ich musste ein ziemlich jämmerliches Bild abgegeben haben. Etwas, für das ich mich jetzt im Nachhinein schämte, doch Reita hatte als einer meiner langjährigsten Freunde definitiv schon Schlimmeres miterlebt. Und ich mit ihm, denn er war ebenso kein unbeschriebenes Blatt, was alkoholreiche Nächte anging. Automatisch musste ich leicht schmunzeln. Reita in seiner betrunkenen Version hatte immer etwas Drolliges an sich und ich war unheimlich froh, ihn als Freund zu haben. Manchmal brauchte ich einfach seine direkte, ehrliche Art und seine Bauernweisheiten, mit denen er so gern um sich warf. So war es auch vorgestern gewesen und für kurze Zeit hatte ich mich nicht mehr wie ein kompletter Versager gefühlt. Danach war erstmal alles hinter einem grauen Alkoholschleier verschwunden, der sich jetzt erst langsam klärte. Ich drückte den Zigarettenstummel aus, ehe ich aufstand und in die Wohnung zurückging. Kurz blieb ich vor meiner ehemals vollen Fotowand stehen. Nun klafften große Lücken dazwischen. Unbewusst suchten meine Augen auf den übrigen Bildern nach einem bestimmten Gesicht. Sie fanden ihn zielsicher. Immer. Es war zum Verrücktwerden, auch nach all der Zeit und besonders da in meinem Bauch ein kleiner Vogel erwachte, der flatternd seine Flügel ausstreckte. Dieses milde Lächeln, das ihm immer einen gewissen geheimnisvollen Hauch verlieh. Die dunklen Augen, die mich stets zu durchleuchten schienen. Ach Mann. Warum hatte Aoi ausgerechnet an einem meiner schlechtesten Tage auftauchen müssen, gerade wenn ich vergessen und mich einfach nur im Alkohol ertränken wollte? Er hätte mich nie so sehen dürfen. Und warum konnte der kleine Vogel in mir nicht einfach weiterschlafen? * „Guten Morgen.“ Die Worte klangen so warm und sanft in meinen Ohren, dass es mein Herz kaum schaffte, nach seinem kurzen Aussetzer wieder in Schwung zu kommen, ohne sofort erneut ins Stolpern zu geraten. Stumm blinzelte ich ihn an, versuchte die Situation zu begreifen und es nicht als Traum abzutun. Aoi. Was machte er hier? Warum – Das konnte nicht sein. „Uruha?“ Es dauerte noch einige weitere Sekunden, bis ich es endlich schaffte, mich aus meiner Starre zu lösen. Reflexartig wollte ich mich aufsetzen, allerdings war mein Kopf anderer Meinung. Zischend schloss ich die Augen und ließ mich zurück auf den Rücken fallen. Verdammter Mist. Das durfte alles nicht wahr sein. „Mach langsam.“ Wie durch Watte hörte ich die vertraute Stimme dicht an meinem Ohr. Die Gänsehaut kam augenblicklich und die warmen Fingerspitzen, die behutsam über meine Schläfen strichen, trugen nicht unbedingt dazu bei, dass sie weniger wurde. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Aoi. Allmählich ließ der Schmerz nach und für einige Atemzüge erlaubte ich es mir sogar, die sanften Berührungen zu genießen, ehe ich die Augen ein weiteres Mal öffnete. Ein feines, fast schon verschmitzt wirkendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er mich aufmerksam musterte und keine Anstalten machte, auch nur einen Zentimeter mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. „Geht's wieder?“ Ich brachte ein kleines Nicken zustande, woraufhin sich das Lächeln noch eine Spur vertiefte. „Ich würde dich ja fragen, ob du gut geschlafen hast, aber ich glaube, die Frage spar ich mir.“ Ich gab nur ein undeutliches Schnauben von mir und drehte mich trotz meines vorherigen Fluchtversuchs nun vollends zu Aoi herum. Falls es ihn in irgendeiner Weise überraschte, ließ er es sich nicht anmerken. Ruhig blieb er liegen, seine Finger spielten mit einer meiner längeren Strähnen. Wieso –? Mein Hirn wollte es noch nicht begreifen, mein Herz holperte unruhig in der Brust vor sich hin. Während ich mit mir kämpfte, gingen meine Augen ungewollt auf Wanderschaft. Langsam glitten sie von Aois vertrauten Zügen, über den bloßen Oberkörper bis hin zu dem dünnen Laken, das nur locker über seiner Hüfte lag und wenig Raum für Mutmaßungen ließ. Das Seufzen kam über meine Lippen, bevor ich es verhindern konnte. „Aoi… Was haben wir getan?“ Eine der fein geschwungenen Augenbrauen zuckte nach oben und ließ mich abermals seufzen. „Ja, okay, ich ahne, was wir getan haben, aber… warum?“ „Zum einen finde ich, ‚getan‘ ist ein hartes Wort und zum anderen könnte ich dich das ebenso fragen. Außerdem: Warum nicht?“ Das Schmunzeln war zurück. Gedankenverloren betrachtete ich es, während ich in den Tiefen meines Hirns nach Erinnerungen an die letzte Nacht suchte. Doch da waren nicht mehr als vereinzelte Bruchstücke. Nichts, was mir erklärte, warum ich zugelassen hatte, dass wir hier landeten. „Du weißt es nicht mehr, hm?“ Mein Blick klärte sich wieder und traf Aois. „Nein… nicht so richtig.“ Etwas in seinem Blick veränderte sich, das Lächeln verschwand. Diesmal seufzte er und zog sich nun doch ein Stück weit zurück, ehe er nachdenklich an mir vorbei aus dem Fenster sah. Ob ich es wollte oder nicht, mein verräterischer Körper vermisste Aois Nähe augenblicklich, mir wurde kalt. „Du warst vorgestern sehr neben der Spur. So hab dich schon lange nicht mehr erlebt.“ Was sollte ich darauf sagen? Ja, in den letzten Tagen war es mir nicht gut gegangen, die Trennung hatte ein tiefes Loch in mir hinterlassen, doch das wusste bisher nur Reita. Ich hatte nicht alles vor den anderen ausbreiten wollen, um mich nicht noch mehr wie ein Versager zu fühlen. Und auch jetzt wollte ich mich nicht erklären, deshalb überging ich seine Worte. „Ich war doch mit Reita unterwegs. Wo kamst du plötzlich her?“ Sein Schnauben klang amüsiert, die dunklen Augen fanden mich erneut. „Reita hatte mich angerufen. Er hatte wohl gehofft, dass wir dich gemeinsam etwas ablenken könnten. Was ja irgendwie auch geklappt hat.“ Ich spürte, wie sich Hitze in meinen Wangen sammelte. Schnell sah ich weg, starrte auf den kleinen Leberfleck auf seiner Schulter. Höchst interessant. Ach Shit. „Aber was ich nicht verstanden habe, Uruha…“ Seine Stimme klang mit einem Mal eine Spur sanfter, beinahe besorgt, die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Automatisch fand mein Blick seinen. „... was dich so aus der Bahn geworfen hat, dass du dich hoffnungslos betrinkst und mich dann regelrecht in der Toilette überfällst.“ „Oh…“ Hatte ich das? „Ja, oh. Ich war etwas überrumpelt, muss ich gestehen.“ „Tut mir leid.“ Mein Herz wummerte hart in meiner Brust, sodass ich überzeugt war, er müsste es hören. Obwohl ich nicht wusste, wo mir der Kopf stand, bedauerte ich es, dass sich die Erinnerungen an gestern Abend hinter dem letzten Alkoholschleier versteckten. Wieso hatte ich –? „Es muss dir nicht leid tun. Wenn ich es gar nicht gewollt hätte, hätte ich dir sicher etwas entgegenzusetzen gehabt.“ Und da war wieder dieses Lächeln, das mein Herz schneller schlagen ließ. „Und ich bereue es nicht, Uruha.“ * „Du siehst scheiße aus.“ Missmutig kniff ich die Lippen zusammen und warf Reita den finstersten Blick zu, den ich gerade zustande brachte. Er lachte nur und drängte sich an mir vorbei Richtung Wohnzimmer, nicht ohne mir vorher zwei Flaschen Bier in die Hand zu drücken. Schnaufend schloss ich die Tür hinter ihm und folgte wesentlich langsamer. Er hatte bereits einen der zwei Stühle auf dem Balkon für sich vereinnahmt und blickte mir abwartend entgegen. „Sag mal, ist deine Klimaanlage immer noch kaputt? Ist ja drinnen kaum auszuhalten.“ Er hatte Recht. Obwohl es Abend war, stand die schwüle Sommerluft in meiner Wohnung. „Hm, bin noch nicht dazugekommen, sie reparieren zu lassen.“ Beziehungsweise hatte mir bisher der Elan dazu gefehlt. Mit einem lauten Klonk stellte ich die beiden Flaschen auf dem Tischlein ab, ehe ich noch einmal in die Küche ging, um mir eine Cola aus dem Kühlschrank zu holen, was mit hochgezogenen Augenbrauen kommentiert wurde. „Ich bekomme schon Kopfschmerzen, wenn ich nur an Alkohol denke.“ Ich ließ mich auf den anderen Stuhl fallen und streckte seufzend die Beine aus. „Hast du immer noch nen Kater, oder was?“ „Nein, nur der von gestern reicht mir bis auf Weiteres.“ Reita sah mich kurz stirnrunzelnd an, zuckte dann aber mit den Schultern und griff in seine Hosentasche, um eine Schachtel Zigaretten zutage zu fördern. „Und deshalb warst du heute so neben der Spur? Beziehungsweise gestern? Du warst ja nur körperlich anwesend.“ Ich schmunzelte müde. Wenn es nur der Kater gewesen wäre… Tief durchatmend nahm ich einen der angebotenen Glimmstängel an, schob ihn mir zwischen die Lippen, ehe ich ihn anzündete. „Ich hab mit Aoi geschlafen“, nuschelte ich in den ersten Zug. Zwar waren die Worte leise gewesen, doch reichte es aus, dass sich mein bester Freund am Rauch verschluckte und kläglich anfing zu husten. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, denn diese Reaktion hatte ich beinahe erwartet. Dennoch klopfte ich ihm mitfühlend auf den Rücken, bis er sich etwas beruhigt hatte. „Bitte?“ Seine Stimme klang rau. „Schon wieder?“ Ich konnte ein leichtes Zusammenzucken nicht verhindern. „Was heißt denn ‚schon wieder‘? Das letzte Mal ist…. naja… schon länger her.“ Beleidigt sah ich ihn an. Natürlich wusste ich, dass er recht hatte, obwohl ich anderthalb Jahre Pause nicht als ‚schon wieder‘ bezeichnen würde. Das mit Aoi und mir war… einfach etwas anderes gewesen. Etwas, über das ich eigentlich nie mehr hatte nachdenken wollen, aber das sich in den letzten Monaten leider immer wieder in mein Gedächtnis geschlichen hatte, besonders wenn es zwischen Ayako und mir gekriselt hatte. Das, was Aoi und mich verband oder vielmehr verbunden hatte, konnte man durchaus als lose Affäre bezeichnen – unkompliziert, leicht und ohne Versprechungen. Angefangen hatte es während der Tour zu Stacked Rubbish. Wir schwammen auf einer erneuten Erfolgswelle, der bis dahin größten, es schien keine Grenzen für uns zu geben. Alles fühlte sich so aufregend und neu an, obwohl es doch vertraut war. Und genau in diesem Gefühlskarussell war es passiert. Plötzlich waren Aoi und ich uns näher gewesen als je zuvor. Statt einfach nur auf den Erfolg anzustoßen wie üblich, hatten wir uns eines Abends nach dem Auftritt in den Armen gelegen, das verbliebene Adrenalin miteinander geteilt. Es hatte sich gut angefühlt und keiner von uns beiden hatte es in Frage gestellt. Es blieb nicht bei einem Mal. Unzählige Nächte verbrachten wir Seite an Seite. Es hatte nichts mit Liebe zu tun, sondern mit Lust und Leidenschaft. Nur der Moment zählte. Anfangs. Und dann, nach fast zwei Jahren, war es vorbei gewesen. Ich könnte behaupten, nicht zu wissen, warum, aber dem war nicht so. Aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Seufzend fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare und ließ den Blick schweifen. Ich spürte genau, wie Reita mich beobachtete, aber ich konnte ihm gerade nicht standhalten. Im Endeffekt war ich es gewesen, der das, was zwischen Aoi und mir gewesen war, beendet hatte. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nicht mehr weitermachen können. Jetzt im Nachhinein würde ich es sogar als panische Flucht bezeichnen. Unsere Beziehung – oder wie auch immer man es nannte – war immer etwas Befreiendes für mich gewesen, etwas, worin ich mich wenigstens für kurze Zeit flüchten konnte, ohne tiefer darüber nachdenken zu müssen oder mich zu etwas verpflichtet zu fühlen. Wir wussten, wie der jeweils andere tickte und was er brauchte. Doch plötzlich war diese Leichtigkeit in mir weg gewesen. Da waren Gedanken, die ich vorher nicht kannte – Gedanken, ob es richtig war, was wir taten. Mit jedem neuen Zweifel wurde die Luft zum Atmen für mich dünner und die Enge in meiner Brust stärker. Es ging nicht mehr. Alles, was vorher so unwichtig gewesen war, was ich so genossen hatte, wurde zur Last. Dass es zu dieser Zeit in der Band gerade kriselte, begünstigte das Ende nur. Wir waren alle genervt voneinander, jedes Wort wurde überbewertet, jeder Plan, jeder Song zerredet. Wir waren müde. Die Jahre und Monate ununterbrochenen Zusammenarbeitens hatten Spuren hinterlassen. Inzwischen, fast zwei Jahre später, hatten wir uns als Band wieder gefangen, unsere Freundschaft war stärker als je zuvor. Was von der Affäre zwischen Aoi und mir geblieben war, war das Wissen, dass wir uns aufeinander verlassen konnten und viele aufregende Erinnerungen, die ich allerdings nur selten zuließ. Ich wollte nicht zurück – durfte es nicht. Es hätte keine Zukunft. Das Leben war weitergegangen, mit ihm andere Liebschaften und hoffentlich auch irgendwann eine mit Zukunft. „Und?“, riss mich Reitas Stimme unsanft aus meinen Erinnerungen. „Hm?“ „Bereust du es?“ Irritiert blinzelte ich ihn an. Bereuen? Gute Frage. In dem ganzen Chaos, das in meinem Kopf herrschte, war diese Frage niemals aufgetaucht. Ich hatte das mit uns nicht wiederholen wollen, so viel stand fest, aber deshalb zu bereuen…? Es war Aoi. Der Mann, dem ich über so lange Zeit so nahe gewesen war, ohne mehr zu wollen und der mich dennoch aus der Fassung brachte. Ich hätte nicht schwach werden dürfen. Auf der anderen Seite… wenn ich jetzt darüber nachdachte, hatte ich bisher nie etwas bereut, was mit Aoi zu tun hatte, oder? Und er? „… ich bereue es nicht, Uruha.“ In meinem Bauch erwachte erneut der kleine Vogel zum Leben, als ich an diese Worte zurückdachte. Ach Mann. Wenn Aoi es nicht bereute, durfte ich es auch nicht, oder? Auch wenn mich die Erinnerung an diese Nacht schon wieder in Unruhe versetzte. Was sollte ich tun? Fahrig fuhr ich mir durchs Gesicht, versuchte meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, um nicht wie ein komplett offenes Buch vor Reita zu sitzen. So sehr ich froh war, dass ich ihn alles anvertrauen konnte, wenn ich wollte – gerade wollte ich nicht. So setzte ich mich ein Stück gerader hin, ehe ich zu Reita sah. „Ich weiß nicht richtig. Um ehrlich zu sein, bisher habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Außerdem war ich betrunken, das weißt du doch.“ Eine miese Ausrede, das wusste ich und Reita sah das anscheinend genauso, denn sein Blick sprach Bände. Vermutlich dachte er gerade etwas weniger Schönes über mich, aber netterweise schüttelte er nur schnaubend den Kopf. „Uruha. Alkohol ist nicht der Grund dafür, dass du Aoi plötzlich einfach so ins Bett zerrst.“ „Hab ihn nicht ins Bett gezerrt. Es war die Toilette.“ Reita verdrehte die Augen und murmelte mehr zu sich selbst: „Was hab ich erwartet?“ Ich konnte zusehen, wie ihm eine Erkenntnis kam, seine Augenbrauen zuckten nach oben. „Ah, deshalb konnte ich euch nicht finden, denn auf dem Klo habe ich nicht gesucht, als ihr nicht mehr aufgetaucht seid. Bin schließlich abgehauen, weil ich dachte, dass Aoi dich nach Hause bringt und ich es nicht mitbekommen habe.“ Er kratzte sich am Kinn, ehe er sich eine neue Zigarette ansteckte. „Ach, Uruha, du machst Sachen.“ Seine Mundwinkel zuckten. „Wenigstens konnte Aoi dich scheinbar ein bisschen auf andere Gedanken bringen, oder?“ „Hm.“ Er hatte recht. Seit gestern erschienen mir die Trennung und das erneute Alleinsein nach Ayakos Weggang nicht mehr ganz so schlimm wie die Tage zuvor. Auch wenn mir trotzdem der Kopf schwirrte. Die gesamte Situation verwirrte mich. Kapitel 2: 2 ------------ Kapitel 2 Vergangenheit 3 Jahre zuvor Die schwere Stahltür fiel gut vernehmlich ins Schloss, sperrte damit die Welt, das Schreien der Fans und jegliche anderen Geräusche aus. Schwer atmend lehnte ich mich gegen sie, spürte immer noch das Adrenalin durch meine Adern rauschen, das wohlbekannte Zittern, das mich bei jedem Konzert ergriff und mich in Hochstimmung versetzte. Wir hatten die Bühne gerockt. Ich bekam das Grinsen, das sich seit einer geraumen Weile auf meinen Lippen hielt, kaum in den Griff. Es war geil gewesen, einfach toll. Und einmal mehr wusste ich, dass ich das immer und immer wieder in dieser Form erleben wollte. Und überhaupt… Was konnte es besseres geben, als all diese begeisterten Gesichter zu sehen, sich feiern zu lassen und dabei die aufregendste Zeit mit den Menschen, mit denen ich beinahe mein gesamtes Leben teilte, zu erleben? Nichts. „Uruha, kommst du?“ Kais zerzauster Kopf erschien im Durchgang zwei Türen weiter und grinste mich breit an. „Ja, ich komme gleich.“ Schon war er wieder verschwunden, im Hintergrund hörte ich Reita lachen. Tief einatmend löste ich mich langsam von dem kühlen Metall in meinem Rücken. Meine Beine fühlten sich seltsam wackelig an, während ich auf unseren Vorbereitungsraum zusteuerte. Wir mussten nachher unbedingt zusammen etwas trinken gehen, das hatten wir uns nach dem Abend verdient. Irgendwie würde ich die anderen schon davon überzeugen. Fürs Hotelzimmer war ich im Moment zu aufgekratzt, ich wollte die noch junge Nacht genießen und das nicht alleine. Im Zweifelsfall war ich auch mit der Bar im Hotel zufrieden, die hatte eine wunderbar umfangreiche Getränkekarte. Dann wäre der Weg auch nicht so weit. Und wir – „Warte.“ Warme Finger schlossen sich urplötzlich um mein Handgelenk und ehe ich mich versah, wurde ich durch eine unscheinbare Tür gezogen, die direkt hinter mir mit einem gedämpften Knall ins Schloss fiel. Nur ein schwacher Lichtschein drang durch das Fenster herein und tauchte den Raum in gedämpftes Licht. Was –? Überrumpelt spürte ich, wie ich gegen die Wand gedrückt wurde, der grobe Putz kratzte rau über die bloße Haut meiner Schultern. Ein warmer, mir allzu vertrauter Körper drängte sich gegen meinen und nahm mir jegliche Möglichkeit zur Flucht. Mein Herz machte einen aufgeregten Sprung, in meinem Bauch kribbelte es, als weiche Lippen meine verschlossen und mir den Atem raubten. Das Zittern in meinem Innern, das gerade erst ein wenig abgeklungen war, verstärkte sich augenblicklich erneut. Gierig zog ich ihn noch enger an mich heran. Vorwitzige Hände zerrten an meinem Oberteil, suchten ungeduldig einen Weg darunter. Ich konnte ein lautes Keuchen nicht unterdrücken, als sie auf meiner nackten Haut auf Wanderschaft gingen und dabei eine aufregend prickelnde Spur mit sich zogen. Oh… Dieser verführerische Mund wusste genau, wie er mich systematisch um den Verstand bringen konnte. Hatte ich vorhin behauptet, dass ich mich etwas wackelig auf den Beinen fühlte, nun bestanden sie definitiv aus Wackelpudding. Sehnsüchtig klammerte ich mich an den anderen Körper, bahnte mir ebenfalls einen Weg unter die leicht feuchte Kleidung. Es machte mich an und ließ alle überflüssigen Gedanken in meinem Kopf verstummen. Ich wollte ihn spüren. Seine Haut, die Wärme, seine Nähe. Alles. Schließlich mussten wir uns voneinander lösen. Schwer atmend standen wir da, die Lust deutlich ins Gesicht geschrieben. Einige Strähnen seines dunklen Haares klebten ihm in der Stirn und ich gab dem Impuls nach und strich sie zur Seite. Sein typisches Lächeln zierten die vollen Lippen, ehe sie meinen Mund ein weiteres Mal für sich eroberten. Wenn er so weitermachte, würde das mit dem Trinkengehen definitiv ausfallen. Nicht, dass ich etwas dagegen hatte. Er schaffte es immer, mich völlig aus dem Konzept zu bringen und ich genoss es. Mehr als das. Doch plötzlich verschwand er und mit ihm alle Berührungen. Irritiert blinzelnd öffnete ich die Augen, brauchte einige Sekunden, um mich zu erholen. Wieso –? Fragend hauchte ich seinen Namen, mehr bekam ich gerade nicht zustande. Er stand wenige Schritte von mir entfernt und betrachtete mich mit einem Blick, der mir einen Schauer über den Rücken jagte und mein Herz höher schlagen ließ. Gleich darauf war seinen Lippen wieder auf meinen. Er konnte ebenso wenig genug von mir bekommen, wie ich von ihm. „In einer Stunde“, raunte er zwischen den Küssen, ehe er sich vollends von mir löste und einen Schritt zurücktrat. „Mein Zimmer. Lass mich nicht warten.“ Dann ging er. Die Tür fiel mit einem Klicken zu und ließ mich allein und aufgewühlt zurück. * Weniger als zwei Jahre zuvor Mit einem dumpfen Laut landete eine weitere große Platte voller Kuchen und Gebäck in der Mitte des Tisches. Wer, bitte schön, sollte das alles essen? „Möchtet ihr noch etwas?“ Ich war mir sicher, dass die Frage nur rein pro forma gestellt wurde, denn ihr erwartungsvoller Blick ließ keinen Rückzieher zu. „Gerne, Shiroyama-San“, erklang es leise aus vier Mündern. Mein Blick suchte Aoi, der mit einem schmalen Lächeln seine Mutter beobachtete, wie sie uns die Teller erneut volllud. Man könnte meinen, sie hätte Angst, wir würden augenblicklich verhungern, sobald wir heimfuhren. Nicht, dass wir uns wirklich darüber beschweren würden, denn ihr Kuchen war immer lecker, und wer konnte der kleinen Frau, die jedes Mal, wenn die komplette Band zu Besuch kam, aufgeregt durchs Haus wuselte und uns bemutterte, schon etwas abschlagen. Vermutlich würde sie uns den restlichen Kuchen einpacken und mitgeben. Es war eines dieser Wochenenden, an denen wir uns von den Bandaktivitäten eine kleine Auszeit gönnten und was bot sich dabei besser an als Aois Elternhaus? Er war unweit des Meeres aufgewachsen und wenn in der Nacht beinahe alle Geräusche der Stadt erstarben, konnte man das Rauschen sogar bis hierher hören. Mittlerweile hatte es sich zu einer kleinen Tradition entwickelt, aller paar Monate ein Wochenende in Mie zu verbringen. Für Aoi hatte es noch den netten Nebeneffekt, dass er diese Tage auch gleich mit den obligatorischen Familienbesuchen verbinden konnte und wir störten dabei wenig, denn seine Mutter hatte uns faktisch vom ersten Tag an adoptiert. Also ein perfekter Ort zum Entspannen und da das Haus auch sehr groß war, traten wir uns nicht gegenseitig auf die Füße, wie es in meinem Elternhaus passiert wäre. „Ach, ich muss euch die Tage noch ein paar Bilder zeigen“, plauderte Shiroyama-San vergnügt, während wir uns stillschweigend die bestimmt schon vierte Portion Kuchen rein zwängten. Ich würde mich nächste Woche auf Diät setzen müssen, wenn das das Wochenende über so weiterging. Sonst passte ich definitiv nicht mehr in meine Bühnenoutfits. „Deine Schwester war letztens zu Besuch. Sie lässt dich grüßen“, fuhr sie an Aoi gewandt fort, der bedächtig nickte. „Du kannst ja auch mal herkommen, wenn sie da ist. Sie wollte nächste Woche nochmal vorbeischauen. Und Tomo vermutlich auch. Ihr habt euch ewig nicht mehr gesehen.“ Es war deutlich zu erkennen, dass Aoi sich um eine Antwort wand. Alle saßen mit interessiert gespitzten Ohren da, während er nach den passenden Worten suchte und seine Mutter fröhlich weiterredete. Nicht, weil es ein besonders brisantes Thema war, sondern vielmehr, weil es immer wieder interessant war, zu beobachten, wie sich Aoi innerhalb seiner Familie verhielt. Auf der Bühne gab er den heißen Verführer, den nichts aus der Ruhe brachte. Auch hinter den Kulissen schien er stets alles im Auge zu behalten, die Kontrolle zu haben und war selten um eine Antwort verlegen. Um so anders, im Beisein seiner Mutter. Er liebte seine Familie, das wusste ich, und das war auch unübersehbar. Allerdings hatte seine Mutter ein sehr vereinnahmendes Wesen und für sie war es schwer nachzuvollziehen, warum ihr Sohnemann nicht aller zwei Wochen hier auftauchte, wie sie es gern gehabt hätte. Ich wollte mir auch gar nicht vorstellen, wie es hier zuging, wenn alle Geschwister aufeinander trafen. Nichts mit Ruhe und Entspannung. Das wurde selbst einem Aoi zu viel. Nur das jedes Mal erneut seiner Mutter begreiflich zu machen, kam einer Gratwanderung gleich. Ich sah, wie Aoi etwas unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschte und konnte mir nur mit Mühe ein Schmunzeln verkneifen. Es war untypisch für ihn und ein bisschen tat es mir auch leid, ihn so in Bedrängnis zu sehen. Sein Blick huschte schnell über uns, blieb schlussendlich an mir hängen, ohne dass seine Mutter etwas davon mitbekam, da sie gerade für Kaffeenachschub in den Tassen sorgte. Mein Herz machte einen kurzen Stolperer, so Hilfe suchend sah er mich an. Ein mitfühlendes Lächeln schlich auf meine Lippen, während ich seinen Blick erwiderte. Schließlich war er es, der wegsah und lautlos seufzte, ehe er sich an seine Mutter wandte. „Ich sehe, was ich tun kann.“ * Keuchend schnappte ich nach Luft, als die weichen Lippen meinen Hals entlang wanderten und leicht hineinbissen. „Aoi…“ „Leise.“ Fest verschloss Aoi meinen Mund mit seinem, raubte mir den Atem und die Stimme. Nur beiläufig registrierte ich, wie sich flinke Hände unter mein Shirt stahlen und verführerisch über meinen flachen Bauch strichen. Eine Gänsehaut folgte ihnen. Gott, wenn er so weitermachte, würde das nichts mehr werden mit dem ‚Leise‘. Die Anderen saßen nur zwei Zimmer weiter und die Wände des alten Hauses waren verdammt dünn. „Ich will nicht ständig hier aufkreuzen müssen“, murmelte er gegen meine Lippen, nur um sich gleich darauf einen weiteren Kuss zu rauben. „Ich halte diese ständigen Fragen nicht mehr aus.“ Obwohl seine Worte hart klangen, wusste ich wie sehr er seine Familie liebte. Aber ich konnte ihn verstehen. Andächtig und mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen löste ich mich minimal von ihm und fuhr ich mit den Fingerspitzen am Rand seines Hosenbundes entlang, ehe sie sich unter den Stoff mogelten. Das tiefe Seufzen, das über Aois Lippen kam, ließ meine Mundwinkel zufrieden zucken. Ich musste ihn einfach spüren. Er sah so heiß aus, wie er mit halb geschlossenen Augen vor mir stand, dabei diese leichte Falte zwischen den Brauen, während er meine Berührungen genoss. Oh Mann, ich hatte mich doch eigentlich nur kurz vor dem Abendessen umziehen wollen. Dass mir Aoi ins Gästezimmer folgen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Doch nun, wer war ich, um mich solch einer Gelegenheit entziehen zu wollen. „Dann lass es doch einfach.“ Flatternd öffneten sich seine Augen. Für einen Moment war ich mir nicht ganz sicher, ob er mich verstanden hatte, denn sein Blick war herrlich verklärt. Doch schon Sekunden später pressten sich seine Lippen erneut auf meine, der Griff um meine Hüfte wurde fester, als er mich an sich zog. Ich kam einfach nicht gegen ihn an. Seine Küsse waren wie Naturgewalten, ihnen konnte ich mich nicht entziehen – auch nach über anderthalb Jahren nicht. „Ich kann nicht. Du kennst doch meine Mutter.“ Mit Mühe verbiss ich mir ein Seufzen, als seine Lippen meinen Hals für sich eroberten und schließlich unterhalb meines Ohres zum Stillstand kamen. Ein Schauer rann mir über den Rücken, als Aoi gegen meine erhitzte Haut raunte: „Es ist immer so schwer, ihr etwas abzuschlagen.“ „Uns… fällt sicher etwas ein, um dich zu retten… hng.“ Aois leises Lachen ließ meine Puls in neue Höhen schießen. „Sht. Nicht, dass die anderen uns hören.“ Sein Blick war absolut berechnend, während er beobachte, wie ich mich unter seinen vorwitzigen Fingern wand, die gerade so aufreizend über meine nackte Haut strichen und es mir schwer machten, seinen Worten Folge zu leisten. Manchmal wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mich absichtlich in solche Situationen manövrierte, in denen unser Spiel jederzeit entdeckt werden konnte – einfach nur um zu sehen, wann ich nicht mehr konnte und aufgab. Ab wann es mir egal wurde, ob plötzlich jemand in der Tür stand oder uns hörte. Er machte mich fertig. Kurz hielten die Finger inne, ich spürte seine weichen Lippen an meinem Ohrläppchen. „Wir könnten heute Nacht übrigens auch baden gehen. Da haben wir Ruhe.“ Allein die Vorstellung nachts mit Aoi im Meer zu schwimmen – oder was auch immer zu tun – machte mich noch heißer auf diesen Mann, der sich gerade so ungeniert an mich presste. Ich konnte sein Grinsen auf meiner Haut spüren. Schwer atmend schloss ich die Augen und gab auf. * Das leichte Beben in meinem Inneren wollte einfach nicht nachlassen. Genauso vehement hielt sich das verklärte Lächeln auf meinen Lippen, während ich nicht verhindern konnte, dass mein Blick immer wieder zu Aoi huschte. Im Gegensatz zu mir sah er beinahe ausgeschlafen aus. Nur der Hauch eines Schattens unter seinen Augen deutete darauf hin, dass die Nacht für uns beide doch ziemlich kurz gewesen war. Und das kleine Gähnen, das er hinter seiner Hand zu verstecken suchte, damit seine Mutter nichts davon mitbekam. Mir wurde augenblicklich warm, als ich erneut an die letzten Stunden zurückdachte. Ob ich das Grinsen heute überhaupt noch aus meinem Gesicht verbannen konnte? Neben mir schnaufte es vernehmlich und riss mich damit aus meiner anscheinend offensichtlichen Betrachtung. „Du kannst echt anstrengend sein, wenn du so bist.“ Reitas Murmeln war so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ihn richtig verstanden hatte. „Wie?“ „Nichts, nichts.“ Irritiert blickte ich zu ihm, während die anderen mehr oder weniger aufmerksam Shiroyama-Sans Familiengeschichten folgten, die sie mit zahlreichen Erinnerungsfotos untermalte. Ich beugte mich etwas näher zu ihm. „Was meinst du?“ Er antwortete nicht, doch der Blick, den er mir aus den Augenwinkeln zuwarf, war vielsagend. „Ihr wart übrigens ganz schön spät zurück.“ Machte er sich gerade lustig über mich oder wollte er mich für meine Unvernunft rügen? Manchmal verfluchte ich die Tatsache, dass wir uns schon so lange kannten, denn irgendwie schaffte ich es nie, ihm etwas zu verheimlichen. Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden, denn die Bilder der letzten Nacht waren immer noch so klar vor meinen Augen, dass ich sie für einen kurzen Moment schließen musste, um mich nicht völlig zu verraten. Wie viel Ruki und Kai von dem, was zwischen Aoi und mir vor sich ging, mitbekamen, wusste ich nicht. Darüber gesprochen hatte ich bisher nur mit Reita und das reichte auch. Ich wollte es nicht unnötig kompliziert machen, indem ich mich erklären musste. Dass Reita es wusste, war schon anstrengend genug, denn der Kerl hatte einfach eine viel zu gute Beobachtungsgabe. Verlegen griff ich nach meiner Tasse, nur um gleich darauf den Mund angewidert zu verziehen. Der Kaffee war kalt. „Uruha, möchtest du noch einen?“ Mein Herz machte unwillkürlich einen Sprung, als ich mir Aois Aufmerksamkeit bewusst wurde. Fragend sah er mich über den Tisch hinweg an. Wie automatisiert nickte ich, konnte meinen Blick nicht von diesen dunklen Augen losreißen. Erst als er aufstand, um seinen gastgeberischen Fähigkeiten nachzukommen, erwachte ich aus meinem Starren. Ich stand heute definitiv neben mir. War es die Müdigkeit? Mein leerer Magen, der trotz allem das angebotene Frühstück verweigert hatte, auf das sich die anderen so bereitwillig gestürzt hatten? Oder doch das wohlige Gefühl in mir, das seit gestern Abend einfach nicht weichen wollte? Reitas erneutes Schnauben war bei meinen Überlegungen leider nicht hilfreich. „Und hier waren Yumi und ihr Mann letztes Jahr mit der Kleinen im Disneyland. Ist sie nicht süß? Und sie ist in den vergangenen Monaten so sehr gewachsen.“ Zustimmendes Gemurmel erklang, als Shiroyama-San stolz lächelnd das Foto herumzeigte. „Nächstes Mal nehmen sie mich mit, dann hab ich noch mehr von meiner Enkelin. Und wenn Yuu dann mal Kinder hat, können wir ja alle zusammen zum Vergnügungspark. Das wird schön.“ Mit einem Mal herrschte betretenes Schweigen im Raum, nur unterbrochen von den zischenden Geräuschen der Kaffeemaschine aus der angrenzenden Küche. Mit erhobener Augenbraue ließ Reita das Foto, das er gerade in den Händen hielt, sinken. „Aoi und Kinder? Das wäre ja mal was Neues.“ Reita und seine vorlaute Klappe. Allerdings sprach er genau das aus, was ich dachte. Ich wusste nicht, ob wir gerade der armen Frau das Herz brachen, aber Aoi hatte in all den Jahren nie etwas in diese Richtung verlauten lassen und auch wirkliches Interesse gezeigt. Irgendwie hatte es bei keinem von uns jemals zu Debatte gestanden, außer bei Kai vielleicht. Generell waren wir viel zu sehr mit unserem Job verwachsen und überhaupt – Shiroyama-Sans Blick wirkte etwas irritiert, als sie in die Runde sah. „Hat Yuu euch das nicht erzählt?“ „Was habe ich euch nicht erzählt?“ Da stand er mit meiner dampfenden Tasse in der Hand im Türrahmen und blickte fragend von einem zum anderen. „Na, dass du schon immer heiraten wolltest, bevor du vierzig wirst und am liebsten einen Sohn hättest. Oder zwei. Ich finde die Vorstellung ja ganz entzückend und –“ Sie redete weiter, doch ich bekam nichts mehr mit. Reitas Bemerkungen, das gedämpfte Kichern der anderen verwischten zu einem undeutlichen Rauschen in meinen Ohren. Ich konnte nur auf Aoi starren, der stirnrunzelnd mit seiner Mutter sprach und leicht nickte. Nur undeutlich sah ich, wie sich seine Lippen bewegten, verstand dennoch seine Worte nicht. War das ein Scherz? Warum sagte er so etwas? In meinem Kopf herrschte Stillstand. Aoi wollte heiraten? Und Kinder? Wieso wusste ich davon nichts? Mein Herz zog sich zusammen. Was, wenn es stimmte und nicht nur die Wunschvorstellung Shiroyama-Sans war? War ich dann nicht … im Weg? * Schweißgebadet und mit klopfendem Herzen schreckte ich auf. Einen Moment lang lag ich orientierungslos im Bett und starrte in die Dunkelheit. Es musste noch mitten in der Nacht sein, kein Lichtschein drang von außen hinein. Es dauerte einige Minuten, ehe ich endlich in der Lage war, schwer atmend nach dem Handy zu tasten, das irgendwo neben mir auf dem Nachtisch lag. 3.36Uhr. Mit einem verzweifelten Stöhnen ließ ich mich zurück in die Kissen fallen und raufte mir die Haare. Das gab‘s doch nicht. Das war inzwischen die dritte Nacht in Folge, in der mich wirre Träume heimsuchten und mich aus dem Schlaf rissen. Ich kam einfach nicht zur Ruhe. Weder tagsüber noch nachts. Sobald ich meine Augen schloss, waren sie da – diese Erinnerungsfetzen an die Zeit mit Aoi, in der sich alles so leicht und unbeschwert gewesen war. Sie fühlten sich so schrecklich lebendig und greifbar an, dass es mir beinahe die Tränen in die Augen trieb. Es schmerzte. Ich wollte das nicht. Ich wollte mich im Traum nicht so gut und glücklich fühlen, nur um im nächsten Moment wieder mit der Realität konfrontiert zu werden und mit diesem stechenden Gefühl des Verlustes in meiner Brust aufzuwachen. Es war zum Verrücktwerden. So sehr ich diese eine Nacht vor einer Woche verdrängen wollte und die damit erneut aufkommenden Gefühle, desto mehr suchten sie mich heim. Als hätten sie nur darauf gewartet, sich wieder in mein Leben zu schleichen. Anscheinend hatten mein Körper und mein Kopf sich gegen mich verschworen. Dabei hielt ich Aoi bereits seit Tagen extra auf Abstand und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie stark mich das alles aus der Fassung brachte. Vergebens. Nur allmählich verschwammen die Traumbilder, das Zittern in mir blieb. Meine Augen brannten so sehr, dass ich die Handballen gegen die Lider pressen musste. Scheiße. Einfach nur Scheiße. Mein Herz konnte sich nicht beruhigen. Ich wollte das nicht, ich wollte diese Bilder nicht in meinem Kopf. Auch nach all der Zeit zog es in meiner Brust, wenn ich an diesen Morgen in Aois Elternhaus dachte. An Shiroyama-Sans erwartungsvollen Blick, ihre Pläne für Aois Hochzeit, die in ihrer Vorstellung anscheinend schon in greifbarer Nähe stand. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie auch nur einen intensiveren Gedanken daran verschwendet, was das mit uns war, wie es weitergehen sollte, ob es mehr als nur – eine kleine Freizeitbeschäftigung? – war, das Stillen von Lust oder ob Aoi bereits andere Pläne hatte. Warum auch? Aoi war immer für mich da gewesen, wenn ich ihn gebraucht und gewollt hatte. Aber wenn er wirklich – Es war der Anfang vom Ende gewesen. Mit einem Mal war die rosarote Seifenblase zerplatzt, in der ich mich die ganzen Monate, gar Jahre, befunden hatte und von der ich bis dahin nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Es war alles immer leicht und unkompliziert zwischen uns gewesen. Jetzt schnürte es mir die Luft ab. Ich war ein Störfaktor. Und wir hatten ein Ablaufdatum. Obwohl – eigentlich gab es gar kein ‚Wir‘. Ich würde allein sein. Und nun war ich allein und konnte nicht zurück. Es war alles so widersprüchlich. Ich sollte mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, was gewesen war, was hätte sein können und sollte es einfach als gegeben hinnehmen und nicht der Vergangenheit nachtrauern. Egal, wie gut es sich damals angefühlt hatte. Es war vorbei. Wir waren nicht mehr zusammen. Waren es nie gewesen. Wir schliefen nicht mehr miteinander und im letzten Jahr, in dem ich mit Ayako liiert gewesen war, hatte unsere Freundschaft wunderbar funktioniert. Wir hätten keine gemeinsame Zukunft gehabt. Eine Zukunft, die ich so vorher nie erwartet oder angestrebt hatte und die sich plötzlich einfach ungefragt in mein Leben drängelte. Das war das Schlimmste daran – und das volle Ausmaß wurde mir erst jetzt so richtig bewusst. Ich hatte zu Beginn wirklich nie mehr von Aoi gewollt als seine Nähe, seine Leidenschaft und die Befriedigung, die nur wir einander in dieser Art geben konnten. Und doch hatte ich nicht verhindern können, dass daraus still und heimlich etwas anderes wurde, das ich immer ignoriert hatte. Ich hatte Aoi und dieses vertraute Gefühl in mir nicht verlieren wollen. Wenn nur nicht diese Zweifel aufgetaucht wären. Alles, was mit ihm zu tun hatte, hatte ich hinterfragt, hatte mir selbst nicht mehr über den Weg getraut, weshalb ich es lieber beendet hatte, bevor es zu schmerzhaft geworden wäre. Es war beinahe beschämend, wenn ich jetzt darüber nachdachte, dass ich einfach nur aus dieser Situation geflohen war, um nicht verletzt zu werden und es dennoch nicht geholfen hatten. Trotz all der vergangenen Monate und meiner Beziehung zu Ayako schien sich rein gar nichts geändert zu haben. Es schmerzte sogar noch mehr als früher. Und – ich vermisste ihn. * Diese Gedanken, nach dem was wäre wenn, ließen mich den ganzen Tag nicht mehr los, weshalb mich Kai am nächsten Tag unverzüglich nach Hause schickte, als ich mit fiebrig glänzenden Augen bei der Probe auftauchte. Mein Kopf dröhnte und wollte einfach keine Ruhe geben. Die Stille meiner Wohnung war dabei nicht sonderlich hilfreich, da sie mein Hirn zu Höchstleistungen antrieb. Mit schmerzenden Gliedern verkroch ich mich ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Nichts sehen, hören oder fühlen. Das wäre perfekt, doch so einfach war es nicht. Da war Aois aufmerksamer Blick, der mich vorhin besorgt gemustert hatte, und der mir nicht aus dem Kopf ging. Da war Reitas Stimme in meinem Ohr, die mir am Telefon gut zusprach und Hoffnung in mir schürte, wo keine sein sollte. »Rede doch endlich mal mit Aoi darüber. Eins kann ich dir als Freund sagen, ich hab dich in den letzten Jahren definitiv nie so glücklich lächeln gesehen wie den Jahren zuvor. Und ihn auch nicht.« Da waren all die Erinnerungen an die schönen, aufregenden Momente. Gequält kniff ich die Augen zusammen, rollte mich zusammen und schlang die Arme um mich. Ich fühlte mich fiebrig und kalt. Alleingelassen. Ich wollte nur noch schlafen. Nicht mehr denken müssen. Kapitel 3: 3 ------------ Kapitel 3 Vermissen „Hallo, ich wollte euch Ayako vorstellen.“ Sie lächelte bezaubernd in die Runde und ich lächelte mit ihr. Ihr langes, schwarzes Haar fiel ihr glatt auf den Rücken und in ihrem hellen Kleid wirkte sie geradezu elfenhaft. Ich konnte nicht anders als zu lächeln, als mich ihr Blick traf und ich ihr wohlwollend zunickte, während Kai ganz Leader-like auf sie zutrat, um sie zu begrüßen. Auch die anderen erhoben sich. Reita trat neben mich und beugte sich zu mir: „Hübsch ist sie ja, das muss ich dir lassen.“ Der Blick, den er mir dabei zuwarf, sagte noch etwas anderes. Wie lange hält es diesmal? Am liebsten hätte ich ihn in den Magen geboxt. Ja, in den letzten Monaten hatte ich einige Dates gehabt und auch mal mit in den Proberaum gebracht, doch diesmal war ich mir sicher, dass sie die Richtige war. Ich spürte Aois stechenden Blick auf mir ruhen. Nur kurz streifte ich ihn, als er auf sie zutrat und sie mit einer knappen Verbeugung begrüßte. Mein Lächeln hielt sich. Mit Ayako würde es funktionieren. Bestimmt. * Ein dumpfes Geräusch holte mich aus dem Tiefschlaf. Verwirrt versuchte ich mich zu orientieren, doch ich konnte mich nicht rühren. Mein Körper fühlte sich bleischwer an, alles schmerzte. Die Lider ließen sich nicht heben. Unbeweglich lag ich da, bekam nur am Rande mit, wie die Schlafzimmertür geöffnet wurde. Ich hörte leise Schritte, die vor meinem Bett stehen blieben, ein Gewicht, das sich auf der Bettkante niederließ und die Matratze leicht in Bewegung versetzte. Ich war so unglaublich müde. Gleichzeitig war mir warm, fast schon heiß. Es fühlte sich alles so surreal an, als wäre ich überhaupt nicht hier. Wie in Watte gepackt. Eine kühle Hand legte sich auf meine Stirn und strich mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Wer war das? Die Hand wanderte über meine Wange weiter zu meinem Nacken. Dieser Kontrast zwischen der Kühle und meiner erhitzten Haut entlockte mir ein wohliges Seufzen. So angenehm. „Mann, Uruha, was machst du nur? Warum redest du nicht mit mir?“ Diese sanfte Stimme, nach der ich mich so sehr sehnte und sie doch fürchtete. Aoi. Es wurde still um mich herum. * Das nächste Mal, als ich erwachte, hing ein angenehm würziger Geruch in der Luft und kitzelte meine Nase. Für einen kurzen Moment war ich versucht, alles zu ignorieren und mich einfach wieder umzudrehen, um weiterschlafen, doch es half nichts. Meine Kehle war ausgedörrt, mein Körper schrie nach Wasser. Schwankend kroch ich aus dem Bett, immer in Erwartung, dass augenblicklich die hämmernden Kopfschmerzen zurückkehrten. Doch es blieb nur ein schwacher Nachhall von dem, was mich in den letzten Tagen so konstant begleitet hatte. Mit einer Hand bereits an der Türklinke blieb ich ruckartig stehen, als ein Klacken aus meinem Wohnzimmer erklang. Jemand war in meiner Wohnung. Mein Herz machte schlagartig einen Satz und jagte meinen Puls nach oben. Augenblicklich war ich vollständig wach. Also hatte ich nicht geträumt. Aoi… War er wirklich hier? Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt breit, das angrenzende Wohnzimmer wirkte verwaist. Ich war nervös. Wenn er wirklich hier war, wie sollte ich reagieren, nachdem ich bisher versucht hatte, ihm aus dem Weg zu gehen? Auf leisen Sohlen schlich ich in die Küche, immer mit der Angst im Nacken, im nächsten Moment Aoi gegenüber zu stehen. Doch da war niemand. Auf dem Herd köchelte zischend etwas in einem Topf, das ich bei genauerer Betrachtung als Hühnersuppe identifizierte. Ein kleines Lächeln hob meine Mundwinkel, während ich mir ein Glas Wasser einschenkte und in einem Zug leer trank. Die Quittung dafür erhielt ich sofort, als mein Körper auf die plötzliche Flüssigkeitszufuhr mit Schwindel reagierte, sodass ich mich an der Anrichte festhalten musste. Mein Hals brannte. Dennoch zwängte ich mir ein weiteres Glas hinein und schließlich sogar noch ein drittes. Mir wurde kurzzeitig schlecht. Erst nach einigen tiefen Atemzügen traute ich mich, den sicheren Halt wieder loszulassen und mich auf wackligen Beinen Richtung Wohnzimmer zu begeben. Zwar war das Fieber gesunken, schwach fühlte ich mich nach wie vor. Eine hauchzarte Brise streifte meine bloßen Arme und brachte den Geruch von schwüler Luft und einem Hauch von Zigarette mit sich. Verwundert sah ich auf. Die Balkontür stand offen. Und dahinter, geradezu entspannt an der Brüstung lehnend, Aoi. Die halblangen, schwarzen Haare wehten im Wind, sein Gesicht zeigte keine Regung, während er mir schweigend entgegensah. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Er war wirklich hier. Erst jetzt wurde ich mir meines Aufzuges bewusst und erneute Unsicherheit überfiel mich. Ich musste furchtbar aussehen, nachdem ich die letzten Tage fiebernd im Bett verbracht hatte. Fahrig strich ich mir durch die Haare, die sich zwischen meinen Fingern wie Schafwolle anfühlten. Als würde das irgendetwas besser machen. Am liebsten hätte ich mich zurück ins Bett verkrochen, doch Aois dunkle Augen hielten mich fest. Er machte mich nervös, ließ mich flacher atmen. Ich musste irgendetwas sagen. „Was machst du hier?“ Rau war gar kein Ausdruck. Unauffällig räusperte ich mich, während Aoi gelassen seine Zigarette ausdrückte. Ich konnte meine Augen nicht von ihm lösen, beobachtete, wie er geschmeidig die Tür hinter sich zudrückte und saugte jede noch so kleine Bewegung in mich auf, ehe er nur wenige Schritte vor mir stehen blieb. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Erneut wurde mir flau im Magen, sodass ich unbewusst die Unterlippe zwischen die Zähne zog, um wenigstens etwas ruhiger zu werden. „Ich habe den Schlüssel von Reita bekommen.“ Mehr sagte er nicht. Statt zu erklären, warum er hier in meinem Wohnzimmer stand, Suppe für mich kochte, nachdem ich ihm in letzter Zeit kein sonderlich guter Freund gewesen war, ihn geradezu ignoriert hatte, sah er mich nur mit diesem undeutbaren Blick an, der meine Knie in Wackelpudding verwandelte. Ich fühlte mich nicht nur schwach, ich war es auch. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er keinerlei Anstalten machte, irgendetwas zu sagen oder mich in irgendeiner Art und Weise zu berühren, sondern in der er mich einfach nur ansah, glitten seine dunklen Augen weiter, an mir vorbei, zu irgendeinem Punkt in meinem Rücken. Kurz war ich verwirrt, dann schoss es mir siedend heiß durch den Kopf. Die Bilder. Ich schluckte schwer, als mir bewusst wurde, wie intensiv er die Fotowand betrachtete, an der immer noch große Löcher klafften, die davon zeugten, dass sich mein Leben in den letzten Wochen zum wiederholten Male verändert hatte. Shit. Und ich hatte ihm immer noch nichts von der Trennung gesagt. Wenn ich ehrlich war, hatte ich es nicht mehr für wichtig genug befunden. Mein Hirn war zu sehr mit anderen Dingen – Personen – beschäftigt gewesen. „Aoi, ich –“ Ein zielgerichteter Blick aus leicht verengten Augen unterbrach meinen Versuch einer Erklärung. Nicht die Spur eines Lächelns war auf seinem Gesicht zu entdecken. War er sauer? „Uruha, geh wieder ins Bett und schlaf dich aus. Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen. Wir reden später.“ Vielleicht war es sein Tonfall, vielleicht die daraufhin in mir aufsteigende,schmerzliche Enttäuschung oder vielleicht doch seine Hand, die, ganz im Gegensatz zu seinem Auftreten, überraschend sanft durch meine Haare fuhr, nur um sich gleich darauf auf meine Schulter zu legen und mich bestimmt Richtung Schlafzimmer zu dirigieren – ich spürte nur schmerzliche Erschöpfung in mir. Und dieses unangenehm, brennende Ziehen in meiner Brust. * Er blieb den ganzen Tag in meiner Wohnung. Allerdings bekam ich nicht viel davon mit, denn die meiste Zeit befand ich mich im Dämmerzustand oder starrte blicklos aus dem Fenster. Richtig schlafen konnte ich nicht mehr, das hatte mein Körper die letzten Tage zur Genüge nachgeholt. Außerdem war ich zu aufgewühlt, zu viele Gedanken raubten mir die Ruhe. Jedoch Aufstehen wollte ich nicht. Zu groß war die Unsicherheit Aoi gegenüber. Er war so… kühl gewesen, fast schon distanziert. Wie sollte ich da auf ihn zugehen, wenn schon alleine die Erinnerung an sein ernstes Gesicht mich innerlich zum Zittern brachte. Ich wollte ihn nicht so sehen… nicht ohne sein stetiges Schmunzeln sein. Laut seufzend drehte ich mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht im Kissen. Es war nicht zum Aushalten. Zum einen war ich irgendwo froh, dass er hier war, zum anderen war ich wieder einmal nahe dran, die Flucht zu ergreifen, nur weil mich diese ganze Situation komplett überforderte. Dabei vermisste ich ihn. Seine Wärme, seine Nähe, sein Lachen. Alles. Müde blinzelte ich zur Tür, als ich ein leises Klicken vernahm. Da stand er – der Grund meiner Unruhe, mit undefinierbarem Gesichtsausdruck – und brachte mein Herz zum Rasen. Meine verräterischen Augen brannten schon wieder. Verflucht. Er machte mich fertig, wenn er so war. Das Tablett, das er in der Hand hielt, fiel mir erst auf, als er es umsichtig auf dem zweiten Nachttisch absetzte. Die Stille im Raum war erdrückend. Unsicher erwiderte ich seinen Blick, den er mir aus den Augenwinkeln zuwarf, ehe er sich schließlich abwandte. Tief einatmend fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare und anschließend über das Gesicht. Er sah mit einem Mal unglaublich erschöpft aus. „Uruha, iss was und geh dann bitte duschen. Ich beziehe derweilen das Bett frisch, wenn du mir sagst, wo frische Bettwäsche ist.“ Mit immer noch brennenden Augen und einem dicken Kloß im Hals stand ich wenig später unter dem heißen Wasserstrahl. Dennoch war mir kalt. Bisher war mir nie bewusst gewesen, wie sehr mich sein Lächeln immer innerlich gewärmt hat. Ich hatte es als gegeben hingenommen. Jetzt, wo es verschwunden war, blieb nur noch Kälte und das Gefühl des Verlustes. Diese ganze, verworrene Situation machte mich fertig. Ich hatte das Gefühl, wie erstarrt zu sein, weder vor noch zurück zu können, und das, obwohl ich im Endeffekt selbst Schuld daran war, dass sich diese Mauer zwischen uns befand. Warum war mir Distanz und Rückzug nur als gute Lösung gegen meine Ängste erschienen? Ich lernte es wohl nie. Es war totaler Quatsch gewesen, denn so war es nun noch schwerer, all das Ungesagte, das zwischen uns hing, zu überwinden und zu klären. Aber im Nachhinein war man ja bekanntlich immer schlauer. Das Fenster stand sperrangelweit offen, als ich das Schlafzimmer betrat, doch statt erfrischend kühler Luft kam nur stickige Schwüle hinein. Schnell schloss ich es, ehe ich mich wieder ins Bett verzog. Die Nase ins Kissen vergrabend, atmete ich tief den Geruch von Waschmittel ein. Ich mochte das und jetzt nach der Dusche fühlte ich mich doch tatsächlich einen Hauch besser. „Darf ich?“ Ich hatte gar nicht gemerkt, wie Aoi ebenfalls ins Zimmer gekommen war. Unschlüssig stand er vorm Bett, abermals war ich diesem Blick ausgesetzt, der mich frösteln und gleichzeitig in Flammen stehen ließ. Doch da war noch etwas anderes. Beinahe hätte ich vergessen, auf seine Frage zu antworten. „Natürlich.“ Er setzte sich langsam auf die Bettkante, als hätte er die Befürchtung, ich würde jeden Moment auf der anderen Seite aus dem Bett springen. Bewegungslos blieb ich bäuchlings liegen, hielt das Kissen in meinen Armen umklammert und versuchte gleichmäßig weiter zu atmen. Gar nicht so leicht, wenn man dabei nicht aus den Augen gelassen wurde. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass er nicht einfach nur dort sitzen blieb, sondern die Decke anhob, um mit zu mir darunter zu kriechen. Und noch weniger damit, dass er eine meiner Hände aus ihrer Umklammerung löste und sie mit seiner verschränkte. Sanft strich er mit dem Daumen über meinen Handrücken. Weiteratmen! „Uruha, ich...“ Er unterbrach sich und schloss für einen kurzen Moment die Augen, bevor er fortfuhr. „Warum redest du nicht mehr mit mir?“ Der Kloß in meinem Hals machte mir das Schlucken unmöglich. Konnte das Brennen in meinen Augen nicht langsam mal verschwinden? Es nervte. Was sollte ich sagen? Dass ich ihn vermisste? Anscheinend so sehr, dass ich ihn letztens ins Bett gezerrt hatte, obwohl mir meine Gefühle bis dahin gar nicht bewusst gewesen waren. Dass er mich derart durcheinanderbrachte, dass ich mir und meinen Gedanken selbst nicht mehr traute? Doch er sprach weiter, ohne auf eine Antwort zu warten. „Ich weiß, dass Ayako sich von dir getrennt hat. Reita hat es mir erzählt. Eigentlich war es offensichtlich.“ Dieses verfluchte Brennen. Doch dieses Mal war es mehr vor Erleichterung. Er wusste es. Und redete mir mit, trotz dass ich bisher geschwiegen hatte. Und ihn sicherlich damit enttäuscht hatte. Meinen besten Freund konnte ich später noch dafür verfluchen, dass er seine Klappe nicht hatte halten können. „Und ganz ehrlich, ich bin froh darüber. Aus rein egoistischen Gründen.“ Heftig blinzelnd sah ich ihn an. Mühsam quetschte ich ein „Wieso?“ heraus. Der Griff um meine Hand wurde fester. Seufzend schloss Aoi seine Augen, während er sich mit der anderen Hand über das Nasenbein rieb. „Weißt du das wirklich nicht?“ Vielleicht hoffte ein winziger Teil in mir auf eine bestimmte Antwort, doch ich wollte diese Hoffnung nicht zulassen, so schüttelte ich nur den Kopf. „Du machst es mir auch echt nicht leicht.“ Und da war es plötzlich, dieses versteckte Lächeln, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte, das seine Mundwinkel zucken ließ − auch wenn es etwas resigniert wirkte. „Ich habe mich mit Reita unterhalten. Und nein, sei nicht sauer, dass er mir seine Meinung offen und ehrlich mitgeteilt hat. Er macht sich genauso viele Sorgen um dich wie ich.“ „Ich weiß“, murmelte ich kleinlaut, während ich im selben Augenblick mit klopfenden Herzen darauf wartete, dass Aoi weitersprach. Stattdessen löste er seine Hand von meiner, um sie nach mir auszustrecken und mir sanft einige Haare auf der Stirn zu streichen. „Uruha, ich vermisse das, was wir hatten. Ich vermisse dich. Auch wenn ich es erst viel zu spät bemerkt habe. Ich will dich wieder bei mir haben.“ Lautlos seufzend schloss ich die Augen und lehnte mich leicht in seine Berührung, während er leise weitersprach. „Ich weiß, du hasst die Einsamkeit. Du willst nicht allein sein... Und dennoch hast du das Gefühl, nie zu genügen.“ Es tat weh, so klar den Spiegel vorgehalten zu bekommen. Er wusste immer noch, wie es in mir drin aussah. Seine Worte machten mich verletzlich und ließen mich nackt fühlen. Ich wollte mich nicht so fühlen. Und dennoch – „... ich vermisse dich.“ Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen, während ein angenehmes Kribbeln, die Kälte und Furcht in mir verdrängte. Er vermisste mich. So wie ich ihn. Mit einem Mal spürte ich ein Gewicht auf meinem Rücken und einen Arm, der sich um meine Mitte schlang. Verwundert riss ich die Augen auf. „Aoi?“ Fest drückte sich sein warmer Körper gegen meinen. Sein Atem streifte meinen Hals, als er tief einatmend den Kopf in meiner Halsbeuge vergrub. Ich bekam eine Gänsehaut. „Warum lässt du mich dann nicht bei dir sein? War die Nacht letztens für dich nur ein Mittel zur Ablenkung? Ich hoffe es nicht, denn das würde ich nicht aushalten. Ich will dich nicht schon wieder mit jemanden anders sehen müssen.“ Zittrig sog ich die Luft durch die Zähne ein. „Nein. Ich –“ Meine Stimme klang so dünn, dass ich mich räuspern musste, ehe ich weitersprechen konnte. So sehr seine Worte auch Hoffnung in mir weckten, ich konnte nicht vergessen, was zwischen uns stand. „Ich will dir nicht im Weg sein, wenn du –“ Diesmal war er es, der mich unterbrach. Stirnrunzelnd hob er den Kopf und sah mich von der Seite an. „Wobei willst du mir denn nicht im Weg sein? Ich will doch nur dich.“ Verstand er es wirklich nicht? Gequält kniff ich die Augen zusammen. Ich konnte und wollte ihn einfach nicht anschauen. „Du – Ach, Aoi.“ Meine Finger suchten Halt in meinem Kissen, sein warmer Atem, der meinen Hals streifte, machte mir das Denken schwer. Oder waren es seine Lippen? „Ich… ich habe mir immer gewünscht, jemanden an meiner Seite zu haben, der für mich da ist, wenn ich ihn brauche und für den ich da sein kann, wenn er mich braucht. Und das –“ „Das ist das, was wir hatten, Uruha.“ Wie oft konnte mein Herz noch ins Stolpern geraten, bevor es ungesund wurde? Seine Worte brannten auf meiner Haut, gleichzeitig legten sie sich wie ein wohltuender Balsam auf meine Seele. Ich wollte es ihm so gerne glauben. „Aber Aoi, ich kann dir nicht geben, was du dir wünschst.“ Es waren wirklich seine Lippen, die da gerade hauchzart meinen Hals entlangstrichen und schlussendlich unterhalb meines Ohres innehielten. „Was denkst du denn, was ich mir wünsche?“ „Familie. Kinder... Ich werde dir niemals genügen.“ Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, als ich auf den Rücken gedreht wurde und mich diesen dunklen Augen ausgeliefert sah. „Uruha. Wirklich?“ Irritiert blinzelte ich und schluckte schwer. „Warum sprichst du nicht mit mir? Darüber machst du dir Gedanken? Wünsche ändern sich. Auch wenn meine Mutter bei jedem Besuch noch so gerne wiederholt, was mein Zwanzigjähriges Ich einst von sich gegeben hat. Außerdem –“ Mit einer fast verzweifelt wirkenden Geste fuhr er sich durch die Haare. „Das letzte Jahr war hart ohne dich. Vielleicht hab ich es vorher nie deutlich genug gemacht, aber ich brauche dich – ebenso wie du mich brauchst.“ Sein Blick wurde eine Spur sanfter, ein kleines Schmunzeln zupfte an seinem Mundwinkel, während er mich intensiv betrachtete und ich nur wie paralysiert zurückstarren konnte. „Den einzigen Wunsch, den ich immer gehabt habe, ist es, glücklich zu sein. Mit jeder Faser meines Körpers. Jeden Augenblick zu genießen. Und das kann ich nicht ohne dich.“ Der Kloß in meinem Hals wurde übermächtig. Das stetig anhaltende Brennen hinter meinen Lidern auch. „Ich wollte dich nie gehen lassen, auch wenn du mich nicht bei dir haben wolltest.“ Oh Gott… Aoi. Wie ein Ertrinkender zog ich ihn an mich, umklammerte seinen Rücken und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Sein Duft umhüllte mich wie ein schützender Kokon. „Ich wollte dich auch nicht gehen lassen, aber ich –“ „Dann tu‘s auch nicht wieder. Zweifle nicht an uns, denn du genügst mir völlig. Schon seit Jahren. Und das wird sich nicht so schnell ändern.“ Seine Lippen, die so stürmisch meinen Mund für sich eroberten, bevor ich noch etwas entgegnen konnte, raubten mir den Atem und jegliche Worte aus meinem Hirn. Endlich. Ich gab dem Brennen meiner Augen nach, während mich Aoi von jedem weiteren, störenden Gedanken befreite. Er war hier bei mir und würde mich nicht gehen lassen. Und da war er wieder: der kleine Vogel in meinem Bauch, der flatternd seine Flügel ausbreiten wollte. Diesmal ließ ich ihn fliegen. Ende Nachwort: Ach herrje, ich hoffe, das Ende kam nicht zu plötzlich. Aber vermutlich schon ^^“ ich bin halt irgendwie immer ein Fan von offenen Enden lach und ich wollte nicht noch mehr um den heißen Brei herum schreiben. Trotzdem hoffe ich, es kam rüber, was die Beiden so bewegt und warum sie so ewig gebraucht haben. Über Feedback würde ich mich wie immer freuen. Liebe Grüße Luna Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)