Herzschmerzhelden von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Gleiches Recht für alle ---------------------------------- Meine Finger schließen sich fest um den harten Knüppel neben meinem Oberschenkel, mein Unterleib zuckt und meine Mundwinkel wandern wie von unsichtbaren Schnüren gezogen ein ganz gehöriges Stück nach oben. Ein leichtes Vibrieren hat meinen ganzen Körper erfasst, der es anscheinend kaum erwarten kann, endlich loszulegen. Es ist wie ein Ritt auf einem elektrischen Bullen, nur noch geiler, weil ich allein die Zügel in der Hand halte. Gleich. Gleich. Gleich ist es soweit.   „Na schön, Fabian. Und jetzt noch einmal mit Gefühl.“   Die Anweisung ist deutlich und ich weiß, ich sollte lieber Folge leisten, wenn ich das hier nicht verkacken will. Aber die Vorlage ist einfach zu steil, um sie nicht zu kontern. „Ich mag's aber lieber hart und dreckig“, verkünde ich mit einem breiten Grinsen. Im nächsten Moment trete ich das Gaspedal durch, lasse die Kupplung kommen und löse mit einem Ruck die Handbremse. Der Motor des Wagens jault auf, die Karre macht ein, zwei hoppelnde Sätze nach vorne und kommt dann mit einem nicht sehr gesund klingenden Geräusch zum Stehen. Herr Mehner neben mir schnauft laut und deutlich. Ich glaube, er wäre jetzt gerne ganz woanders. „Wirklich?“, fragt mein Fahrlehrer in resigniertem Tonfall und sieht mich über den Rand seine Brille hinweg strafend an. Ich grinse noch ein bisschen breiter und schüttele mir den Pony aus dem Gesicht. „Was denn?“, frage ich scheinheilig zurück. „Ich hab doch alles genauso gemacht, wie Sie es mir gesagt haben. Nur halt ein bisschen schneller.“ Herr Mehner seufzt und ich warte darauf, dass er sich die Brille abnimmt und sich den Nasenrücken massiert. Das macht er oft; besonders, wenn er mit mir eine Fahrstunde hat. „Schneller ist nicht immer unbedingt besser“, tut er in unbeirrbar ruhigem Tonfall kund und behält die Brille ganz entgegen meiner Erwartung tatsächlich auf. Wahrscheinlich bin ich nicht der erste Dummdödel, der Anfahren am Berg einfach nicht kapieren will. Immerhin steht Herr Mehner schon kurz vor der Pensionierung und hat mit Sicherheit bereits etliche Pappenheimer durch die Prüfung geschleust. Auf mich hätte er vielleicht trotzdem lieber verzichtet. Da er jedoch die einzige Fahrschule am Ort hat, war auch meine Auswahl nicht besonders groß. Das Schicksal hat uns sozusagen zusammengeführt und nun hocken wir hier in diesem schon leicht altersschwachen Golf und warten darauf, dass das Leben oder vielmehr mein 18. Geburtstag und ein geneigter Fahrprüfer uns wieder trennen. Bisher liegt das allerdings noch in weiter Ferne. Zumindest, wenn Anfahren am Berg Teil der Prüfung werden sollte.   „Du musst weniger Gas geben und dann die Kupplung leicht kommen lassen“, erklärt er noch einmal. „Erst, wenn du das Gefühl hast, dass der Wagen nur noch durch die Handbremse am Losfahren gehindert wird, löst du diese schrittweise und gibst dabei weiter Gas. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Eben genau richtig.“   „Genau richtig“, wiederhole ich ernst und habe es ebenso wenig kapiert wie bei den ersten Malen. Ich verstehe sowieso nicht, warum ich überhaupt noch das Fahren mit Schaltgetriebe lernen muss. Immerhin geht der Trend zum Automatik und wenn ich mir mal ein Auto zulege, werde ich bestimmt nicht so einen komischen Kupplungskrüppel nehmen. Allerdings liegt dieses Ereignis wohl in noch weiterer Ferne als ein Führerschein. Für Letzteres blecht meine Mutter wenigstens. Vermutlich, weil sie mein Gejammer über die Gottverlassenheit unseres neuen Heimatortes und die allgemeine Ungerechtigkeit des Seins nicht mehr aushalten konnte. Ich kann wirklich sehr überzeugend sein, wenn ich will, und sie kriegt ja so leicht ein schlechtes Gewissen. Dabei müsste sie das nicht haben. Immerhin war es mein Vater, der sich vor zwei Jahren aus dem Staub gemacht hat und wegen dem wir aus unserem großzügigen Einfamilienhaus am Rande einer pulsierenden Großstadt in eine kleine Stadtwohnung mitten im Nirgendwo ziehen mussten. Neue Schule, neue Freunde, neues alles. Vielen Dank nochmal, Dad. You really fucked it up.   „Vielleicht versuchen wir es lieber nochmal mit dem Rückwärts-Seitwärts-Einparken“, droht Herr Mehner jetzt und hat dabei gleich meine zweite Schwachstelle im Visier. Es ist mir wirklich unbegreiflich, warum ich versuchen sollte, ein Auto in eine dafür viel zu kleine und noch dazu umständlich zu befahrende Parklücke zu zwängen, wenn doch an meinem zukünftigen Wohnort an jeder zweiten Ecke Parkhäuser zu finden sind. Denn eins ist mal sicher, sobald ich im Sommer die Schule abgeschlossen habe, bin ich hier weg. Wo genau ich studieren werde, weiß ich noch nicht. Oder was. Aber es wird in jedem Fall sehr sehr weit weg von diesem Paartausend-Seelen-Kaff stattfinden. Irgendwo, wo richtig Action ist. München, Stuttgart, Hamburg, Köln oder vielleicht sogar Berlin. Immerhin bin ich da geboren worden, bevor meine lieben Erzeuger dachten, dass es ne echt steile Idee wäre, irgendwo in die mitteldeutsche Hoch-und-Tief-Landschaft zu ziehen, wo alle Orte irgendein -ingen sind oder an einem Fluss liegen, den man dann gleich noch in den Namen quetschen muss, weil sonst Verwechslungsgefahr besteht oder was weiß ich.   „Aber natürlich, Herr Mehner“, flöte ich dessen ungeachtet und starte den abgewürgten Wagen neu. Immerhin weiß ich, worin die Alternative hierzu bestände, und die ist, auch wenn man es kaum glauben mag, noch furchterregender.     Um 17 Minuten vor neun schlittere ich mit quietschenden Sohlen in den Flur vor den Physikräumen. Drinnen ist bereits das Gemurmel der Klassen zu hören, die sich darauf vorbereiten, diesen Teil unserer geheiligten Bildungsstätte zu verlassen. Ich jedoch bin gerade erst gekommen, obwohl ich eigentlich bereits seit einer knappen Dreiviertelstunde meinen Kopf mit unsinnigen Formeln und naturwissenschaftlichen Fakten füllen lassen sollte. Da Physik aber nicht nur öde sondern auch noch mein absolutes Hassfach ist, bot es sich an, meine Fahrstunde unter dem Vorwand, erst zur zweiten zu haben, auf diese frühe Stunde zu legen. Herr Mehner ist diesbezüglich natürlich ahnungslos. Die einzige Schwierigkeit besteht jetzt darin, noch so rechtzeitig zu erscheinen, dass die erste Stunde nicht als Fehlstunde gewertet wird. Das wiederum würde eine schriftliche Erklärung meiner geehrten Mutter erfordern, die von dem Umstand, dass ich geschwänzt habe, natürlich möglichst nichts erfahren sollte. Zumindest nicht, bevor ich am Ende des Schuljahres mein Abschlusszeugnis in Händen halte. Denn, mal ehrlich: Wenn da „bestanden“ drunter steht, interessiert sich doch keiner mehr für gefühlte 213 Fehlstunden.   Pünktlich 5 Minuten vor Gongschlag erreiche ich also meinen Klassenraum und halte mich gar nicht erst mit Klopfen auf. Herr Schubert, mein Physiklehrer, würde es möglicherweise noch überhören und das würde mich wertvolle Sekunden kosten.   „Entschuldigung, hab verschlafen“, murmelte ich in einem möglichst tief geknickt klingenden Ton und husche mit gesenktem Kopf an meinen Platz in der letzten Reihe, damit Herr Schubert nicht noch mein verräterisches Grinsen entdeckt und mich als den unstrebsamen Strolch enttarnt, der ich nun einmal bin. „Das ist jetzt schon das vierte Mal diesen Monat“, schnarrt es jedoch prompt von vorne und ich haspele irgendwas vor mich hin, das mit vier zugedrückten Hühneraugen vielleicht als „Alpträume“ durchgeht. Die ich natürlich nicht hatte, aber die Mitleidsnummer zieht eigentlich immer. Nur nicht bei Herrn Schubert. „Wenn das noch einmal vorkommt, werde ich Ihre Mutter darüber informieren müssen, Herr Vogel.“   „Wie Sie meinen, Herr Schubert. Ich lasse Ihnen eine Visitenkarte ihrer Anwaltskanzlei da“, kontere ich und höre mich damit nicht ganz zufällig so an, als würde das etwas bedeuten. Dabei ist meine Mutter Fachanwältin für Miet- und Eigentumsrecht. Die könnte mir höchstens helfen, wenn Herr Schubert mich aus meiner Wohnung rausschmeißen würde.   Herr Schubert guckt immer noch wie ein essigsaurer Bratapfel, wendet sich dann aber der Tafel zu, um irgendeinen physikalischen Schwachsinn zu Ende zu zeichnen, bei dem ich ihm gestört habe. Das wiederum ist für mich die Gelegenheit, mich meinem Banknachbarn zuzuwenden. „Und? Was hab ich verpasst?“, flüstere ich Pascal zu, der doch tatsächlich fleißig mitschreibt, der Streber. „Masse-Leuchtkraft-Beziehung und die Entstehung schwerer Sterne“, wispert er zurück und ich muss bei der Vorstellung, wie ein Stern sich eine Sahnetorte zusammen mit einem Zwei-Liter-Becher Coke reindrückt, ehrlich grinsen. Dass ich das nicht verstehen muss, weiß ich, denn Pascal wird sich spätestens vor der nächsten Prüfung wie immer die Mühe machen, mich löffelweise mit den benötigten Grundkenntnissen zu füttern, sodass ich mit einer passablen Vier aus der Klausur hervorgehen werde. Immerhin ist er der Grund, warum ich überhaupt hier sitze, obwohl ich von Tuten und Blasen keine Ahnung habe. Also von Letzterem vielleicht schon, aber leider mangelt es diesbezüglich momentan an Praxisstunden. „Ich hab dir alles mitgeschrieben“, erklärt er mir auch gleich bereitwillig und ich schenke ihm ein strahlendes Lächeln. Auf Pascal ist eben Verlass, egal in welcher Lebenslage. Mit den halblangen, dunklen Haaren und dem leicht südländisch angehauchten Teint sieht er obendrein auch noch ziemlich knackig aus. Leider ist er vollkommen hetero und noch dazu mein bester Freund, sodass eine Liaison mit ihm ungefähr so wäre, als würde ich mit meinem Zwillingsbruder ausgehen. Den ich nicht habe. Also gleich zwei Punkte, die dagegen sprechen.   „Bist ein Schatz“, hauche ich ihm trotzdem zu und weiß, dass er mir nicht übelnimmt, wenn mein Luxuskörper sich seinem dabei ein bisschen zu sehr nähert. Ich hab nämlich von Anfang an kein Geheimnis daraus gemacht, dass ich auf Kerle stehe, und Pascal war im Gegensatz zu einigen anderen echt cool damit, sodass wenigstens diese Sache nicht zwischen uns steht. Im Gegensatz zu … „Lenk ihn nicht immer ab.“   Michelle. „Fiele mir nicht im Traum ein, Honeybunny. Dann müsste ich euch dreien ja Konkurrenz machen“, feuere ich dem blonden Bückstück meine Lieblingsfreundes sofort entgegen. Wobei gegen die Haarfarbe an sich nichts zu sagen ist. Nicht umsonst leiere ich meiner Mutter jeden Monat einen Fuffi aus den Rippen, um meine Ansätze nachzubleichen. Aber dieses Weib ist einfach …   „Wieso drei?“, fragte sie jetzt und glotzt mich mir ihren blauen Kuhaugen strunzdämlich an.   „Na du, Mickey und Donald“, erkläre ich ernsthaft und deute dabei auf ihre Monstertitten, die sich gegen den Stoff eines viel zu engen Oberteils quetschen. Mal ehrlich, ich steh ja nicht auf die Dinger, aber das muss doch wehtun, wenn das da so rausquillt. „Entschuldige mal …!“, fängt sie noch an sich aufzuplustern, als ein dreistimmiges Signal die Stunde beendet, auch wenn einige Lehrer immer noch hartnäckig behaupten, dass das ihre Aufgabe wäre. „Ja, ich entschuldige dein furchtbares Outfit“, informiere ich sie hoheitsvoll, bevor ich mein nicht ausgepacktes Zeug wieder einräume und dem Ausgang entgegenstrebe. Ich komme jedoch nicht weit, als sich ein Fuß der Marke Kinderkanu zwischen meine in engen Röhrenjeans steckenden Beine streckt und mich prompt zu Fall bringt. Also fast wenigstens, wenn ich mich nicht im letzten Moment höchst sportlich, aber nur leidlich elegant an der Stuhllehne meines Vordermannes festgekrallt hätte. „Oh seht mal. ’S Vegale macht Flugstunden.“   Boah, echt jetzt? Der schon wieder? Na warte.   Ich grinse Simeon an, der mich verschreckt durch die Gläser seiner Hornbrille aus anschaut, und drehe mich dann immer noch süffisant lächelnd zu der Scheiße labernden Hohlbirne um, die meiner Meinung nach nur hier sitzt, weil sie nicht weiß, wie man Kurse abwählt. „Bruno!“, rufe ich begeistert. „Du hier und nicht in Hollywood? Dabei casten die doch gerade 'Dumbo 2' , hab ich gehört. Wäre das nicht deine Chance?“   Der Blick meines Gegenübers bohrt sich in meinen und die von mir so eloquent angespielten Ohren werden tatsächlich ein bisschen rot. Es ist jetzt nicht so, dass Bruno wirklich Segelohren hat. An ihm ist einfach nur alles furchtbar groß und das schließt eben auch die Anhängsel an seinem Quadratschädel mit ein. Seitdem er sich die Haare an den Seiten hat nahezu kahl rasieren lassen, fallen die halt noch mehr auf als vorher. Meine Wahl wäre es nicht gewesen, aber da mir Bruno ungefähr so sympathisch ist wie abgeschnittene Fußnägel, kann ich dieses Tatsache natürlich nutzen, um ihm ein auszuwischen. Leider hängt an dem Schädel mit den großen Ohren auch noch ein ziemlich breiter Körper mit ziemlich großen Fäusten dran. Diese ballt er jetzt und würde mir wohl nur zu gerne eine reinhauen. „Pass bloß auf, du kleine …“   Bevor er weitersprechen kann, lehne ich mich schnell vor und flüstere:   „Überleg dir gut, was du jetzt sagst. Den Verweis bekommst nämlich du, während mich deine Kommentare zu meiner Sexualität tatsächlich nur sehr peripher tangieren.“   Nachdem ich meinem Bombe gedroppt habe, bringe ich mich trotzdem lieber außer Reichweite von Brunos baggerschaufelartigen Verprügelobjekten. Er blinzelt immer noch dämlich und versucht vermutlich, die Fremdwörter, die ich ihm um die Ohren – haha – gehauen habe, zu verarbeiten. Bevor er jedoch damit Erfolg hat, lasse ich mich mit zwei hoch erhobenen Mittelfingern von der Masse in Richtung Ausgang tragen und grinse mir eins. Auf dem Gang sehe ich jedoch zu, dass ich das Weite suche, denn wenn Bruno endlich verstanden haben sollte, was ich eigentlich zu ihm gesagt habe, und ihm dann auch noch wieder einfallen sollte, was ich vorher gesagt habe, wäre es vielleicht ganz gut, sich nicht in seiner Nähe oder der seiner Freunde zu befinden. Denn die hat der gute Bruno leider, auch wenn ich immer noch die starke Vermutung habe, dass die fünf Hanseln sich ein Gehirn teilen und es jeder von ihnen nur an einem Tag in der Woche bekommt. In der verbliebenen Zeit wird es vermutlich leihweise als Anschauungsobjekt für die Entwicklung vom Affen zum Neandertaler im Urgeschichtlichen Museum ausgestellt und zwar nicht als Endstufe.   Ich langweile mich durch die nächste Stunden und warte darauf, dass endlich wieder Pause ist. Nicht, dass es wirklich eine Abwechslung wäre, aber immerhin muss ich dann nicht so tun, als würde mich irgendwas von dem, was ein ahnungsloser Greis mit zu viel Kreidestaub in der Lunge vor sich hinmurmelt, interessieren. Ich bekomme eine leidliche Vier in Latein wieder und eine erfreuliche Drei Minus in Englisch. Meine Lehrerin findet meine Theorien interessant, aber meinen Wortschatz unterirdisch. Na ja, gut, was erwartet sie auch? In den meisten Filmen, die ich mir zum Vergnügen reinziehe, spielen die Dialoge eine eher untergeordnete Rolle. Da geht es mehr um Körpersprache und das Geräusch, mit dem nackte Haust auf nackte Haut prallt. Während ich darüber nachdenke und schon wieder leicht horny werde, klingelt es bereits zur Mittagspause. Das bedeutet ein Wiedersehen mit meinem Lieblingsfreund und mit Michelle. Würg.   „Na, noch nicht gestorben?“, begrüße ich sie.   „Nein, die Bosheit und die Schadenfreude über dein dummes Gesicht hält mich immer noch am Leben“, gibt sie zurück und grinst mich ziemlich breit und frech an. Na gut, Punkt für sie. Den lasse ich mal durchgehen, weil ich weiß, dass Pascal es nicht leiden kann, wenn ich seine Freundin allzu sehr trieze. Außerdem hab ich den leisen Verdacht, dass an ihrer Aussage was Wahres dran ist. Deswegen – und nur deswegen – spare ich mir auch die Bemerkung, dass das Speisenangebot der Mensa ja heute mal wieder Michelles Klamottenauswahl an Geschmacklosigkeit übertrifft, und stupse Pascal nur freundlich an. „Was sagst du? Mittagessen bei Kotzkelle?“   Ja, es ist wahr. Nicht einmal die großen Fast-Food-Ketten haben unser beschauliches Städtchen auf dem Radar, sodass wir uns mit der Billigvariante zufriedengeben müssen. Aber immerhin haben die eine einigermaßen Auswahl und neuerdings diese frittierten spanischen Teigstangen mit Schokosoße. Ich steh auf die Teile und vielleicht gebe ich Michelle sogar welche ab, damit sie ihre Krallen mal ein bisschen zurückfährt. Ich habe nämlich heute noch was vor.   „Sag mal …“, beginne ich daher scheinheilig, während Michelle sich nichtsahnend an meinen übrig gebliebenen Churros gütlich tut. Wenn ich nett wäre, würde ich ihr sagen, dass sie Schokosoße im Mundwinkel hat, aber jetzt gilt es gerade erst mal zu verhindern, dass Pascal sich später darum kümmern kann, diesen hingebungsvoll abzulecken.   „Hast du Bock, Kunst zu schwänzen und stattdessen mit zu mir zu kommen? Hab gehört, der Nude Patch für Elden Ring lässt sich endlich installieren, ohne die gesamte Hardware zu crashen.“   Als Nächstes sehe ich genau zwei Dinge, die ich exakt so erwartet habe. Erstens das interessierte Glitzern, das in Pascals Augen aufleuchtet, als ich ihm diesen höchst göttlichen Vorschlag unterbreite. Als nächstes folgt der Blick in Richtung der Churro-Vernichtungsmaschine, die zum Glück vollkommen damit beschäftigt ist, sich zu viele Kalorien einzuverleiben. Das Erste ist gut, das zweite ganz, ganz schlecht. „Sie wird es schon nicht mitkriegen“, versichere ich ihm. Dat Michelle-Mäuseken hat nämlich Musik gewählt und wird sich daher in einem völlig anderen Teil unseres nicht eben riesigen Schulgebäudes aufhalten, während wir unsere Fronarbeit im Kunstcontainer ableisten dürfen. Oder dürften, wenn ich Pascal nicht dazu überredet bekomme, diese vollkommene Verschwendung von Lebenszeit ausfallen zu lassen und was wirklich Sinnvolles zu tun.   „Ich helf dir auch, Frau Müller-Hoppenstedt rumzukriegen. Wirst sehen, wenn du ihr dein Werk mit einer tiefsinnig klingenden Begründung unter die Nase hältst, frisst sie dir wie ein zartes Lämmchen aus der Hand.“   Das scheint den Ausschlag zu geben. Immerhin bin in diesem Fall ich schuld an der Kurswahl meines Freundes. Nicht, dass wir große Leuchten in Kunstgeschichte wären oder ähnliches, aber ich kenne kein Fach, in dem man sich so gut durchmogeln kann. Du rotzt halt irgendwas zusammen und wenn du es verkaufen kannst, hast du gewonnen. Kein Problem, denn wenn ich was kann, dann schwafeln. „Na schön“, murrt Pascal und tut der Form halber so, als wäre er tatsächlich abgeneigt, der näselnden Stimme unseres Kunstmonsters zu entkommen. „Aber nur ne Stunde. Ich hab nachher noch Training.“   Ja klar. Training. Ich verkneife mir ein humorloses Husten. Der will doch nur mit Michelle rumfummeln. Oder auch mehr. Seit sie es endlich getan haben, warten die beiden doch nur darauf, dass ihre Eltern nicht zu Hause sind, um sich zusammen durch die Laken zu wälzen. Kann ich ihm ja nicht verdenken. Für ein Mädchen ist Michelle schon ganz ansehnlich. Nicht so ne dürre Bohnenstange und auch kein Modepüppchen. Und wenn ihr Hund in den Bach fallen würde, würde sie vermutlich ohne zu zögern hinterherspringen. Man kann sich also auf sie verlassen und doof ist sie auch nicht. Das Ding ist halt nur: Sie ist Pascals Freundin und damit meine bedeutendste Konkurrenz in Bezug auf seine Freizeitgestaltung. Und da ich außer mit Pascal abhängen und Latino-Filmchen bei Youporn durchsuchten keine großen Hobbys habe und mein Verbrauch an saugfähigem Material ohnehin schon den eines durchschnittlichen 17-jährigen übersteigt, bin ich mir sicher, dass die Regenwälder im Amazonas es mir danken werden, wenn ich verhindere, dass die beiden allzu viel Zeit miteinander verbringen. Oder wenigstens noch mehr Zeit als ohnehin schon. Immerhin knutschen die beiden nicht mehr miteinander, wenn ich dabei bin, seit ich angefangen habe, selbst bei der kleinsten Lippenberührung so zu tun, als müsste ich mich gleich in die nächste Blumenrabatte übergeben. Michelle hat daraufhin konstatiert, dass ich ja nur eifersüchtig wäre. Was wohl stimmt, aber es wäre mir lieber, wenn sie es nicht so nennen würde.     „Ich bin nicht eifersüchtig“, erkläre ich Pascal deshalb auch zum wiederholten Male, als wir endlich bei mir zu Hause hocken und ganz entgegen unseres Vorsatzes FIFA zocken. Irgendwie scheint es ihn abgeschreckt zu haben, dass der Patch auch die Männer nackt macht. Und ganz vielleicht waren davon ein paar viele zu sehen, als ich das Spiel gestartet habe.   „Ich bin lediglich …“   „Neidisch“, ergänzt er, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. „Du musst mir das nicht immer wieder erklären. Ich hab’s begriffen.“   Während er ohne mein Zutun ein Tor schießt, ringen in meiner Brust Unzufriedenheit und Erleichterung miteinander um den ersten Platz. Einerseits finde ich es ja gut, dass er weiß, dass ich nichts von ihm will. Will ich wirklich nicht. Ich sagte ja bereits, dass ich mir zwar vorstellen könnte, mit jemandem, der so aussieht wie er, rumzumachen, aber die Vorstellung, tatsächlich was mit Pascal anzufangen ist in etwa so attraktiv wie die, einem Elch die Zunge in den Hals zu stecken. Von anderen Dingen mal ganz abgesehen. Und dass Michelle außer Konkurrenz bei mir läuft, versteht sich ja von selbst. Aber irgendwie vermisse ich ein bisschen Mitleid und Verständnis für meine Situation. „Ich will auch ficken“, sage ich deswegen, um mein Problem ausreichend deutlich zu machen. Pascal verzieht ein bisschen angeekelt das Gesicht.   „Musst du das so sagen?“, nörgelt er und verschießt einen Ball.   „Latte!“, gröle ich lauthals und fühle mich wie 12, weil ich das lustig finde. Ich hab echt Druck und müsste dringend mal wieder was zwischen die Beine haben. Was anderes als meine eigene Hand, versteht sich. Eine Auswahl an einigermaßen verfügbarem Material, wie sie an meinem vorherigen Wohnort vorhanden war, kann man hier jedoch mit dem Mikroskop suchen und würde trotzdem nichts finden. Ich bin mir zwar sicher, nicht der einzige Schwule in ganz Kaffingen zu sein, aber bisher hat sich noch keiner bei mir vorgestellt. Entweder sind die also alle alt oder schüchtern oder beides. Und so gerne ich mir ja was übers Netz oder eine App suchen würde, hab ich halt irgendwie immer noch diesen dämlichen Minderjährigkeitsstatus. Und du weißt halt auch nie, ob dich nicht am Ende statt des heißen Fuckboys vom Profilfoto ein 55-jähriger Massenmörder mit gewetztem Messer erwartet. Soll ja alles schon vorgekommen sein und ehrlich gesagt würde ich auf diese Erfahrung gerne verzichten. Dann leg ich doch lieber selbst Hand an.   „Man müsste mich halt ein bisschen besser promoten“, philosophiere ich nichtsdestotrotz vor mich hin.   Pascal prustet in seine Cola.   „Wie meinst du das denn? Willst du dir ne Werbefläche mieten? Nen Headhunter engagieren?“   Ich strecke ihm die Zunge raus und kaue auf meiner Unterlippe rum. Das mache ich manchmal, wenn ich nachdenke. Sieht ziemlich sexy aus, wenn man mich fragt. Auf ein Foto davon hab ich ne Menge Likes bekommen. Leider nicht von einem interessanten Typen.   „Nein, aber ich müsste halt meine Vorzüge mal so richtig zur Geltung bringen.“   Pascal runzelt die Augenbrauen. Seine sind nicht so eindrucksvoll buschig wie meine, aber er wirkt dadurch ziemlich intellektuell. „Bald ist Freibadsaison“, schlägt er vor. „Da könntest du ja mal ein paar Runden drehen. Vielleicht beißt einer an.“   „Pff“, mache ich. Das habe ich letztes Jahr schon versucht und am Ende hatten wir Michelle am Hals. Weil ihre beste Freundin Bianca was von mir wollte und sie zur Unterstützung mitgenommen hat. Ganz prima. Nicht.   „Ich hab da eher an den Sportlerball in zwei Wochen gedacht. Du weißt doch. Diese Veranstaltung wo alle, die irgendwie mit einem Ball umgehen können oder schnaufend Runden um den Sportplatz drehen, sich in feine Garderobe zwängen und das Tanzbein schwingen, während die Sponsoren und Freiwilligen sich selbst beweihräuchern und abgestandenen Sekt aus dreckigen Gläsern schlürfen.“   Pascals dunkle Brauen heben sich jetzt und er sieht mich an, als hätte ich mich gerade in ein Kalb mit zwei Köpfen verwandelt. „Du willst da nach einem Date suchen.“   Ich hebe unschuldig-unentschieden beide Schultern in einem nicht vorhandenen Takt. „Warum nicht? Ich bin mir sicher, dass da ne Menge knackiges Frischfleisch rumläuft und der eine oder andere wäre ja vielleicht nicht abgeneigt, mal ein bisschen auf Tuchfühlung zu gehen.“   Pascal lacht kurz ungläubig auf, bevor er wieder ernst wird.   „Dir ist schon klar, dass das eine dämliche Idee ist.“ „Auch nicht dämlicher als hier zu sitzen und zu warten, dass mir die Eier platzen. Ich will ja nicht die große Liebe finden. Nur jemanden zum Ficken.“   Pascal verkneift sich zum Glück ein Augenrollen und stürzt sich stattdessen auf den einzigen Schwachpunkt in meinem Plan. „Du weißt aber schon, dass der Ball nur für Mitglieder ist, oder?“   Ich grinse und bin versucht ihn darauf hinzuweisen, dass ich durchaus „mit Glied“ bin, aber das wäre vermutlich gerade nicht hilfreich. „Ja schoooon“, meine ich gedehnt, rutsche vom Bett zu ihm auf den Boden, strecke den Kopf vor und blinzele ihn liebreizend an. „Aber soweit ich weiß, dürfen Sportler auch eine Begleitperson mitbringen, und rein zufällig kenne ich da jemanden, der für den Abend noch keine Verabredung hat.“   Pascal hasst mich. Er hasst mich in diesem Augenblick, aber zufälligerweise muss die liebe Michelle an dem Wochenende, an dem der Ball ist, tatsächlich zu irgendeiner runzligen Verwandten fahren, die ihren runden Geburtstag nahe der 100 feiert und den nächsten vielleicht nicht überleben wird. Ganz wichtig also, dass sie da auftaucht, und deswegen hatte Pascal eigentlich beschlossen, dass Tanzvergnügen ausfallen zu lassen und stattdessen mit mir ins Kino zu gehen. Eigentlich.   „Och büüüüüüütttteeee“, säusele ich und klimpere gleich noch ein paar Mal mit meinen dunklen und überaus dichten Wimpern. Wenn ich jetzt noch dazu in der Lage wäre, meine braunen Rehaugen auf Kommando mit Tränen zu füllen, wäre Pascal mir bestimmt hoffnungslos verfallen.   „Du bist unmöglich“ grollt er und rückt ein Stück von mir ab. Ich rücke hinterher und blinzele weiter. „Man, Scheiße, Fabian! Hör auf, mich anzuschwulen.“   Ich grinse. „Sorry, kann ich nicht. Nicht, bevor du Ja sagst.“   Ich sehe, dass er zögert. Vermutlich weiß er, dass er das Ganze spätestens in dem Moment bereuen wird, in dem ich bei ihm auftauche, um ihn abzuholen. Er ahnt nur noch nicht, wie sehr.   „Na schön“, grummelt er schließlich und richtet sein angespanntes Gesicht wieder auf die elektronischen Fußballer. „Aber ich will nicht dabei zusehen müssen, wie du dich mit einem von denen abschlabberst. Ist das klar?“   Ich grinse nun von einem Ohr bis zum anderen. „Klar wie Kloßbrühe!“, gelobe ich gehorsam. „Gleiches Recht für alle.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)