Von Hoffnung und Verrat von _Micawber_ ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Eivor schreckte schweißgebadet hoch. Das helle Licht der Morgensonne brannte in ihren Augen, während sie realisierte, dass sie nur geträumt hatte. Mit müden Augen musterte sie den Kerzenleuchter an der Decke, versuchte, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es fiel ihr noch schwer, sich an den Traum zu erinnern. Das alles war so real und doch so unwirklich, dass sie einige Zeit brauchte, um ihre Gedanken zu sortieren. Seit sie vor einigen Monaten in Hræfnathorp angekommen waren, hatte sie wenige Träume wie diesen gehabt. Eivor richtete sich auf, setzte sich auf den Bettrand und rieb sich die Augen. Sie fühlte sich ungewöhnlich müde und erschöpft. So in ihre Gedanken vertieft, bemerkte sie nicht, wie es leise anklopfte. „Eivor, darf ich reinkommen?“ „Randvi... sicher. Was... ist los?“ Eivor schüttelte den Kopf und mit ihm die Gedanken fort und sah zu Randvi hoch, die nun vor ihrem Bett stand. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte diese besorgt. Die Bindung zwischen Eivor und ihr war noch stärker geworden, seit sie hier in England angekommen waren. Sie hatten immer ein offenes Ohr füreinander und bemerkten schnell, wenn es der anderen nicht gut ging. „Darf ich mich setzen?“ Eivor antwortete ihr bloß mit einem Nicken und blickte dann wieder Richtung Boden. Randvi setzte sich. Das Schweigen, das zwischen den beiden lag, gefiel ihr nicht. Es musste etwas Ernstes sein, wenn Eivor so in sich gekehrt war. „Was ist passiert? Hast du wieder geträumt?“ Eivor nickte still. Randvi hatte bereits genug um die Ohren, sie wollte sie nicht auch noch mit ihren Träumen belasten. Doch konnte sie es ihr auch nicht vorenthalten. Früher oder später musste sie darüber reden. Auch, wenn sie befürchtete, dass dies kein guter Zeitpunkt war. Randvi kam nie so früh in ihre Schlafkammer, wenn nicht etwas gewesen wäre. „Ich will dich nicht drängen, aber du kannst es mir sagen, Eivor.“ Einen Moment lang schwieg Eivor. Doch dann konnte sie dem nicht länger standhalten. „Ich... sah Vater. Er stand einfach so da. Mit seiner Axt. Er starrte mich an, als wäre... als wäre ich es gewesen, die Mutter erschlagen hat.“ Eivor versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern. „Es war so viel Hass und Kälte in seinem Blick. Ich rief nach ihm... doch er stand einfach nur da und sagte nichts. Ich ging auf ihn zu... streckte meine Hand nach ihm aus... «Du hast uns alle verraten!!» hat er mir entgegen gebrüllt und erhob seine Axt gegen mich... dann wachte ich auf.“ Eivor schluckte hörbar. Es war wieder einer dieser Momente, in dem sie sich so schwach und hilflos fühlte. Sie wusste diesen Traum nicht zu deuten. Ihr Vater selbst war es doch, der Kjötvi so bereitwillig sein Leben anbot. Und er selbst trug doch die Schuld daran, dass ihre Mutter und der gesamte Clan aufs Abscheulichste abgeschlachtet wurden. Wäre Sigurd nicht gewesen, wäre sie mit ihnen gestorben. War es das, was ihr Vater wollte? War es das Schicksal, das ihr eigentlich vorbestimmt war? Der Gedanke daran brachte ihren Kampfgeist zurück. „Das klingt furchtbar... Ich schlage vor, du solltest mit Valka darüber sprechen. Sie weiß sicher Rat.“ Randvi legte beschwichtigend ihre Hand auf Eivors Schulter. Sie wusste, dass sie in diesem Moment nicht mehr tun konnte, als Eivor zu beruhigen. „Ich werde euch niemals verraten, falls es das ist, was er mir sagen wollte. Ich bin nicht wie er!“ Eivor wischte sich verärgert durchs Gesicht. Randvi hatte Recht. Es war wohl das beste, ihre Gedanken mit der Seherin zu teilen. Valka wusste immer Rat, wenn ihre Träume so unklar und falsch erschienen. Sie würde später mit ihr reden. „Eivor... Sunnifa schickt mich. Unten, bei der Flusssperre, wurde ein Mädchen gefunden. Sie kroch im Gebüsch umher und suchte offenbar nach etwas. Sigurd glaubt, dass sie eine Späherin ist, die uns beobachten sollte. Die Männer haben sie zunächst nur beobachtet, aber sie näherte sich Hræfnathorp schnell. Als Dag sie gefangen nahm, schrie sie und trat um sich, als hätte Loki selbst von ihr Besitz ergriffen. Sunnifa bittet darum, dass du sie dir einmal ansiehst. Sigurd ist auch bereits bei ihr. Sie sind unten bei der Anlegestelle.“ „Ich gehe sofort, Randvi.“ Eivor erhob sich und lockerte mit einer gekonnten Kopfbewegung ihre Nackenmuskulatur. Sie rechnete damit, gleich eine wichtige Entscheidung treffen zu müssen, weshalb sie sich nun noch einmal dazu zwang, ihre Gedanken an den Traum vorerst zurück zu stellen. Randvi nickte ihr dankend zu. Eivor griff sich ihren Mantel und ihre Axt und machte sich gemeinsam mit Randvi auf den Weg zur Anlegestelle. Dort angekommen, fand sie Sigurd und einige Krieger lautstark streitend vor. Sie standen im Kreis um etwas herum, das sie von hier aus noch nicht sehen konnte. Einige spuckten darauf, andere traten es. Je näher sie der grölenden Menge kam, desto finsterer wurde ihr Blick. Was ging da vor sich? „Sigurd!“, brüllte sie, während sie die letzten Schritte tat und nun direkt hinter ihrem Bruder stand. „Was ist hier los?!“ „Eivor, da bist du ja. Wir fanden eine Späherin nahe der Flusssperre. Dag will ihr den Schädel spalten. Ich sage, wir schicken sie dahin zurück, wo sie hergekommen ist.“ Eivor schob Sigurd zur Seite. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie erschaudern. Vor ihr lag das Mädchen, das Randvi erwähnt hatte. Sie war voller Blut, ihre Männer hatten sie gefesselt und ihr ein altes Stück Stoff in den Mund gesteckt. Sie hatte panische Angst und weinte, versuchte teilweise zu schreien. Ihre Augen suchten Hilfe bei Eivor, die sie nun wahr nahm. Noch immer traten die Männer sie und spuckten auf sie. Eivor blickte um sich. Sigurd stand einfach da, während sich die Krieger darum stritten, wer als nächstes dran war, das Mädchen zu traktieren. Aus einem Grund, den sie selbst nicht erfinden konnte, machte sie der Anblick rasend. Ihre Männer verhielten sich wie wilde Tiere, die kopflos ihren Instinkten folgten. Eivor brüllte los. „Aufhören! Ihr alle! Sofort!“ Sie zog ihre Axt und stellte sich ihrer Mannschaft gegenüber. Das Mädchen schützend hinter ihr. Einen nach dem anderen traf Eivors wütender Blick, während sie überrascht zurück wichen. „Gut hast du diese Männer im Griff, wenn ich nicht da bin“, presste sie an Sigurd gewandt hervor. Dann viel ihr Blick zurück auf die Mannschaft. „Wer hat euch den Befehl gegeben, ein junges, wehrloses Mädchen dermaßen zu behandeln?!“ Eivor hob die Axt, während sie jeden einzeln ansah. „Dag hat angefangen...“, murmelte Erik, einer von Eivors besten Kriegern. Das dachte sie zumindest. Ihr Blick fiel auf Dag. Sie hob ihre Axt und hielt sie ihm direkt an die Kehle. Das Mädchen hinter ihr wimmerte leise vor sich hin. „Dag. Warum bist es bloß immer du, der die Schuld an solchen Dingen trägt, wenn ich nicht da bin?“ Eivor funkelte ihn wütend an. Es kochte in ihr. Sie war so rasend, dass sie kaum noch klar denken konnte. Schnaubend presste sie ihre Axt noch fester gegen Dags Kehle, sodass dieser kurz nach Luft rang. „Du hast mich oft genug hintergangen. Hast meine Befehle missachtet, weil du dich für schlauer hieltest. Wo Sigurd dir immer wohlgesonnen war, hinterfragte ich deine Taten und Gedanken. Du konntest nie akzeptieren, dass ich dich befehlige. Und nun stehst du hier und schindest ein junges Mädchen?! Deine Alleingänge enden hier.“ Eivor schloss kurz die Augen. So vieles schoss ihr in den Sinn. So vieles, was Dag ihr angetan hatte. Nur zu oft hatte er sie vor der ganzen Mannschaft bloß gestellt, hatte Geschichten verbreitet, die nicht der Wahrheit entsprachen. „Eivor...“, Sigurd hob mahnend die Hand. Er ahnte, was gleich passieren würde. Doch konnte er es nicht mehr abwenden. Eivor trat einen Schritt zurück, riss ihre Axt hoch und trieb sie Dag in den Schädel. Wieder und wieder, und mit jedem Schlag, den sie tat, schrie sie. Blut spritzte ihr ins Gesicht, doch das hielt sie nicht davon ab, noch weiter zuzuschlagen. Randvi stand neben Sigurd, die Hände entgeistert vor ihrem Gesicht. Sigurd selbst stand einfach da, mit geschlossenen Augen und wartete, bis Eivors Rausch sich legte. Er wusste, dass er sie in diesem Zustand nicht halten konnte. Und er wusste auch, wie sehr Eivor auf diesen Tag gewartet hatte. Dag war ein guter Krieger, doch hatte er auch Sigurd gegenüber nicht immer den nötigen Respekt gehabt. Eivors Schläge wurden langsamer, schwächer, bis sie gänzlich aufhörten. Sie atmete schwer, während sie sich das Blut aus dem Gesicht wischte und sich erschöpft auf ihre Axt stützte. Niemand um sie herum wagte es, die Stimme zu erheben. Entsetzen lag in der Luft. Einzig das leise Wimmern des Mädchens war zu hören. Eivor richtete sich auf, blickte noch einmal auf Dags Überreste herab und drehte sich wieder zu dem Mädchen um. Seine panischen Blicke und Laute trafen Eivor. Sie kniete sich zu ihr herunter und konnte sie nun zum ersten Mal richtig sehen. Ihre blonden, langen Haare klebten in ihrem blutverschmierten Gesicht. Sie war schlank, durch ihr zerrissenes Lederoberteil konnte Eivor jedoch einen Muskelansatz erkennen. Ihre Hose, ebenfalls aus Leder, war genauso kaputt, wie der Rest ihrer Kleidung. Sie hatte einen Schuh verloren. Eivor schätzte, dass sie ungefähr in ihrem Alter war. „Ruhig, Kleine. Ich entschuldige mich zutiefst für das, was meine Männer dir angetan haben.“ Eivor redete leise und beruhigend auf sie ein. „Kannst du mich verstehen?“ Das Mädchen schaute sie panisch an, in ihren blauen Augen spiegelte sich die Angst, sie zitterte stark. Ihr Blick wanderte an Eivor vorbei zu den Kriegern, die noch immer schweigend da standen und sie anstarrten, als wäre sie Schlachtvieh. Eivor bemerkte dies und drehte sich zu ihren Männern um. „Geht! Um euch kümmere ich mich später!“, befahl sie harsch. Die Krieger folgten ihrer Anweisung und verschwanden. Einzig Sigurd und Randvi blieben. Eivor wandte sich wieder dem Mädchen zu. Als sie die Hand hob, um ihr den Stoff aus dem Mund zu nehmen, schrie sie wieder panisch auf. „Ganz ruhig, ich will dir bloß das Ding da abnehmen.“ Eivor gelang es, den Stofffetzen zu entfernen. Sie trat einige Schritte zurück, um das Mädchen nicht noch mehr zu verunsichern. „Mein Name ist Eivor. Verrätst du mir deinen?“ Eivor versuchte es mit einem Lächeln und kniete sich wieder hin, sie hielt jedoch weiterhin Distanz zu dem Mädchen. Allmählich schien sie sich etwas zu beruhigen. Ihr Zittern wurde weniger, sie versuchte sogar, sich aufzusetzen, was ihr aufgrund der Fesseln allerdings schwer gelang. Eivor bemerkte dies. „Vielleicht fühlst du dich wohler, wenn ich dir die Fesseln abnehme. Darf ich?..“ „Eivor, hältst du das wirklich für eine gute Idee?“, brachte Randvi unruhig hervor, doch Eivor bedeutete ihr mit einem Zischen, ruhig zu sein. Das Mädchen blickte Eivor noch immer misstrauisch an, hielt ihr dann aber vorsichtig die Hände hin, um sich befreien zu lassen. Ruhig schnitt Eivor mit ihrer Axt das Seil durch und trat dann wieder zurück. Verunsichert rieb sich das Mädchen die Handgelenke. Eivors ruhige Worte schienen sie ein wenig Vertrauen schöpfen zu lassen. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Doch dann sprach sie mit brüchiger Stimme die ersten Worte. „Danke. Ich... ich heiße Eysa. Ich musste aus meiner Heimat fliehen.“ Das Sprechen schien ihr schwer zu fallen. „Eysa. Und woher kommst du?“ Eivor sprach ruhig und gelassen weiter. „Du sagtest, du musstest fliehen. Vor wem?“ „Er hieß... Gorm... Gorm... Kjötvisson. Er hat meine Heimat eingenommen und... und alle unterworfen. Auch meine Eltern... sie schickten mich mit einem Schiff fort. Allein. Zwar bin ich 23 Winter alt, doch ich war noch niemals ohne sie. Was wohl aus ihnen geworden ist...?“ Sie senkte traurig den Blick. „Sagtest du Gorm Kjötvisson?!“, fragte Eivor fassungslos. Eysa nickte. „Wo ist diese Heimat, von der du sprachst?“ „Finnland.“ Eivor schloss erbost die Augen. Finnland. Dorthin war er also gegangen. Ihre Erinnerungen an Gorm und dessen Clan holten sie ein. Wie sie nach langen Jahren des Krieges endlich seinen Vater erschlug und Gorm wie eine feige Ratte einfach davon lief. Wie er versucht hatte, sie in Norwegen vor König Harald der Hinterlist zu bezichtigen. Und wie froh sie war, ihn seit diesen Tagen nicht mehr gesehen zu haben. „Kennst du ihn?“, fragte Eysa, die mittlerweile etwas ruhiger geworden war. Eivor blickte zu Sigurd. Er schüttelte wortlos den Kopf und blickte sie zornig an. Sollte sie Eysa von ihm erzählen? Sie war eine Fremde, die auf äußerst fragwürdige Weise zu ihrem Clan gefunden hatte. Und doch hatte sie auch unter ihm leiden müssen. Sigurd erhob die Stimme. „Ich denke, wir sollten uns drinnen unterhalten, Eivor. Lass dieses Mädchen gehen, wohin sie will. Ich erwarte dich im Langhaus.“ Er warf Eivor einen warnenden Blick zu und verschwand. Randvi folgte ihm. „Was wirst du mit mir tun... Ei-vor?“ Eysa wirkte hilflos. Eivor konnte sie nicht einfach sich selbst überlassen. Nicht nach dem, was sie durchgemacht hatte. Ihre Gedanken bereiteten ihr Kopfschmerzen. Sie hier zu behalten würde Sigurd und dem gesamten Clan erheblich missfallen. Vielleicht würden sie sogar so weit gehen, Eysa in einer unbeobachteten Stunde zu töten. Sie gehen zu lassen, wäre jedoch wohl ebenfalls ihr Todesurteil. Die Diebe und Söldner in dieser Gegend würden sie misshandeln und dann einfach dem Tod überlassen. Konnte sie das zulassen? Damals, in ihrer dunkelsten Stunde, hatte man Eivor auch geholfen. Ohne diese Hilfe wäre sie jetzt nicht mehr am Leben. Sie fasste einen Entschluss. „Komm mit mir Eysa, ich zeige dir, wo du dich waschen und dir neue Kleidung holen kannst. Du kommst vorerst bei mir unter.“ Eivor half Eysa hoch und stützte sie, als sie sich auf den Weg zum Langhaus machten. Kapitel 2: ----------- „Nein! Nein, das geht zu weit!“ Sigurd tobte, als er sah, wie Eivor das fremde Mädchen in ihren Schlafraum brachte. Randvi versuchte, ihn zu beruhigen. „Lass uns erst einmal mit Eivor allein darüber reden, ich denke nicht, dass die Fremde das mitbekommen sollte. Wer weiß, warum sie hier ist.“ Sigurd schnaubte wütend, während er ungeduldig im Raum auf und ab ging. Er wusste, dass Eivor ihren eigenen Kopf hatte, doch noch war er der Jarl und noch dazu hatte er das gesamte Dorf im Hintergrund, das dem Neuankömmling genau so skeptisch gegenüber stand. „Eivor! Komm sofort zu mir!“, hallte seine Stimme durch das Langhaus. Eivor half Eysa indes auf ihr Bett. „Bleib hier und sag kein Wort, ich komme wieder, nachdem ich mich dem Sturm gestellt habe.“ Eysa nickte und sah sich im Raum um, während Eivor verschwand. Sie betrachtete sämtliche Jagdtrophäen und Waffen, die zur Dekoration und auch als Andenken an Eivors große Kämpfe überall an den Wänden hingen. Sie musste wirklich eine große Kriegerin sein. Und eine gutherzige noch dazu. Eysa musste lächeln. Obwohl sie wusste, dass niemand sie hier haben wollte. Außer Eivor. Und was konnten ihr die Menschen schon anhaben, wenn sie unter dem Schutz einer solchen Kriegerin stand? Laute Stimmen durchbrachen plötzlich die Stille. „Ich halte sie für eine Späherin, Eivor!“ Sigurd schlug mit der Faust auf den Tisch und sah Eivor wütend an. „Warum sollte sich eine Späherin so verhalten? Sunnifa hat sie ohne große Mühen ausfindig machen können und Dag hat sie gefangen genommen. Ein guter Späher ist nicht so leichtsinnig“, gab Eivor gelassen zurück. „Sei es drum! Diese Geschichte... ich halte sie für äußerst ungewöhnlich. Nehmen wir an, es stimmt, was sie sagt und sie ist geflohen. Warum kommt sie ausgerechnet hier an? Bei uns? So nahe bei Hræfnathorp?“ „Warum sind wir damals hier, genau hier angekommen? Es ist der übliche Weg vom offenen Meer ins Inland. Diesen haben wir genommen. Und so auch sie.“ Eivor verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir wollten zu den Ragnarssons stoßen, die hier ihr Lager aufgeschlagen hatten! Das ist ein Unterschied!“ Sigurd war rasend vor Wut. Warum war Eivor bloß immer so blind für das offensichtlich Ungewöhnliche? „Die Menschen im Dorf trauen ihr nicht, Eivor. Und Randvi und ich auch nicht. Das muss ich als Jarl durchaus bedenken. Wenn ich dir das durchgehen lasse, wenn wir sie hier beherbergen, dann ist das ein großer Vertrauensbruch von mir an den Clan. Bitte, versteh das.“ Sigurds Stimme wurde erheblich ruhiger. Er hoffte, so zu Eivor durchdringen zu können. „Schick sie fort, Eivor. Ich weiß, was du denkst. Du willst ihr helfen, weil du dich und deine Vergangenheit in ihr siehst. Du hast Ähnliches durchmachen müssen und das war schrecklich. Aber wir können nicht jedem unser Vertrauen schenken, der hier einfach so auftaucht.“ Es war Randvi, die das sagte. Eivor sah zu Boden. Sie konnte das nicht. Dieses Mädchen hatte etwas. Sie konnte noch nicht sagen, was es war. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass sie sie nicht wegschicken durfte. „Sigurd... Randvi... ich verstehe, was ihr sagt. Aber ich kann das nicht tun. Ich kann sie nicht wegschicken.“ Eivor wandte sich nun Sigurd zu. „Sie hat etwas an sich. Sigurd, ich bitte dich als mein Jarl und als mein Bruder... lass sie mich aufnehmen. Ich trage die volle Verantwortung, wenn etwas passiert.“ Sigurds und Randvis Blicke trafen sich. Beide atmeten tief ein, unsicher, was sie nun tun sollten. Es war riskant, doch Eivors Urteilsvermögen über Menschen hatte sie alle noch nie getrübt. Und Sigurd wusste das. Er atmete noch zwei, drei Mal tief ein und aus, bevor er Eivor mit ernstem Blick musterte und sagte:„Du redest mit den Menschen da draußen. Du sorgst dafür, dass sie sich nicht unsicher fühlen müssen. Und du sorgst auch dafür, dass sie keine Probleme macht. Ich vertraue dir, Eivor. Enttäusch mich nicht.“ Eivor nickte dankend. „Das werde ich nicht, Bruder. Glaub mir.“ Sie verließ den Raum ohne ein weiteres Wort und kehrte direkt zurück zu Eysa. „Komm mit mir. Wir gehen dich waschen.“ Eysa nickte dankend und folgte Eivor nach draußen. Sie hatte nicht damit gerechnet, so schnell aufgenommen zu werden. Wenigstens von einer Person. Während sie den Weg zum Fluss entlanggingen, trafen Eysa viele, argwöhnische Blicke. Sie sagte nichts, sondern schenkte den Menschen im Dorf ein verlegenes Lächeln. Sie wollte wohl einfach die Spannungen zwischen ihr und den Menschen so klein wie möglich halten. „Nimm dir ihre Blicke nicht zu Herzen. Ich werde später mit ihnen reden... So, da wären wir. Du kannst dich hier waschen. Ich bleibe in deiner Nähe, wenn es dir nichts ausmacht?“ „Nein, das ist schon in Ordnung“, murmelte Eysa, während sie etwas versteckt hinter einem Baum begann, ihre Kleidung auszuziehen. Das Wasser war angenehm kühl auf ihrer Haut. Hier in England war es so viel wärmer als in ihrer Heimat. Sie ließ sich im kühlen Wasser treiben und blickte gen Himmel. Auch, wenn sie sich noch unsicher fühlte, versuchte sie, ihre Gedanken zu beruhigen. Die Überfahrt hierher war lang und das Wetter auf dem offenen Meer rau gewesen. So wie jetzt hatte sie den Himmel schon lang nicht mehr gesehen. Wenig wolkenverhangen und tiefblau. „Eivor?“, fragte sie, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden. „Was ist?“ „Dieser Rabe dort oben, er fliegt die ganze Zeit über uns. Glaubst du, das ist ein schlechtes Zeichen?“ Eivor lachte amüsiert und schüttelte den Kopf. „Nein, das ist Synin. Sie gehört zu mir... Ich kann durch sie sehen.“ Nun hob Eysa doch den Kopf. „Durch sie sehen? Du meinst, so wie Odin?“ „Nun... ich denke, das könnte man so vergleichen, ja.“ Eysas Neugierde war geweckt. „Das möchte ich auch können. Zeigst du es mir?“ Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie wohl zu viel verlangt hatte. Ob es Misstrauen in Eivor weckte, wenn sie sie bereits jetzt nach solchen Dingen fragte. Doch Eivor lachte nur entspannt. „Ich kann es versuchen. Aber jetzt muss ich erst einmal zu Valka. Also... falls du fertig bist?“ Eysa nickte und stieg aus dem Wasser. Das Nötigste bedeckte sie noch mit ihrer alten Kleidung, als sie sich auf den Weg zurück zum Langhaus machten. „Darf ich fragen, wer Valka ist?“, fragte Eysa mit zitternden Lippen. So nass und ohne Kleidung fror sie nun doch etwas. „Valka ist unsere Seherin. Sie hilft mir bei... bei etwas Persönlichem.“ Eivor senkte den Kopf. Sie wollte nicht, dass die Erinnerungen an den Traum wieder hoch kamen. Nicht jetzt. Hier war nicht der richtige Zeitpunkt. Beim Langhaus angekommen, bedeutete Eivor Eysa, hinein zu gehen. „In meinem Schlafraum findest du eine Kiste neben dem Bett. Dort drin sind Kleidung und Stoffe, damit du dich trocknen kannst. Bedien dich ruhig und ruh dich etwas aus. Ich komme wieder, nachdem ich mit Valka geredet habe.“ Eysa nickte unsicher. Es war befremdlich, einfach so an die persönlichen Dinge anderer zu gehen. Besonders, wenn man die Person nicht länger als einige Stunden kannte. Doch Eivor schien das nicht zu stören. Sonst hätte sie es wohl kaum angeboten. Sie betrat das Langhaus. Allein. Am Ende der Halle erkannte sie den Jarl der Siedlung. Wie hieß er noch? Sigurd, glaubte sie. Und eine Frau. Randvi? Sie unterhielten sich und gestikulierten wild herum. Eysa konnte nicht verstehen, was sie sagten. Sie wollte jedoch auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der beiden auf sich ziehen und schlich schnell weiter in Eivors Schlafraum. Es war ihr immer noch unheimlich, in der Kleidung zu wühlen, doch fand sie einige Stücke, die ihr gut gefielen. Gewaschen und angezogen fiel sie in Eivors Bett. Ursprünglich hatte sie vor gehabt, sich hier noch einmal genauer umzusehen, doch wie sie so da lag, überkam sie die Müdigkeit. Eysa schlief ein. Kapitel 3: ----------- „Ich sehe es als eine Art Warnung an, Eivor. Ein Hinweis. Du solltest vorsichtig sein.“ Valka rieb sich nachdenklich das Kinn. Eivor hatte ihr von ihrem Traum erzählt. Ein merkwürdiger Traum, jedoch mit einer klaren Botschaft, wie sie fand. „Eine Warnung? Aber wovor?“ Eivor verstand nicht. Vielleicht wollte sie das auch nicht. Was könnte so furchtbar sein, dass ihr Vater sie auf diese abscheuliche Art und Weise davor warnen wollte? „Bist du sicher, dass du das richtig deutest?“ Sie sah Valka skeptisch an. Diese schwieg zuerst und musterte Eivor mit einem starken Blick. Sie wollte ihr die Zeit geben, selbst darüber nachzudenken und vielleicht eine Antwort zu finden. Doch Eivor schüttelte nur kurz den Kopf und zog die Schultern hoch. „Erzähl mir von dem Mädchen, das heute Morgen hier ankam.“ „Valka, bitte nicht auch noch du.“ Wieder Stille. Eivor hatte damit gerechnet, dass auch Valka Eysa gegenüber skeptisch war. Sie tauschten kurze Blicke aus. Eivor wusste, dass sie nicht umhin kam, sich vor Valka für ihre Entscheidung zu rechtfertigen. Sie setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke und atmete hörbar ein und aus. Dann begann sie, Valka alles zu erzählen. „Ihr Name ist Eysa. Sie zählt 23 Winter und kam aus Finnland hier her. Geflohen vor Gorm. Kannst du dir das vorstellen? Dieser miese Hund! … Nun, jedenfalls... als ich sah, was Dag und die anderen mit ihr machten, da konnte ich nicht wegsehen. Ich fühlte mich in der Verantwortung, etwas zu tun. Ihr einen Platz bei mir anzubieten erschien mir das mindeste, das ich für sie tun konnte. Ich glaube... sie erinnerte mich ein wenig an mich selbst. Als Kjötvi mich damals verkaufen wollte fühlte ich auch diese Angst. Diese Angst, nie wieder ein Zuhause zu haben, vielleicht sogar zu sterben. Von jedem gehasst und wie Vieh behandelt zu werden. Wären sie damals mehr Männer gewesen, wäre ich heute nicht hier... denke ich. Ich musste sie mit ins Langhaus nehmen. Ergibt das... irgend einen Sinn für dich?“ Valka nickte nachdenklich. Sie bemerkte, dass es Eivor schwer viel, darüber zu reden. Umso mehr hoffte sie nun, dass die Nornir etwas Licht in das Dunkel bringen konnten. Sie schloss langsam die Augen und hörte in sich hinein. Valka verließ sich stets auf das, was die Nornir ihr vorgaben. Es offenbarten sich ihr einige Dinge, die sie jedoch zweifeln ließen. In ihrer Vision sah sie große, dunkle Wolken über Hræfnathorp aufziehen. Sie sah, wie immer mehr Menschen in das Dorf strömten, ob Freund oder Feind konnte sie nicht sicher sagen. Es war laut und hektisch. Sie sah Raben, viele Raben, die zu Boden gingen. Labten sie sich an Toten? Sie konnte es nicht erkennen. Zwischen all dem sah sie Eivor. Klar und deutlich. Sie lag auf dem Boden, hatte ihre Axt in der Hand. Sie blutete stark. Es musste eine große Verletzung sein. Welche, blieb Valka zu sehen verwehrt. Es wirkte immer mehr, als würde ein Kampf stattfinden. Immer wieder sah sie Eivor, die sich durch die Massen schleppte. Sie wirkte verzweifelt. Es schien, als suche sie jemanden. Dann, plötzlich, war es still. Totenstill. Valka riss die Augen auf und legte eine Hand auf ihre Brust, während sie nach Luft rang und beinahe zusammen brach. „Was ist?!“ Eivor sprang auf um sie zu stützen. „Valka, sprich mit mir! Was hast du gesehen?“ Die Seherin stützte sich auf ihren Tisch. Es dauerte einige Zeit, bis sie wieder in der Realität ankam. „Es geht schon. Danke Eivor.“ Einen Moment lang sammelte sie sich. Sie musste wieder zu Atem kommen. Visionen solcher Art hatte sie nicht oft. Und wenn, dann verhieß dies zumeist nichts Gutes. Sie wandte sich zu Eivor um. „Die Nornir zeigten mir das Dorf. Menschen. Viele Menschen. Und dich, Eivor. Doch diese Vision war nicht erfreulich. Sie war dunkel. Bösartig.“ Eivor hörte angespannt zu. Sie wusste genau so wie Valka es tat, dass dunkle Visionen oft der Wahrheit entsprachen. Es gab bisher nur wenige, die nicht eintraten. „Das Mädchen, Eysa, sah ich nicht. Aber ich bitte dich, Eivor. Du musst vorsichtig sein. Eine solche Offenbarung müssen wir ernst nehmen. Du solltest mit Randvi und Sigurd darüber sprechen.“ Eivor schüttelte sofort den Kopf. „Das kann ich nicht, Valka! Sie werden es mit Eysa in Verbindung bringen und dann... dann...“ „Ich bitte dich, Eivor. Du solltest alles in Betracht ziehen“, unterbrach Valka sie. „Warum bist du Eysa so zugetan? Warum bist du ihr so zugetan, dass du sogar einen deiner besten Männer erschlugst?“ „Dag hat nicht auf meinen Befehl hin gehandelt! Er hat ihn sogar missachtet! Er hatte den Befehl, Hilflosen nichts anzutun!“, verteidigte sich Eivor. „Und doch wollte er den Clan schützen, in dem er lebt. Bitte sei vorsichtig, Eivor. Lass dich nicht von deinen persönlichen Gefühlen übermannen. Denn sonst bist du oft blind für das Offensichtliche.“ Eivors fassungsloser Gesichtsausdruck prallte an Valka ab wie ein Pfeil an einem Stahlschild. Sie wusste, dass sie Eivor oft nur mit gnadenloser Ehrlichkeit die Augen öffnen konnte. Und sie musste sich darauf verlassen, dass ihre Worte an sie deutlich genug waren. Auch, wenn Eivor nun wortlos ihre Hütte verließ. Sie wusste, nicht lang und sie würde wieder kommen. Und bis dahin würde Valka sich selbst ein Bild von Eysa machen. Um den Clan zu schützen, um Eivor zu schützen und um immer auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Kapitel 4: ----------- Ihre Gedanken und Valkas Vision und Worte hielten Eivor die ganze Nacht wach. Es fiel ihr schwer es sich einzugestehen, doch vielleicht hatten die anderen Recht. Wie konnte sie sicher sein, dass Eysa wirklich nur zufällig herkam? Und wie konnte sie sicher wissen, dass Valkas Vision nichts mit ihrer Ankunft in Hræfnathorp zu tun hatte? Das konnte sie nicht. Sie hatte aus einem Gefühl, einer Laune heraus gehandelt. Und sie hatte ihretwegen Dag erschlagen. Vor den Augen der Mannschaft und vielen anderen ihres Clans. Ihre Tat brachte ihr viel Spott ein und es machte sich Unmut breit, ob Eivor geeignet war, die Krieger weiter anzuführen. Glücklicherweise hatte Sigurd sich noch am Vorabend darum gekümmert und eine Versammlung einberufen, bei der sie selbst jedoch nicht dabei war. Und das, obwohl er sie damit beauftragt hatte. Sie fragte sich, ob sie so viel Loyalität überhaupt verdient hatte. Sie selbst hatte Sigurds Befehl, Eysa fort zu schicken, vorsätzlich missachtet, sie sogar mit ins Langhaus gebracht, obwohl er ausdrücklich dagegen war. Und anstatt sich um die Menschen im Dorf zu kümmern, hatte sie den Nachmittag bei Valka verbracht, um sich ihre eigenen Sorgen und Probleme von der Seele zu reden. In Momenten wie diesen fühlte sie Überforderung und Hilflosigkeit in sich aufsteigen. Als Anführerin der Krieger und als Beraterin des Jarls sollte sie sich verantwortungsvoll verhalten und nicht ihren eigenen Willen vor den aller anderen stellen. Doch wer interessierte sich eigentlich für ihren Willen? „Ich tue das. Du bist nicht umsonst meine größte Stütze. Und wenn es dein Wunsch ist, Sunnifa zu deiner Jomswikingerin zu machen, dann gebe ich dem natürlich statt.“ Sigurds Stimme hallte in ihren Gedanken wieder. Sie hatte schon einmal diesen schwachen Moment gehabt, in dem sie sich missverstanden fühlte. Und auch hier war Sigurd ihr gegenüber loyal gewesen. Das schlechte Gewissen setzte ihr in dieser Nacht erheblich zu. Sie fühlte sich allein. „Ist alles in Ordnung, Eivor?“, fragte plötzlich eine Stimme in die Dunkelheit. Eivor schreckte hoch und griff instinktiv nach ihrer Axt, die immer neben ihrem Bett lag. Im fahlen Mondlicht, dass durch ein Fenster schien erkannte sie jedoch, dass es Eysa war, die das sagte. Diese hielt abwehrend die Hände in die Luft. „Eivor! Ich bin es, Eysa!“ Ihre Augen weiteten sich. Auch sie sah Eivor nur schemenhaft. „Eysa, bitte entschuldige... ich... war in Gedanken.“ Eivor legte die Axt beiseite und setzte sich auf. Sie hatte Eysa erlaubt, vorerst in ihrem Bett zu schlafen, bis sie eine andere Möglichkeit gefunden hatte. Eysa hatte sich daraufhin an das Fußende gelegt. Auch sie setzte sich nun auf. Sie konnte sehen, dass Eivor etwas beschäftigte. „Ich weiß, du möchtest es vielleicht nicht und das könnte ich auch verstehen, weil ich dir fremd bin. Aber... möchtest du darüber reden?“ Eivor hielt kurz inne. Ein Gefühl wie dieses hatte sie lang nicht mehr. Eysas Worte klangen so ehrlich. So besorgt. Obwohl sie sich noch fremd waren, hatte Eivor das Gefühl, mit einer Freundin zu reden. Sie konnte sich diesen Umstand nicht erklären, doch hatte sie insgeheim irgendwie gehofft, sich jemandem anvertrauen zu können. Eysa bemerkte die Unsicherheit von Eivor. Sie nahm sich heraus, einfach weiter zu reden. „Ich möchte mich bei dir bedanken, Eivor. Es tut mir leid, dass ich das jetzt erst tue. Du warst bloß so beschäftigt. Was du heute für mich getan hast... das hat noch nie jemand vor dir getan.“ Sie hielt kurz inne. Eivor hörte ihr aufmerksam zu. „Bevor Gorm nach Finnland kam und ich fliehen musste, da hatte ich niemanden. Nur meine Eltern. Ich tat viel für das kleine Dorf, in dem ich lebte. Ich kümmerte mich um das Vieh, sorgte dafür, dass am Dorfbrunnen immer gefüllte Wassereimer standen und half jeden Sommer fremden Bauern bei der Ernte. Und niemals hat mir jemand dafür gedankt. Ich will auf gar keinen Fall anmaßend sein... aber seit ich hier bin, behandeln dich alle schlecht. Alle reden darüber, dass du diesen Krieger erschlagen hast. Aber niemand zeigt dir seine Anerkennung, dass du mir das Leben gerettet hast, nur weil sie mich für eine Bedrohung halten. Ich kenne dich kaum, aber in den letzten Stunden hast du mir so viel Güte zuteil werden lassen, dass ich nicht verstehen kann, warum dich die Menschen hier so behandeln. Und ob ich deine Gutherzigkeit überhaupt verdient habe.“ Eysa rückte ein Stück näher zu Eivor, die noch immer schwieg. Für einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, ihre Hand zu nehmen. Eivors Gedanken überschlugen sich derweil. Sie war emotional so aufgewühlt wie noch nie. Eysas Worte hatten sie härter getroffen, als sie es vermutet hätte. So viel hatte sie für ihr Dorf getan und niemand hatte ihr gedankt. Eivor konnte sich nicht erinnern, wann ihr das letzte Mal jemand so aufrichtig gedankt hatte wie Eysa. Alles, was sie bisher für ihren Clan getan hatte, war stets selbstverständlich für die Menschen gewesen. Sie schützte die Siedlung vor Angriffen, sorgte dafür, dass Material zum Bau der Holzhütten bereit stand und sicherte die Nahrungsversorgung. Und sie riskierte regelmäßig ihr eigenes Leben, damit es den Menschen hier gut ging. Eivor spürte, dass Eysa näher zu ihr rückte. Und einen Moment später berührten sich ihre Hände. Sie wusste, dass sie wohl kurz davor war, den nächsten Fehler zu begehen. Doch sie konnte sich nicht dagegen wehren. Zu sehr sehnte sie sich in diesem Augenblick danach, jemanden in ihrer Nähe zu haben. Sie spürte, wie Eysa noch näher zu ihr kam und als sie den Kopf hob, blickte sie direkt in ihre stahlblauen Augen. Eivors Blick wanderte kurz herunter auf Eysas weiche Lippen, ehe sie ihr wieder in die Augen sah. Eysa bemerkte, dass Eivor mit sich haderte und tat deswegen den ersten Schritt. Sie nahm Eivors Gesicht sanft in beide Hände und begann, sie zu küssen. Eivor wusste, dass ihre eigenen Gefühle mit ihr durch gingen. Dass sie in dieser Nacht nicht bei klarem Verstand war. Sie sollte das nicht tun. Sie sollte einfach aufstehen und sich aus dieser Situation befreien. Doch etwas hielt sie davon ab. Eysa hielt inne und sah Eivor unsicher und entschuldigend an. „Tut mir leid, ich... ich hätte das nicht tun sollen“, sagte sie reumütig. Eivors Gedanken überschlugen sich. Warum dachte sie nicht einmal an sich, an ihre eigenen Wünsche? Über Monate hatte man sie darum gebeten, ihre eigenen Bedürfnisse zurück zu stellen. Doch nicht heute... nicht hier, in ihrem Schlafraum, in dem sie schließlich immer noch ihre eigenen Entscheidungen treffen konnte. Sie konnte sich nicht länger zurück halten. Sie stieß Eysa sanft auf den Rücken und beugte sich über sie. „Du hast vielleicht Recht. Wir sollten das nicht tun. Aber wer soll es schon herausfinden?“, flüsterte sie ihr ins Ohr und begann, Eysa zärtlich zu küssen, während sie langsam ihre Kleidung auszog. +++ Es war bereits Mittag, als Eivor durch laute Stimmen aus der großen Halle des Langhauses geweckt wurde. Ihr müder Blick wanderte von den Wänden an der Decke entlang. Sie erinnerte sich allmählich an die letzte Nacht mit Eysa. Nach so langer Zeit allein war es schön gewesen, bei ihr zu liegen und ihre Wärme und Nähe zu spüren. Eivor lächelte gedankenverloren, während ihr Blick zu Eysa herüber wanderte, die die Nacht neben ihr auf der linken Betthälfte verbracht hatte. Doch das Bett war leer. Eivor richtete sich auf. „Eysa?“, fragte sie in den Raum, konnte sie allerdings nirgendwo entdecken. Während sie sich ihre Felle über die Schultern warf, wurden die Stimmen draußen wieder laut. Eivor verzog entnervt das Gesicht. Was bei Odin war dort nur los? Als sie ihr Zimmer verließ, fand sie Sigurd, Sunnifa und Randvi lautstark diskutierend vor. Neben den dreien an der Kochstelle saß Eysa auf einer der Bänke, zitternd und mit gen Boden gerichtetem Blick. Eivor horchte auf. Das konnte nichts gutes sein. „Sigurd, was ist hier los?“, fragte sie ernst, während sie sich besorgt neben Eysa setzte und ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter legte. „Eivor, wie schön, dass du auch endlich zu uns findest“, gab Sigurd beißend zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vielleicht erzählt Sunnifa dir, was geschehen ist.“ Sunnifa trat vor zu Eivor und blickte sie vorwurfsvoll an. „Ich habe sie draußen bei den Gräbern gefunden. Valka ließ mich rufen. Sie stand dort, mit Pfeil und Bogen und hat auf Bäume gezielt. Arvid, vom Viehhof, bat mich, sie zu stoppen, da er Angst um seine Kühe hatte, also brachte ich sie hier her zurück.“ „Sie hatte deinen Bogen in der Hand, Eivor. Und deinen Köcher mitsamt der Pfeile. Hast du dazu etwas zu sagen?“ Sigurd funkelte Eivor wütend an. Eivor stützte sich indes mit einem Arm auf der Tischkante ab, während sie sich mit der anderen Hand ungläubig die Augen rieb. Dann wanderte ihr Blick zu Eysa, die sie reumütig ansah, sich aber nicht traute, ein Wort zu sprechen. Eivor war sich sicher, dass Eysa keine bösen Absichten mit dem Bogen hegte. Doch war Eivor selbst es nun, die sich bei den anderen dafür verantworten musste. Unbewusst entfuhr ihr ein entmutigtes Lachen, während sie aufstand und sich Sigurd entgegen stellte. „Wurde jemand verletzt?“, fragte sie an Sunnifa gewandt. „Nein, verletzt wurde niemand.“ „Und darum geht es auch gar nicht nur, Eivor.“ Sigurd erhob wieder die Stimme. „Sie läuft durch die Siedlung, mit deinen Pfeilen und deinem Bogen und schießt. Und es ist mir gleich, ob es nur Bäume waren. Sie hatte offenbar freien Zugang zu deinen Waffen! Es fasziniert mich, dass du ein solches Vertrauen in ein Mädchen legst, das erst seit gestern bei uns ist.“ „Sigurd...“, begann Eivor sich zu erklären, doch er ließ sie nicht ausreden. „Ruhig, Eivor! Du hast mir versprochen, dass du sie im Auge behältst. Und dieses Versprechen hast du nicht gehalten. Bis du wieder zur Vernunft gekommen bist, wird Sunnifa deine Waffen entgegen nehmen und verwalten. Und zwar alle. Auch deine Axt!“ Eivors Mine verfinsterte sich. „Du willst mir meine Waffen nehmen, Bruder?“, fragte sie ungläubig. „Das kannst du nicht tun, Liebster. Eivor ist unsere beste Kriegerin. Bitte überdenke deine Entscheidung noch einmal. Ich weiß, dass du wütend bist. Aber was, wenn wir angegriffen werden? Dann bleibt ihr keine Zeit, sich ihre Waffen abzuholen“, brachte Randvi aufgewühlt hervor. Sie musterte Sigurd mit einem langen, intensiven Blick, um ihm zu bedeuten, dass er überreagiert hatte. Sigurd selbst wusste, dass sein Befehl undurchdacht war. Doch hatte Eivor ihn enttäuscht und dies sollte nicht ohne Konsequenzen bleiben. Er knirschte wütend mit den Zähnen, während er Eivor ansah und darüber nachdachte, was er mit ihr tun sollte. Die Situation überforderte ihn. Warum nur hatte sich Eivor von einen auf den anderen Tag so verändert? Er trat einen Schritt auf sie zu und blickte ihr ernst in die Augen. „Wenn das noch mal passiert, dann lasse ich ihr den Kopf abschlagen. Ich dulde nicht, dass sie herum irrt und mit Waffen spielt, ist das klar?“ Eivor schwieg, während sie Sigurds Blick mürrisch erwiderte. Sie wusste, dass es respektlos war, ihrem Jarl nicht zu antworten, doch hatte er ihr keine Möglichkeit gelassen, sich zu erklären. Ihr Blick wanderte wieder zu Eysa, die immer noch schweigend da saß. Eivor verschränkte die Arme vor der Brust. Wieso hatte Eysa das getan? Sie hatte ihr nie erlaubt, ihre Waffen zu nehmen. Vor allem nicht, wenn sie nicht wusste, ob Eysa mit ihnen umgehen konnte. Sie wusste, dass sie darüber mit ihr reden musste. Während Eivor überlegte, wie sie Eysa weiterhin gegenüber treten sollte, kochte es in Sigurd weiter. Er wartete auf eine Antwort, doch je länger Eivor schwieg, desto wütender wurde er. Dann, schlussendlich, griff er Eivors Kinn und zog ihren Kopf zu sich, sodass sich ihre Blicke erneut trafen. „Hast... du mich... verstanden?!“, wiederholte er langsam. Eivor befreite ihren Kopf aus Sigurds Griff und nickte dann kurz. „Ja, ich werde mich darum kümmern“, presste sie hervor. „Gut. Und sperr deine Waffen weg! Sofort!“ Randvi musterte Eivor noch einmal mitleidig, bevor sie und Sigurd das Langhaus verließen. Sie wollte ihr gern Trost spenden, doch sie wusste, dass sie ihrem Mann nicht widersprechen durfte. Vielleicht würde sie später die Zeit dazu finden. Während auch Sunnifa wortlos das Langhaus verließ, wandte sich Eivor wieder Eysa zu, die nun, da alle weg waren, wieder etwas auftaute. „Eivor, es tut mir so unendlich leid. Ich hätte das nicht tun sollen. Ich habe dich in Schwierigkeiten gebracht. Ich hätte es besser wissen müssen.“ Eysa legte ihr Gesicht in ihre Hände und seufzte schwer. Eivor dachte nach. Eysas Entschuldigung reichte ihr vorerst. Doch das durfte auf keinen Fall noch einmal passieren. „Du hättest das wirklich nicht tun sollen. Und du hast Sigurd gehört. Mach dir um mich keine Sorgen. Aber bitte, um deinetwillen... keine Alleingänge mehr... hast du verstanden?“ Eysa nickte eifrig und erwiderte erleichtert Eivors Lächeln. Dann stand sie auf. „Ich glaube, ich würde mich gern etwas ausruhen. Hast du denn schon einen geeigneten Schlafplatz für mich gefunden?“ „Ich denke, es geht in Ordnung, wenn du dich in meinem Bett ausruhst. Natürlich nur, wenn du willst.“ Eivor lächelte sie mit einem Augenzwinkern an. „Gern“, flüsterte Eysa schüchtern und zog sich in Eivors Schlafkammer zurück. Eivor sah ihr noch einen Augenblick hinterher, bevor sie ihren Bogen vom Tisch nahm, den Sunnifa hier her gelegt hatte. Sie strich vorsichtig über den Griff und untersuchte die Sehne auf mögliche Beschädigungen. Doch es war alles noch intakt. Sie durfte das auf keinen Fall noch einmal zulassen. Und wenn dann nur, wenn sie dabei war. Eysa hatte ihr in der letzten Nacht erzählt, dass sie so gern wie sie wäre, stark und geübt im Umgang mit derartigen Waffen. Eivor schob es darauf, dass sie es wohl nicht abwarten konnte, es selbst einmal auszuprobieren. Sie war so tief in Gedanken, dass sie nicht bemerkte, wie Valka das Langhaus betrat. „Eivor... wie geht es dir“, fragte sie in den Raum und Eivor fuhr erschrocken herum. „Valka! Bei Odin... du hast mich erschreckt!“ „Ich hatte keine Ahnung, dass das überhaupt möglich ist.“ Valka lächelte kurz, blickte dann aber wieder ernst drein. „Sigurd vertraut mir nicht. Er wollte mir meine Waffen wegnehmen. Sunnifa sollte sie für mich wegsperren. Eysa hat meinen Bogen genommen, während ich geschlafen habe. Ich hatte keine Chance, sie aufzuhalten. Aber er ließ mich nicht einmal ausreden.“ Valka spürte, dass Eivor die Situation mitnahm. Dass Sigurd ihr so viel Misstrauen entgegen brachte, ging keineswegs spurlos an ihr vorbei. „Du hast ihm versprochen, über das Mädchen zu wachen, Eivor. Ich sah sie vorhin, wie sie sich bei den Gräbern aufstellte, wie sie die Bäume anvisierte, wie sie schoss. Sie hatte nicht zum ersten Mal einen Bogen in der Hand. Sie schoss gut. Zumindest für jemanden, der einen so zierlichen Eindruck macht. Du solltest das im Hinterkopf behalten, Eivor. Wir wissen immer noch nicht viel über sie.“ Eivor nickte stumm. Hatte Eysa ihr nicht erzählt, dass sie noch keine Erfahrung im Umgang mit derlei Waffen hatte? Vielleicht hatte Eivor aber auch nicht richtig zugehört. Sie war in der letzten Nacht ohnehin nicht bei sich gewesen. „Ich werde in Zukunft besser auf Eysa achten, danke Valka.“ „Bitte sei vorsichtig, Eivor. Und komm zu mir, wenn dich etwas bedrückt.“ Eivor nickte Valka dankend zu. Sie wusste ihre Hilfe immer zu schätzen, doch im Augenblick musste sie erst einmal selbst Ordnung in ihre Gefühle bringen. In den letzten eineinhalb Tagen hatte sie viel einstecken müssen. Die teils verachtenden Blicke der Menschen in der Siedlung, Sigurds Misstrauen ihr gegenüber und Valkas Vision. Und dann kam noch die Beziehung zwischen ihr und Eysa dazu. Eivor fragte sich, ob sie in einer solch kurzen Zeit nicht bereits viel zu viel über sich und den Clan preisgegeben hatte. Ob ihr blindes Vertrauen ihr nicht bereits zum Verhängnis werden würde. Sie hatte ihr von Synin erzählt, sie war schwach geworden, als sie bei ihr gelegen hatte und Eysa wusste seit letzter Nacht auch, dass Valka ihre engste Vertraute war. Doch was wusste sie bisher über Eysa? Nur, dass sie vor Gorm aus Finnland geflohen und hier her gekommen war. Und dass sie in Finnland ein einigermaßen normales Leben geführt hatte. Bis auf die Tatsache, dass sie außer ihren Eltern niemanden hatte. Vielleicht hatte Valka Recht. Sie musste mehr über Eysa herausfinden. Und wenn sie so darüber nachdachte, wollte sie das sogar. Und wo kam man besser ins Gespräch, als bei einem gemeinsamen Ausritt in die Felder um Eysa das Bogenschießen näher zu bringen? Kapitel 5: Kapitel 5 -------------------- „Es ist so wunderschön hier, Eivor!“, rief Eysa in den Wind, während sie den Hügel zum Aussichtsturm hinauf ritten. Sie hatte ihre Arme fest um Eivors Körper geschlungen, da sie noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen hatte und dieses Gefühl ihr etwas Unbehagen bereitete. Eivor selbst genoss den Tag bereits jetzt. Sie mochte nichts lieber als an einem sonnigen Tag auf ihrem Pferd zu sitzen, den warmen Wind in ihrem Gesicht zu spüren und die weiten Felder Mercias zu erkunden. Fernab der Raubzüge und des Alltags in der Siedlung konnte sie in diesen Momenten sie selbst sein. Sie musste niemandem gefallen, niemandem Rechenschaft ablegen und stand nicht unter der Beobachtung aufmerksamer Augen, die jede Kleinigkeit erfassten. Hier war sie frei. Sie waren angekommen. Eivor stieg von ihrem Pferd und schloss die Augen, während sie die angenehm warme, frische Luft tief in ihre Lungen sog. Der Abstand zur Siedlung tat ihr heute besonders gut. Hier hatte sie endlich genug Zeit, um über die Zukunft nachzudenken. Und darüber, wie es wohl mit Eysa weiter gehen würde. Denn hauptsächlich dazu diente dieser kleine Ausflug heute. Eivor öffnete die Augen und lies ihren Blick über die Felder schweifen. Niemand war zu sehen. Genau, wie sie es wollte. Auch der Strohhaufen, den sie vor längerer Zeit gemeinsam mit Petra als Zielscheibe hier aufgehäuft hatte, lag noch da. Er war etwas eingefallen, aber für den Anfang sollte es wohl reichen. Eivor war bereit, ihren Bogen hervor zu holen, als sie ein leises Räuspern aus Richtung ihres Pferdes wahrnahm. Sie drehte sich um und sah Eysa, die ihre Hände in ihre Hüften gestemmt hatte und Eivor erwartungsvoll ansah. „Glaubst du, ich komme hier allein runter, wenn ich nicht mal allein rauf gekommen bin?“, fragte sie und begann, verzweifelt über sich selbst zu lachen. Eivor begann zu grinsen und entschied sich, Eysa vorerst nicht zu helfen, sondern ihr einfach zuzusehen, wie sie versuchte, vom Pferd zu steigen. Ihre Hände hatten sich mittlerweile fest an den Sattel geklammert und sie blickte abwechselnd nach links und rechts, um zu sehen, auf welcher Seite sie besser absteigen konnte. Während sie das tat, wurde sie immer unsicherer. Schließlich gab sie auf. „Eivor, bitte... du musst mir helfen, ich schaffe das nicht.“ Eysa kreischte kurz auf, als das Pferd einen Schritt zur Seite machte. Belustigt trat Eivor einen Schritt vor und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn du mit Pfeil und Bogen umgehen willst, dann sollte das vom Pferd Steigen dir keine große Mühe bereiten, Eysa.“ Kurz wartete sie noch, dann hob Eivor Eysa sanft von ihrem Pferd herunter und brachte sie auf sicheren Boden. Eysa keuchte angestrengt, während sie sich ins Gras fallen lies und Eivor gewitzt vorwurfsvoll ansah. „Ich hätte tot sein können“, protestierte sie grinsend. „Glaub mir, wenn du so weiter machst, wird Odin sich noch sehr lange gedulden, bevor er dich zu sich holt“, scherzte Eivor zurück und setzte sich zu ihr herunter. Es viel ihr zunehmend schwerer, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, als sie Eysa so da liegen sah. Ihr Haar, ihr Gesicht, einfach alles an ihr gefiel Eivor. Doch sie musste sich zusammen reißen. Deswegen waren sie nicht her gekommen. Ein Moment der Stille trat ein. Eivor versuchte, ihre Gedanken zu verdrängen, indem sie ihren Blick erneut über die grünen Felder schweifen ließ. Und Eysa... sie blickte nachdenklich gen Himmel. Ihre Augen verfolgten Synin, die hoch über ihnen ihre Kreise zog. „Eivor?“ Eysa erhob die Stimme. „Was ist?“, brachte Eivor zurück und sah herunter zu ihr. „Was letzte Nacht passiert ist... ich wollte dich nicht überrumpeln. Du sahst nur so traurig aus und ich... ich wollte dich etwas aufmuntern.“ Eivor senkte den Blick und lächelte kaum merklich. Sie hatte irgendwie darauf gehofft, dass Eysa die letzte Nacht noch einmal ansprechen würde, auch wenn sie wusste, dass sie dafür nicht hergekommen waren. Eysa setzte sich auf und blickte Eivor erwartungsvoll an. „Ist schon gut“, gab diese zurück und sah ihr direkt in die Augen. „Ich habe es sehr genossen. Ich hoffe, du auch?“ Eysa lächelte verlegen und nickte stumm. Und wieder war er da, dieser Moment, in dem Eivor diese Schwäche fühlte. Die Art, wie Eysa ihr in die Augen sah... wie sie sie anlächelte... es war alles, wo nach sie sich sehnte. Doch nicht jetzt. Nicht hier. Sie musste sich jetzt endlich zusammen reißen. Eivor schüttelte wieder einmal den Kopf, um ihre Gedanken loszuwerden. Dann stand sie auf, rieb sich kurz die Hände und griff nach ihrem Bogen. Eysa wirkte etwas enttäuscht darüber, dass Eivor einfach so aufgestanden war, wo sie doch gerade kurz davor waren, sich wieder näher zu kommen. Doch sie tat es ihr gleich und stand auf. Sie konnte es ihr nicht verübeln, schließlich kannten sie sich noch immer nicht besonders gut. Eivor zog einen Pfeil aus ihrem Köcher und drehte sich so zu Eysa, dass diese jeden Handgriff gut beobachten konnte. „Sieh mir zu. Du legst den Pfeil an... hebst den Arm und visierst das Ziel an. Siehst du, wie ich ihn halte? Der Arm, der den Bogen hält, ist immer ganz ausgestreckt. Das ist wichtig, damit du die richtige Balance findest und ihn fest im Griff hast. Jetzt hältst du den Pfeil, legst ihn vorne an und ziehst ihn mit der Sehne zu deinem Gesicht, in etwa auf Höhe der Wange... siehst du? Dann suchst du dein Ziel, visierst an und...“ Der Pfeil traf genau die Mitte des Strohhaufens. Eysa hatte geahnt, dass Eivor eine gute Schützin war. Dennoch staunte sie nicht schlecht als sie sah, wie präzise der Schuss wirklich gewesen war. Eivor reichte Eysa den Bogen. „Jetzt du. Mach es genau so, wie ich es dir gesagt habe.“ Eysa nahm den Bogen an sich. Es gefiel ihr, dass Eivor ihr trotz der jüngsten Ereignisse in der Siedlung ihre Waffen anvertraute. Hier konnte sie in Ruhe üben, ohne gestört zu werden. Eivor reichte ihr einen Pfeil und trat einige Schritte zurück, während sie genau beobachtete, wie Eysa sich anstellte. Der Schuss war gut. Zu gut, für Eivors Geschmack. Valka hatte Recht. Sie schoss wohl nicht zum ersten Mal. Dennoch musste sie sicher gehen, dass es kein Zufallstreffer war. „Nochmal!“, rief sie Eysa zu und gab ihr den nächsten Pfeil. Auch dieser Schuss ging beinahe in die Mitte. Und auch die folgenden Schüsse verfehlten nie ihr Ziel. Eivor verschränkte die Arme vor der Brust und sah Eysa fragend an. „Du bist gut. Wer hat dir das beigebracht?“ „Hm... ich habe mir als Kind immer selbst Bögen, wenn man sie so nennen mochte gebaut. Aus einfachen Stöcken mit Pferdehaar. Sie waren nichts besonderes, aber es reichte, um ein wenig zu üben.“ Eivor stutzte. „Darf ich fragen, wozu du üben wolltest?“ „Ich wollte immer eine große Kriegerin werden, wie du, Eivor. Aber meine Eltern erlaubten es nicht. Deshalb musste ich es vor ihnen verstecken. Hätten sie es erlaubt, hätte ich jetzt bei ihnen sein und ihnen helfen können, gegen Gorm und seine Krieger zu bestehen. So zwangen sie mich zur Flucht, weil sie Angst um mich hatten. Ich hätte kämpfen können.“ Eysa senkte den Kopf. „Selbst der größte Krieger kann nicht allein gegen ein ganzes Heer bestehen. Deine Eltern wollten dich in Sicherheit wissen. Danke ihnen dafür, anstatt sie deshalb zu tadeln.“ Fast tat es Eivor leid, dass sie gefragt hatte. Doch genau deswegen war sie hier. „Außerdem... wenn ich das sagen darf... hast du gut ausgeprägte Muskeln. Du scheinst doch mehr geübt zu haben, als du durftest.“ Eivor zwinkerte Eysa lächelnd zu, während sie beide sich ins Gras setzten. „Habe ich, ja. Ich nahm mir nachts häufig die Axt meines Vaters und ging weit raus in den Wald, damit mich niemand hörte. Ich schlug manchmal ganze Bäume nieder, nur, um nicht aus der Form zu kommen. Vater wunderte sich oft, warum seine Axt bloß immer so stumpf war, obwohl er so selten damit arbeitete.“ Eivor lachte. Eine ähnliche Geschichte hatte sie auch auf Lager. Doch sie wollte Eysa nicht ins Wort fallen. „Ich wollte damals unbedingt eine Kriegerin werden. Doch fehlten mir die Gegner, um mich auf den Nahkampf vorzubereiten. Wir hatten nicht viele Kinder in meinem Alter in unserem Dorf und die die wir hatten, waren den ganzen Tag mit ihren Eltern auf dem Hof beschäftigt und hatten nicht den Mut, sich mit anderen zu messen. Ich wusste nicht, wie ich weiter machen sollte, also gab ich es irgendwann auf und, naja... die Bäume mussten herhalten. Auch, wenn sie sich selten wehrten.“ Eysa lächelte ironisch, während sie mit einer Haarsträhne spielte, die ihr ins Gesicht gefallen war. Eivor saß schweigend da und musterte Eysa. Eigentlich war sie hergekommen, um mehr über das immer noch fremde Mädchen in Erfahrung zu bringen. Dass sie ihr nun mehr oder weniger einen Wunsch erfüllte, indem sie sie den Umgang mit Waffen lehrte, hatte sie nicht gedacht. „Ich hoffe, es geht deinen Eltern gut, Eysa“, flüsterte Eivor vorsichtig. Eysa nickte dankend. Dann trafen sich ihre Blicke erneut. „Was ist mit dir, Eivor? Wo sind deine Eltern?“ „Sie leben nicht mehr.“ Eivor senkte den Kopf. Erschrocken griff Eysa ihren Arm. „Das tut mir leid, ich wollte nicht...“, stammelte sie befangen, doch Eivor winkte ab. „Ist schon gut. Es ist lange her. Ich habe mich damit abgefunden.“ Eysa presste ihren Kopf gegen Eivors Schulter. Schweigend saßen sie da und es kam Eivor so vor, als würden sie sich beide gegenseitig bemitleiden. Normalerweise war das nicht ihre übliche Art, doch sie merkte erneut, dass in Eysas Gegenwart etwas anders war. Sie hatte das Gefühl, ihr alles sagen zu können. Besonders jetzt, da Eysa ihr ebenfalls offen von ihrem Leben in Vinland erzählt hatte. Fast war es so, als hätten sie eine ähnliche Vergangenheit gehabt. Nur, dass Eivor sich das Kämpfen früh aneignen musste. Sie hatte dort keine Wahl gehabt. Eysa grub ihre Finger in den Stoff, der Eivors Oberarm bedeckte, während sie sich noch näher an sie schmiegte. „Eivor?“, flüsterte sie leise. „Ich mag dich... .“ „Ich... mag dich auch“, gab Eivor vorsichtig zurück. Beide sahen sich in die Augen. Wieder kamen kurze Zweifel in Eivor hoch, ob es das Richtige war, was sie tat. Doch sie war es leid, sich immer wieder mit ihren Gedanken auseinander zu setzen. Sie sah so viel Leidenschaft in Eysas blauen Augen, dass sie sich einfach nicht zurück halten konnte. Und als sich kurz darauf ihre Lippen trafen, waren jegliche Zweifel dahin. Eivor legte sanft ihre Hände um Eysas Hüften. Sie wollte sie spüren. Ihre Wärme, ihre Nähe. „Eivor...“ „Sag nichts... ich will dich, Eysa...“ „Ich will dich auch... Eivor.“ Eysa stieß Eivor vorsichtig auf den Rücken und vergrub beide Hände in ihren Haaren, während sie begannen, sich innig zu küssen. +++ Kapitel 6: ----------- Es dämmerte bereits, als Eivor erwachte. Mit müden Augen musterte sie ihre Umgebung. Die Sonne war fast versunken und es war kühler geworden. Es dauerte einige Minuten, bis Eivor wieder bei klarem Verstand war und ihr bewusst wurde, weshalb sie hier war und was sie hier getan hatte. Ihr Blick wanderte herüber zu ihrem Pferd, das noch immer angebunden an einem kleinen Holzzaun stand. Angestrengt spähte sie über die Felder. In der Dämmerung war es schwer auszumachen, ob sie jemand beobachtete. Besser, sie brachen direkt auf. Eivor griff nach ihrem Bogen, der noch immer neben ihr auf dem Boden lag und tastete dann nach ihrem Köcher, der nur zwei Ellen dahinter lag. Während sie sich aufrichtete, um ihr Pferd bereit zu machen, sprach sie mit lauter Stimme. „Eysa! Wach auf, wir müssen aufbrechen!“ Konzentriert spannte sie die Satteltaschen auf ihr Pferd und fluchte kurz unmerklich, als ihr der Köcher herunter fiel und die Pfeile auf dem Boden landeten. Sie wurde ungeduldig. „Eysa!“, rief sie wieder in die Dämmerung, während sie damit beschäftigt war, die Pfeile aufzuheben. Kurze Zeit später war der Köcher verstaut. Nun fehlte nur noch Eysa, die Eivors Nervenkostüm langsam auf die Probe stellte. Je dunkler es wurde, desto mehr Geräusche vernahm Eivor aus ihrer Umgebung. Sie hatte vor dem Aufbruch heute Mittag keine Fackel mitgenommen, da sie geplant hatte, vor Sonnenuntergang wieder in der Siedlung zu sein. Sie prüfte noch mit einem schnellen Griff, ob ihre Axt an ihrem Gürtel saß und holte tief Luft, um noch einmal Eysas Namen zu rufen, während sie sich zu ihr umdrehte. Doch der Platz, an dem sie beide heute Mittag beieinander gelegen hatten, war leer. Eysa war nirgendwo auszumachen. Eivor stockte der Atem. Nein. Das konnte nicht sein. „Eysa?!“ Eivors Augen weiteten sich, während sie panisch Eysas Namen in die immer weiter zunehmende Dunkelheit rief. Sie blickte hektisch um sich, suchte nach Hinweisen. Sicher war Eysa hier noch irgendwo und erlaubte sich bloß einen Scherz mit ihr, versuchte Eivor, sich zu beruhigen. Doch schnell musste sie feststellen, dass sie tatsächlich allein war. „Bei Odin! So ein verdammter Mist!“, presste sie aufgebracht hervor, während sie sich eilig auf ihr Pferd setzte. „Synin! Ich brauche deine Hilfe!“ Eivors Blick wanderte nach oben, in Richtung des nun fast schwarzen Himmels. Sehen konnte sie ihren Raben nicht, bemerkte jedoch, wie Synin sich nur Sekunden später auf ihrer rechten Schulter nieder ließ. Eivor schloss konzentriert ihre Augen, um durch die ihres Raben sehen zu können. Die Siedlung. Ein kurzes, prägnantes Bild des Langhauses erschien vor ihrem inneren Auge. Eysa musste dorthin zurück gekehrt sein. Eivor ahnte nichts Gutes. „Bei Thors Hammer. Bitte lass sie nichts angestellt haben“, murmelte sie, während sie nervös einige Brotkrumen aus ihrer Tasche fischte, um Synin ihre Belohnung zu geben. Dann ritt sie hastig los. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf, während sie schneller als jemals zuvor auf dem Rückweg zur Siedlung war. Sie hoffte mehr als alles andere, dass Eysa diesmal keine Dummheiten angestellt hatte und dass sie sie lebend und ohne Ärger antreffen würde. Zugleich wurde Eivor bewusst, dass sie wieder einmal bei Eysa gelegen hatte. Wieder einmal war sie schwach geworden, wo sie hätte stark bleiben sollen. Zwar hatte sie wieder einen kleinen Teil über Eysa erfahren, doch bei Weitem nicht so viel, wie es Valka zufrieden stellen würde. Eivor ärgerte sich über sich selbst und darüber, dass sie nicht in der Lage war, ihre eigenen Gefühle zu kontrollieren. Eysa hatte diese Anziehungskraft auf sie, die sie selbst nicht verstand. Sie kannte dieses junge Mädchen kaum und doch war sie auf dem Weg zur Siedlung, als würde Fenrir selbst hinter ihr her jagen. „Nein, das war es jetzt!“ Eivor nahm sich fest vor, Eysa zur Rede zu stellen. Sofern das noch möglich war. Sie war angekommen. Noch im Galopp sprang Eivor von ihrem Pferd, rollte sich gekonnt ab und hetzte dann keuchend zum Langhaus, stetig hoffend, Eysa hier anzutreffen. Als sie durch die Tür in die große Halle gelangte, entwich ihr ein erleichtertes Stöhnen. Zeitgleich wurde ihre Mine finsterer, als sie Eysa fand, wie sie, etwas kochend an einer der Feuerstellen saß und Eivor lächelnd grüßte. „Da bist du ja, Schlafmütze. Komm her und setz dich zu mir. Ich habe etwas vorbereitet, als Dank.“ Eysa lächelte Eivor glücklich zu und deutete auf eine merkwürdig aussehende Flüssigkeit, die sie in dem Topf vor sich kochte. Eivor ignorierte dies jedoch, stampfte wütend auf Eysa zu und schlug ihr den Löffel aus der Hand. Rasend blickte sie Eysa an. „Sag mal, hast du den Verstand verloren?! Einfach wegzulaufen, ohne mein Wissen?! Nach allem, was die letzten zwei Tage passiert ist?! Ich habe dir gesagt, keine Alleingänge mehr! Niemand außer mir will dich hier, Eysa! Ich habe damit gerechnet, dich an einem Strick von einem Baum schneiden zu müssen! Verstehst du das?!“ Eivor war merklich rasend vor Wut. Doch alles, was Eysa ihr entgegenbrachte, war ein merkwürdig friedliches Lächeln. Eivor schüttelte fragend den Kopf. Sie war sichtlich irritiert von dieser Reaktion. „Eivor, bitte setz dich. Wir wollen doch nicht alle aufwecken.“ Eysa bedeutete Eivor, sich neben sie auf die Bank zu setzen, während sie den Löffel aufhob, den Eivor ihr wütend aus der Hand geschlagen hatte. Wortlos rührte sie damit weiter in der dunkelbraunen Brühe herum. So lange, bis Eivor sich widerwillig setzte. Erst dann hörte sie auf, und sah zu der blonden Kriegerin herüber. „Es tut mir leid, dass ich einfach so gegangen bin. Ich hätte es nicht tun sollen, du hast Recht. Ich weiß, dass diese Entschuldigung für dich schwer zu glauben scheint, nachdem ich dir schon mehrfach versprochen habe, so etwas nicht mehr zu tun. Aber ich wollte dich wirklich nicht wecken. Im Gegenteil. Ich brauchte ein wenig Zeit. Zeit, um mein Geschenk für dich vorzubereiten. Ich möchte dir danken, Eivor. Für all die Güte und all dein Wissen, das du mir in der kurzen Zeit, in der ich hier bin hast zuteil werden lassen. Und besonders für dein Vertrauen.“ Eysa griff Eivors Hand. Doch Eivor blickte sie weiterhin finster an. „Ich bin in den Wald gegangen und habe einige Pilze gesammelt. Ich wusste nicht, mit was ich dir sonst eine Freude machen könnte. Ich habe dir ja nichts zu bieten. Aber ich hatte gehofft, wir könnten uns bei einem gemeinsamen Abendessen noch einmal so schön unterhalten, wie wir es vorhin taten. Ich hoffe, du magst Pilzsuppe.“ Eysa lächelte verlegen. Sie wusste, dass das, was sie Pilzsuppe nannte, nicht besonders appetitlich aussah. Dennoch hatte sie diesen Versuch gewagt. Eivors Gemüt beruhigte sich allmählich. Ein Abendessen als Dank. Darauf wäre sie wahrlich nicht gekommen. Ihr finsterer Gesichtsausdruck lichtete sich, sie schenkte Eysa sogar ein kleines Lächeln. Dennoch musste sie noch eine Sache klar stellen. „Eysa, das ist wirklich schön von dir. Und ich freue mich darüber. Aber ein letztes Mal... keine Alleingänge mehr. Ich bitte dich darum.“ Eysa nickte demütig, bevor sie aufstand, um vom Tisch hinter ihnen zwei Becher zu greifen. Nach einem kurzen, prüfenden Blick reichte sie einen Eivor, den anderen behielt sie. „Was ist das?“, fragte Eivor, während sie, etwas abgeschreckt vom Geruch des Getränks, kurz den Kopf schüttelte. „Ich habe es aus Kräutern gemacht. Ein Getränk, um deinen Appetit anzuregen. Nur für den Fall, dass die Suppe so furchtbar schmeckt, wie sie aussieht.“ Eysa zwinkerte Eivor mit einem Lächeln zu. Diese lachte kurz auf, während sie unsicher in den Becher starrte. „Und das kannst du? Kräuter zusammen brauen? Das sieht wirklich übel aus und riecht furchtbar.“ Eysa bemerkte Eivors Skepsis, hatte jedoch auch hier die passende Antwort parat. „Klar, das habe ich von meinem Vater gelernt. Und der sagte mir immer: Was nicht schmeckt, hilft umso besser. Also, Skål!“ Eysa setzte ihren Becher an und leerte ihn mit einem Zug. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände und Eivor hätte den Inhalt am liebsten in die Blumen gegossen. Doch konnte sie so unhöflich sein? Eysa hatte sich so viel Mühe mit all dem gemacht. Ihr Essen gekocht und sogar, das konnte sie von hier aus sehen, Kerzen auf ihrem Bett verteilt. Sie wusste, worauf Eysa hinaus wollte. Und doch fragte sie sich, worüber diese wohl mit ihr reden wollte. Eivor sprach diesen Gedanken direkt aus. „Also. Du wolltest dich mit mir unterhalten? Worüber?“ „Du musst erst trinken, Eivor! Sonst wird Thor sauer sein. Sieh, ich habe meinen Becher geleert.“ Eysa musterte sie herausfordernd. Noch ein letztes Mal blickte Eivor in den Becher vor sich. Sie war sichtlich unentschlossen, dieses Getränk wirklich zu sich zu nehmen. Doch Eysas Blick weckte ihren Kampfgeist. Schließlich hatte diese ihren Becher mit einem Mal geleert. Das konnte Eivor sich nicht nehmen lassen. Und was sollte schon passieren, Eysa war ein junges, unbedarftes Mädchen. Eivor trank. Sie leerte den Becher ebenfalls in einem Zug und krümmte sich direkt danach vor Magenschmerzen. Es war ein brennender Schmerz. Ein kurzes Würgen entfuhr ihr, während sie sich den Bauch hielt. „Kräuter sagtest du? Schmeckt eher wie Scheiße!“ Eysa lächelte stumm und strich Eivor beruhigend über den Oberarm. „Nur die Ruhe, Eivor. Die Schmerzen gehen bald vorüber.“ Eysas neuer Tonfall gefiel Eivor nicht. Sie drückte sich merkwürdig selbstbewusst aus. Eivor fühlte, wie ihr heiß wurde. Wenig später setzte Schwindel ein. Sie hatte das Gefühl, alles doppelt zu sehen. Kurz fragte sie sich noch, warum Eysa diese Probleme nicht hatte, bevor sie einen Augenblick später fühlte, wie ihr das Atmen schwerer fiel. All die Umgebungsgeräusche, sie klangen dumpf und als wären sie hunderte Meter weit entfernt. Ihre Augen wurden schwer, eine Art Schläfrigkeit machte sich in ihrem Körper breit. Schlussendlich verloren ihre Muskeln an Kraft. Sie konnte sich nicht mehr auf der Bank halten und kippte nach vorn auf den Tisch. Während sie das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen, spürte sie, wie jemand sie auf die Beine zog und stützte. Sie glaubte, diese Person sei Eysa, wusste aber auch, dass sie offenbar nicht bei klarem Verstand war. Wenig später fand sie sich auf ihrem Bett liegend wieder. Eysa, die neben ihr saß, streichelte ihr beruhigend über die Wange. Eivor mochte dieses Gefühl nicht, war jedoch unfähig, sich dagegen zu wehren. Keiner ihrer Muskeln bewegte sich, so sehr sie es auch versuchte. Der Nebel um ihren Verstand lichtete sich mit jeder Minute, die sie da lag und beinahe in Zeitlupe begriff sie, dass sie Eysa nun zu sehr vertraut hatte. Jeder ihrer Versuche aufzustehen oder um Hilfe zu rufen scheiterte. Ihr Verstand wurde klarer und klarer und doch tat ihr Körper nicht das, was ihr Geist verlangte. Eivor wusste damit nicht umzugehen. Diese plötzliche Hilflosigkeit ließ sie in Panik verfallen. Sie wollte nach ihrer Axt greifen, doch so sehr sie es auch versuchte, ihre Muskeln waren wie gelähmt. Während sie verzweifelt versuchte, sich aus diesem Zustand zu befreien, hörte sie, wie Eysa anfing zu reden. Dumpf, aber die Worte als solche kamen deutlich bei ihr an. „Da sind wir nun, Eivor vom Rabenclan. Eine große Kriegerin, der Wissen und Weisheit nachgesagt wird. Und doch vertraut sie einem fremden Mädchen, das plötzlich und unbeholfen in ihrer Siedlung auftaucht. Ich hatte eigentlich vor, dieses Spiel noch ein wenig weiter zu führen, aber da du mir so bereitwillig dein Vertrauen geschenkt hast, musste ich das gar nicht.“ Eysa lachte belustigt auf. Niemals hätte sie gedacht, dass Eivor es ihr so leicht machen würde, ihr Vertrauen in einer solch kurzen Zeit zu gewinnen. „Was hat das... zu bedeuten? “, presste Eivor hervor. Es klang fast, als wäre sie betrunken. „Beruhige dich, Eivor. Es ist alles in Ordnung. Ich würde mich bloß gern noch etwas mit dir unterhalten. Nur deswegen bin ich hier. Man sagt nämlich, dass du eine Möglichkeit gefunden hast, in die Welten der Asen und Jötun zu reisen. Und ich würde gern wissen, ob das wahr ist.“ Langsam, ganz langsam verstand Eivor, was gerade geschah. Eysas Ankunft, die Hilflosigkeit, die Verzweiflung. Das alles war bloßes Schauspiel. Und sie war darauf herein gefallen. Valka hatte sie gewarnt. Sigurd hatte sie gewarnt. Und nun... war es zu spät. Sie lag vor Eysa, völlig wehrlos. Sie schwor sich, sich selbst ab sofort in Schweigen zu hüllen. Doch sie verspürte diesen merkwürdigen Drang, Eysa eine Antwort auf ihre Frage zu geben. Auch, wenn sie dies auf keinen Fall wollte. Sie glaubte zu wissen, dass der Trank, den Eysa ihr gab dafür verantwortlich war. Und sie lag richtig. Eivor versuchte mit aller Kraft ruhig zu sein und nicht auf die Frage zu antworten. Doch je mehr sie es versuchte, desto stärker wurde der Drang, Eysa einfach jede Frage zu beantworten. „Komm schon Eivor, dich dagegen zu wehren ist zwecklos. Die Altweiberklaue holt alles aus dir heraus, was ich wissen möchte. Und weißt du, was das Schöne ist? Wir haben Zeit. Ihre Wirkung hält über Stunden an und am Ende wirst du dich an rein gar nichts erinnern.“ Eivor nahm verschwommen Eysas boshaftes Lächeln wahr. Sie wollte ein weiteres Mal um Hilfe rufen, doch wieder gelang es ihr nicht. Nichts von dem, was sie sagen wollte, kam wirklich aus ihrem Mund. Stattdessen gab sie unfreiwillig die Wahrheit preis. Wissen, das nur ihr und Valka vorbestimmt war. Aus gutem Grund. „Was man sich erzählt ist wahr. Asgard... Jötunheim... ich war mehrmals dort.“ Immer wieder fielen Eivor die Augen zu, obwohl sie noch immer bei klarem Verstand war. Sie wusste, dass sie einen nicht wieder gut zu machenden Fehler beging, indem sie Eysa von diesen Dingen erzählte. Doch gegen die Wirkung des Tranks hatte sie keine Chance, dessen war sie sich sehr wohl bewusst. Sie konnte lediglich hoffen, dass Eysa aufhörte, weitere Fragen zu stellen oder dass jemand die beiden fand und das Mädchen stoppte. Doch nichts von beidem trat ein. Eysas Grinsen wurde immer düsterer, während sie anfing, weiter zu sprechen. „Asgard. Das Heim der Asen. Wo Yggdrasils Triebe die Welt tragen.“ Eysa stand auf und blickte verträumt an die Decke. Sie konnte nur ahnen, wie schön und erhaben dort alles sein musste. Während Eysa in ihren Gedanken versunken von Asgard schwärmte, bemerkte Eivor, dass nicht unweit ihres linken Fußes ihr Rüstungsständer mitsamt ihres Kettenhemds stand. Eysa hatte ihn zur Seite geschoben, um sie auf das Bett zu legen. Wenn Eivor es schaffte ihn umzustoßen, würde sie sicher genug Lärm erzeugen, um Randvi und Sigurd zu wecken, die im Nebenraum bereits schliefen. Doch noch immer konnte sie sich nicht so bewegen, wie sie es wollte. Sie musste eine andere Möglichkeit finden. Angestrengt überlegte sie, während sie Eysa weiterhin beobachtete. Sie war körperlich eingeschränkt. Doch ihr Verstand funktionierte. Lediglich die ausgesprochenen Worte waren vom Zauber des Tranks betroffen. Es gab nur eine Option. Synin. Eivor versuchte, ihre Gedanken auf ihren Raben zu lenken. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich, so gut sie es nur konnte. Noch nie zuvor hatte sie Kontakt zu Synin aufbauen können, ohne dies laut auszusprechen. Doch sie musste es versuchen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sie nun. Synin hatte auch Eivor wahrgenommen. Doch Eivor hatte das Gefühl, nicht mit ihr kommunizieren zu können. Wie sollte sie ihrem Raben ohne Worte vermitteln, dass sie in Schwierigkeiten war? Plötzlich packte Eivor jemand hart bei den Schultern. Sie Verlor den Gedanken an Synin und riss die Augen auf. Eysas vom Wahn getriebener Blick traf sie. „Wie? Wie kommt man dort hin?... Sag es mir!“ Ein dumpfer Schlag traf Eivors rechte Wange, so hart, dass sie kurz das Bewusstsein verlor. Als sie nach einigen Augenblicken wieder zu sich kam, hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde Synin vor Augen. Sie schien Eivor zu suchen. Der nächste harte Schlag. Wieder ins Gesicht. Und wieder kam Eivor einige Sekunden später erst zu sich. „Dieser verdammte Trank! Er sollte dich gesprächig machen und nicht töten!“, schrie Eysa an Eivor gewandt. Noch ein Schlag. Diesmal so hart, dass Eivor nicht direkt wieder zu sich kam. Das Bild von Synin erschien noch einen kurzen Moment vor ihren Augen, bevor es komplett dunkel wurde. „So ein Mist!“, brüllte Eysa rasend, während sie Eivor zum wiederholten Mal bei den Schultern packte, um sie aus der Bewusstlosigkeit zu holen. Doch ohne Erfolg. Als sie bemerkte, dass sie zu weit gegangen war, ließ sie schnaubend von Eivor ab. Sie war so wütend auf sich selbst, dass sie einen Dolch zog und ihn Eivor an die Kehle hielt. Sie wusste, dass Eivor zu töten bedeutete, keine weiteren Informationen zu bekommen. Doch ihre Wut brauchte einen Ableiter. Langsam bohrte sich die Klinge in die weiche, dünne Haut an Eivors Hals. Ein kleines Rinnsal Blut begann, aus der Wunde zu fließen. Eysa hielt inne und betrachtete es für einen Moment. Dann traf sie ein Schlag am Kopf. Erschrocken sprang sie vom Bett auf und blickte um sich, konnte jedoch niemanden erkennen. Ihren Dolch fest in der Hand stand sie neben dem Bett und beobachtete ihre Umgebung. Bis auf den Schlag der sie traf, war alles ruhig. Niemand war dort. Doch noch bevor sie sich wieder sammeln konnte, traf sie erneut etwas am Hinterkopf. Wieder drehte sie sich um. Wieder war niemand zu sehen. „Was soll das?... Wer ist da?!“, rief sie in den Raum. Ein kurzer Moment der Stille trat ein. Dann spürte sie, wie sich etwas in ihren Haaren festkrallte. Sie schlug wild um sich, doch noch bevor sie sehen konnte, was sie dort angriff, verlor sie bereits ihr rechtes Augenlicht. Eysa schrie vor Schmerzen auf und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Sie spürte, wie das warme Blut aus ihrer leeren Augenhöhle trat und hatte Mühe, die Balance zu halten. Aus Angst, ein erneuter Angriff könnte sie treffen, trat sie einige Schritte zurück... und stieß dabei den Rüstungsständer um. Dieser ging mit einem lauten, rasselnden Geräusch zu Boden. Eysa fuhr erschrocken herum. Sie wusste, dass ihr nun nur noch die Möglichkeit zur Flucht blieb. Mit ihrem noch verbliebenen Auge suchte sie hektisch nach einem Stück Stoff, um die schmerzende, stark blutende Wunde zu bedecken. Doch sie fand nichts. Ihr Blick fiel ein letztes Mal auf Eivor, die noch immer bewusstlos da lag. Kurz zögerte sie, dann riss sie ein Stück aus Eivors Kleidung heraus und presste es auf die Wunde, während sie einen Schmerzensschrei unterdrückte. „Das war noch nicht das Ende!“, brüllte sie wütend an Eivor gewandt, als sie aus der Halle des Langhauses Schritte und Rufe hörte. Und während sie zügig das Zimmer verließ, entdeckte sie Synin, die auf Eivors Tisch saß und genüsslich die Reste ihres Augapfels verschlang. Kapitel 7: ----------- Der nächste Morgen... Die ersten Sonnenstrahlen trafen die Außenwände des Langhauses. Das Vieh der Bauern in den Stallungen wartete bereits lautstark darauf, versorgt zu werden. Nach und nach begannen die Menschen in der Siedlung ihrer Arbeit nachzugehen. Ruadan, der Stallmeister, füllte den Wassertrog für die Pferde. Yanli, die Händlerin, stellte die ersten Körbe der gestern eingetroffenen Ware vor ihren kleinen Laden. Und Petra, die Jägerin der Siedlung, setzte die Reinigung der Felle fort, die sie am Vortag begonnen hatte. Niemand von ihnen ahnte, was zur selben Zeit im Langhaus geschah. Valka tränkte, wie schon unzählige Male zuvor, ein Stück Stoff in einem Eimer mit eiskaltem Wasser. Sie war schweißgebadet, als sie Eivor das kühle Tuch abermals auf die Stirn legte. Die ganze Nacht hatte sie damit verbracht, herauszufinden, was Eivor fehlte. Doch noch immer war diese weder aufgewacht, noch hatte sich etwas an ihrem Zustand geändert. Eivor war fiebrig und blass. Sie hatte eine Platzwunde über dem linken Wangenknochen, die offenbar durch einen Schlag entstanden war. Valka machte diese jedoch nicht für Eivors lange Bewusstlosigkeit verantwortlich. Sie fürchtete eher, dass es sich um eine Art Vergiftung handelte. Sie fühlte immer wieder die Temperatur auf Eivors Wangen, nahm ihre Hand, um eventuelle Bewegungen bemerken zu können. Aber nichts passierte. Randvi, die seit einiger Zeit nur noch aufgewühlt im Zimmer auf und ab lief, setzte Valka noch mehr unter Druck. „Du musst doch irgend etwas tun können! Irgendwas!“, rief sie immer und immer wieder. Valka antwortete nicht. Sie dachte angestrengt nach, was Eivor fehlen könnte. Kurzerhand begann sie, sich im Raum umzusehen. „Was ist?“, fragte Randvi nervös. „Ihr habt Eivor letzte Nacht so vorgefunden?“ „Ja. Und da war noch dieses Mädchen. Eysa. Sie verließ gerade fluchtartig das Langhaus, als wir auf dem Weg zu Eivors Schlafkammer waren. Sigurd rannte ihr noch hinterher, doch er fand sie nicht mehr. Das habe ich dir doch schon mehrfach gesagt, Valka!“ Randvi war mit ihren Nerven am Ende. Eivor so da liegen zu sehen und nicht zu wissen was war, das war zu viel für sie. Doch Valka ließ sich dadurch nicht beirren. Sie ließ von Eivor ab und stand auf. „Dieses Mädchen. Ich denke, sie hat etwas damit zu tun.“ Ihr Blick schweifte von Eivors Tisch in der linken Ecke des Raumes über einige kleine Kisten bis hin zum Rüstungsständer, der noch immer auf dem Boden lag. „Da ist sehr viel Blut auf dem Boden. Das kann unmöglich nur von Eivor stammen.“ Valka kniete sich auf den Boden und untersuchte die Blutlache, die mittlerweile eingetrocknet war. In der Hektik der letzten Nacht waren sie alle mehrmals hindurch gelaufen und hatten vieles verwischt. Doch Valka konnte eine kleine Spur erkennen, die hinaus in die große Halle führte. Aufmerksam folgte sie nun dieser Spur. Randvi beobachtete sie, blieb jedoch in der Tür zu Eivors Schlafkammer stehen, um Eivor im Auge behalten zu können. Die bunten Teppiche auf dem Boden des Langhauses machten es für Valka unmöglich, der Blutspur weiter zu folgen. Doch etwas anderes viel ihr wenig später ins Auge. Die Feuerstelle. Valka näherte sich dem Topf, in dem sich mittlerweile nur noch verbrannte Reste befanden. „Habt ihr gestern etwas gekocht?“, fragte sie an Randvi gewandt, ohne die Augen von der Kochstelle zu lassen. „Nein, warum fragst du? Hast du etwas gefunden?“ Valka antwortete nicht. Für einen kurzen Moment dachte sie, einen Geruch wahrzunehmen. Einen, der ihr sehr bekannt war und doch zu schwach, um dass sie ihn hätte bestimmen können. Konzentriert atmete sie ein. Da war er wieder. Es war ein beißender, fauliger Geruch. Sie sah sich weiter um, über die sauberen Tische, auf denen lediglich vereinzelt gefüllte Obstschalen standen, bis ihr Blick an den beiden Bechern hängen blieb, die vor ihr auf dem Tisch standen. Jeder der Becher war am Boden noch mit einem Rest Flüssigkeit bedeckt, was bedeutete, dass sie erst vor Kurzem benutzt worden waren. Valka nahm sich den ersten. Die Flüssigkeit in ihm war klar und geruchlos. Eindeutig Wasser. Als sie den zweiten Becher in die Hand nahm, bemerkte sie bereits wieder diesen fauligen Geruch, nach dessen Ursache sie gesucht und sie nun gefunden hatte. Valka blickte in den Becher und erkannte eine rotbraune Flüssigkeit, teilweise durchsetzt von kleinen Fasern, die zu denen einer Pflanze passten. Sie roch noch einmal daran, um wirklich sicher zu sein, dass sie nicht falsch lag. Dann wandte sie sich zu Randvi um. „Das ist Altweiberklaue. Ich habe keine Zweifel. Eivor muss davon getrunken haben.“ Valka stellte den Becher zurück auf den Tisch und presste sich an Randvi vorbei, zurück in Eivors Schlafkammer, um erneut deren Temperatur zu kontrollieren. „Und was heißt das nun? Wird sie das überleben? Bitte sprich mit mir, Valka!“ Randvi ließ sich resignierend auf die Bettseite neben Eivor fallen und nahm deren Hand. Voller Sorge sah sie in Eivors Gesicht, während sie ihr vorsichtig über die Wange strich. „Sie wird überleben, aber die Wirkung dieser Pflanze ist sehr stark. Die Altweiberklaue wird verwendet, um das Verständnis zwischen Körper und Geist zu benebeln und dafür zu sorgen, dass du die Wahrheit sprichst.“ Valka nahm das Tuch von Eivors Stirn und tränkte es erneut mit kaltem Wasser. „Du meinst, diese Pflanze wird als Mittel genommen, um jemanden zu befragen, von dem du befürchtest, dass er nicht die Wahrheit sagen könnte?“ „So ist es. Diese Pflanze wird seit Jahrhunderten zur Wahrheitsfindung besonders bei Dieben und Mördern eingesetzt, um den Befragten gesprächig zu machen. Und so sehr du es auch versuchst. Unter ihrem Einfluss ist es nicht möglich, eine Lüge zu sprechen.“ Randvi schüttelte fassungslos den Kopf. „Aber warum sollte jemand Eivor so etwas antun?“ Valka platzierte erneut das kalte Tuch auf Eivors Stirn und richtete sich dann auf. „Ich nehme an, um Informationen über irgendetwas aus ihr heraus zu bekommen. Ich werde gehen und nachsehen, ob Sigurd und seine Späher schon etwas neues über diese Eysa herausgefunden haben. Bleib du bitte hier, bei Eivor. Es kann noch dauern, bis sie aufwacht, aber wenn, dann sollte jemand bei ihr sein.“ Randvi nickte still, während Valka das Zimmer verließ. Ihr Blick wanderte herüber zu Eivor. Sie rutschte näher an sie heran und beugte sich zu ihr herunter, während sie ihre Hand noch immer fest im Griff hielt. Eivor atmete ruhig und gleichmäßig. Irgendwie beruhigte Randvi das. Seit sie hierher nach England gekommen waren, hatte sich ihre Beziehung zu Eivor sehr verändert. In Fornberg hatte sie Eivor praktisch nie zu Gesicht bekommen. Sie hörte immer bloß von der mächtigen Kriegerin, die alles erreichte was sie sich vor nahm. Eivor war oft lange Zeit auf See und plünderte die Hafenstädte. Das erste Mal kennen gelernt hatten sie sich bei Randvis Vermählung mit Sigurd. Schon damals war ihr Eivor direkt ins Auge gefallen. Ihre starke Ausstrahlung, die ausgeprägten Muskeln, das blonde Haar und die wundervoll blauen Augen. Randvi hatte es sich nie eingestanden, doch schon damals war es um sie geschehen. Ihre Heirat mit Sigurd brachte sie schließlich immer näher an Eivor, sodass sie sich besser kennen lernten und später eine gute Freundschaft daraus entstand. Für mehr hatte es leider nie gereicht. Randvi wusste, dass dies natürlich daran lag, dass sie und Sigurd vermählt waren. Doch in Momenten wie diesen, in denen sie so nah bei Eivor war, da fragte sie sich, was gewesen wäre, wenn sie ihre Gefühle nur offen ausgesprochen hätte. Gedankenverloren blickte sie in Eivors Gesicht, sah deren weiche Lippen, die wunderschönen Gesichtszüge. Sie konnte sich nicht beherrschen. Randvi beugte sich weiter vor und gab Eivor einen vorsichtigen Kuss auf die Lippen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Der Geruch des Rosenwassers auf Eivors Haut in Kombination mit dem rauchigen Geruch, den ihre Felle angenommen hatten brachte Randvi um den Verstand. Sie wusste, dass sie das Falsche tat, doch konnte sie nicht aufhören, Eivor zu küssen. Erst ein leises Räuspern hinter ihr ließ sie aufschrecken. Sie sprang vom Bett auf und senkte den Kopf, um die Schamesröte zu verstecken, die ihre Wangen umspielte. Gleichzeitig versuchte sie, sich hektisch zu erklären. „Valka! Hast du mich erschreckt! Ich... ich... wollte nur nachsehen, wie ihre Wunden verheilen.“ Ein kurzes, nervöses Räuspern entfuhr ihr. „Und ich wollte dich nur darüber informieren, dass man das Mädchen nicht finden konnte“, gab Valka trocken zurück, während sie sich erneut zu Eivor herunter setzte, um ihre Temperatur zu überprüfen. Randvi strich sich verlegen über die Kleidung, während sie sich dazu entschied, die Situation einfach ohne weitere Worte so stehen zu lassen. Auch, wenn sie bemerkte, dass Valka mit dem haderte, was sie gerade zu sehen bekam. „Vielleicht suchst du deinen Ehegatten auf. Er ist unten an der Anlegestelle. Er wird dir sagen, was als nächstes zu tun ist. Ich bleibe hier, bei Eivor.“ Valka blickte Randvi prüfend hinterher, während diese wortlos nickend das Zimmer verließ. Dann setzte sie sich auf den Boden und begann, die Götter um ihr Wohlwollen anzubeten. Kapitel 8: ----------- „Sigurd! Randvi!“ Valka stürmte den Hang hinunter zur Anlegestelle, wo Sigurd und Randvi sich um eine aufgebrachte Dorfbewohnerin kümmerten, deren Haus über Nacht plötzlich Feuer gefangen hatte. Noch immer stieg leichter Rauch von dem Reetdach auf und über dem Dorf lag der übliche Geruch eines Brandes. Während Sigurd sich gemeinsam mit einigen Kriegern besprach, wie es zu dieser Situation kommen konnte und was nun zu tun war, saß Randvi mit der sichtlich schockierten alten Frau vor deren Haus auf einer Bank und versuchte, sie zu beruhigen. „Randvi, da bist du ja.“ Randvi wich sofort sämtliche Farbe aus dem Gesicht, als sie in das Valkas schaute. Die Seherin trug eine Mischung aus Sorge und Erleichterung in ihrer Mimik. „Valka, was ist los?“ Randvi erhob sich, während sie der alten Frau noch einmal beruhigend über die Stirn strich und ihr versicherte, dass sie sofort wieder für sie da sei. Dann wandte sie sich Valka zu. Sie gingen einige Schritte zur Seite. „Es ist Eivor. Sie ist aufgewacht.“ „Den Göttern sei Dank! Geht es ihr gut?“ Randvi verschränkte nervös die Arme vor der Brust. Die letzten Tage hatten sie sehr aufgewühlt. Es war eine Reihe an Dingen passiert, die sie selbst und alle anderen sich nur schwer erklären konnten. Ohne Eivor hatte sie all das allein erledigen müssen. Zuerst die Verhandlungen mit einem Mann, der in das Dorf kam und sich als Bäcker bewarb, in der Hoffnung auf Unterschlupf und ein Haus, in dem er sich seine Bäckerei einrichten konnte. Die Verhandlung endete schnell in einem Kampf, nachdem Randvi ihn abgewiesen und ihn gebeten hatte, Hræfnathorp zu verlassen. Sigurd selbst hatte ihn erschlagen müssen, da der Mann nicht gewillt war, das Dorf wieder zu verlassen. Nun, zwei Tage später, der plötzliche Brand eines Hauses, den sich niemand erklären konnte. Randvi versuchte in dieser Zeit stark zu bleiben. Doch die Unterstützung und der Zuspruch von Eivor fehlten ihr sehr. Jetzt, in diesem Moment, wollte sie daher nur noch zu Eivor. Sie wollte sicher sein, dass es ihr gut ging. „Komm, wir gehen zu ihr“, gab Valka kurz zurück, bevor sie sich auf den Weg zum Langhaus machten. Eivor saß bereits aufrecht an der Kante des Bettes und wirkte etwas unruhig, als Valka und Randvi dem Raum betraten. Sie blickte sich nervös um. Dass nun jemand bei ihr war, bemerkte sie zuerst nicht. Valka seufzte und setzte sich zu Eivor herunter. „Du solltest doch noch liegen bleiben.“ Eivor sah Valka müde in die Augen. Sie wirkte etwas desorientiert und versuchte ununterbrochen, etwas zu sagen. Doch ihre Kehle war so trocken, dass sie kein Wort heraus bekam. „Du solltest etwas trinken“, sagte Valka bestimmt, während sie aufstand, um einen Becher vom Tisch zu nehmen. Sie füllte ihn mit Wasser, das sie am Abend zuvor noch abgekocht hatte und reichte ihn Eivor, die darauf hin so schnell zu trinken begann, dass ihr das Wasser wieder aus den Mundwinkeln heraus lief. „Langsam, Eivor. Wenn du zu schnell trinkst, kannst du es womöglich nicht bei dir behalten.“ Valkas Worte gingen an Eivor vorbei. Drei Tage lang war sie ohne Bewusstsein. Diese Art von Kontrollverlust mochte sie überhaupt nicht. Randvi setzte sich zu Eivor aufs Bett und legte ihre Hand auf ihre Schulter. „Wie geht es dir, Eivor?“, fragte sie vorsichtig, während sie Eivor den leeren Becher abnahm und ihn zur Seite stellte. Eivor wischte sich erleichtert keuchend das Wasser vom Mund und stützte sich auf ihre Arme. Nur langsam sickerten Randvis Worte zu ihr durch. Sie verstand noch nicht, was genau geschehen war und versuchte noch, die Situation in der sie sich befand für sich selbst einzuschätzen. Ihr Blick wanderte unruhig durch den Raum, immer wieder auf und ab. Sie war in ihrem Schlafraum. Randvi und Valka waren bei ihr und sie fühlte sich benommen und ihr war übel. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde Thor selbst darauf herum hämmern. Insgesamt war ihr danach, sich ausgiebig zu waschen. Die Haut in ihrem Gesicht fühlte sich scheußlich an, einige Haarsträhnen klebten ihr auf der Stirn und die Wunde auf ihrer Wange brannte wie Feuer, als sie versehentlich darauf herum tastete. Sie war verwundet? Eivor konnte sich ihren Zustand nicht erklären. Mit wirren Augen blickte sie nun nacheinander Randvi und Valka an. „Was... was ist passiert?“ Ihr Hals brannte furchtbar, als sie die ersten Worte sprach, weshalb sie stark zu husten begann. Randvi blickte Valka besorgt an und strich Eivor beruhigend über den Rücken. „Wir hatten gehofft, du könntest uns sagen, was passiert ist“, gab sie dann zurück. „Kannst du dich noch an irgend etwas erinnern, Eivor?“, fragte Valka, während sie Eivor angestrengt musterte. Eivor begann nachzudenken. Doch alles, was sie vor ihrem inneren Auge sah, war Dunkelheit. Und alles, was sie in diesem Moment spürte, waren diese furchtbaren Magenschmerzen und die Übelkeit. Eivor keuchte schmerzerfüllt auf, drückte ihre Faust in ihre Magengrube und beugte sich nach vorn. „Eivor! Was ist los?! .. Valka, tu doch etwas!“ Randvi ließ panisch von Eivor ab und sprang vom Bett auf, damit Valka sich setzen konnte. „Nur die Ruhe, Randvi. Ich habe damit gerechnet, dass das passieren wird. Altweiberklaue liegt schwer und verursacht noch lange Zeit nach der Verabreichung Krämpfe. Ich braue ihr deshalb bereits einen Heiltrank, der wird ihr helfen.“ Valka drückte Eivor leicht nach hinten, um sie wieder auf das Bett zu legen. „Du musst dich noch ausruhen, Eivor. Ich bringe dir ein wenig zu Essen, damit sollten die Krämpfe erträglicher werden.“ Valka legte Eivor eine Decke über und wandte sich zu Randvi um, die noch immer aufgebracht am Bettende stand. „Pass auf, dass sie nicht aufsteht. Das ist wichtig. Jede Bewegung verursacht zusätzliche Schmerzen. Das wollen wir vermeiden.“ „Verstanden. Aber Valka, bitte gib Sigurd bescheid. Er soll dafür sorgen, dass sich jemand um die alte Dame am Anleger kümmert. Du weißt ja, ihr Haus...“ Valka nickte verständnisvoll und verließ dann wortlos den Raum. „Randvi...“, presste Eivor angestrengt hervor. Die Schmerzen hatten sie noch immer fest im Griff. „Ich glaube... ich erinnere mich an etwas...“ Randvi setzte sich zügig zu Eivor aufs Bett, um sie besser verstehen zu können. „Da war dieses Mädchen...“, die Bilder setzten sich nur langsam in Eivors Kopf zusammen. Und immer wieder gab es Lücken. Doch an das Mädchen, Eysa, konnte sie sich nun erinnern. „Sie hat gekocht und... und etwas zu trinken für uns bereitet.“ Ein erneuter Magenkrampf brachte Eivor vorerst zum Schweigen. Randvi blickte sie mitleidig an. Es machte sie krank, Eivor so zu sehen. Aber natürlich sagte sie ihr so etwas nie. Eivor war nicht der Mensch, der Mitleid wollte. „Sachte, Eivor. Vielleicht solltest du dich zuerst ausruhen und...“ „Nein!“, unterbrach Eivor sie. „Dieses Mädchen... sie hat mir etwas zu trinken gegeben. Ich weiß noch... dass es furchtbar schmeckte... und mir übel wurde...“ Eivor dachte noch einmal angestrengt nach. Doch so sehr sie es versuchte, das war alles, woran sie sich erinnern konnte. „Nun“, begann Randvi nachdenklich. „Das würde Valkas Theorie bestätigen. Wir gehen davon aus, dass dieses Mädchen, Eysa, Informationen aus dir herausholen wollte, die sie nichts angehen. Valka nannte es... Altweiberklaue. Eine Art Kraut, um dich gesprächig zu machen. Du musst wissen, als wir dich hier fanden, bewusstlos und mit dieser Wunde auf deiner Wange, da war Eysa nicht mehr da. Sie ist einfach verschwunden. Sigurd und die Männer haben alles abgesucht, wir sandten Späher aus. Doch niemand hat sie gefunden. Wir wissen nicht, was ihre Absicht dahinter war. Aber es muss dennoch einen Kampf zwischen euch gegeben haben. Wir fanden sehr viel Blut auf dem Boden und das Zimmer sah sehr wüst aus.“ Eivor versank in Gedanken. Eysa. Sie hatte ihr so viel anvertraut. Ihre Gefühle, ihre Kampftechniken, ja sogar ihre Heimat, Hræfnathorp. Sie hatte ihr von ihren Visionen erzählt. Und entgegen aller Skepsis von Sigurd und dem gesamten Clan hatte sie das Mädchen aufgenommen. Das Vertrauen, die Gefühle für Eivor, das Beieinanderliegen. Alles reine Täuschung. Doch Eivor fragte sich wofür? „Randvi... wir sollten kampfbereit bleiben. Ich habe diesem Mädchen mehr anvertraut, als mir selbst lieb ist. Ich war schwach und sah in ihr eine Vertraute. Ich hoffe, es ist nicht zu spät. Wir sollten Sigurd...“ Eivor verstummte abrupt. Ihr und Randvis Blick trafen sich, während sie angestrengt lauschten und hofften, dass das, was sie hörten nur eine Übung war. Doch falsch. Sigurd hatte in sein Horn gestoßen. Das hieß ohne Ausnahme; sie wurden angegriffen. Eivor warf die Decke von sich und griff nach ihrer Axt, doch Randvi stellte sich ihr sofort in den Weg. „Nein, Eivor! Du kannst nicht kämpfen, du bist noch zu schwach!“ „Randvi. Bitte. Ich habe euch die letzten Tage nicht beistehen können, aber jetzt braucht mich mein Clan! Und ich werde gehen.“ „Das gefällt mir nicht, Eivor. Aber bitte, ich halte dich nicht auf.“ Eivor stand von ihrem Bett auf. Die Übelkeit hatte sie noch immer fest im Griff, weshalb ihr das Laufen schwerer fiel, als sie es sich eingestehen wollte. Doch egal was nun kam, sie musste durchhalten. Für Randvi, für Sigurd und für ihren Clan. Sie schleppte sich so schnell sie konnte aus dem Langhaus, Randvi dicht hinter ihr. Das Sonnenlicht brannte in ihren Augen, als sie aus der Tür zur großen Esche lief, um sich einen Überblick zu verschaffen. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Am Anleger und im Dorf kämpften bereits sämtliche Männer gegen die Feinde, die das Dorf in kürzester Zeit überrannt hatten. Eivor konnte im Gemenge nicht erkennen unter welchem Banner sie kämpften. Sie sah sich um. Viele Frauen hatten sich mit ihren Kindern bereits vor dem Langhaus versammelt. Sie stellten sich schützend vor die Kleinen. „Geht in das Langhaus und bleibt dort! Verschließt die Türen! Sammelt jeden ein, der nicht kämpfen kann!“, brüllte Eivor ihnen zu. Dann stürmte sie nach vorn. Randvi blickte ihr besorgt hinter her, doch auch sie folgte Eivor einige Sekunden später in die Schlacht. Wie ein Waldbrand stürmte Eivor durch die Menge und schlug innerhalb kürzester Zeit ein Dutzend Männer nieder. Im Gemenge versuchte sie immer wieder, sich einen Überblick zu verschaffen. Sie fand Sigurd, auch er tobte wie das raue Meer. Doch schon nach kurzer Zeit bemerkte sie, dass ihre eigenen Männer zunehmend weniger wurden. „Sigurd!“, brüllte sie mit voller Kraft, in der Hoffnung, dass er sie hörte. „Wir verlieren zu viele Männer!“ Ein Schild traf Eivor im Rücken, sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Der Stoß war hart gewesen, doch sie wandte sich um und trieb dem Angreifer ihre Axt direkt in den Schädel. Wieder ging ihr Blick herum. Sie keuchte angestrengt, ihre Schmerzen nahmen mit jeder Sekunde zu. In der Menge viel ihr plötzlich eine Gestalt auf. Sie war deutlich größer als alle anderen Krieger hier und komplett in schwarze Gewänder gehüllt. Ein Gesicht konnte sie nicht erkennen, doch sie beobachtete, wie diese Gestalt sich Sigurd von hinten zu nähern schien. Ihre Augen weiteten sich. Nein. Nicht Sigurd. „Sigurd!!“, schrie Eivor, so laut sie konnte. Doch er konnte sie nicht hören. Um das Schlimmste zu verhindern, stieß sie zwei Krieger zur Seite und rannte los. Dann traf sie ein Pfeil ins Bein. Eivor ging zu Boden. Der Schmerz, den sie in diesem Moment fühlte war der stärkste, den sie jemals gefühlt hatte. Auf den Knien sitzend sah sie an sich herunter. Der Pfeil hatte sie in den Oberschenkel getroffen. Blut tränkte ihre Hose um die Einschussstelle. Sie presste ihre Hand auf die Wunde, was den Schmerz noch einmal verstärkte. Um sie herum fand nun alles nur noch in Zeitlupe statt. Sie bemerkte kaum noch, wie ihre eigenen Krieger neben ihr tot zu Boden gingen. Das Kampfgebrüll klang nur noch dumpf in ihren Ohren, bis es schließlich ruhig wurde. Eivor sah auf. Der Schmerz ließ sie immer wieder kurz das Bewusstsein verlieren, doch sie blieb stark. Sie griff den Pfeil an der Einschussstelle und an seinem Ende und zerbrach ihn in der Mitte, gefolgt von einem schmerzerfüllten Schrei. Eivor atmete schwer, als sie nach ihrer Axt griff, um sich wieder aufzurichten, doch während sie das tat, hörte sie eine Stimme, die sie direkt ansprach. „Bleib auf dem Boden und lass die Axt fallen, Wolfsmal!“ Als Eivor sich nun umsah, standen Sigurd, Randvi und einige verbleibende Krieger ihrer Mannschaft etwas entfernt von ihr in einer Reihe. Jeder von ihnen mit einem Dolch an der Kehle. Sie selbst saß noch immer kniend auf dem Boden und stützte sich auf ihre Axt. Eivors Blick verfinsterte sich. Was ging hier vor sich? Und wer hatte mit ihr geredet? „Komm raus und zeig dich, du Feigling!“, gab sie dem Unbekannten zurück, während sie ihre Sinne schärfte und spürte, wie dieser sich ihr nun von hinten näherte. Sofort griff sie nach ihrer zweiten, kleineren Axt, die sie immer an ihrem Gürtel trug. Doch weit kam sie nicht. Auch sie spürte nun kaltes Metall an ihrem Hals. „Was habe ich gerade gesagt, Wolfsmal? Beide Äxte fallen lassen. Oder soll ich dich direkt hier töten? Nein... das würde mir den Spaß verderben.“ Ein belustigtes Raunen ging durch die feindlichen Reihen die ebenfalls da standen und auf Eivor herunter sahen. „Wer seid ihr?!“, brüllte sie rasend, während sie versuchte, ihre Niederlage zu verarbeiten. Noch nie hatte es jemand geschafft sie und ihren Clan in solch kurzer Zeit zu besiegen. Einen Augenblick herrschte noch Ruhe, dann taten sich die Reihen vor Eivor auf, um Platz für jemanden zu machen. Eivor überkam erneut die Übelkeit, als sie sah, wer dort vor ihr stand. „Hallo Eivor. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, sahst du besser aus.“ Eysa lachte bissig. In Eivor brannte reine Wut. Sie griff wieder nach ihren Äxten, wurde jedoch schnell erneut daran erinnert, dies besser sein zu lassen. Die Klinge an ihrem Hals drückte sich in ihre Haut. „Du wagst es, noch einmal hier her zu kommen?!“, presste Eivor rasend hervor. „Klar, und sieh nur, wen ich mit gebracht habe.“ Die Klinge verschwand abrupt von Eivors Hals und sie konnte nun zu dem Mann aufsehen, der hinter ihr gestanden hatte. Erneut wurde ihr übel und sie fühlte eine innere Ohnmacht als sie sah, wer dort stand. „Weißt du noch? Gorm Kjötvisson? Und wie er meine Heimat eingenommen hat und ich fliehen musste? Ohne meine Eltern die sich ihm untergeben haben? Du hast mir bedingungslos geglaubt. Und unser Plan ist dadurch noch viel schneller aufgegangen, als erhofft. Dafür danke ich dir, Eivor. Von ganzem Herzen. Ich fand es sehr rührend, wie aufopferungsvoll du dich um mich und nicht um deinen Clan gekümmert hast, indem du mich aufgenommen und sogar einen deiner Krieger erschlagen hast, obwohl mich niemand wollte. Und nun... würde ich unsere gemeinsame Geschichte gern zu Ende bringen. Wo wir grade bei Geschichten sind... du hast mir gesagt, du könntest zu deinem Raben sprechen und durch ihn sehen. Wie Odin, nicht?“ Eivor senkte den Kopf während alle anderen Überlebenden ihres Clans sie mit hasserfüllten Blicken musterten. „Und wo wir bei Odin sind... verrate uns doch, wie du in der Lage bist, in die Götterwelten zu reisen.“ „Nein, Eivor! Tu das nicht!“, rief Randvi aufgewühlt, während Gorm sie aufforderte, ruhig zu sein. Eivors Blick fiel auf Sigurd, dessen Wut wohl am Heißesten brannte. Er hatte von Anfang an Recht. Sie fragte sich, ob er wohl jemals in der Lage war, ihr diesen Fehlschlag zu verzeihen. Je länger Eivor in ihren Gedanken versunken war, desto ungeduldiger wurde Gorm. „Unser Rabe redet wohl doch nicht.“ Eivor traf ein harter Tritt in den Rücken. Unter Schmerzen viel sie nach vorn und stützte sich nun auf ihre Arme. Sie hätte Gorm längst einen Axthieb verpasst, doch sie wusste, dass sie nicht aufstehen konnte. Zu stark waren die Schmerzen in ihrem Bein. Kurze Zeit später fühlte sie, wie Gorm sie an den Haaren packte. Er riss sie wieder auf die Knie und blickte ihr direkt in die Augen. „Also dann. Sag mir, wie ich nach Asgard komme.“ Eivor schloss kurz die Augen, holte tief Luft und spuckte Gorm direkt ins Gesicht. Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge. Dann traf Eivor ein harter Schlag in den Magen. So hart, dass sie nach Luft rang und zur Seite fiel. Randvi schloss besorgt die Augen und drehte den Kopf weg. Sie wusste um Eivors Schmerzen und wollte nicht einfach tatenlos zusehen. Doch Sigurd in seiner Wut befahl ihr, hinzusehen. Als Eivor sich erneut aufrichtete hatte der Schmerz noch einmal zugenommen. Sie schmeckte Blut und hatte Probleme, bei Bewusstsein zu bleiben. Gorm hatte nun genug. Er griff Eivor erneut bei den Haaren, riss ihren Kopf nach hinten und zog seinen Dolch. „Du hast noch eine letzte Chance, Wolfsmal. Rede. Oder ich töte dich und den Rest deines Clans und finde es selbst heraus.“ Eivor entfuhr ein heiseres Lachen. „Wenn du denkst, dass du das kannst?“ Gorm presste den Dolch an Eivors Kehle und funkelte sie wütend an. Selbst kurz vor dem Tod schaffte sie es noch, ihn vor seinen Leuten zum Narren zu machen. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Als er sich dazu entschied Eivor zu töten, ließ eine Stimme sie alle aufhorchen. „Es ist der Trank!“ Alle Blicke lagen auf Valka, die mit einer Schüssel einige Meter abseits des Geschehens stand. Eivor riss die Augen auf. „Valka! Nein!“ Sie wollte aufstehen, doch ein Tritt von Gorm ließ sie wieder zur Seite fallen. „Schweig, Wolfsmal! Und danke den Göttern, dass wenigstens eine aus deinem Clan der Vernunft ins Auge sieht.“ Gorm wandte sich Valka zu. „Sprich weiter, Seherin.“ „Dieser Trank bringt jeden, der ihn trinkt nach Asgard. Ins Reich der Götter. In deinem Fall, Gorm Kjötvisson, empfehle ich, deine Krieger ebenfalls trinken zu lassen. Du wirst sie brauchen, wenn du dort angekommen bist. Denn niemand wird dich dort willkommen heißen.“ Valka funkelte ihn wütend an und überreichte Gorm dann das Gefäß, in dem sie den Trank aufbewahrt hatte. „Nimm den Trank und lass unseren Clan in Frieden!“ Gorm wandte sich siegreich an seine Männer. „Lasst sie frei. Ich bin nicht wie mein Vater. Ich halte mein Versprechen.“ Ein lautes Lachen brach aus, während Gorms Krieger von Sigurd, Randvi und allen Kriegern des Rabenclans abließen. Randvi stürzte sofort zu Eivor, die derweil nur noch schwer atmend auf dem Boden lag. Sigurd und die Krieger eilten zum Langhaus, um nach den Frauen und Kindern zu sehen, die sich dort versteckt hatten. Weiter unten am Anleger stiegen Gorm, Eysa und die Krieger auf ihr Schiff. Jetzt kam auch Valka Eivor zur Hilfe. Gemeinsam mit Randvi stützten sie sie und brachten sie zurück in ihren Schlafraum. In der großen Halle des Langhauses machte sich derweil Unmut über Eivor breit. Sigurd hatte Mühe die Menge zu beruhigen. „Ruhe bitte! Ruhe! Ich stehe hier als Stellvertreter für Eivor, unsere Jarlskona, die dazu berufen war uns zu schützen und uns durch die dunkelsten Stunden zu führen. Ich verstehe eure Aufregung denn auch ich wurde in meiner Meinung einfach übergangen. Eine Jarlskona sollte ihre eigenen Bedürfnisse niemals vor die des Clans und der Stellvertreter stellen. Doch leider ist das passiert.“ Im Nebenraum hatten Valka und Randvi alles mit gehört und versuchten, Eivor so gut wie möglich davon abzuschotten. Sie mussten sich zuerst um ihre Wunden kümmern. Dann konnte über alles weitere verhandelt werden. Doch Sigurd wollte nicht so lange warten. Mit den noch verbleibenden Clanmitgliedern stellte er sich in die Tür zu Eivors Schlafraum. „Nicht jetzt, Sigurd, bitte!“, zischte Randvi, während sie Eivor ein Stück Stoff zwischen die Zähne schob, um sie mit einem kurzen „Hier, beiß da drauf“ darauf vorzubereiten, die Pfeilspitze aus ihrem Bein zu entfernen. Doch Sigurd begann zu sprechen. „Jarlskona Eivor. Ich weiß, dass du mich hören kannst. Ich gestatte dir, solange hier zu bleiben, bis deine Wunden verheilt sind und du wieder in der Lage bist, für dich selbst zu sorgen. Der noch verbleibende Clan ist sich einig, dass du nicht mehr Jarlskona des Rabenclans bist. Eine neue Verhandlung wird sehr bald stattfinden. Bitte sei dort, damit alles schnell vorüber ist.“ Eivor kämpfte derweil mit sich und ihren Schmerzen. Sie hatte Sigurd gehört, in aller Deutlichkeit. Aufgebracht versuchte sie, etwas zu antworten, doch der Stoff in ihrem Mund verhinderte das. „Sigurd, bitte ich...“, presste Eivor dagegen, bevor ihr ein markerschütternder Schrei entfuhr. Der Pfeil, er war draußen. Valka presste sogleich ein Stück Stoff auf die Wunde und bedeutete Randvi, eine Klinge ins Feuer zu legen. Dann wandte sie sich an Sigurd. „Wenn du und diese Menschen nicht sofort hier verschwindet, dann werde ich euch alle nach Helheim schicken! Fort mit euch!“ Valka war überdeutlich. Sigurd wandte sich mit einem Schnauben zum Gehen um. „Das ist noch nicht zu Ende!“, rief er noch, doch Valka war bereits wieder mit Eivor beschäftigt. Sie presste den Stoff erneut zwischen Eivors Zähne und begann, ihr über die Stirn zu streichen. „Eivor, hör mir gut zu. Weißt du noch, wie du Synin damals beigebracht hast, zu dir zurück zu kommen?“ Eivor nickte und musste trotz der Schmerzen sogar ein bisschen Lächeln. Genau das, was Valka erreichen wollte. „Ja, ihr beide wart immer ein gutes Team... Randvi, die Klinge.“ Randvi nahm das glühende Messer aus dem Feuer und reichte es Valka, wohl wissend, dass nun der Schlimmste Teil kam. „Nimm ihre Hand“, flüsterte Valka Randvi zu und brachte die Klinge in Position. „Synin wird dich durch diesen Schmerz führen, hört du? Folge Synin. Jetzt.“ Valka presste die glühende Klinge auf Eivors offene Wunde. Wieder entfuhr Eivor ein Schrei, der selbst den Ymirs übertroffen hätte. Randvi kamen ungewollt die Tränen, während Valka konzentriert die blutende Wunde verschloss. Als sie die Klinge von Eivors Haut nahm, hatte diese bereits das Bewusstsein verloren. Valka sah sich noch einmal alles an, um sicher zu gehen, dass Eivor kein Blut mehr verlor. Dann ließ sie erschöpft von Eivor ab. Sie brauchte einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen, bevor sie an Randvi gewandt sagte:„Sie wird wieder. Lassen wir sie aber bis dahin ausruhen.“ Randvi nickte, während sie eine Decke über Eivors Körper legte. Noch einmal sah sie in deren Gesicht, bevor sie gemeinsam mit Valka das Zimmer verließ, um sich nun Sigurd vorzunehmen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)