Stille Herzen von HalcyTheWolf ================================================================================ Kapitel 1: Das Experiment ------------------------- -Khiai- Die ganze Klasse war unruhig. Gleich würde unser Lehrer verkünden, mit wem wir die nächsten Mittagspausen verbringen würden. Die Schüler würden sich untereinander nicht genug kennen, meinte er. Daher wollte er das Experiment für ein paar Wochen durchführen und sehen, ob sich etwas änderte. Ich hingegen kauerte mich in meine Ecke, wollte davon nichts wissen. Ich versuchte, niemanden anzusehen. Außer ihn. Santi. Gerade sah auch er in Richtung des Lehrers, die tiefschwarzen Haare waren lang genug, dass ihm einige davon in die Stirn fielen. Seine braunen Augen hatte er konzentriert nach vorne gerichtet, doch ich glaubte, darin auch Nervosität sehen zu können. Ich war nah genug, um ihn beobachten zu können, doch auch weit genug weg, dass es nicht auffiel. Der Lehrer räusperte sich: »Also, wie ihr schon wisst, werde ich heute die Konstellationen für die Mittagspause verkünden. Es ist kein Muss, aber es wäre schön, wenn ihr euch daran halten könntet.« Ein Name nach dem anderen wurde aufgerufen, die Reaktionen der Leute zeigten deutlich, ob sie mit dem Ergebnis zufrieden waren oder nicht. »Khiai und Santi«, hörte ich ihn sagen. Was? Ich wusste nicht, ob ich mich über dieses Ergebnis freuen sollte. In Santis Anwesenheit würde ich doch kein Wort herausbekommen! Er drehte sich zu mir um, unsere Blicke trafen sich. Nur eine Sekunde, aber es fühlte sich an, als würde ich von einem Blitz getroffen werden. Vor einem Jahr, als er mich vor den Idioten aus unserer Klasse gerettet hat, hatte diese Sekunde ausgereicht, um mich zu seinem heimlichen Bewunderer zu machen. Schnell wandte er den Blick wieder ab. Auch wenn ich mir wünschte, es wäre länger, war ich mir nicht sicher, ob ich das überhaupt aushalten würde. Dann sollte ich die nächsten Wochen meine Mittagspausen mit ihm verbringen? Bei diesem Gedanken wurde mir heiß und kalt. Eins stand jedenfalls fest: Ich durfte mir auf keinen Fall etwas anmerken lassen. In der Pause am selben Tag trat ich gerade durch die Tür zum Schuldach. Ich wusste nicht viel über Santi, nur dass er hier immer seine Pausen verbrachte. Er saß dort auf der Bank, doch anstatt zu essen, grübelte er über einem Arbeitsblatt. Ich schlich mich heran, setzte mich so weit weg, wie möglich, an das andere Ende der Bank. Wir hatten zwar eine Cafeteria, aber ich bekam das Essen immer von zuhause mit. Oft genug wanderte mein Blick zu ihm. Santi hing weiter über der Aufgabe, seine Stirn lag in Falten. War es so schwer? »Kh-Khiai?«, als er mich ansprach, zuckte ich zusammen. Ich versuchte mein Essen nicht fallen zu lassen, es würde das erste Mal sein, dass wir richtig miteinander redeten. »J-ja?«, die Antwort blieb mir fast im Hals stecken. »Kannst du Mathe?«, wollte er wissen. Ich war vielleicht nicht der Klassenbeste, aber ich denke ich kam gut zurecht. »Schon«, eigentlich wollte ich noch fragen, ob er Hilfe brauchte, doch ich schaffte es nicht. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er auf mich zukam. Ich erstarrte, plötzlich sah ich den Zettel mit den Matheaufgaben vor mir. Langsam sah ich auf, in sein bittendes Gesicht. Mein Herz setzte für einen Moment aus. Ich wandte meinen Blick schnell wieder den Aufgaben zu, Santi gab mir einen Stift. Als ich die Aufgaben überflog, stellte ich fest, dass sie nicht besonders schwierig waren. Eher genau das, was wir gerade im Unterricht machten. »Ich weiß, dass es total unhöflich ist, aber könntest du die Aufgaben für mich machen? Ich werde das auch in zehn Jahren nicht verstehen und wenn ich es heute nicht abgebe, bin ich geliefert«, sagte er und die Verzweiflung hatte ich ihm schon angemerkt. Stumm nickte ich. Setzte den Stift an, löste die Aufgaben für ihn. Nachdem was er für mich getan hatte, war das nicht mehr als eine Kleinigkeit. Nach einer Weile gab ich ihm den Zettel mit den Lösungen zurück. Freudig sah er ihn an: »Danke.« Dann verschwand er in Richtung Tür. Ich konzentrierte mich wieder aufs Essen, konnte mir das Lächeln nicht verkneifen. Endlich konnte ich ihm auch helfen! Innerlich dankte ich meinem Klassenlehrer für dieses Experiment. -Santi- Ich drehte mich an der Tür noch einmal um, sah Khiai lächeln. Das ließ mich sofort innehalten, ich könnte es mir stundenlang ansehen. Ob er selbst wusste, wie hübsch er war? Da er in der Klasse hinter mir saß, hatte ich nie die Gelegenheit, ihn länger anzuschauen. Jetzt, wo er offenbar auf sein Essen konzentriert war, bot sich mir die Chance. Seine Haare waren genauso schwarz wie meine, aber um einiges länger. Khiai versteckte sich gerne dahinter. Doch für das Essen hatte er sie sich hinter die Ohren gestrichen, sodass ich einen guten Blick auf sein Gesicht hatte. Diese geschwungene Nase, die sanften Augen. Ich konnte es immer noch kaum glauben, dass diese dämlichen Hausaufgaben mich mutig genug gemacht hatten, ihn anzusprechen. Er hatte mich gerettet! Wenn ich diesen Zettel nicht abgeben müsste, würde ich ihn einrahmen. Es wäre schön, wenn ich jede Pause eine Ausrede hätte, aber ich wollte ihn auch nicht nerven. Mir würden auch stille Pausen mit ihm reichen, ich war schließlich nur ein heimlicher Bewunderer. Seufzend löste ich mich von diesem Anblick und trat meinen Weg zum Lehrerzimmer an. Kapitel 2: Die Frage -------------------- -Santi- Der Lehrer sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an: »Ich muss sagen, du hast mich mit diesen Aufgaben wirklich überrascht. Ich bin froh, dass du den Stoff endlich verstanden hast, Santi. Das wird in der nächsten Prüfung abgefragt.« Na super, die konnte ich also schon mal vergessen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich es in diesem Leben noch verstehen würde. »Das Kollegium hat sich untereinander abgesprochen, denn deine Noten sind leider nicht gut. Aber wir sehen, dass du dir Mühe gibst und da wir ohnehin noch jemanden suchen, der nach der Schule die Mathenachhilfe unterstützen kann, dachten wir, du könntest das machen.« Wenn ich nicht vor dem Lehrer stehen würde, hätte ich mir in diesem Moment gerne die Hand vors Gesicht geschlagen. Ich und Mathenachhilfe? Nicht nur, dass es mir ohnehin schwerfiel vor Leuten zu reden, wenn ich das erklären sollte, wären sie bestimmt dümmer als vorher. Unruhig friemelte ich an meinem Hemd herum. Wie sollte ich da wieder rauskommen? Zugeben, dass Khiai die Aufgaben gemacht hat, konnte ich auch nicht. Dann würde er vermutlich auch Ärger bekommen. »Aber…ich kann nicht gut vor Leuten reden«, versuchte ich mein Glück. Offensichtlich, wenn ich das nicht einmal vor dem Lehrer schaffte. Doch seine Miene blieb steinern: »Später auf der Arbeit kann es sein, dass du eine Präsentation halten musst, da interessiert das auch keinen. Sieh‘ es doch als Chance, es zu lernen.« Wenn ich das könnte, hätte ich Khiai vermutlich schon ausgefragt. Widerwillig stimmte ich zu, musste das dann irgendwie anders lösen. Der Lehrer hatte mir gesagt, dass ich auch jemanden fragen könnte, der mithilft, aber das ging nicht. Denn es gab nur einen, der mir einfiel und ich wollte ihn nicht ausnutzen. Mit hängendem Kopf verließ ich das Lehrerzimmer und meine Laune besserte sich ein bisschen, als ich in Richtung Schuldach ging. -Khiai- Ich sah kurz auf, als Santi durch die Tür schritt. Es war schon die dritte Pause, die wir gemeinsam verbringen würden. Doch wie schon vor ein paar Tagen, sah er überhaupt nicht glücklich aus. Fragen wollte ich ihn nicht, es könnte schließlich sein, dass er einfach keine Lust hatte, mit mir abzuhängen. Seufzend ließ er sich auf die Bank fallen. Der Abstand zwischen uns verkürzte sich mit jeder Pause. Verstohlen betrachtete ich ihn, wie er dasaß, mit verschränkten Armen. Es war doch nur höflich, wenn man fragte, oder nicht? Du wirst nicht sterben, wenn du ihn doch fragst, versuchte ich mir selbst einzureden. Das war schließlich Santi und nicht irgendein Monster. Komm‘ schon! Ich starrte mein Essen an, mein Puls erhöhte sich. Ich gab mir einen letzten Ruck und fragte: »Ist alles okay?« Es war so leise, dass ich nicht einmal wusste, ob er es überhaupt gehört hatte. »Äh..ja. Also ich meine, nein«, gab er zurück. »Der Lehrer, bei dem ich die Aufgaben abgegeben habe, möchte, dass ich Mathenachhilfe gebe.« Santis sanfte Stimme hallte in meinem Kopf wider. Ich spürte, dass mein Gesicht anfing zu brennen. Aber ich freute mich, dass ich gefragt hatte, denn das klang nach einem großen Problem. Er verstand die Aufgaben nicht, dann konnte er sie wohl schlecht anderen erklären. »Musst du denn?«, ich versuchte meine Sätze so kurz wie möglich zu halten, um nicht zu stottern. »Ja. Weil meine Noten schlecht sind.« Er stand auf, lehnte sich an den Zaun und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Ich stellte mein Essen neben mir ab. Derjenige, der ihn in diese Lage gebracht hatte, war ich, also musste ich etwas tun. »Soll ich dir helfen?«, bei dem Gedanken auch nach der Schule Zeit mit ihm zu verbringen, kribbelte es in meinem Körper. Sein Kopfschütteln versetzte mir einen Stich. »D-das ist nett von dir. Aber ich kann dich nicht ständig fragen, meine Probleme zu lösen.« Ich sprang auf: »Doch kannst du!« Was war das denn? Ich erschrak selbst darüber, wie laut meine Stimme war. Auch Santi sah mich mit großen Augen an. Sofort ließ ich mich wieder auf die Bank sinken. »Ich mein ja nur«, relativierte ich meine Aussage. Man, ich wollte doch unauffällig sein. Er findet mich jetzt bestimmt komisch. Stattdessen lachte er: »Dann…frage ich. Kannst du mir helfen?« »Ja.« »Danke. Aber du musst mir unbedingt sagen, wenn es etwas gibt, was ich für dich tun kann«, hörte ich ihn sagen. Er lächelte immer noch und ich verlor mich darin. Es gibt so viel, was du für mich tun könntest, aber danach würde ich niemals fragen. Kapitel 3: Die Berührung ------------------------ -Khiai- Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich die Unterlagen für die Nachhilfe auf den Tischen verteilte. Der Lehrer hatte zugestimmt, dass ich mithelfen konnte und heute sollte die erste Stunde stattfinden. Es gab zehn Schüler aus unserer Stufe, die daran teilnehmen würden. Doch der Grund für mein Herzklopfen waren nicht sie, sondern Santi, der an der Tafel stand und ein paar Willkommensgrüße aufschrieb. Ich hoffte, dass meine Strategie aufgehen würde, denn wenn Santis Noten gerettet werden sollten, musste es zumindest so aussehen, als hätte er Ahnung von Mathe. Ich konnte mich nur schwer von diesem Anblick losreißen, erst als er sich umdrehte, wanderte mein Blick zurück zum Tisch. Bloß nichts anmerken lassen, mahnte ich mich zur Vorsicht. Ich hatte alle Zettel verteilt, allerdings befanden sich noch Unterlagen in meiner Hand, die ich anstarrte. Gestern hatte ich mich drangesetzt, diese Erläuterungen für Santi zu schreiben, damit er die Aufgaben erklären konnte. Jetzt musste ich ihm die nur noch geben. Langsam bewegte ich mich auf ihn zu, den Blick auf die Zettel gerichtet. Damit könnte es klappen! Weil ich so konzentriert war, sah ich die Stufe vor der Tafel nicht, stolperte darüber und landete in seinen Armen. Wie ein Blitz durchfuhr es mich, als seine Hände auf meinen Armen lagen, um mich festzuhalten. Erschrocken sah ich ihn an und als sich unsere Blicke trafen, wurde mir heiß und kalt. Für eine Sekunde schien die Zeit stillzustehen. Ich musste schlucken, versuchte mich zu beruhigen, doch es funktionierte nicht. »Ich…ich«, begann ich, doch die Wörter wollten nicht herauskommen. Als der Lehrer mit den Schülern hereinkam, sah ich meine Chance, drückte Santi die Unterlagen gegen die Brust und floh in eine der hinteren Ecken des Klassenraums. Wieso musste ich so tollpatschig sein? Wieso hatte er so schöne Augen, wieso…Ich setzte mich nach ganzen hinten an den Tisch, lehnte meinen Kopf an die Wand und schloss die Augen. Ich wünschte mir, dieses unglaubliche Gefühl zurück, von ihm berührt zu werden, aber nicht als Ergebnis meiner dummen Aktion. Zum ersten Mal wusste ich, wie es sich anfühlte, wenn man im Boden versinken wollte, aber trotzdem glücklich war. -Santi- Als der Lehrer reinkam, versteckte ich meinen hochroten Kopf hinter Khiais Zetteln. Hoffentlich hatte ich ihn nicht zu lange angestarrt. Einerseits war ich froh, dass der Lehrer uns aus dieser Situation erlöst hatte, andererseits hätte es ruhig ein bisschen länger sein können. Ich lugte hinter den Unterlagen hervor, sah wie Khiai sich an das andere Ende des Klassenraums gesetzt hatte. Wie sollte ich mich denn jetzt trauen, ihn anzusprechen, wenn ich was erklären sollte? Resigniert setzte ich mich zu den anderen Schülern, da fiel mir die zweite Seite in seinen Unterlagen auf. Es war ein ziemlich langer Text, den man wie ein Skript lesen konnte. Ich überflog die Wörter und wenn ich dies vorlesen würde, klang es tatsächlich so, als hätte ich Ahnung von der ganzen Sache. Bei dem Gedanken, dass er sich für mich die ganze Arbeit gemacht hatte, wurde mir warm ums Herz. Der Lehrer saß vorne und bat mich anzufangen. Ich stand auf und begann Khiais Skript zu lesen. Alle sahen mich an und meine Hände begannen zu zittern. Doch sein Text half mir, nicht ganz so viel zu stottern. Nach der Erklärung setzte ich mich wieder und sie begannen, die Aufgaben zu machen. Ich klammerte mich an den Zettel, hoffte, dass niemand Fragen stellte. Die Stille und die kratzenden Stifte auf dem Papier machten mich nervös. Eine halbe Stunde verging ohne Zwischenfälle, jetzt musste ich es nur noch schaffen, den Rest hinter mich zu bringen. Doch dann hob eine Schülerin die Hand. Wenn ich nicht auffallen wollte, musste ich mir der Sache wohl stellen. Ich ging zu ihr, fragte sie, was los sei. »Ich verstehe die zweite Aufgabe nicht. Könntest du mir die nochmal erklären, Santi?« Sofort richtete sich mein Blick hilfesuchend in Khiais Richtung, doch zu meinem Entsetzen war er nicht an seinem Platz. Stattdessen hörte ich leise an meinem Ohr: »Du kannst X ausklammern, um die Gleichung aufzulösen.« Ich sprach es nach, rang dabei nach Luft, konnte mich in Khiais Nähe überhaupt nicht konzentrieren. »Oh, danke«, sagte sie und machte sich wieder an die Aufgabe. Ganz langsam drehte ich mich um, nur um Khiai direkt vor mir zu sehen. Ich senkte den Blick, brachte gerade so ein »Danke« hervor. -Khiai- Manchmal wünschte ich, es würde mehr Leute geben, die ihre Aufgaben nicht verstehen. Ich wusste nicht wirklich, wie ich es geschafft habe, mich ihm so anzunähern. Aber sein verzweifelter Blick ließ mir keine Wahl, meine Beine hatten sich von alleine bewegt. Doch ich hatte mein Glück heute schon viel zu sehr ausgereizt und wollte nicht auf komische Ideen kommen. Daher trat ich vorsichtig zwei Schritte zurück, als er plötzlich meinen Arm griff. Kapitel 4: Die Flucht --------------------- -Santi- Als ich realisierte, was ich tat, ließ ich sofort seinen Arm los, quetschte mich an ihm vorbei und ging auf meinen Platz. Was zum Teufel hat mich denn bitte besessen? Wie offensichtlich wollte ich sein? Mein Körper war mal wieder schneller als mein Gehirn. Ich bekam überhaupt nichts mehr mit, auch nicht, dass die Stunde schon zu Ende war. Fahrig packte ich meine Sachen zusammen, hatte kaum Kontrolle über meine Hände. Khiai fragte noch, ob er beim Aufräumen helfen sollte, doch ich schickte ihn weg. Ich wusste nicht, ob ich ihm jemals wieder unter die Augen treten konnte. Nicht wegen meiner Aktion, sondern weil ich langsam am Limit war. Es war noch nicht lange gewesen, doch wenn ich weiter Zeit mit ihm verbringen würde, wäre ein Auffliegen unvermeidbar. Das hatte ich heute festgestellt. Ich nahm die restlichen Zettel, die die Schüler hatten liegenlassen und war so schnell aus der Schule verschwunden, wie schon lange nicht mehr. Ich rannte nach Hause. -Khiai- Ich verstand nicht, dass Santi mich weggeschickt hatte, konnte ihm nur zusehen, wie er eilig die Schule verließ. Wieso musste er plötzlich fliehen? Es tat weh, am nächsten Tag ein leeres Schuldach vorzufinden. Am Vormittag war er noch in der Klasse gewesen, doch jetzt wollte er die Pause nicht mit mir verbringen. Seufzend ließ ich mich auf die Bank fallen, aß lustlos mein Mittagessen. Diesmal war keine Freude dabei, es war nur etwas, was ich tun musste. Ich bemerkte, dass er jedoch auch nicht mehr in der Klasse war. Meine ganze Vorfreude auf diesen Tag war verschwunden, als hätte sich ein grauer Schleier darübergelegt. Seitdem ich ihn beobachtete, hatte er keinen einzigen Tag gefehlt. Was war nur los? Ich wollte mich gerade setzen, da kam der Lehrer rein. »Ah, Khiai. Kann ich dich kurz sprechen?« Nur dieser eine Satz löste so viele Gedanken in mir aus. Würde er jetzt sagen, dass Santi das Experiment nicht mehr wollte? War er wegen mir nicht mehr da? Zitternd folgte ich dem Lehrer zum Pult, sah ihn ängstlich an. »Vorhin hat Santi sich bei mir abgemeldet. Er sagte, es ging ihm nicht gut, daher wird auch die Nachhilfe ausfallen. Ich habe den Eindruck ihr versteht euch ganz gut, wäre es möglich, dass du ihm die Hausaufgaben vorbeibringst?« Es ging ihm nicht gut? Auch wenn ich mir Sorgen machte, war ich froh, dass es nicht wegen mir war. Ich war unsicher, ob ich einfach bei ihm vor der Haustür auftauchen konnte, aber es war die Chance, nachzusehen, was los war. »Ja.« -Santi- Die Türklingel ging mir durch Mark und Bein, denn ich hörte sie nicht oft. Auch wenn ich niemanden erwartete, machte ich auf. Khiai. Er hatte eine Mappe in der Hand und ich konnte mir vorstellen, warum er hier war. In die Augen sehen konnte ich ihm jedoch nicht. Daher trat ich zur Seite, um ihn hereinzulassen und schloss die Tür. Gemeinsam gingen wir in mein Zimmer, dann versteckte ich mich unter der Bettdecke. Es ging einfach nicht anders. Sollte er mich ruhig für komisch halten, wenn er das nicht ohnehin schon tat. »Santi?«, hörte ich seine Stimme gedämpft. Ich weiß nicht, ob er schon mal meinen Namen ausgesprochen hatte, aber es hörte sich schön an. »Geht es dir nicht gut?« Was sollte ich sagen? Irgendeine nicht existente Krankheit wollte ich ihm auch nicht vorlügen. »Es geht schon«, gab ich knapp zurück. Ich hasste mich selbst für mein kindisches Verhalten und dafür, dass ich ihn in der Pause allein gelassen hatte. Das würde mein Image bei ihm auch nicht verbessern. »Es tut mir leid. Ich habe dich heute allein gelassen«, entschuldigte ich mich. Ich hörte etwas rascheln, vermutlich legte er die Unterlagen ab. »Ach, das ist nicht schlimm. Der Lehrer hat mir gesagt, dass es dir nicht gut geht. Da kann man nichts machen«, für mich klang es zu traurig. Es hatte ihn verletzt und ich habe es trotzdem getan. Noch dazu war es gelogen. Ich war einfach zu feige, musste abhauen, bevor ich etwas tue, was etwas zerstört, was nicht existiert. »Du hast die Hausaufgaben vorbeigebracht, oder?«, ich lugte ein bisschen hinter der Bettdecke hervor, sah ihn nicken. »Ja. Außerdem schreiben wir nächste Woche in Mathe einen Test«, erklärte er und obwohl es mich schockieren sollte, war es mir in diesem Moment egal. So viel hatte ich noch nie mit ihm geredet. Natürlich war es leichter, wenn ich mich verstecken konnte. Scheinbar war es für ihn dann auch einfacher. »Ähm, ich habe dir ein paar Erklärungen zu den Mathehausaufgaben geschrieben«, sagte er. -Khiai- Ich war mir nicht sicher, warum er sich verstecken musste, aber so war zumindest das Reden einfacher. Allein, dass ich in seinem Zimmer stand, reichte aus, um mich nervös zu machen. Doch ich war auch ein bisschen glücklich. Schließlich würde ich vielleicht mehr über ihn herausfinden. Bis auf den Schreibtisch, war das Zimmer sehr ordentlich. Dort waren jedoch überall Papiere verstreut. Offene Notizbücher lagen herum, scheinbar schrieb er viel. Ich war versucht, es mir näher anzuschauen, konnte mich jedoch im letzten Moment zurückhalten. »Kann ich dir sonst mit irgendetwas helfen?«, fragte ich, in der Hoffnung, dass es etwas gab, was ich für ihn tun könnte. Unter der Bettdecke hörte ich ein Seufzen: »Warum tust du das für mich, Khiai? Warum bist du so nett?«, fragte er. Vor Schreck trat ich einen Schritt zurück, als würde sich ein Monster unter der Bettdecke befinden. Ich konnte ihm diese Frage auf gar keinen Fall ehrlich beantworten, denn sonst wäre die kleine Verbindung, die wir uns aufgebaut haben, vermutlich vorbei. »Ist das denn schlimm?«, fragte ich stattdessen. Doch meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. -Santi- Ich schlug die Bettdecke zur Seite, sprang auf. Wieso musste ich immer komische Sachen in seiner Gegenwart sagen? Wie musste er sich denn fühlen? Doch mein Kopf sprudelte einfach Dinge hervor, die ich gar nicht sagen wollte. Ich hatte erreicht, dass er völlig verängstigt vor mir stand. Ich beantwortete seine Frage nicht, stattdessen fragte ich, ohne ihn anzusehen: »Glaubst du, ich könnte irgendetwas tun, für das du mich hassen würdest?« Energisch schüttelte er den Kopf: »Egal was du tust. Ich kann dich nicht hassen, Santi.« Diese Worte bestärkten mich in meinem Plan. Was war auch schon dabei? Freunde taten das schließlich auch. Seine Nähe in der Nachhilfe hatte mich so aufgewühlt, dass ich an nichts anderes denken konnte. Ich kann dich nicht hassen, echote es in meinem Kopf. Ein letztes Mal schloss ich die Augen, dann trat ich vor und legte meine Arme um ihn. Kapitel 5: Die Wahrheit ----------------------- -Khiai- Als ich Santis warmen Körper und seine Arme spürte, erstarrte ich. Es fühlte sich an, als würde mein Herz einfach stehen bleiben. Spätestens jetzt verstand ich gar nichts mehr. Nicht warum er das gesagt hatte oder warum er das tat. Aber ich genoss diese unbekannte Nähe, legte ganz vorsichtig meine Arme um ihn. Da wir fast gleichgroß waren, waren unsere Köpfe nah beieinander, seine Haare kitzelten mich. Die Eindrücke überforderten mich, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was war, wenn er mein Herzklopfen hören konnte? Auch Freunde konnten sich umarmen und wenn es hieß, dass wir schon Freunde waren, nahm ich das gerne an. Egal was Santi gesagt hatte, solange er mich nicht hasste, war es egal. Ich wurde den Gedanken jedoch nicht los, dass wir nie mehr als das sein würden. Auf Dauer würde ich das nicht aushalten. Ich genoss seine Nähe viel zu lange, dann löste ich mich von ihm: »S-santi, ich..ich muss nach Hause«, stotterte ich und machte mich auf den Weg zur Tür. Ja, er hatte mich umarmt. Ja, ich hatte gesagt, dass ich ihn nicht hassen konnte. Aber ich würde zu sehr auffallen, wenn ich länger bei ihm sein würde. Ich hatte mir diese Umarmung so sehr gewünscht, warum machte sie mich dann so traurig? -Santi- Khiai und ich hatten weder in der Pause, noch in der Nachhilfe viel gesprochen. Als die Stunde zu Ende war, hatte er sich schnell verabschiedet. Es machte mich traurig, aber ich konnte es auch nicht ansprechen. Khiai sagte mir, er kann mich nicht hassen, aber mochte er meine Umarmung etwas trotzdem nicht? War ich zu weit gegangen? »Santi?«, die Stimme einer Schülerin riss mich aus meinen Gedanken. »Ja?« Sie hielt mir ein Heft entgegen: »Ich glaube Khiai hat sein Heft vergessen.« Ich nahm es an mich, er hatte vorne sorgfältig seinen Namen draufgeschrieben. Für mich machte es jedoch keinen Sinn. Wieso brauchte er sein Heft in der Nachhilfe? Hatte er Hausaufgaben gemacht? Gedankenlos blätterte ich in diesem Heft, wo er einige Matheaufgaben hineingeschrieben hatte. Doch an einer Seite blieb ich hängen, denn dort stand: »Ich mag Santi.« Für einen kurzen Moment machte mein Herz einen Satz. Es stand nicht ein oder zweimal dort, sondern bestimmt hundertmal. Sauber geschrieben, wie ein Mantra. Ich mahnte mich zur Ruhe. Es war zwar sein Heft, doch es musste nicht heißen, dass er es geschrieben hatte. Und wie sollte ich das herausfinden? Allein bei der Vorstellung, dass es echt sein könnte, überschlugen sich meine Gedanken. -Khiai- Erst Zuhause fiel mir auf, dass ich mein Heft im Klassenraum vergessen hatte. Mir wurde heiß und kalt, wenn ich daran dachte, dass Santi sehen könnte, was darin stand. Wenn er das sah, war ich geliefert! Mein Puls erhöhte sich, als ich die Jacke wieder anzog, um mich auf den Weg zur Schule zu machen. Innerlich betete ich, dass es nicht schon zu spät war. Draußen war es schon dunkel, aber ich kannte den Weg, ohne hinsehen zu müssen. Daher rannte ich los. In meinem Kopf spielten sich Horrorszenarien ab, dass Santi mich verachten würde. Meine Ausdauer reichte nur bis zur nächsten Straßenecke, wo ich keuchend unter einer Laterne anhalten musste. Dann sah ich ihn. Spielte mein Gehirn mir etwa schon Streiche? War es eine Halluzination? Doch er sprach mich an: »Khiai, ist das dein Heft?«, Santi schien ähnlich außer Atem zu sein, wie ich. Panisch versuchte ich seinen Gesichtsausdruck zu deuten, doch es gelang mir nicht. Verdammt. Meine Vergesslichkeit würde mir jetzt zum Verhängnis werden. Wieso musste ausgerechnet er dieses dämliche Heft finden? »Du brauchst nicht mehr mit mir abzuhängen, Santi. Ich weiß, dass ich komisch bin«, redete ich vor mich hin und wandte mich ab. Das wars also. Ich konnte meine Tränen gerade noch zurückhalten, freundete mich mit dem Gedanken an, vermutlich bald umziehen zu müssen. -Santi- Seine Reaktion zeigte mir deutlich, dass er diese Worte geschrieben haben musste. Ich hatte es noch nicht einmal angesprochen und er war schon panisch geworden. Ich machte mehrere Schritte auf ihn zu, reichte ihm ein anderes Heft über die Schulter. Noch nie in meinem Leben hatte mich etwas so viel Überwindung gekostet. Als er es annahm, zog ich sofort meine Hand zurück. »Das ist mein Heft«, sagte ich und schluckte. Alles oder nichts. Wenn es jetzt nicht echt sein würde, gab es kein Zurück mehr. -Khiai- Unschlüssig hielt ich das Heft in den Händen, schlug es auf. Sofort kam mir dieser Satz entgegen: »Ich mag dich auch.« Vor Schreck ließ ich es beinahe fallen. Was? Das konnte nicht sein. Oder doch? Während mein Körper wieder erstarrte, rasten meine Gedanken. Ich ging alle Szenarien durch, doch es gab keins, in dem Santi genauso empfand wie ich. Träumte ich vielleicht? Nach einer gefühlten Ewigkeit, schaffte ich es, mich umzudrehen. Santi sah auf den Boden, spielte mit den Kordeln seiner Jacke. Ich wollte ihn nach diesem Satz fragen, brachte in meinem Zustand jedoch kein Wort raus. Aber ich musste und hatte auch schon eine Idee. -Santi- Ich sah zu, wie er nach meiner Schultasche griff, die ich abgestellt hatte und sich einen Stift herauskramte. Er wandte sich mit dem Heft ab und ich konnte nicht sehen, was er tat. Bis er sich wieder umdrehte und mir das Heft hinhielt. Unter meinem Satz stand das Wort: »Wirklich?« Kurz ging ich in mich, dieses eine Mal hatte ich die Chance, alles richtig zu machen. Ich atmete aus, sah ihm in die Augen und nickte. Dieser Moment unter der Laterne fühlte sich unwirklich, aber auch unglaublich gut an. -Khiai- Als ich sein Nicken sah, war es endgültig um mich geschehen. Die ganze Zeit hatte ich mit der Angst gelebt, dass er mich komisch finden würde, wenn er das erfuhr. Stattdessen empfand er genauso? Ich konnte es kaum glauben. Dieses stumme Geständnis machte mich glücklich und ich brachte ein unsicheres Lächeln zustande. Es war, als hätte mir jemand eine Last von den Schultern genommen, weil ich mich nicht mehr verstecken musste. Santi erwiderte mein Lächeln, breitete seine Arme aus, in die ich sofort hineinfiel. Dann hatte sich meine Vergesslichkeit ja doch gelohnt. Kapitel 6: Stille Herzen ------------------------ Als ich ein paar Wochen später mit Khiai zur Schule ging, beobachtete ich unsere Schatten, an diesem wunderschönen Sommermorgen. Es sah aus, als würden sie Händchen halten. Auch unsere Hände hatten sich ein paar Mal beiläufig berührt, doch diesmal verfingen sie sich ineinander. Lächelnd nahm ich es zur Kenntnis, konnte es immer noch nicht glauben. Wie hoch war schließlich die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns gegenseitig mochten? Wie lange wäre es noch weitergegangen, wenn er sein Heft nicht vergessen hätte? Das Gefühl, mit dem ich jetzt zur Schule ging, war eine Mischung aus Erleichterung, Glück und Liebe. -Khiai- Hätte mir jemand vorher gesagt, dass ich und Santi Händchenhaltend zur Schule gehen würden, wäre ich aus allen Wolken gefallen. Trotzdem war es unsere Realität geworden, die mich jeden Tag glücklich machte. Zum Glück brauchten Santi und ich nicht viele Worte und heute waren mir auch die Blicke der anderen egal, als wir den Schulhof betraten. Solange er mich mochte, konnte mich der Rest der Welt ruhig hassen. Als wir in der Klasse waren, räusperte der Lehrer sich: »Wie ihr wisst, ist das Experiment offiziell beendet. Ich hoffe ihr konntet eure Klassenkameraden dadurch ein bisschen besser kennenlernen. Ich werde gleich einen Zettel austeilen, auf dem ihr bitte eure Meinung zum Experiment aufschreibt.« Als wir den Zettel bekamen, grinsten Santi und ich uns an. Wenn es jemals eine brillante Idee gegeben hatte, dann dieses Experiment. Für uns war es auch beendet, doch unsere Pausen auf dem Schuldach blieben. Wir standen gemeinsam am Zaun, ließen den Blick über die Stadt schweifen. »Was hast du auf den Zettel geschrieben?«, wollte er wissen. »Dass es ein voller Erfolg war. Du?« »Auch.« -Santi- Aber ich hatte unsere Situation nicht nur dem Experiment zu verdanken, sondern gewissermaßen auch meiner Dummheit. Ich war unheimlich froh, dass ich mich überwunden hatte, ihn nach Hilfe zu fragen. Es fühlte sich an, als wäre alles genauso vorherbestimmt gewesen. Schicksal. Ich sah ihn an und er erwiderte meinen Blick. Kein verhuschtes Starren mehr, sondern ein selbstbewusster Blick. Ich versuchte mein lautes Herzklopfen zu ignorieren, als sich unsere Gesichter näherten. -Khiai&Santi- Wir überbrückten auch noch die letzte Distanz zwischen uns, genossen dieses unglaubliche Gefühl, als sich unsere Lippen berührten. Eine Kribbeln, welches uns durchfuhr. Etwas, dass niemand jemals für möglich gehalten hatte. Doch ein erfolgreiches Experiment hatte uns zusammengebracht, hatte es geschafft, zwei stille Herzen zu vereinen. Kapitel 7: Epilog ----------------- -Khiai- Es war schon die dritte Aufgabe, die Santi nicht verstand. Er war ein toller Mensch, aber ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben, dass er Mathe irgendwann verstehen würde. Frustriert legte er den Stift weg. »Khiai, warum magst du mich eigentlich?«, fragte er aus heiterem Himmel. Ich starrte die Aufgabe an, bis ich die Zahlen auswendig konnte. Ich hatte mir geschworen, es ihm zu erzählen, wenn es jemals dazu kommen würde. »Vor einem Jahr hast du mir geholfen. Als Leute aus einer anderen Klasse mich geärgert haben, hast du so getan, als wären wir Freunde.« Ich musste nicht eine Sekunde über diese Worte nachdenken, sooft hatte ich sie mir schon zurechtgelegt. Er lachte: »Ich habe nicht so getan, ich mochte dich damals schon!« Ich stimmte in sein Lachen ein und wusste, dass die Matheaufgaben heute unwichtig sein würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)