Colorblind von Neku_off (Take your glasses off) ================================================================================ Prolog: Play it cool -------------------- „Vater, was haben wir in einem abgelegenen Wald zu suchen?“ Yukio stapfte immer wieder in die bereits hinterlassenen Fußabdrücke seines Vaters und versuchte sein Bestes, nicht hinzufallen. Der Schnee war frisch und glich quasi Pulver, das die Erde wunderschön bedeckte. Kleine Flocken schmolzen binnen Sekunden auf seiner Haut, die das Beste tat, um ihn nicht frieren zu lassen. Seine Brille beschlug immer wieder, da er seine Nase unter seinem Schal verdeckt hatte, um der Kälte ein wenig zu entkommen. „Ich möchte eine alte Freundin besuchen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe, da sie den Titel als Exorzistin an den Nagel gehängt hat...“, antwortete Shiro ehrlich und warf sich seinen Schal wieder über die mit Schnee bedeckte Schulter. Der Junge horchte interessiert auf, stapfte den Berg aber derweil auch weiter hinauf. „Wieso hat sie das getan?“, fragte der Novize weiter und legte den Kopf kurz fragend schief. „Das hat sie nicht begründet. Sie war von Heute auf Morgen einfach weg...“ Yukio entschied sich dafür das Thema ruhen zu lassen und folgte Shiro schweigend. Er hatte erst vor wenigen Wochen den Titel Novize angetreten. Die Ausbildung hatte er auf Empfehlung seines Vaters angefangen. Schon immer hatte er seinen Vater Shiro dafür bewundert, wie er Leute beschützte. Und genau das wollte er auch tun. Die Welt vor Dämonen schützen und andere so schützen, wie Shiro es bei ihm tat. Dennoch war es eine Seltenheit, Shiro so schweigsam zu sehen. Er redete nicht wie ein Wasserfall, war aber meist für Gespräche offen. Vielleicht ging ihm das alles nahe? Immerhin hatte er erwähnt, dass diese Frau eine Freundin von ihm sei, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte... Oder war da mehr als eine alte Freundschaft? Nein, bei Shiro doch nicht. Nach weiteren Minuten Fußmarsch, die sich wie Stunden anfühlten, blieb Shiro stehen. Vor lauter Nachdenken lief Yukio in den Rücken seines Vaters und taumelte sofort entschuldigend zurück. Wie peinlich... Doch Shiro sagte nichts. Er war sich aber sicher, dass er seine Entschuldigung wahrgenommen hatte, denn ihm entwich dann doch ein leises Lachen. Wenn das überhaupt Yukio galt. Der Braunhaarige Novize sah hinter ihm hervor. Eine verschneite Holzhütte, aus deren Schornstein grauer Rauch aufstieg und symbolisierte, dass sich dort drinnen jemand befand. Eine dicke Schneeschicht lag auf dem hölzernen Dach, das man mit Hilfe einer Leiter, die an das Haus gelehnt war, problemlos erreichen konnte. Einige Treppen führten auf einen kleinen Balkon, der Überdacht wurde und die Tür vor Schnee schützte. Hinter den Fenstern, durch die man ein wenig in die Hütte schauen konnte, war ein angenehm warmes Licht zu sehen. Ob das nun vom Feuer oder von Elektrizität kam, war ihm aber nicht bekannt. Shiro drehte den Kopf zu dem jungen Novizen. Ein warmes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Wartest du bitte hier, Yukio?“ Der Junge nickte nach kurzem Zögern und nahm auf den Holztreppen Platz. Währenddessen betrat Shiro die Holzhütte. Aber nicht, ohne in einem bestimmten Rhythmus gegen die Tür zu klopfen. Hatte das irgendetwas zu bedeuten? Wenn sie sich seit Jahren nicht gesehen haben, wie kam er dann auf die Idee, so ausgefallen anzuklopfen? Yukio rümpfte die Nase vor Kälte. An sich hatte er keine großen Probleme mit der Kälte, immerhin war er im Winter geboren und dieser die ersten Lebensmonate ausgesetzt gewesen. In Ruhe betrachtete er die fallenden Schneeflocken in Zeitlupe und wie sie mit vereinten Kräften immer mehr die Umgebung weiß anmalten. Es war schön hier. Der Schnee schien nicht zu kalt und wenn man wusste, wie der Weg war, konnte man auch in die Stadt kommen, um Einkäufe zu tätigen. Die Tannen um das Haus herum waren gesund und groß gewachsen und schienen auch genug Feuerholz zu spenden an den kältesten Tagen des Winters. Wie es hier wohl im Frühling und Sommer aussah? Welche Blumen würden hier wachsen und welche Tiere würden zu sehen sein? Rehe? Eichhörnchen? Gab es an einem so friedlichen Ort Dämonen? Yukio konnte keine Stimmen hinter sich im Haus wahrnehmen, stattdessen hörte er ab und zu das Knistern von herunterfallenden Schneehaufen von Bäumen oder des Daches. Deshalb zog er seine Handschuhe ein wenig höher und schüttelte sich den Schnee von den schokoladenbraunen Haaren. Seine Brille beschlug noch immer in regelmäßigen Abständen durch seine Atmung und seine Füße waren vom Schnee bereits nass getränkt. Langsam aber sicher wurde seinem Körper also kalt... Dann erblickte er etwas im Augenwinkel und wirbelte herum. Im Aufstehen griff er an sein Holster und zückte seine geladene Pistole. Aber statt zu schießen blieb er stehen und musterte... den Schneemann? Seine Finger schlossen sich fester um seine Waffe und sein rechter Zeigefinger ruhte bereits auf dem Abzug. Woher kamen denn bitte laufende Schneemänner? Die gab es doch nur in Kinderbüchern. Dennoch schien er nicht alleine zu sein. Denn hinter einem der Bäume standen gleich mehrere Schneemänner, einige mit Schals oder Hüten aus Eimern, die ihn vorsichtig anstarrten und immer mehr hinter den Baum rückten. Als er einen grünen Goblin erblickte, der ebenfalls bei den Schneemännern schwebte, drückte er reflexartig ab und traf aber nur den dicken Baumstamm, hinter dem die Dämonen sich versteckten. Sie sprangen erschrocken in die Höhe und drehten sich um, um das Weite zu suchen. Yukio lud mit seinem Daumen nach und richtete die Waffe noch immer auf die Dämonen, bereit, erneut abzudrücken. „Hey, was fällt dir ein?!“ Yukios Arm wurde stark nach unten geschlagen und ein weiterer Schuss löste sich. Er hinterließ ein Loch im Pulverschnee und Yukio riss den Kopf schockiert hoch, um der anderen Person, die seinen Arm weggeschlagen hatte, ins Gesicht zu sehen. „Was fällt dir ein, einfach meine Arbeit zu unterbrechen?! Das ist kein Spielzeug!“ Sauer wedelte er mit der Waffe herum, realisierte dann aber, wie dumm diese Idee eigentlich war. Immerhin handelte es sich hier um eine echte Waffe. Also lief er einige Schritte auf Abstand zurück, um die Pistole wieder auf die Dämonen zu richten. „Das sind Dämonen, wieso schützt du sie?!“ Er blickte zum Baum, wo die Dämonen mittlerweile verschwunden waren. Nur ihre Fußspuren waren noch zu sehen, was aber nur eine Frage der Zeit war, bis der Schnee diese verdeckte. Trotzig schnaubte er und musterte den Jungen gegenüber von sich. Er trug eine braune Jacke mit einem grünen Schal, darunter einen dunkelroten Pullover. Seine schwarzen Haare hingen ihm wild ins Gesicht und seine blauen Augen funkelten ihn wutentbrannt an. Er war kleiner als Yukio, mindestens einen halben Kopf, wenn nicht sogar noch mehr. Und er war sauer, was man anhand seines Kiefers erkennen konnte, da er offensichtlich die Zähne aufeinander biss. „Sie haben dir doch gar nichts getan!“, erwiderte der Junge nur laut und kickte Yukio Schnee entgegen, was den jungen Novizen noch ein Stück zurück stolpern ließ. Naja, immerhin bauten sie so Abstand auf, denn dem Kerl wollte er nicht zu nahe kommen, so bestialisch wie er sich verhielt. Yukio wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, nahm dabei seine verschmierte Brille ab und rief sofort zurück: „Es sind aber noch immer Dämonen! Und die müssen beseitigt werden!“ Die Tür der Holzhütte wurde aufgerissen und Shiro stand mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck im Rahmen von dieser. Hinter ihm erschien eine Frau, die kleiner war als er und lange braune, wellige Haare hatte. Ihre Haut war blass wie Schnee und ihre Augen waren so intensiv wie die des Jungens, der ihm gegenüberstand. Kurz musterten sein Vater und die Fremde sie intensiv, ehe Shiro seine Beine in Bewegung setzte. „Yukio, was ist denn hier los?!“, fragte er laut und lief zu seinem Sohn, der stotternd die Waffe sinken ließ. „Da waren Dämonen, Vater. Und bevor ich sie beseitigen konnte wurde mir von dem da“ er nickte in Richtung des Jungen „die Hand weggeschlagen.“ Der Junge sah ihn mit einem Schmollmund und zusammengezogenen Augenbrauen an. Wenn Blicke gerade töten könnten... „Rin, geht es dir gut?“ Die fremde Frau drängte sich an Shiro vorbei, schubste ihn dabei gegen Yukio und nahm das Gesicht des Jungen in die warmen Hände, um es nach Wunden abzusuchen. Sie drehte es am Kinn von links nach rechts, strich ihm die dunklen Strähnen aus dem Gesicht und atmete dann erleichtert aus. „Aber klar doch, du kennst mich“, erwiderte der Junge – Rin – und lachte warm. „Ich wollte nur nicht, dass Schneemann und die anderen verletzt werden.“ Sie schloss ihn in die Arme. „Jetzt haben die Viecher auch noch Namen?“, fragte Yukio monoton, und Shiro klopfte ihm auf die Schulter. Dann entwich ein Räuspern seiner trockenen Kehle und er kratze sich überlegend am Hinterkopf. Dabei gab er einen nachdenklichen Laut von sich. „Jetzt haben die Viecher auch noch Namen“, äffte Rin den Braunhaarigen nach und rollte genervt mit den Augen. „Du hast doch auch vermutlich 'nen Namen. Wobei die Frage hier ist, wer der Dämon ist. Der, der grundlos auf etwas schießt, oder die, die nichts tun und nur ihre Runden ziehen.“ Rin schnaubte wütend. „Yukio, du scheinst Bekanntschaft mit Rin gemacht zu haben“, sagte Shiro nun nachdenkend und deutete auf den kleineren Jungen. „Rin, das ist mein Sohn Yukio.“ Rin antwortete nicht sondern hielt seinen Blick auf die Waffe von Yukio gerichtete. Dieser umklammerte sie nur noch fester, fast schon verängstigt, dass der Fremde sie ihm entreissen wollen würde. „Pack das Ding weg“, forderte er ernst, und seine Mutter löste sich von ihm, ehe sie ihn dazu brachte, ihr in die Augen zu sehen. Sie schienen Worte auszuwechseln, die er aber nicht hören konnte. Doch Rin hielt durchgehend seinen Blick auf ihn und die Waffe gerichtet. Also steckte Yukio seine Waffe widerwillig zurück und wurde sofort von Shiro angesprochen, als Rin dann endlich den Blickkontakt zu seiner Mutter erwiderte. Sie kniff ihm in die Wangen und er rieb sich diese nach dem Satz, den sie von sich gegeben zu haben schien, die gerötete Haut. Aber Yukio wand sich an seinen Vater. „Dir ist bewusst, dass sich hier Dämonen herumtreiben und du tust nichts dagegen?“, zischte der Novize fassungslos zu Shiro hinauf, und dieser sah nachdenkend weg zu dem Baum, in dem das kleine Einschussloch von Yukio zu sehen war. „Das hier ist alles ein wenig kompliziert, Yukio... Yuri lebt hier mit den Dämonen, sie tun ihr und ihrem Sohn nichts.“ „Und dennoch ist es unsere Aufgabe sie zu-“ „Das weiß ich auch!“, erhob Shiro nun die Stimme, und Yukio verstummte. Auch Rin und Yuri sahen zu dem Paladin. „Es geht hier um das Leben von Yuri und ihrem Sohn, ja?“ „J-ja...“ „Und außerdem, Yukio“ Shiro griff Yukio an die Hüftgürtel und entledigte ihn seiner Waffe. „Ist die nur fürs's Training geeignet, du darfst diese Waffe noch nicht offiziell nutzen.“ Rin lachte leise auf: „Loser.“ Yukio ließ beschämt den Kopf hängen und biss wütend die Zähne zusammen. So sehr er es auch hasste, aber sein Vater sagte die Wahrheit. Er brachte ihm bei, mit Pistolen und diversen Munitionsinhalten zur Dämonenbekämpfung umzugehen: innerhalb der Akademiemauern. Und in diesen befanden sie sich aktuell nicht. Sie waren nach dem Training hierher aufgebrochen und Shiro hatte ihm allem Anschein nach vertraut, nicht direkt die Fassung zu verlieren und auf das sich Erstbewegende Wesen zu schießen. Jetzt stand er hier, entwaffnet und wie ein kleiner Schuljunge, der seine Hausaufgaben vergessen hatte und es nicht wagte, dem Lehrer in die Augen zu schauen. Und der blöde Typ Rin lachte auch noch darüber. Wofür er aber auch direkt die Quittung kassierte, da seine Mutter ihm auf den Hinterkopf schlug, woraufhin er das Feuerholz, das er die ganze Zeit unter dem linken Arm getragen hatte, fallen ließ. „Aua, wofür war der denn?!“, rief Rin und sammelte sofort wieder das Holz auf bevor es sich mit Wasser vollsaugen konnte. Denn es war nicht in seinem Interesse, noch einmal Feuerholz zu hacken, nur weil das Vorherige nicht brannte weil es zu nass war und riskierte, durch Funken die Hütte in Brand zu setzen. So heißt wollten sie es dann doch nicht haben. „Du bist unverbesserlich, Rin. Zolle unseren Gästen doch ein wenig Respekt“ Yuri schüttelte den Kopf und ihre braunen Haare wurden von der kalten Winterluft sanft umtanz. Sie wirkte schon fast wie eine Schneeprinzessin. Ihr Sohn schien aber das genaue Gegenteil zu sein. „Ach, ist mir doch egal“, schnaubte der Schwarzhaarige und drängte sich an seiner Mutter vorbei, um in die Hütte zu stapfen. Dabei lief er auch an Shiro und Yukio vorbei. Der Novize sah auf, als der Teenager plötzlich neben ihm stehen blieb und intensiv musterte. Rins Augen, die der Farbe des Himmels im Sommer glichen, scannten ihn von von seinen Schuhen bis hin zur Brille. Als sein Arm sich hob zuckte Yukio reflexartig zurück und ging auf Abstand zu dem Kleineren. Dessen Hand wanderte zu dem Stapel Holz, das er wieder unter den Arm geklemmt hatte und zog einen kleinen Ast aus dem Haufen hervor. Mit einem dämonischen Grinsen wedelte er mit dem Stock hin und her und hatte die ganze Zeit über seine Augen nicht von Yukio genommen. Dessen Herz schlug ihm vor Nervosität hart gegen den Brustkorb und mittlerweile war er sogar in der Lage, seinen Puls zu bestimmen, indem er seinen Daumen in passender Position auf der Fingerkuppe seines Mittelfingers platzierte. Und ja, sein Puls rannte. Dieser Junge gab ihm ganz komische Gefühle. Nahezu bedrohliche, wie ein Tier das seine Beute im Auge behielt. „Willst du Stöckchen holen?“, fragte Rin kalt und sah nun auf den Ast. „Bitte was?“ Yukios Haltung lockerte sich und Verwirrung machte sich auf seinem Gesicht breit. „Wenn Papa wirft, rennst du doch bestimmt brav hinterher und bringst es zurück, oder?“ Ohne ein weiteres Wort drückte er Shiro den Stock in die Hand und ging in die Hütte. Doch bevor er diese betrat klopfte er brav seine Schuhe an der Hauswand ab, um die Wohnung nicht dreckig zu machen. Und Yukio sah ihm nur wütend hinterher. Was ein arroganter Vollidiot. „Ich entschuldige mich für das Verhalten meines Sohnes!“ „Wa-“ Shiro packte Yukio am Hinterkopf und zwang ihn dazu, sich mit ihm tief zu verbeugen. Dabei fiel Yukios Brille unter ihn in den Schnee, doch er war zu schockiert, um diese aufzuheben. Sein Blick war starr auf das Gestell am Boden gerichtet und er wollte nicht akzeptieren, dass sein Vater sich gerade in seinem Namen entschuldigte. Wofür denn bitte? Er hatte nichts falsch gemacht! Und Yuri sah das auch. „Aber bitte, Shiro, Yukio hat nichts falsch gemacht. Rin hat überreagiert, ich entschuldige mich ebenso für sein Verhalten.“ Auch sie verbeugte sich tief und ihre braunen Haare fielen ihr dabei ins Gesicht. „Wieso müssen wir uns denn bitte entschuldigen?“, zischte Yukio leise, und Shiro ließ endlich von ihm ab, dass er sich wieder aufrichten konnte. Eine Antwort auf seine Frage bekam der Junge aber nicht, weshalb er nur mit mies gelauntem Gesichtsausdruck seine Brille aufhob und ein weiteres Mal putzte, ehe sie ihren Weg zurück auf seine Nase fand. Er hörte gar nicht mehr hin, was sein Vater und Yuri zu reden hatten, stattdessen wanderte sein Blick hinüber zur Holzhütte, wo er Rin am Fenster sehen konnte. Er beobachtete sie alle noch immer. Passte er nur auf seine Mutter auf, weil er die Fremden nicht gut kannte, oder war der immer so drauf? Sein Blick war eiskalt und tatsächlich fragte Yukio sich nun erneut, warum er die Dämonen beschützt hatte. Sie dienten nicht zum Schutz der Hütte, es waren Dämonen niedriger Ordnung, die einem maximal Streiche spielten und keine große Bedrohung darstellten. Schließlich drückte Shiro Yukio seine Waffe, allerdings ohne Magazin, wieder in die Hände. Der Novize bedankte sich nicht, zu sehr saß ihm das von vorhin noch in den Knochen und ein unangenehmes Gefühl stieg in ihm auf. Würde er wirklich die Fassung so einfach verlieren und auf die erstbesten Dämonen schießen? Und dann mit der Waffe vor der Nase eines anderen Menschen herumwedeln? Seine Welt war in Watte gepackt als er wieder zu Shiro sah, der lächelnd mit Yuri redete, ehe er sich ein weiteres Mal verbeugte, dieses Mal zum Abschied. Die Frau tat es ihm gleich und auch Yukio folgte der Geste aus Höflichkeit. „Dann richte Rin bitte Grüße aus, wir kommen die Tage wieder vorbei“, riss Shiro Yukio aus seiner Trance, und der Braunhaarige sah seinen Vater stumm von der Seite an. Wieder herkommen? Weshalb denn das? Wegen diesem Vollpfosten? „Er rennt schon nicht weg und ich auch nicht“, lachte die Mutter, und erst jetzt bemerkte Yukio, wie hübsch diese Frau eigentlich war. Sie war kleiner, hatte braune gewellte Haare, die ihr bis zu den Hüften gingen, war die Quelle, von der Rin seine Augenfarbe geerbt hatte und in ihrem Gesicht waren vier Muttermale zu zählen: Unter ihren Augen, unter dem rechten Mundwinkel und über der rechten Augenbraue. Ihr Lächeln war lieb, deutete aber dennoch etwas Verschmitztes an. Man konnte raten, von wem Rin sein freches Verhalten hatte, aber vom Aussehen her schien er überhaupt nicht nach ihr zu kommen. Wo wohl sein Vater war? Ein letztes Wort wurde zwischen dem Paladin und der ehemaligen Exorzistin gewechselt und mit einem leichten Anstoß auf dem unteren Rücken von seinem Vater setzten Yukios Beine sich in Bewegung. Trotz dass er Rin nicht mochte sah er zur Hütte, wo der Gleichaltrige noch immer am Fenster saß, seinen Kopf auf der Hand abstützte und sie ansah. Höflich deutete Yukio ein Nicken mit seinem Kopf als Verabschiedung an, woraufhin er von Rin nur den Mittelfinger seiner freien Hand gezeigt bekam. Nur um danach von hinten von seiner Mutter eins auf die Birne zu bekommen. „Arroganter Depp“, schnaubte Yukio, und Shiro lachte leise. „Kein Anstand.“ „Tja, nicht jeder kann so frühreif und selbstständig sein, Yukio.“ Yukio schwieg und ließ sich diese Worte durch den Kopf gehen. Als sie den Berg herunter gewandert waren und ihre vorherigen Fußspuren schon vom Neuschnee bedeckt waren, wagte Yukio es endlich, die Frage auszusprechen, die ihm schon seit geraumer Zeit auf der Zunge brannte, die er aber nicht vor Yuri hatte aussprechen wollen. Allerdings wartete er damit, bis Shiro einen seiner Schlüssel gezückt hatte und eine Tür in das Knabenstift öffnete. Yukio trat ein und schüttelte sich den Schnee von den Schultern. „Ich gehe davon aus, dass Yuri ihre Masho entweder zu Beginn ihrer Ausbildung oder durch einen Vorfall erhalten hat“, begann der Novize zu reden und zog sich das schwarze Sakko des Exorzisten-Kollegs der Heiligkreuz Akademie aus, um es ordentlich über die Stuhllehne zu hängen. Seinen Schal steckte er in den Ärmel, um ihn nicht zu verlegen. Auch Shiro wuschelte sich den Schnee aus den grauen Haaren, nickte aber dann. „Clever kombiniert. Worauf möchtest du aber hinaus?“ „Wieso lebt Yuri so abgeschottet dort oben? Und wie hat Rin dann seine Masho erlitten?“ Kapitel 1: Left clueless ------------------------ Shiro wandte seinen Blick von dem Teekessel, den er gerade auf den Herd gestellt hatte, ab. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Küchenablage, auf der noch Geschirr vom Frühstück stand. Normalerweise war immer jemand bereit, dieses zu säubern und wegzuräumen – nur heute nicht. Vielleicht hatten sie einfach viel um die Ohren... „Wie Rin seine Masho erlitten hat?“, wiederholte Shiro die Frage und sah Yukio dabei an. Bei einer Masho handelte es sich um Wunden oder Leiden, die einem durch Dämonen zugeführt wurden – quasi eine Voraussetzung, um überhaupt ein Exorzist zu werden. Denn wer einmal eine Masho erhalten hat, hat von diesem Moment an die Fähigkeit Dämonen zu sehen. Also war die Frage seines Ziehsohnes irgendwo auch angebracht, immerhin war Rin kein Exorzist, der dieses Ritual durchgangen ist. Seine Mutter hingegen schon. Aber wieso sollte Yuri ihren Sohn Dämonen aussetzen, nur um sich danach mit ihm im Wald zu verschanzen und ihre Existenzen somit quasi zu verheimlichen? Zum Spaß? Nie im Leben. Keine fürsorgliche Mutter würde ihr Kind so einer Gefahr aussetzen. Auch wenn Yukio Yuri noch nicht lange kannte, so machte sie nicht den Eindruck, als wäre ihr es egal, was mit Rin passierte. Sie schien so besorgt, als sich der Schuss gelöst hatte, war sogar zu ihm gerannt und hatte ihn nach Wunden abgesucht. „Ist es nicht naheliegend, dass Rin sie durch Zufall erhalten haben könnte?“ Shiro hing nun seinen blauen Schal an die Garderobe neben der Eingangtür und kam dann zurück zu Yukio, der noch immer überlegend auf den Laminatboden starrte. „Es muss doch irgendeinen logischen Grund geben, weshalb sie nicht bei den Menschen leben“, murmelte Yukio und legte seine Hand ans Kinn. „Es muss nicht immer alles aus Logik heraus entstehen, Yukio“ Der Vater wuschelte dem Sohn durch die dunkelbraunen Haare. „Und jetzt mach deine Hausaufgaben, du hast doch bestimmt welche.“ „Ja, Vater.“ Yukio drehte sich um, verließ die Küche dann aber doch nicht. Stattdessen begann er wieder zu reden: „Was für einer Klasse hat Yuri angehört?“ Shiro nahm den Teekessel vom Herd und schüttete das dampfende Wasser in eine Tasse, die Yukio ihm damals im Kindergarten bemalt und zu Weihnachten geschenkt hatte. Dann stellte er den Kessel wieder zur Seite, nahm die dampfende Tasse, in die er noch einen Löffel legte, in die Hand und setzte sich an den Holztisch in der Mitte der Küche. In Gedanken rührte er seinen grünen Tee um und nach kurzem Überlegen beantwortete er Yukios Frage aber. „Sie war Teil der unteren zweiten Klasse.“ „Also hat sie nur Kleinvieh beseitigt, wie beispielsweise Goblins... mit denen sie nun in Frieden wohnt?“, fügte er am Ende leise hinzu und nahm gegenüber von seinem Vater Platz. „Warum macht man so Wind um eine Exorzistin der unteren zweiter Klasse?“ Shiro nippte an seinem Tee. „Das ist eine sehr lange Geschichte, die noch in meine jungen Jahre zurückgeht, das zu erklären würde zu lange dauern.“ „Ich habe den ganzen Abend Zeit“, erwiderte Yukio arrogant und lehnte sich im Stuhl zurück. „Also?“ „Du hast vielleicht den ganzen Abend Zeit, aber deine Hausaufgaben warten und ich muss meinen Bericht schreiben. Wir verschieben das auf wann anders.“ Und damit griff er nach dem Stapel Papier, der auf dem Tisch lag und nur darauf wartete, beschrieben zu werden. Yukio reichte ihm widerwillig kommentarlos den Kugelschreiber, der neben ihm auf der Kommode an der Wand lag. Dann nickte sein Vater ihm dankend zu und hängte sich über das noch leere Papier. Das leise Geräusch von Kugelschreiber auf Papier erfüllte den Raum und wurde von nachdenkenden Geräuschen seitens Shiro ab und an unterbrochen. Yukios Blick blieb starr auf seinen Vater und das Papier gerichtet, doch er wagte sich nicht, Shiro zu unterbrechen. Deshalb entschied er sich nach einigen Minuten dazu, das dreckige Geschirr einzuräumen und dabei bei Möglichkeit über die Schulter seines Vaters zu linsen. Dabei erhaschte er zusammenfassende Worte von dem Treffen mit Yuri und ihrem Sohn. Auch seine eigene Kurzschlussreaktion wurde erwähnt, was ihm noch immer peinlich war. „Wir können die Erzählung auch auf mehrere Abende verteilen, Vater“, schlug der Junge nebenbei vor, und der Kugelschreiber verstummte. „Yukio.“ „Ja, Vater?“ „Wenn du dich mit Rin anlegen willst, kannst du das gerne tun. Willst du das?“ „Was? Nein, niemals“ Der Junge bildete mit seinen Armen ein abwehrendes X vor seinem Körper und schüttelte wild den Kopf. „Der Kerl ist so ein...“ „Arroganter Arsch!“ Rin ließ mit voller Wucht die Axt auf das aufgestellte Stück Holz auf dem Stamm vor sich hinabsausen und teilte das Stück in zwei Hälften. „Denkt er ist der Beste, nur weil er mit 'ner Knarre rumrennt und von Daddy wie eine Königin behandelt wird. Hast du gesehen wie der das Teil gehalten hat? Da kommt ja ein Kleinkind besser mit dem Ding klar!“ Sauer schnaubte Rin und betrachtete die kleine Wolke, die sich dabei vor seiner Nase bildete und dann verschwand. Dabei fiel sein Blick auf den zunehmenden Mond, der ihn provokant mit seinem Licht anlachte. Rin, warum bist du so wütend auf den Fremden? Rin sah neben den von Schnee befreiten Baumstamm, wo Kuro, ein schwarzer Kater mit zwei Schweifen, saß und den Kopf fragend schief legte. Kuro war seit seiner Geburt nicht von seiner Seite gewichen und ging oft mit ihm auf Spaziergänge oder auf Patrouille im Wald. Er war ein Cait Sith, der für den Schutz der Hütte zuständig war und dieser Aufgabe auch immer brav nachkam. Naja... es kam schließlich nie jemand hier her und Wildschweine trauten sich auch nicht in seine Nähe. Denn wenn Kuro sich dafür entschied, seine Form als Nekomata anzunehmen, wuchs er zu einer riesigen dämonischen Katze, die selbst Bären mit Leichtigkeit verscheuchen konnte. „Hast du dir den mal angesehen? Ohne Grund auf Schneemänner zu schießen, die nichts getan haben!“ Erneut zerhackte er ein Stück Holz und schlug die Axt danach in den Stamm, um sich seine Jacke auszuziehen. Aber er ist doch Shiros Sohn. Und Shiro ist ein angesehener Exorzist. „Schön für ihn, juckt mich doch nicht. Der soll sich hier bloß nicht mehr blicken lassen. Du hast die Erlaubnis ihn zu fressen, wenn er der Hütte zu nahe kommt.“ Mit Leichtigkeit zog er die Axt aus dem Holz, stellte das nächste Stück Holz hochkant auf den flachen Baumstamm und teilte dieses auch. Dabei wich sein Cait Sith zur Seite aus, um nicht von dem fallenden Holz getroffen zu werden. „Der Kerl macht mich wütend.“ Kuro schnaubte und schüttelte den Kopf, weshalb Rin inne hielt. Seine Schultern senkten sich. Ich nehme nur Befehle von Yuri an, tut mir leid. Und ich werde Shiro auch nichts antun, du kennst ihn nur nicht gut! Der Cait Sith hob Nase und Schweife und trabte dann brav Richtung Hütte. Rin ließ die Axt sinken und starrte dem schwarzen Kater fassungslos hinterher. Hatte sein eigener Schutzgeist ihn gerade abgewiesen? „Bitte was?!“, entwich es Rin noch, ehe Kuro die angelehnte Tür aufdrückte und ins Warme tapste. Und um dem noch die Kirsche aufzusetzen kickte er die Tür mit er Hinterpfote zu und schloss Rin damit aus. „Kuro!“ „Aber, aber“ Rin rollte genervt mit den Augen und stöhnte noch genervter auf. „Man will sich doch nicht mit seinem Schutzgeist anlegen.“ „Was willst du denn jetzt?“ Ein weißer Pudel mit einer lila Schleife um den Hals kam hinter einer der Tannen hervor und sprang auf den Baumstamm, auf dem eben noch Kuro gesessen hatte. Seine blöd dreinschauenden Augen sahen zu Rin hinauf. Doch dieser sammelte nur stumm das zerhackte Holz auf und legte es in einen Korb. „Oh bitte, begrüßt man so seinen großen Bruder? Anhand von Shiros heutigem Bericht habe ich mich dazu entschieden, dir einen Besuch abzustatten. Denn sich mit dem Klassenbesten der aktuellen Novizen anzulegen könnte noch unschön enden für dich. Ich hoffe dem bist du bewusst.“ „Ach, lass mich in Ruhe, Mephisto. Immer wenn du auftauchst geht irgendetwas in naher Zukunft schief.“ Rin hievte sich den Korb auf die linke Schulter und die Axt über die rechte. „Also ein Großteil davon geht auf dein Konto. Denn du reagierst mit Gewalt statt Worten. Zumindest habe ich das Shiros Bericht entnommen.“ „Der kann froh sein, dass ich ihm nicht den Arm gebrochen habe.“ „Genau das meine ich. Rin, du wirst Yukio Okumura und Shiro vermutlich noch einige Male sehen. Versuch also zumindest ein wenig dich mit ihnen zu verstehen.“ „Was haben die hier zu suchen?“ „Es war Shiro, der mich nach dem Verbleib deiner Mutter gefragt hat. Und ich war so nett und habe meinem treusten Exorzisten seine Bitte erfüllt.“ „Genau das meine ich. Irgendetwas wird in Zukunft schief gehen nur weil du uns nicht einfach in Ruhe lassen kannst.“ Rin schüttelte den Kopf und drehte sich von Mephisto weg, um sich auf den Weg Richtung Hütte zu machen. „Rin, versuche dich mit ihnen zu arrangieren. Sie wollen dir nichts tun. Und wenn, dann bin ich ja auch noch da.“ „Wie beruhigend...“, meinte der Dunkelhaarige ironisch, lehnte die Axt neben der Haustür an die Wand und klopfte an die hölzerne Tür, die dann auch schon von seiner Mutter geöffnet wurde. Sie sah ihn lächelnd an. „Mit wem hast du denn geredet, Rin?“ „Mit mir selbst.“ Damit lief er an ihr vorbei und bog direkt nach rechts in das Wohnzimmer. Vorsichtig stellte er den Korb mit gehacktem Holz neben den Kamin, der aus Steinen gebaut war. Dankend drückte Yuri ihn kurz von der Seite und sofort entspannten sich seine Muskeln. „Ich hau mich aufs Ohr“, murrte Rin, erwiderte die Umarmung knapp und verließ dann das Wohnzimmer, um die Treppe am Ende des Flurs hinaufzugehen. Dort oben war sein Reich. Es bestand zwar nur aus zwei kleinen Räumen und einem Badezimmer, aber der Fakt, dass sie Elektronik hatten, vereinfachte das alles sehr. „Rin, hast du denn gar keinen Hunger? Du hast dich immerhin körperlich angestrengt. Ich mache dir was.“ Yuri schien besorgt, doch der Junge winkte knapp ab. „Danke, aber ich habe keinen Appetit. Gute Nacht.“ Schweigend nahm die Mutter diese Antwort hin und schob das Verhalten auf die Pubertät, in der ihr Sohn sich aktuell befand. Yukio saß bis tief in die Nacht an seinen Hausaufgaben, obwohl er diese auch spontan im Unterricht hätte beantworten können. Seine Schrift war ordentlich, seine Antworten ausführlich und seine Gedanken jenseits von dem, wo sie sein sollten. Shiro hatte ihn vorhin eiskalt abgewimmelt und hatte sich dann in sein eigenes Zimmer zurückgezogen. Sein Vater brauchte nicht viele Stunden Schlaf und auch Yukio nahm diesen Charakterzug immer mehr an, je mehr er lernte und für das Kolleg arbeitete. Aber in wenigen Wochen stand seine Adepten-Zulassungsprüfung vor der Tür. Auf seine Klassenkameraden konnte er sich zwar verlassen, bevorzugte es aber, Dinge alleine zu klären. Denn dann war es sicher, dass es richtig erledigt wurde. Nemu Takara... viel war Yukio nicht über ihn bekannt. Er hatte hellbraune Haare und kommunizierte über eine Handpuppe, die er immer bei sich trug. Laut Aussagen war er ein Tamer, ein Exorzist, der selber Dämonen rief, um böse Dämonen zu bekämpfen. Übertreiben sollte man es allerdings nicht, da solch eine Beschwörung immer das Opfern vom eigenen Blut erforderte. Wenn man nicht selbstbewusst genug war, konnten die gerufenen Dämonen aber auch gegen einen wenden und im schlimmsten Fall töten. Izumo Kamiki ist ebenfalls ein Tamer aus seiner Klasse und ist eine sehr stolze und besserwisserische Person, weshalb sie sich oft mit ihren Kameraden, vor allem Ryuji Suguro, in die Haare bekam. Wenn man gerade von Haaren redet konnte man auch mit Suguro fortfahren, denn dieser hatte dunkelbraune Haare mit einem gefärbten blonden Strich, der von seinem Pony bis in den Nacken ging. Ihn mit einem Hahn zu vergleichen endete meist in Stress. Gewöhnungsbedürftig, aber eigentlich war er kein schlechter Kerl. Er mag wie ein Hau-drauf Typ wirken, war aber das totale Gegenteil. Dazu war er ein wirklich fleißiger Schüler, hatte Disziplin und nahm alles immer ein wenig zu ernst. Seine Spezialgebiete waren das Rezitieren aus der Bibel und auch als Dragoon stand er nicht im schlechten Licht. Man traf Suguro meist immer nur mit seinen zwei engsten Freunden, Renzo Shima und Konekomaru Miwa, an. Shima war ein pinkhaariger, sorgloser Junge, der quasi jedem weiblichen Wesen von Assiah hinterher sabberte. Seine größte Furcht sind Insekten und seine Fähigkeiten bestehen darin, mit dem Mönchsstab umzugehen, was er vermutlich bei seiner Familie gelernt hatte. Laut eigener Aussage sei er, wie auch Suguro, auch ein Aria, würde aber bei einer echten Konfrontation binnen weniger Sekunden draufgehen. Der Dritte im Bunde war Konekomaru. Er war der Kleinste des Trios, trug eine Brille und hatte eine Glatze. Man konnte ihn als den Ruhepol der Gruppe ansehen, da er sehr gewissenhaft und vernünftig war und Suguro und Konekomaru meist von Dummheiten abzuhalten versuchte. Seine Intelligenz spiegelte sich darin wieder, dass er, wie auch Suguro, sehr begabt war, was das Rezitieren von Versen aus der Bibel anging. Die Letzte im Bunde war Shiemi Moriyama. Ein niedliches Mädchen mit kinnlangen, blonden Haaren, die Yukio bereits seit seiner Kindheit kannte, da ihre Mutter einen Laden für Exorzistenbedarf besaß und sein Vater immer seine Lieferungen bei ihr bestellte und abholte. Sie war sehr schüchtern und dem Kolleg nur beigetreten, weil sie sich von ihm hatte inspirieren lassen. Trotz ihrer unsicheren Art hatte sie es im Unterricht geschafft, einen magischen Diener zu beschwören – Nii-Chan, in kleines Grünmännchen. Yukio hatte sich auf mehrere dieser Sachen fixiert, vor allem den Titel als Dragoon wollte er sich erarbeiten. Deshalb bekam er auch Unterricht von seinem Vater was das Schießen und Zielen anging. Die Arbeiten eines Tamers hatte er sich als Nebenziel gesetzt, da seine Ausdauer für solche Beschwörungen noch lange nicht genug war, um irgendetwas sinnvolles nutzen zu können. Auch den Titel als Doktor wollte er sich mit der Zeit erarbeiten. Sein Vater Shiro war auf allen Gebieten geschult und höchst begabt, was für Yukio Grund genug war, ihm nachzueifern. Den Titel als Paladin zu erreichen war ein nahezu unmögliches Ziel, denn es gab immer nur einen lebenden Paladin. Wie er diesen allerdings erreicht hatte, wurde Yukio bis dato noch nicht offenbart. Angeblich besaß er diesen schon seit er ihn adoptiert hatte... Kopfschüttelnd legte Yukio seinen Stift in die Federmappe, rieb sich müde die Augen und klappte das Buch zu, über dem er die letzten Stunden gehangen hatte. Dann ließ er dieses in seine Schultasche gleiten, knipste das Licht aus, erhob sich von seinem aufgeräumten Schreibtisch und entledigte sich seiner Jacke. Automatisch trugen seine Beine ihn ins Bett. Mit letzter Routine legte er seine Brille noch auf den Nachttisch neben seinem Bett und schloss zufrieden die Augen. Nicht einmal seine Decke hatte er sich übergezogen. Wieso er also am nächsten Morgen zugedeckt aufwachte, war ihm ein Rätsel. Doch Shiro hatte ihn mit einem ebenso wärmenden Lächeln am Morgen begrüßt. Der Schultag an der Akademie und auch der der Unterricht danach ließen Yukio kalt. Seine Hausaufgaben waren beim Vortragen fehlerfrei, seine restlichen Beiträge zum Unterricht ebenso. Auch war sein Vater so frei gewesen, ihn direkt nach dem Schultag aufzugabeln und mit in der Akademie zu nehmen, wo Shura, eine weitere seiner Schülerinnen, ihre Sachen zusammenpackte und sich von ihm verabschiedete. Yukio konnte sie nicht ausstehen. Sie war aufdringlich, frech und leider auch wirklich begabt. „Alles okay?“, fragte Shiro und riss den Jungen aus seiner Trance. „W-wie? Ja.“ Yukio ließ sein Sakko auf dem Stuhl nieder und stellte den Waffenkoffer mit seinen zwei Waffen auf die Schießbank. Vorsichtig öffnete er diesen und baute die Pistolen in Ruhe auf. Shiro nahm währenddessen auf einem weiteren Stuhl Platz und beobachtete seinen Sohn aufmerksam dabei. Auch griff er ein, wenn Yukio einen Schritt vergaß und half ihm dabei, all das korrekt zu lernen. Am Ende setzte er seinem Sohn noch Gehörschutz und Schutzbrille auf, ehe er mit dem theoretischen Teil der Stunde begann. Und Yukio hörte brav zu, ehe es ans Eingemachte ging. „Yukio.“ Yukio ließ die Waffe sinken und schob sich den Gehörschutz vom linken Ohr. Lauschend sah er zu seinem Vater, der sich direkt hinter ihn stellte und mit seinem rechten Fuß zwischen Yukios Füße rutschte, um seinen linken Fuß weiter nach außen zu schieben. Dabei schubste er den Jungen auch leicht an, sodass er sich mit dem linken Fuß abfing und ein wenig versetzt stand. „Beine schulterbreit, das nicht-dominante Bein nach vorne. Belaste den Quad und bringe deine Kniescheibe nach vorn. Dadurch bist du in der Lage, den Rückstoß der Waffe zu absorbieren und zu mildern“, sagte Shiro sanft und brachte seinen Ziehsohn in die Position, die er soeben erklärt hatte. Yukio hatte sich bereits daran gewöhnt, von seinem Vater korrekt platziert zu werden, immerhin gehörte das auch mit zur Ausbildung. Aber ein Wort war ihm besonders im Kopf geblieben. „Quad?“ „Der Quadrizeps ist der Muskel in deinem Vorderbein. Einer der stärksten Muskeln des menschlichen Körpers.“ Zur Erklärung berührte er kurz Beginn- und Endpunkt des Muskels an Yukios Bein, um es ein wenig zu veranschaulichen. Verstehend nickte der Novize und ging wieder in Position. Seufzend schob Shiro ihm den Gehörschutz wieder richtig auf die Ohren, was der Braunhaarige damit kommentierte, indem er sich erneut umdrehte, um zu symbolisieren, dass er begriffen hatte, dass er das vergessen hatte. Danach schüttelte er kurz seinen Oberkörper und zielte auf die Zielscheibe am anderen Ende des Raumes. Er holte tief Luft und verengte die Augen zu Schlitzen, um noch schärfer sehen zu können. Dann drückte er ab. „Welcher ist der größte Muskel im Körper, Yukio?“, fragte Shiro dann beiläufig während Yukio auf die Ziele schoss. „Der Musculus Latissimus Doris.“ „Wo befindet er sich?“ „Der Musculus Latissimus Doris bedeckt fast die komplette Länge der Wirbelsäule unter dem Schulterblatt.“ „Sehr gut. Welcher Muskel hat den längsten Namen?“ Shiro sah weiter dabei zu, wie Yukios Schüsse präzise ihre Zielscheibe fanden und trafen – mit einer leichten Linkstendenz. „Musculus Levator Labii Superioris Alaeque Nasi“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Er ist ein oberflächlicher Muskel im vorderen Wangenbereich. Viel mehr am am Nasenabhang, der die Oberlippe und den Nasenflügel hebt.“ Der letzte Schuss traf sein Ziel ebenfalls und tief ausatmend ließ Yukio die Waffe sinken. Bei dieser handelte es sich um eine auf die Exorzisten eingestellte Waffe der Heiligkreuz-Akademie, eine Detonics 1911. Man konnte sie nach Belangen mit unterschiedlicher Munition nutzen und lag für ihre Verhältnisse leicht in den Händen. Yukio legte die Waffe auf den Tisch vor sich und nahm die Kopfhörer wieder ab. Im Normalfall konnte man sie auch weitertragen, denn sie waren nur während des Schießens vom Vorteil, da sie laute Geräusche herausfilterten, aber das normale Reden nicht groß beeinträchtigten. Dennoch hörte man sein eigenes Echo beim Reden, womit der Novize noch immer Probleme hatte. Per Knopfdruck holte er die Zielscheibe zu sich, um sie zu begutachten, doch Shiro zog sie aus der Halterung, noch bevor er einen Blick drauf werfen konnte. „Wo waren die Fehler?“ Shiro lief wieder am Schießstand auf und ab, so wie er es eben auch getan hatte und es immer tat, wenn Yukio schoss. Fast schon wie ein kleines Kind sah Yukio von links, wo seine Ausrüstung am der Wand lag, nach rechts, zu den Zielscheiben am anderen Ende des Raums. Er versuchte irgendwie Tipps zu finden, was seine Fehler waren, doch es gab keine Anzeichen, dass er bewusst welche gemacht hatte. Nach wenigen Sekunden bemerkte auch sein Vater diesen Fakt und seufzte. „A. Wofür steht A?“ Shiro schob sich seine Brille ein wenig höher. „Atmung“, antwortete Yukio und entfernte das Magazin aus der Waffe. „Und wie hast du geatmet?“ Keine Antwort. Und endlich hielt Shiro ihm die Zielscheibe vor die Nase. Die grünen Augen des Jungen zählten die Einschusslöcher. Aber er zählte nur Sechs. Dabei war die Magazinkapazität doch Sieben Schuss... „Da fehlt eine...“, sagte Yukio leise und deutete auf die Zielscheibe. „Du hast falsch geatmet. Du hast nur durch den Brustkorb geatmet, Yukio. Und was passiert dadurch?“ „Die Waffe bewegt sich... Moment, das hast du extra gemacht! Du hast mir doch Fragen gestellt.“ Beleidigt sah er Shiro ins Gesicht. Auf diesem breitete sich ein kurzes Grinsen aus – Schadenfreude. „Du hast geantwortet. Du hättest einfach weitermachen sollen. Geh von der Brust- zur Bauchatmung über beim Anvisieren. Dann immer flacher, wodurch sich deine Zielsicherheit erhöht und dein Puls verlangsamt. Und nachdem du geschossen hast nimm mehrere Atemzüge, nicht nur einen einzigen. Dein Körper muss darauf wieder klarkommen, dass er wieder mehr Blut durch die Lungen pumpen muss. Einatmen und Waffe heben, Arm senken und Anvisieren, dabei halb ausatmen, schießen, ausatmen, Luft holen. Dann-“ Shiro stellte sich wieder hinter den Jungen und schob erneut dessen Füße so auseinander, dass er schulterbreit dort stand. „Habe ich dich eben so positioniert, wie du beim Schießen stehen sollst. Und du hast es direkt wieder in die Tonne gekloppt, nachdem wir mit dem Reden fertig waren und du dich in Position gestellt hast.“ Der Junge senkte den Kopf. Tatsache, da hatte Shiro recht. Und um zu zeigen, dass er verstanden hatte, was sein Vater ihm gesagt hatte, nickte er vorsichtig. „Wo sind deine Gedanken? Du bist abgelenkt.“ Nun schreckte der Junge auf und biss sich auf die Zunge, um nicht seine erstbeste Lüge zu nennen. Stattdessen kratzte er sich am Hinterkopf, legte die Zielscheibe in das Netz der Deckelinnenseite seines Waffenkoffers und zuckte mit den Achseln. Er hatte nicht aktiv an irgendetwas gedacht, aber anscheinend spukte etwas in seinem Unterbewusstsein herum, das ihn abgelenkt hatte. „Ich denke nicht“, antwortete Yukio sofort. „Also... ich denke schon, aber ich bin beim Unterricht.“ Shiro nahm das Gesicht seines Sohnes in seine Hände und atmete tief ein. „Wir machen Übermorgen weiter damit. Ruh' dich morgen mal aus.“ „Aber Vater-“ Damit wurde von ihm abgelassen und Shiro baute an seiner Stelle die Waffen auseinander und legte sie zurück in ihren Koffer. Schon fast beleidigt schürzte sein Sohn die Lippen, ließ ihn aber machen. Na gut, ein Tag Pause konnte auch mal vom Nutzen sein. „Vielleicht kannst du ja meine Besorgungen übernehmen.“ Plötzlich baumelte einer von Shiros vielen Schlüsseln vor Yukios Nase. „Das kannst du mit Shiemi unternehmen.“ „Aber Novizen dürfen den Laden doch nicht betreten.“ „Shiemis Mutter kennt dich. Und dann kannst du auch gleich eine Besorgung bei Yuri abgeben.“ Yukio nickte stumm und zog sich sein schwarzes Sakko wieder über das weiße Hemd, an dem er zwei Knöpfe aufgeknöpft hatte und auch die Ärmel hochgekrempelt hatte. Shiro nickte zufrieden und verließ mit Yukio den Schießstand. „Warum soll ich zu Yuri? Ich kenne sie nicht.“ „Weil ich dir vertraue. Außerdem ist es nur ein kleines Paket für ihren Sohn.“ „Und wieso kann sie das nicht selber abholen, wenn sie die Schlüssel vermutlich noch besitzt?“ Skeptisch verschränkte Yukio die Arme vor der Brust. „Weil das nicht geht.“ Widerwillig gab er sich mit der Antwort zufrieden und folgte seinem Vater durch de Keller hinauf zurück in die Halle der Akademie. Dort trennten sich ihre Wege wieder, da Shiro noch ein Meeting mit dem Direktor hatte und Yukio sich demzufolge mit einem der Schlüssel seines Vaters zurück zum Stift begab. Na das konnte ja was werden... Kapitel 2: Two not of a kind ---------------------------- Etwas mit Shiemi unternehmen... Ja, danke aber nein. Yukio hatte nichts gegen das blondhaarige Mädchen, im Gegenteil. Sie war treudoof, irgendwo süß, begabt als Tamer, aber ihre Anwesenheit konnte auch extrem anstrengend sein. Und damit meinte er absolut ihre Ungeschicklichkeit außerhalb der Schule. Dennoch mochte er sie, sie war auch ihm gegenüber, wie auch allen anderen, sehr nett und kommunikationsfreudig. Auch dass sie viel über Pflanzen und deren Wirkungen wusste, war immer gut im Hinterkopf zu behalten, falls es irgendwann mal brenzlig werden sollte bei Aufträgen. Sie war schon eine Klasse für sich. Sich kurz streckend marschierte Yukio die lange Brücke über der Akademie entlang, die er nur mit dem Schlüssel seines Vaters hatte erreichen können. Er hatte einen Zettel mit zwei Worten drauf von ihm in die Hand gedrückt bekommen, dazu noch den Schlüssel. Diese auf dem Zettel stehende Bestellung würde er nun bei Shiemis Mutter, welcher der Laden für Exorzisten-Bedarf übrigens gehörte, abholen. Ihre Mutter hatte ihr zusammen mit der Hilfe ihrer verstorbenen Großmutter alles über Heilkräuter beigebracht und daran war nichts verloren gegangen. Außer dass Shiemi manchen Pflanzen eigene Fantasienamen gab, anstatt die korrekten Bezeichnungen zu nutzen oder zu lernen... Naja, solange sie das erreichte, was sie beabsichtigte, war das auch zu akzeptieren. Gerade stieg Yukio die Steintreppen Richtung Haus hinauf und passierte dabei den Garten, in dem Shiemi ihre Freizeit verbrachte. Mit einem kurzen Handzeichen grüßte er das Mädchen und setzte seinen Weg fort. Sie winkte direkt freudig zurück, kam ihrer aktuellen Beschäftigung dann aber auch wieder nach und pflanzte einige Blumen weiter an. „Ah, Yukio. Heute ohne Shiro?“ Shiemis Mutter begrüßte ihn mit einem Lächeln, und der Novize schüttelte den Kopf. „Vater ist heute leider nicht dabei, aber ich soll etwas für ihn abholen. Er meinte, er habe das mit Ihnen geklärt.“ Yukio kam an den Tresen des kleinen Raumes und überreichte der Frau den Zettel. Diese strich sich ihre braunen Haare aus dem Gesicht und hinters Ohr. Dahinter waren ihre Haare in einen losen Zopf zusammengebunden, weshalb direkt wieder einige Strähnen in ihr Gesicht fielen. „Aber natürlich, dafür bräuchte ich nicht Shiros Einverständnis, das bekommst du auch so. Aber weiß nur niemand von diesem Zeug. Nur du, dein Vater und ich.“ Verwundert hob Yukio eine Augenbraue. Nur sie drei wussten davon? Was konnte das denn so tolles sein, wenn selbst ein Novize diese Bestellung abholen durfte? Doch die etwas dickere Frau lief nach hinten in das Lager im nächsten Raum und begann zu kramen. Währenddessen sah Yukio sich in dem kleinen aber hohen Raum um. Gefühlt tausende von Schubladen erstreckten sich über die Wände und in jeder von ihnen verbarg sich etwas anderes. Dass es so viele verschiedene Dinge gab, die man zur Beseitigung und Bekämpfung von Dämonen nutzen konnte... Und es roch an jedem Fleck anders. Mal süßlich, mal biss es in der Nase. Ob Shiemi Pflanzen nur anhand ihres Geruches zuordnen konnte? „Hier haben wir es auch schon“, meinte Shiemis Mutter und stellte eine Box vor Yukios Nase, eingepackt in ein Tuch. „Bitte nicht fallen lassen, die Flasche darin ist aus Glas.“ „Und was befindet sich darin?“ „Das darf ich dir leider nicht verraten.“ „Aber ich darf es als Novize abholen und nutzen? Wenn ich nicht einmal weiß, wie die Bezeichnung ist?“ Shiemis Mutter zwinkerte ihm zu, was den Jungen nur noch mehr verwirrte. „Die Munition für deinen Vater ist gegen Nachmittag da, das kannst du ihm ausrichten. Sonst sind wir schon fertig mit der Bestellung. Bezahlt hat dein Vater schon.“ „Alles klar, vielen lieben Dank, Frau Moriyama.“ Der Junge verbeugte sich, nahm die Box in die Hand und verließ den Laden. Vor der geschlossenen Tür versuchte er an dem Paket zu riechen, was aber absolut absurd war, da kein Geruch aus einer Flasche UND einem Paket kommen könnte... Es sei denn, die Flüssigkeit wäre ausgelaufen. Seufzend verließ Yukio das Anwesen wieder und zückte am Ende der Brücke den Schlüssel, den sein Vater genutzt hatte, um zu Yuris Hütte im Wald zu gelangen. Sich schüttelnd durchschritt er die Tür und stapfte den Berg, wie auch am Vortag mit seinem Vater, hinauf. Nach dem Fußmarsch von einigen, ihm zu langen, Minuten stand Yukio vor der Hütte, aus der ein angenehmer Geruch ins Freie zog. Einige beruhigende Atemzüge später klopfte Yukio an die Holztür und wartete brav. Nach zehn Sekunden wiederholte er den Vorgang und dann wurde auch die Tür geöffnet. Rin spähte hinter dieser im Spalt hervor, sah Yukio kurz ins Gesicht und schloss sie dann kommentarlos wieder. Sauer zuckte das Augenlid des Novizen. Am liebsten hätte er das Paket einfach hingestellt und wäre gegangen. Aber er hatte es seinem Vater versprochen. „Cool bleiben, der ist ein Idiot... Mit denen hat man tagtäglich zu tun...“, sprach Yukio beruhigend zu sich selber. „Die Wände hier sind echt dünn, wow!“, kam es von der anderen Seite der Tür. „Fast als würde man unnötige Halluzinationen von Vollidioten vor der Haustür hören!“ Der Griff um die Flasche in seiner linken Hand verstärkte sich stumm. Yukio atmete tief ein und hielt für einige Sekunden die Luft an. Dann hob er seine rechte Hand wieder, ballte diese zur Faust und klopfte erneut mit den Fingerknöcheln an die Holztür. Diese wurde auch sofort wieder trocken von Rin geöffnet. Nur dieses Mal schob Yukio sich an ihm vorbei und stieß dabei mit seiner Schulter an die des Kleineren. Sofort legten sich alle Schalter bei dem anderen Jungen um. „Hey, was fällt dir Scheißkerl eigentlich ein?!“ Rin packte Yukio am Kragen und hinderte ihn am Weiterlaufen. „Verzieh' dich gefälligst aus unserem Haus!“ Stumm sah der Brillenträger ihn aus dem Augenwinkel an und befreite sich mit einem gekonnten Griff von Rins Hand. Dieser hielt sich kurz das Handgelenk und zog die Augenbrauen nur noch mehr herunter. Zumindest so lange, bis sich sein Gesichtsausdruck wieder sanfter wurde und sich seine Hände an seine Hüften legten. Abwertend hob er die Nase, war aber dennoch Kleiner als sein Gegenüber. „Och, hat Daddy deine Spielzeugpistole konfisziert? Ich hab noch 'ne Wasserpistole da, willst du die vielleicht haben?“ „Für deine niedrige Intelligenz kennst du ja ganz schön komplizierte Wörter. Lässt Mama dich jeden Tag zehn Minuten im Wörterbuch blättern, dass du deinen Wortschatz erweitern kannst? Andere Bücher scheinst du ja nicht zu kennen“, feuerte Yukio sofort scharf zurück, und Rin ließ ihn vor Schock los. Sauer fletschte er die Zähne und seine Arme zitterten vor Wut, da sich seine Hände zu Fäusten geballt hatten und nicht wussten, wohin damit. Yukios Gesicht wäre sein bevorzugtes Ziel gewesen, doch das konnte er noch nicht bringen. Und außerdem war dieser dezent fasziniert von den Eckzähnen seines Gegenübers gewesen. Selten hatte er so gutaussehende, nahezu animalische Eckzähne gesehen. Stattdessen deutete Rin auf den Novizen und tippte ihm so stark auf die Brust, dass Yukio sich sicher war, ein Hämatom davonzutragen. „Ich kann dich Klugscheißer und Schoßhündchen nicht ausstehen“, stellte Rin klar, stieß nun im Gegenzug Yukio mit seiner Schulter aus dem Weg und sprintete die Treppe wieder nach oben. Yukio blieb nur stumm zurück und ein fieses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ordentlich schüttelte er sich, fasste sich dadurch wieder und drückte die Tür ins Schloss. Er zog sich seine Schuhe aus, stellte sie ordentlich neben die Tür und klopfte an die angelehnte Wohnzimmertür, in der, seiner Vermutung nach, Rins Mutter sein würde. Und tatsächlich, nachdem Yuri ihn hereingebeten hatte, saß sie dort auf der Couch vorm brennenden Kamin und schien an etwas zu stricken. Sah fast aus wie ein Pullover. „Bestellung von Vater“, meinte Yukio knapp und hob die Box leicht hoch, um seine Aussage zu untermalen. „Bitte, zieh' die Jacke doch aus und setz dich. Rin und ich haben Kuchen gebacken und dir ist sicher kalt. Der Kuchen ist noch warm, leg die Box einfach auf der Kommode ab!“ Überfordert von der plötzlichen Einladung kam Yukio der Bitte aber nach. „Katzenminze-Wein?“ Zögerlich schnupperte Yukio an der Flasche und zog sofort den Kopf wieder zurück. „Riecht ja grauenhaft.“ „Ihm schmeckt's“, erwiderte Yuri lachend und kraulte Kuro, der auf dem Tisch saß und genüsslich die ekelhaft Substanz schleckte, hinter den großen Ohren. Als die Katze sich aus Reflex mit der Hinterpfote hinterm Ohr kratzen wollte unterbrach die Mutter die freche Geste allerdings. „Wie seid ihr an einen magischen Diener gekommen?“ „Wir kümmern uns um Kuro und er kümmert sich um uns. Mit Wölfen und Wildschweinen ist nicht zu spaßen, das musste Rin auch schon lernen.“ Yuri wuschelte ihrem Sohn durch die Haare und lachte dabei herzhaft. Wie konnte eine so liebe und gutherzige Person nur einen solchen Muffelkopf großziehen? Er schien das totale Gegenteil von ihr zu sein; stur, dickköpfig und vorlaut. Allerdings ließ ihr Sohn diese Aussage auch nicht ohne Kommentar auf sich sitzen. „Das Vieh hat mich provoziert und nicht andersherum“, stellte er monoton klar und nahm einen Bissen von dem Kuchen, den er und seine Mutter am Vormittag gemeinsam gebacken hatten. Und Yukio musste zugeben, dieser Kuchen schmeckte abgöttisch gut. Er hatte schon zwei Stücke gegessen und ein drittes abgelehnt, um ihnen diesen nicht unhöflich wegzuessen. Yuri musste vermutlich eine begabte Person in der Küche sein, denn selten hatte er so einen schmackhaften Küchen essen dürfen. Vielleicht hatte dieser Lieferauftrag doch was Gutes an sich... Kuchen umsonst war doch immer gut. „Und du hast... ein Wildschwein angegriffen?“ Yukio zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Und es auch noch überlebt?“ „Das hier ist mein Revier.“ Rin breitete die Arme stolz aus, als würde er ein Königreich präsentieren wollen. „Also pinkelst du auch an Bäume, so wie ein Tier? Oder wie darf ich das verstehen?“ „Yukio, manche Fragen solltest du dir lieber verknei-“ Rin unterbrach seine Mutter. „Kommt drauf an, hält es dann Ungeziefer wie dich fern von uns?“ Der Junge grinste sein Gegenüber blöd an und bekam von Yuri eine auf den Hinterkopf verpasst. „Aua!“ „Rin, es reicht.“ „Warum denkst du halten die Viecher sich im Sommer von unseren Anbauten fern?“, schmollte Rin, und Yukio verschluckte sich an seinem Tee. Yuris Blick blieb einige Sekunden auf ihrem Sohn haften, ehe sie verstört blinzelte und dann ihren Kopf wieder zu Yukio drehte. Dieser klopfte sich gerade immer wieder auf die Brust, um wieder zu Atem zu kommen. Der Kerl nahm aber auch echt absolut kein Blatt vor den Mund, oder? Es herrschte daraufhin Schweigen im Raum und lediglich das Schlürfen von Rins Getränk unterbrach dieses für einen kurzen Moment. Er liebte sich dafür gerade abgöttisch, ja. Endlich hatte er es geschafft, dass dieser bebrillte Vollpfosten für länger als zehn Sekunden die Klappe hielt. „Ich...“ Der Novize versuchte irgendwie das Gespräch fortzuführen, war allerdings von dem selbstverliebten Lächeln von Rin zu abgelenkt dafür. Wie konnte man so selbstsicher und überzeugt von sich sein? Der Kerl sprudelte ja nur so vor Stolz. Aber Rin entschied sich dagegen, etwas zu erwidern. Er konnte auch so, er war nicht nur frech und vorlaut. Nein, er konnte seine Feinde gut mental auslasten und verwirren. „Jemand noch Tee?“ Yuri lachte nervös und stand mit ihrer Tasse in der Hand auf. „Danke, nein“, antwortete Yukio höflich und nippte stattdessen an seinem Getränk. „Gut, bringt euch bitte in der nächsten Minute nicht um, ja?“ „Keine Garantie.“ Rin lehnte sich analysierend zurück während seine Mutter in die offene Küche lief, die am anderen Ende vom Raum war. „Also lass uns ein Spiel spielen. Du trägst 'ne Brille weil du schlecht sehen kannst?“ „Wow, du kennst die Definition des Wortes Brille ja sehr gut.“ Rin stöhnte genervt und rollte mit den Augen. „Danke, hab ich aus dem Wörterbuch. So, warum-“ „Ich bin dran“, unterbrach Yukio ihn scharf und sah ihn ernst an. „Warum bist du so unhöflich?“ „Ich mag es nicht, wenn man eine Waffe auf meine Familie richtet. Warum wirst du Exorzist?“ „Weil ich gesehen habe, wie toll mein Vater den Menschen damit helfen kann. Das will ich auch. Ich mache meinen Meister als Dragoon. Eventuell hänge ich den Doktor noch dran, da ich mich sehr für Medizin interessiere und Anti-Dämonika eins meiner besten Fächer ist. Vater wird außerdem irgendwann mit mir testen, wie geschickt ich als Tamer wäre.“ Yukio wusste, dass Rin mit einigen dieser Worte vermutlich nichts anfangen konnte, da sie auch nicht im Wörterbuch zu finden waren, aber er hatte die Frage beantwortet. Wenn der Schwarzhaarige wissen wollte, worum es sich bei diesen Worten handelte, würde er schon nachfragen. Dennoch hatte er offen und ehrlich seine Frage beantwortet und war nun selber wieder an der Reihe, eine zu stellen. Yuri stand noch immer in der Küche und beobachtete die Teenager bei ihrem gegenseitigen Verhör. Gerade fühlte sie sich nicht dazu gezwungen, in ihrer Nähe zu sein, da sie keine Anstalten machten, sich gegenseitig an die Kehle zu springen. „So, ich bin an der Reihe.“ „Jaja, mach schon“, winkte Rin ab und schnüffelte auch kurz an dem mitgebrachten Wein für seinen magischen Diener. „Woher hast du deine Masho, Rin?“, fragte Yukio interessiert und lehnte sich ein wenig nach vorne und auf dem Tisch. Dabei umklammerte seine rechte Hand die Tasse Tee, die Yuri ihm vorhin netterweise aufgekocht hatte, noch fester. „Meine was?“ Rin legte den Kopf schief und sah den Jüngeren verwirrt an. Seine Schultern spiegelten seine Verwirrung nur wider, da er sie planlos hängen ließ. „Na deine Masho?“ „Was ist denn eine Masho?“ Yuri kam nun doch wieder zurück und fuhr ihrem Sohn im Vorbeilaufen durch die schwarzen Haare. Dann nahm sie wieder neben ihm Platz. Sie saßen nun wieder gemeinsam Yukio gegenüber. Dessen interessierter Gesichtsausdruck wandelte sich langsam zu einem etwas angesäuertem um. Die Finger um den Griff der Tasse lösten sich und legten sich stattdessen auf seinen Oberarm, da er die Schultern nun verschränkte und sich noch immer auf den Tisch lehnte. „Seit wann kannst du Dämonen sehen?“ Rins Blick wurde nun immer fragender. Meinte er das gerade wirklich ernst? Es gibt Leute die keine Dämonen sehen konnten seit ihrer Geburt? Nein, niemals. „Deine Mutter hat ihre Masho vermutlich zu Beginn ihrer Ausbildung als Exorzistin erhalten. Woher hast du deine?“ „Hey“ Der Schwarzhaarige lehnte sich zu seiner Mutter, nahm seinen Blick aber nicht von Yukio. „Was ist 'ne Masho?“ „Eine Masho ist-“, begann Yuri, doch Yukio klopfte ablenkend auf den Tisch, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. „Jetzt stell dich doch nicht dümmer als du bist!“, unterbrach Yukio die Mutter und warf fassungslos die Arme in die Luft. „Du kannst mir doch nicht sagen dass du seit deiner Geburt Dämonen sehen kannst! Und dass du nicht weißt was eine Masho ist, immerhin ist deine Mutter eine ehemalige Exorzistin!“ „Doch, zufälligerweise kann ich das! Ich unterziehe mich doch keinem komischen Ritual, um Dämonen sehen zu können, warum sollte man das tun?!“ „Hast du deine Masho als Kleinkind erhalten und erinnerst dich nur nicht?“ Rin gestikulierte wild mit seinen Händen, nicht wissend, was er mit diesen tun sollte. Denn Yukio an die Kehle zu springen wäre keine schlaue Idee gewesen. Vor allem nicht vor den Augen seiner Mutter, die die Konversation der gleichaltrigen in Ruhe mitverfolge und ab und an an ihrer Tasse Tee nippte. Natürlich wusste sie, was eine Masho war. Und sie hatte es nie für notwendig erhalten, Rin das alles beizubringen. Immerhin war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Halbdämon Exorzist werden wollte nahezu bei Null. Er sollte als normaler Mensch leben, der eben die Möglichkeit hatte, Dämonen zu sehen. Mehr nicht. Und das wusste Rin. Er kannte seine Geschichte und hatte sich dafür entschieden, sie zu akzeptieren, aber nicht zu respektieren. Er wusste, dass er anders war aufgrund seines Blutes, das zur Hälfte von einem Dämonen stammte. Auch wusste er, dass es ein Geheimnis war. Seine Mutter hatte ihn mit dem Wissen großgezogen, dass es im Alter keine Probleme geben würde, wenn sie es ihm verheimlich hätte. Seit seiner Kindheit hatte Rin gelernt, seinen schwarzen Schweif gekonnt zu verstecken – meist schlang er ihn um seinen eigenen Oberkörper. Seine Haare waren gerade lang genug, um seine Ohrspitzen so verbergen und auch wenn der Wind diese mal entblößte, wenn man nichts wusste, dann bemerkte man auch nichts. Einzig seine Zähne waren ein wenig ausgeprägter als bei normalen Menschen, was man aber ganz einfach auf die Genetik schieben konnte. Rin konnte einfach undercover in Assiah leben und wusste seine Kräfte zu kontrollieren. Auch wenn er das als Kind auf die harte Tour hatte lernen müssen, wenn andere Kinder nicht mit ihm hatten spielen wollen, weil er wilder und intensiver gespielt hatte. Er hatte gelernt dass er anders war. Viel zu früh, aber er hatte es gelernt. „Ist der so dumm oder tut der so?“ Rin wandte sich an Yuri, und riss sie aus ihren Gedanken. „Versteht der Idiot unsere Sprache nicht?“ „Musst du immer gleich beleidigen?“, entgegnete Yukio lauter, und Rin sah ihm wieder in die Augen. Er lachte kurz auf. „Hör zu, Scheißkerl, wir haben die letzten fünfzehn Jahre ohne Exorzisten überlebt, wir brauchen euch Ausgeburten der Hölle nicht in unserem Leben! Ihr tötet Dämonen nur, weil ihr denkt, sie seien böse! Aber nicht alle Dämonen sind so!“ Rin schlug mit der Faust vor sich auf den Tisch und deutete dann vorwurfsvoll auf den Jungen vor sich auf der anderen Seite des Tisches. „Das musst du gerade sagen! Wer verhält sich hier wie die Ausgeburt der Hölle?!“, platzte es aus Yukio heraus, und sofort lehnte Rin sich über den Tisch und packte ihn am Kragen seines gelben Oberteils. Dass er dabei seinen Stuhl und das Glas Wasser vor sich umwarf war ihm egal. Mit einem gekonnten Ruck zog er Yukio zu sich über den Tisch – so nah an sich, dass sie sich in die Augen blicken konnten. Der Novize spürte den heißen Atem des Kleineren auf seinen Lippen während seine Augen die des Jungen abtasteten. Er hatte die Augen seiner Mutter, abgesehen von der Farbe. Yuris Augen glichen dem Grün vom Wald im Frühling, während Rins Augen dem Ozean glichen. Aber es war die exakt gleiche Form wie bei seiner Mutter, die übrigens vergeblich versuchte, Rins Griff zu lösen. Und Yukio wollte nicht lügen, aber Rins Blick ließ gerade ernsthaft sein Herz in die Hose rutschen. Er wirkte wie ein Tier, das seiner Beute bereits mit den Zähnen in der Kehle hing und nur noch darauf wartete, dass dieses nachgab und an ihren eigenen Blut erstickte. „Jetzt hör mir mal gut zu, mein Freund“, zischte Rin. „Du bist kein Macker, nur weil du aktuell noch ein Kindergartenkind in deiner Ausbildung bist. Wir kommen hier auch gut ohne dich oder den Alten zurecht, also lasst uns gefälligst in Ruhe, sonst versaut ihr noch etwas, was wir ausbaden dürfen, kapiert?!“ „Wir können es auch einfach dem Ministerium melden, dass ihr euch hier verdeckt haltet. Dann müssen weder Vater noch ich hier je wieder hinkommen, weil die euch dann in die Mangel nehmen, weil ihr irgendetwas zu verheimlichen habt!“ Yukio packte Rins Unterarm, mit dem er ihn noch immer festhielt. Seine grünen Augen funkelten ihn böse an, während Rins Pupillen sich gefühlt zu Schlitzen verengten. Ihm war auch nicht mehr nach Alberei zumute. Wenn Rin austicken wollte und Krieg anzetteln wollte konnte er diesen sehr gerne haben. Denn ihm war bewusst, wer hier als Sieger hervorgehen würde. Für den Kleineren war die Partie schon gelaufen bevor sie überhaupt anfangen konnte. Er stand schon im Schachmatt. „Ich könnte dir hier und jetzt so sauber die Fresse polieren, dass selbst deinen Urenkel noch der Schädel brummt-“ „Rin!“ Yuri drehte Rins Kopf zu sich, woraufhin dieser Yukio ein wenig lockerer ließ und dieser sich mit seinen Zehenspitzen wieder auf den Boden stellen konnte. „Deine Nase!“ Erst jetzt bemerkte der Dunkelhaarige die warme Flüssigkeit, die seine Lippen hinab zu seinem Kinn rannte und auf seinen dunkelblauen Pullover tropfte. Er verfärbte sich dunkler, ehe er aus Reflex von Yukio abließ und sich seine Hand unter die Nase hielt. Binnen Sekunden rannte das frische Blut auch den Handrücken hinab und mit der freien Hand deutete Rin auf den Novizen vor sich auf dem Tisch. „Wir klären das. Irgendwann. Unter vier Augen. Nur du und ich“, fügte er am Ende noch scharf hinzu und verließ das Wohnzimmer Richtung Bad, um sich um seine blutende Nase zu kümmern. Kuro folgte ihm besorgt und tapste hinter ihm her. Yukio ließ sich stumm auf seinen Stuhl zurücksinken und betrachtete den Bluttropfen, der auf seinen Handrücken getropft war, als Rin ihn zu sich gezogen hatte. Yuri wischte währenddessen das verschüttete Wasser auf und entschuldigte sich immer wieder für das Verhalten ihres Sohnes. Ihr war es so unangenehm, dass die Jungs sich wie zwei kleine Mädchen anzickten und sie nichts dagegen hatte tun können. Dabei fühlte sie sich so verantwortlich dafür, dass sie sich anfreundeten oder einander zumindest tolerierten. „Yukio, es tut mir so unfassbar leid.“ Beschämt versteckte Yuri ihr Gesicht hinter ihren Händen. „Ich verspreche es dir, Rin ist kein schlechter Junge. Bitte denk nicht schlecht von ihm.“ „Kriegt er immer Nasenbluten, wenn er sauer wird?“ Mit einer Serviette wischte Yukio sich den Tropfen Blut vom Handrücken. Sein Blick traf den der besorgten Mutter. „Nur im Extremfall, wenn er wirklich kurz davor ist, die Beherrschung zu verlieren.“ „Yuri, warum ist Rin so? Woher hat er einen magischen Diener?“ „Ich schieb es auf die Pubertät...“ Sie ging gar nicht auf die zweite Frage ein. „Woher kennst du meinen Vater, wieso bist du hierhergekommen? Warum werde ich hier mit reingezogen, wenn ich nur meiner Ausbildung nachkommen will?“ Yukio schien von Frage zu Frage verzweifelter und sah die Braunhaarige schon fast hilfesuchend an. „Wieso ich?“ „Shiro und ich denken einfach, dass ihr euch gut verstehen würdet. Immerhin habt ihr beide immer nur alleine gelebt, weder Rin noch du hatten groß Freunde in der Kindheit. Zumindest wurde mir das so geschildert von Shiro.“ Schweigen, ehe ein Nicken von dem Novizen kam. „Aber... es tut mir leid, das so auszudrücken... ich komme mit Rin nicht klar. Er hat deutlich gesagt, dass er kein Interesse an Kommunikation mit mir hat.“ Yuri umschloss Yukios Hände mit ihren eigenen. Sie waren warm. „Rin braucht Zeit sich zu öffnen. Aber sobald man ihn kennenlernt ist er ein guter Junge.“ „Dann wird er bestimmt auch andere Freunde finden“, erwiderte Yukio aufmunternd und nickte erneut. „Ich bitte dich, Yukio. Gib ihm noch eine Chance. Ich war früher auch wie Rin, wollte mir von niemanden was sagen lassen, habe immer widersprochen und alles besser gewusst. Selbst dein Vater konnte mich damals nicht ausstehen, und ich bereu es, den Kontakt zu ihm nicht gepflegt zu haben, wir haben nur selten miteinander geredet oder uns gesehen. Du kennst seine Schlüssel, wir haben uns gesehen, aber nur, wenn Rin nicht anwesend war.“ „Dabei meinte Vater doch, dass ihr euch seit Jahren nicht gesehen habt... Was für ein Spiel spielt ihr hier?“ Skepsis zog sich über das Gesicht des Jungen. „Shiro und ich hatten früher keine gute Beziehung miteinander. Das kam mit dem Alter, aber er war immer da, wenn etwas war.“ „Das sieht ihm ähnlich, ja...“ Yuri öffnete Yukios Hand in ihrer und drückte ihm etwas in diese. Dann nickte sie aufmunternd und ließ endlich von ihm ab. „Mit dem Alter wird man reifer und schlauer. In dieser Phase befindet Rin sich. Ich wäre dir dankbar, wenn du ihn zu verstehen versuchst“, erklärte sie und brachte die Tassen in die Küche, wo sie auch direkt die nassen Tücher wegwarf. Schweigend sah Yukio ihr dabei zu und dann auf den Gegenstand, den sie ihm in die Hand gedrückt hatte. „Aber... wie soll man jemanden verstehen, der sich verschließt?“, fragte Yukio sich selber und erhob sich vom Tisch. „Yuri, ich danke für die Gastfreundschaft, aber ich muss noch etwas für Vater erledigen.“ Das war eine Lüge, aber davon musste sie ja nichts wissen. Mit einem Lächeln nickte die Mutter und der Junge verbeugte sich leicht, ehe er sich seine Jacke überwarf und das Wohnzimmer verließ, um durch die Haustür aus Rins „Revier“ zu verschwinden. Wieder nahm er einige tiefe Atemzüge von der kalten Luft hier oben und merkte, dass sein Herz noch immer am Rasen war vor Angst und Unsicherheit, die er eben Rin gegenüber verspürt hatte. Dann sah Yukio schweigend auf die kleine Blüte, die Yuri ihm eben in die Hand gedrückt hatte. Es war die gelbe Blüte einer Lilie. Gelbe Lilien standen für Dankbarkeit. Kapitel 3: Welcome to Assiah ---------------------------- Rin knabberte überlegend an seinem Daumennagel herum während er das Gewürzregal vor sich immer wieder abscannte. Der angenehme Geruch von verschiedenen Orten der Welt sammelten sich in seiner Nase und die interessanten Farben machten ihm die Entscheidung nicht leichter. Immer wieder griff er nach einem der vielen Streuer, betrachtete diesen und stellte ihn schließlich wieder zurück ins Regal. Natürlich war es nicht möglich alle Gewürze der Welt im Laden zu kaufen, aber so schmeckte es nunmal am Besten! „Lass uns einfach Rosmarin als Bündel kaufen“ Rin schüttelte den Kopf. „Das schmeckt automatisch frischer und besser.“ Freudig lehnte Yuri sich von der Seite vor ihren Sohn und funkelte ihn freudig an. „Was hast du denn fürs Abendessen geplant, Herr Sternekoch?“ „Das lass mal eine kleine Überraschung sein“, lächelte Rin warm und bedeckte die Einkäufe im Korb mit seinem Schal. Kurz zog Yuri eine Schnute, ließ sich dann aber darauf ein. Rin konnte einen nicht vergiften. Bestimmt nicht einmal dann, wenn er es bewusst versuchen würde. Er hatte schon neben seiner Mutter auf der Küchentheke gesessen und mitgeholfen, noch bevor er richtig Laufen und Sprechen konnte. Und all das sogar ohne Brand- oder Schnittnarben! Über die Jahre hatte er sich auch verschiedenste Bücher zugelegt, um seine Koch- und Backkünste noch irgendwie zu verbessern, was immer ein voller Erfolg gewesen war. Er scheute nicht vor Neuem zurück, verbesserte das, was er schon beherrschte und war sofort in einer anderen Welt, wenn es ums Kochen ging. „Na wenn du mich überraschen willst. Dann kannst du ja auch gerne die Zutaten bezahlen“, fügte Yuri am Ende zwinkernd hinzu und lief das Regal weiter hinab. Rin schüttelte erschrocken den Kopf. „N-nein, Moment mal-“ Summend schnitt Rin gerade die siebte Knoblauchzehe in Scheiben und checkte mit seiner linken Hand die Temperatur der Mixtur aus Olivenöl und Butter in der Pfanne. Überlegend zog er einen Mundwinkel in die Höhe und entschied sich eine weitere Zehe zu schneiden, um dem Gemisch noch mehr Zeit zum Erhitzen zu geben. Als das leise Bitzeln in sein Ohr drang, hob er das Schneidebrett, auf dem Knoblauch und Rosmarin lagen, auf und schob die Geschmacksverstärker in die Pfanne. Sofort stellte er die Hitze herunter und das Schneidebrett in die noch saubere Spüle. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm den ungefähren Zeitpunkt, wann er Knoblauch und Rosmarin wieder aus der Pfanne holen musste. Kurz nickend machte er sich an den Abwasch von Brett und Messer, was er beides dann wieder in den dazugehörigen Schränken verstaute. Mit einer Schaumkelle entfernte er nach guten zehn Minuten Rosmarin und Knoblauch aus der Pfanne und legte das Gemisch auf einen Teller zur Seite. Dank der durchlässigen Kelle war diese Arbeit mit wenig Saubermachen verbunden und garantierte einen noch intensiveren Geschmack. Rins Finger legten sich um die Knöpfe am Herd und stellten die Platte nun auf volle Hitze. Binnen kurzer Zeit erhitzte sich das entstandene Gemisch und dann griff Rin auch schon neben sich, wo auf zwei Papiertüchern ihr eigentliches Abendessen lag. Zischend legte er das Fleisch in die Pfanne, griff nach zwei Gabeln und machte sich ans Braten. Regelmäßig wendete er die zwei Stücke Fleisch und ging immer wieder auf Nummer Sicher, dass es auch richtig durchgebraten wurde. Ganz nebenbei holte er zwei Teller aus dem Wandschrank neben seinem Kopf und brachte diese ins Wohnzimmer, wo seine Mutter saß und in einem Buch stöberte. Da die Küche keine Tür hatte konnte sie bereits zirka erschnuppern, was ihr Sohn für sie zubereitete. Dennoch blieb sie ruhig, legte ihr Lesezeichen ins Buch und erhob sich. Aufmunternd nahm sie Rin die zwei Teller samt Besteck darauf aus der Hand und symbolisierte mit einem Nicken, dass sie den Tisch für ihn decken würde. „Danke“, sagte Rin leise und lief mit großen Schritten zurück in die Küche, wo er wieder das Fleisch wendete. Mit einem Griff in die Schublade an seinem Knie zog er ein frisches Baguette hervor und schnitt dieses in Scheiben. Es fand seinen Platz ordentlich angerichtet in einer kleinen Schale, die er dann auf den Esstisch stellte. „Du kannst dir 'nen Wein dazu aufmachen.“ „Oho, jetzt bin ich aber wirklich gespannt“, machte Yuri und kam der Aufforderung sogar nach. Sie verschwand im kleinen Keller der Hütte. Ihr Sohn stand noch immer am Herd und kippte den vorher abgeschöpften Knoblauch und das Rosmarin wieder in die Pfanne. Dazu ordentlich Salz und Pfeffer. Und als Yuri die Kellertür wieder hinter sich schloss war Rin war auch schon ins Wohnzimmer gelaufen und holte das Fleisch am hervorstehenden Knochen aus der Pfanne. Vorsichtig platzierte er je ein Stück auf einem Teller und sprintete schon fast zurück in die Küche. Diese verließ er binnen Sekunden wieder und verzierte die zwei Stücke Fleisch je mit einem Rosmarinzweig und etwas Knoblauch. „Violà!“, rief er schon stolz und präsentierte seiner Mutter das perfekt zubereitete Abendessen. Lächelnd legte er den Teller zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einem erstaunten Gesichtsausdruck stellte Yuri die Flasche ab und betrachtete das dampfende Essen fasziniert. Ihr Sohn hatte sich doch tatsächlich an Lammkoteletts gewagt und sie auch noch viel zu lecker aussehend serviert. Da konnten sich selbst professionelle Köche eine dicke Scheibe von ihrem Sohn abschneiden. Und sie bekam das alles kostenlos... Naja, bis auf die Kosten im Laden beim Kauf der Zutaten. Aber das war es wert! Das Fleisch hatte eine wunderschöne braune Farbe mit einigen dunkleren und röteren Highlights, die Gewürze dazu rochen gut und das Gemisch aus Knoblauch, Olivenöl, Butter und Rosmarin untermalte das alles auch noch einmal gewaltig. Das Fleisch roch nicht zu intensiv, woran man erkannte, dass das Lamm nach der Geburt nicht in einem Stall mit Widdern gehalten wurde, sondern früh von diesen getrennt worden war. „Das riecht fantastisch, Rin!“ „Dann hau rein, heiß schmeckt es am besten“, empfiehl Rin und öffnete für seine Mutter die Flasche um ihr etwas Rotwein einzuschenken. „Womit habe ich denn diese Ehre heute? Hast du was ausgefressen?“ Yuri nahm Platz und bedankte sich mit einer kurzen Geste für das Essen, ehe sie nach Messer, Gabel und einem Stück Baguette griff. „Ausnahmsweise mal nicht, nein“, antwortete Rin stolz und nahm ebenfalls Platz. „Daaaann“, begann Yuri langgezogen und sah überspielt an die Decke. „Bin ich heute mal dran.“ „Zumindest nicht heute“, fügte der Junge schnell hinzu, und seine Mutter verstummte. „Ich wollte mich für mein Austicken vor ein paar Tagen gegenüber Shiros Sohn entschuldigen.“ Yuris Augenbrauen hoben sich verstehend. „Das mit Yukio?“ Widerwillig nickte Rin und machte sich nun ans Essen. „Er denkt doch echt, dass er der Obermacker ist“, murrte er kindisch und biss in sein Brot. „Weißt du, manchmal sind die Obermacker die, die am unsichersten sind. Denkst du nicht, dass er als Shiros Sohn eine große Bürde zu tragen hat? Immerhin ist sein Vater Paladin.“ „Apropos, ist er wirklich sein Sohn? Die sehen sich null ähnlich.“ „Yukios Eltern sind sehr früh nach seiner Geburt gestorben.“ „Kanntest du sie, waren sie auch Exorzisten?“ „Sie waren Freunde Shiros, deshalb lebt er auch bei ihm. Aber wenn du das wissen möchtest, frag Yukio doch selber. Ein Freund in deinem Alter würde dir gut tun.“ „Du redest ja gerade so, als würde ich morgen draufgehen.“ Die Frau verschluckte sich an ihrem Baguette und lachte dann kurz. Rin klang in das Lachen mit ein und schnitt ein Stück Fleisch ab, das er Kuro aufheben würde, da dieser gerade auf Patrouille im Wald war. Zwar gab es keinen großen Grund dafür, aber für das eigene Wohlbefinden tat er dies freiwillig und auch gerne. Als Belohnung bekam er von Rin Essen bereitgestellt und viele Streicheleinheiten. Und außerdem war er quasi sein einziger Redepartner, der ihm zuhörte und Rat gab. „Muss schlimm sein...“, entwich es Rin plötzlich nachdenklich. „Seine leiblichen Eltern gar nicht zu kennen. Immerhin haben Mutter und Kind doch immer eine eigene Connection.“ „Er kennt es nicht anders.“ Yuri nahm das erste Stück Fleisch in den Mund und wäre es möglich gewesen, den Aggregatzustand des Essens anzunehmen, würde sie nun auf dem Boden zerlaufen. Das Fleisch zerlief wie Butter auf ihrer Zunge. Womit hatte sie diesen Jungen eigentlich verdient? „Ist Shiro denn kein guter Vater? Und wieso haben weder du noch er und je etwas davon erzählt, dass ihr Kontakt habt? Wieso ist er erst nach so vielen Jahren gekommen?“ „Weil ich es nicht für sicher hielt, dich potentiell in Gefahr zu bringen, indem ich offiziell Kontakt zu meinem ehemaligen Kollegen pflege. Aber man kann Shiro trauen. Er weiß, was man tun und lassen sollte. Als Paladin hat er das Sagen und steht noch über den Entscheidungen der Grigori. Dein Leben liegt in seinen Händen, solltest du je an diese Leute gelangen.“ Rin schwieg und ließ die Schultern leicht hängen. Wieso hörte diese Aussage sich so viel gemeiner an als sie sollte? Als wäre er eine Mordwaffe, die man beobachten musste und bei Bedrohungen ausschalten sollte. „Ich bin ja nicht freiwillig so“, murrte der Junge und steckte sich ein weiteres Stück Fleisch in den Mund. „Und außerdem scheint ja nicht mal Satan Interesse an mir zu haben, weil ich überwiegend deine Menschlichkeit geerbt habe. Was habe ich denn von ihm? Außer die Flammen und all den Kram. Ich kann ja nicht mal irgendwas cooles.“ „Also blau leuchten ist schon cool, wenn du mich fragst“ Yuri legte sich die Hand ans Kinn. „Naja, du bist ein begabter Koch, das ist doch auch cool. Und wer weiß, vielleicht akzeptiert Yukio dich ja so?“ „Ach, früher sollte ich niemanden davon erzählen und jetzt soll ich es gerade dem Schoßhund unter die Nase reiben? Der knallt mich doch schneller ab als du denkst. Oder weiht Shiro ihn ein.“ „Nein, Shiro und ich haben beschlossen, dass wir keiner Person davon erzählen. Es liegt voll und ganz an dir, ob du dieses Geheimnis teilst oder nicht, Rin.“ Überlegend nahm Rin einen weiteren Bissen und sah auf den Stapel Brot vor sich. Da hatte seine Mutter eine gute Entscheidung getroffen, indem sie ihm die Freiheit gab, das selber zu entscheiden. Noch nie hatte er seine Flammen bewusst einer Person gezeigt, geschweige denn sich in Gefahr gebracht. Immer war seine Mutter da gewesen, um die Situation zu entschärfen oder eine Ausrede zu finden für seine Stärke oder Aufgewecktheit. Früher als Kind auf Spielplätzen, wenn er auf Bäume kletterte, von deren Krone aus ein Sturz tödlich gewesen wäre, haben sich Kinder von ihm ferngehalten. Beim Spielen im Sandkasten, wenn er lieber Burgern zerstörte und daraufhin mit Sand abgeworfen wurde, hatte seine Mutter die Situation immer unter Kontrolle gehabt, dass Rin nicht die Fassung verlor... wobei das vielleicht wirklich auf seine Kappe zu schreiben war, immerhin war es nicht nett, die Kunstwerke von anderen Kindern zu zerstören. Hätten diese Kinder nur gewusst, dass Rin das nicht mit Absicht getan hatte, sondern um Dämonen aus dem Sandkasten zu vertreiben, dass die anderen Kinder ungestört hatten spielen können. Aber es hatte Yuri immer geholfen, Rins Signale zu deuten. Schon seit er ein kleines Kind gewesen war, hatte sie ihm beigebracht, seinen Schweif zu verstecken. Damit ging sie sogar so weit, dass sie ihm immer ein Unterhemd anzog, unter das er seinen Schweif hatte klemmen müssen, indem er ihn um seinen Oberkörper geschlungen hatte. Das Unterhemd hatte sie dann in seine Hose gesteckt und somit war ein Indiz schon überdeckt worden. Seine Ohren hatte er immer verstecken können, indem er seine Haare leicht hatte drüber wachsen lassen und seine Zähne konnte man einfach auf die Genetik schieben. Immerhin gab es Menschen, die spitze Eckzähne hatten. Seine Flammen... wenn er sie nicht bewusst von selber aktivierte, waren die letzten Anzeichen vorm Austicken immer, dass er Nasenbluten bekam. Wie auch vor einigen Tagen, als Yukio ihn zur Weißglut getrieben hatte. Hätte dieser Streit auch nur ein wenig länger angehalten, wäre Rins Identität ungewollt ans Licht gekommen. Und irgendwo war er ja auch dankbar, dass es so war, wie es nun mal eben war. Dass er selber entscheiden durfte, wie er lebte und was er tun wollte. Verdammt, er konnte wie ein normaler Junge zur Schule gehen, aber hatte sich dagegen entschieden, weil er Angst hatte, ohne seine Mutter all das nicht schaffen zu können. Seine Aufmerksamkeit wurde auf seine Hand gelenkt, auf welche Yuri die ihre gelegt hatte. „Eine letzte Chance?“, fragte sie, faltete die Hände vor der Brust und lächelte schräg. Augenrollend und absolut widerwillig nickte Rin nach kurzem Überlegen. „Aber nur eine.“ Shiro musste zwei mal in den kleinen Korb auf der Kommode vor der Eingangstür greifen, um seinen Schlüsselbund ergreifen zu können. Parallel dazu zog er sich mit der anderen Hand irgendwie seine Schuhe an und hätte er einen dritten Arm, hätte dieser sich vermutlich versucht, den Schal überzuwerfen. Wobei er diesen vermutlich gar nicht brauchen würde, da Direktor Pheles ihm einen Schlüssel gegeben hatte, der ihn direkt ans Ziel brachte und demzufolge nicht von ihm verlangte, durch den eiskalten Winterschnee zu stapfen. Er war mitten in den Vorbereitungen für die Nengajo des neuen Jahres gewesen, das in vier Tagen anstand. Nengajo waren Neujahrskarten, deren Motiv meist das chinesische Tierkreiszeichen des neuen Jahres zierte und dafür genutzt wurden, indem man Dank und Wünsche für Familie und Freunde fürs neue Jahr auf diese schrieb. Und davon hatte er genügend. „Maruta, Nagatomo, ihr übernehmt die restlichen Karten“, orderte der Exorzist noch hektisch und griff gerade noch so nach seinem Handy, ehe er die Haustür durchquerte und direkt in der Hütte seiner guten Freundin Yuri stand. „Yuri?!“, rief Shiro, wuschelte sich aus Reflex durch die kurzen grauen Haare und lauschte auf. „Yuri!“ Ein fassungsloses Schnaufen entwich dem Mann und er steckte seinen Kopf in Wohnzimmer und Küche, wo weder Yuri, noch kochendes Essen vorzufinden war. Auch im Bad, das direkt links von der Eingangstür und gegenüber vom Wohnzimmer vorzufinden war, herrschte Stille. Langsam fühlte er sich veräppelt. „Yuri, ich habe viel zu tun, das ist keine Zeit für Späße!“ Selbst im Schlafzimmer war Yuri nicht zu finden, weshalb Shiro sich dazu entschloss, die runde Treppe am Ende des Ganges hinaufzugehen. Sie führte in einen kurzen Gang, der nur zwei Türen besaß, wovon eine zum Bad im Obergeschoss führte und die andere in ein noch ungenutztes Zimmer führte. Wobei, ungenutzt konnte man dieses mittlerweile nicht mehr nennen, denn Yuri hatte angefangen, den Raum für ihr ungeborenes Kind herzurichten. Sie steckte all ihr Herzblut in dieses Zimmer, hatte die Wände bis vor wenigen Tagen noch bemalt, strickte Klamotten, las Bücher und setzte sich mit der Welt des Muttersein, Shiros Meinung nach, viel zu intensiv auseinander. Bis dato hatten so viele Frauen Kinder geboren, dass Yuri das auch locker packen würde. Mit einem Klacken öffnete Shiro die Tür zum neu eingerichteten Zimmer und war binnen zwei Sekunden schon auf den Boden neben Yuri gesunken. Die junge Frau saß dort am Boden und atmete immer wieder laut und deutlich ein und aus. „Ah, Shiro“, lachte sie warm und sah zu dem Älteren hinauf, ehe ein unangenehmes Ziehen im Rücken sie wieder dazu brachte, die Zähne zusammenzubeißen und nach unten zu sehen. „Seit wann geht es dir so?“ Überfordert versuchte Shiro die junge Frau zu stützen und ihr auf die Beine zu helfen. „Ach, seit heute Nacht. Ich dachte, ich kriege das alleine hin, aber ich weiß, dass ich ruhiger bin, wenn du bei mir wärst...“ Dass Yuri in solch einer Situation noch an ihn dachte, zeigte nur was für eine gutherzige Person sie eigentlich war. „Du hast sicherlich viel vorzubereiten im Stift, stimmt's? Es tut mir leid.“ „Entschuldige dich nicht, wir haben jetzt andere Prioritäten“, sprach Shiro klar und deutlich. „Ist die Fruchtblase schon geplatzt?“ „Ja, im Bad vor einigen Minuten...“ „Alles klar.“ Sie krallte sich kurz in seinen Oberarm des Exorzisten und atmete eine weitere Wehe aus. „Schaffst du es noch runter?“ „Ich denke nicht, nein“, antwortete sie ehrlich, und sofort ging Shiro wieder mit ihr zu Boden und ließ sie sich dort abstützen. „Das ist kein Problem, dann machen wir das hier. Handtücher sind bestimmt im Bad, ich bin sofort wieder zurück. Atme einfach in Ruhe weiter, verstanden?“ Sie antwortete nicht, sondern legte sich stattdessen auf den Teppich in der Mitte des Raumes. Shiro verschwand kurz im Bad und kam mit einem Stapel Handtücher zurück. Zwei legte er gerade so unter ihren Unterkörper, dass der Teppich am Ende nicht reif für den Müll war, und die restlichen hielt er sich griffbereit für das, was kommen würde. Yuri trug eines ihrer lockeren Kleider, was alles erheblich erleichtern würde. Behutsam hob Shiro ihren Kopf an und legte seinen schwarzen Mantel ordentlich gefaltet unter ihren Kopf, dass sie wenigstens etwas bequem liegen konnte und am Ende nicht mit Kopfschmerzen davonging... wobei Kopfschmerzen vermutlich das kleinste Problem sein werden. „Du hast die Atemübungen gelernt, Yuri, wende sie an“ Shiro saß neben Yuri am Boden und atmete laut und deutlich mit ihr mit. Wie konnten Frauen das über einen längeren Zeitraum denn bitte aushalten? Ihm wurde ja schon nach einer Minute schwindelig davon. „Wie ist der Wehenabstand?“ „Denkst du ich zähle die Sekunden?!“ „Sorry für die Frage“, murmelte er beleidigt und fühlte sich noch immer falsch dabei, Yuri irgendwie unters Kleid zu schauen. Immerhin... war er weder der Vater, noch ein ausgebildeter Arzt auf dem Gebiet. Mehr als ihr mental helfen konnte er eigentlich nicht. „Sie sind länger und treten immer in Minutenabständen auf. Zirka-“ „Gott, dafür werde ich nicht bezahlt“, sprach Shiro zu sich, um ein wenig von seiner Panik abzulenken. Doch Yuri konnte deutlich seine zitternden Schultern und Arme sehen. „Das Kind eines Dämonen zur Welt zu bringen...“ „Weniger jammern, mehr helfen!“, rief Yuri und griff nach der Hand des Mannes, um ihm diese ungewollt fast zu brechen. „Du musst hier die meiste Arbeit machen, Yuri, nicht ich!“, erwiderte Shiro fassungslos und sah zu ihr. Es schmerzte ihn, dass er ihr nicht wenigstens einige der Schmerzen abnehmen konnte, denn so hatte er sie noch nie gesehen. Natürlich war eine Geburt absolut kein Zuckerschlecken, aber diese Tortur mal live zu erleben... „Bitte halt mich irgendwie“, flehte sie plötzlich unter Tränen und versuchte sich aufzurichten. Augenblicklich kam Shiro der Bitte nach, schob seinen Mantel unter ihrem Kopf weg und ließ sie sich gegen seine Brust lehnen. Er legte seine Hände an die Seiten ihres Bauch und massierte diesen leicht. Zumindest so lange, bis Yuri sich ins eine Unterarme krallte und von ihm daran erinnert werden musste, auf ihre Atmung zu achten. Sie hatte spürbar Angst und litt unter den Schmerzen. So gut es ging versuchte sie ruhig zu bleiben und nicht vor Schmerzen zu schreien. Dabei hatte sie hier die Freiheit der Welt. „Du darfst auch fluchen und schreien“, lachte Shiro leise, und sie drückte sich noch fester an ihn. „Du musst mit den Wehen pressen, nicht außerhalb des Rhythmus.“ „Willst du das für mich übernehmen?!“ Ein weiteres Mal schnaubte Shiro, schüttelte dann aber lächelnd den Kopf. Wie kam er auch auf die Idee, ihr für etwas Tipps zu geben, was er nie im Leben spüren könnte? „Du machst das sehr gut, Yuri-“ „Wenn das Kind erstmal da ist, dann-“, begann sie sauer und presste mit jeder Wehe mit. „kann es aber was erleben!“ Und mittlerweile hatte sie es sich auch erlaubt, Shiro einen Tinnitus durch ihre Schreie zu verabreichen. Und er blieb einfach hinter ihr, sprach auf sie ein und erinnerte sie an Atmung und Rhythmus. Es vergingen viel zu langsame Minuten – zumindest Yuris Meinung nach und auch Shiro merkte, dass mit jeder Wehe ihre Kraft weniger wurde und sie einfach nur noch fertigwerden wollte. „Ich kann langsam nicht mehr“, wimmerte Yuri in Shiros Unterarm und vergrub ihr Gesicht in diesem. „Du bist schon so weit gekommen, da gibst du doch jetzt nicht auf, oder?“ Mit aufgerissenen Augen sah sie hasserfüllt zu ihm hinauf, wurde dann aber durch eine weitere Presswehe zurück zu ihrer eigentlichen Tätigkeit gezogen. „Denk dran, die Plazenta muss auch noch raus danach. Also noch mehr Pressen.“ „Ich bringe dich eigenhändig um!“, schrie sie ihn sauer an und urplötzlich ließ der Schmerz in ihrem Unterleib nach. Direkt schob Shiro wieder seinen Mantel unter Yuris Kopf und widmete sich dem, was die Frau nun erfolgreich auf diese Welt gebracht hatte. Behutsam zog er samt Handtuch das Neugeborene unter ihrem Kleid hervor. Nachdem dieses erstmal das eben noch geschluckte Fruchtwasser hustend ausgespuckt hatte und endlich zu Schreien begonnen hatte, legte Shiro den Jungen auf die Brust seiner Mutter. Er griff neben sich zu dem Stapel dunkelblauer Handtücher und legte behutsam einige von diesen über das Baby und Yuri half ihm beim Einwickeln, um das kleine Wesen warm zu halten. Dann widmete sie sich wieder dem schreienden Baby auf ihrer Brust, ehe sie ihm immer wieder über die noch leicht schmierige Wange strich und seine Stirn küsste. Währenddessen wartete Shiro geduldig auf die Plazenta und ließ Yuri ihre Rolle als Mutter einnehmen. Immer wieder sah er zu ihr hinauf und blinzelte aufmunternd lächelnd. „Das habt ihr sehr gut gemacht, Yuri“, lobte er sie sanft und strich ihr über den Handrücken. Tränen des Glücks und der Erschöpfung rollten Yuris verschwitzte Wangen hinunter und sie wollte dieses kleine Bündel nie wieder loslassen. In der Zeit ließ er die Nabelschnur zu Ende pulsieren, ehe er sie abklemmte und Yuri ihn darum bat, sie zu durchtrennen. Somit waren sie und ihr Sohn offiziell voneinander getrennt und es war nun an dem Jungen, das Leben zu bewältigen. Dass nebenbei auch der letzte Part der Geburt stattfand, merkte sie gar nicht und Shiro legte die Plazenta in einen der Eimer aus dem Bad. Es war an Yuri, zu entscheiden, was sie damit anstellte. Immer wieder küsste sie ihr Neugeborenes und dankte Shiro für seine Hilfe. Denn dieser kam nun aus dem Bad und tupfte ihr mit einem kalten Waschlappen das Gesicht sauber. „Und das soll ein Spross Satans sein?“, fragte Shiro leise und sah dem Baby ins Gesicht. „Sieht nicht sehr dämonisch aus.“ „Fürwahr, es ist äußerst bedauerlich, dass dieses Wunderkind nicht viel von unserem Vater geerbt zu haben scheint“ Shiro und Yuri sahen geschockt auf und in typischer Montur betrat Mephisto Pheles as Zimmer. Er verbeugte sich und nahm dabei seinen Zylinder vom Kopf. „Lord Pheles...“, sagte Yuri erschrocken und drückte das Baby instinktiv fester an sich. „Keine Angst, ich bin nicht da, um dieses Wesen an den Herrscher Gehennas zu übergeben, das ist nicht Part meines Auftrages.“ Der Dämon ging neben der frischgebackenen Mutter auf die Knie und berührte die Wange des Babys vorsichtig mit seiner behandschuhten Hand. Binnen zwei Sekunden riss das Wesen die Augen auf und hellblaue Flammen umzogen es. Augenblicklich stolperte Pheles zurück und hob abwehrend die Hände. „Was haben Sie getan?!“ „Scheint, als habe ich mich getäuscht.“ „Pheles!“ „Satan wird nicht auf der Suche nach ihm sein, da bin ich mir sicher. Er hat zu wenig seiner Kräfte geerbt, als dass es für ihn Sinn macht, sich um ihn zu scheren. Aber wer weiß, wie es sich entwickelt?“ Yuri versuchte verzweifelt das schreiende Baby zu beruhigen und Shiro stellte sich nun schützend vor sie. Er kannte Lord Pheles schon einige Jahre lang, ebenso kannte auch Yuri ihn seit ihrer Anfangszeit als Exorzistin. Dass er solche Verbindungen zu pflegen schien war beunruhigend, allerdings auch ein Punkt für die Menschheit. Zu lange schon war er auf der Seite der Heiligkreuzritterschaft. „Und wie reagieren andere Dämonen auf ihn?“, fragte Yuri panisch. „Blaue Flammen sind ein Symbol Satans, sie werden ihn doch bestimmt angreifen.“ „Greift man den Welpen das Alphamännchen an, nur weil sie miteinander verwandt sind? Ist denn das Risiko, dass sie Gegenschläge kassieren, nicht zu hoch? Natürlich können wir es dir ein wenig erleichtern.“ Mit einem Schnipsen umhüllte ein helles Licht die verschneite Hütte im Wald kurz. Die blauen Flammen erloschen augenblicklich. „Er wird sich innerhalb dieser Wände nicht von seinen Flammen übernehmen lassen können. Das macht es schwerer, ihn zu orten. Keine Garantie, aber einen Versuch ist es ja dann doch wert. Fujimoto, Ihnen wird in naher Zukunft eine Beförderung zum Paladin bevorstehen, somit stehen Sie über den Grigori und können, im schlimmsten Fall, eine Tötung des Jungen ablehnen.“ Shiro erstarrte. Dass man diese Worte so locker über die Lippen bringen konnte. Als wäre dieses Baby ein Spielzeug für den Clown. „Jawohl“, kam es ihm aber nur trocken über die Lippen. „Er wird sein Leben lang Dämonen sehen, da er als einer geboren wurde, ohne mit anderen Kindern darüber reden zu können. Es wird am Anfang kein schönes Leben werden, aber-“ „Er wird ein schönes Leben haben“, unterbrach Yuri Mephisto stark. „Das verspreche ich ihm!“ „Nun ja, meine Arbeit ist vorerst erledigt, es bedarf keiner Tötung oder Gefangennahme des Neugeborenen. Lediglich dass er am Leben ist, ist das, was herauszufinden war.“ „Sie behalten es doch für sich, oder? Yuri wurde damals offiziell als Verstorben bekanntgegeben. Ihr Überleben würde eine Hetzjagd starten.“ „Aber natürlich, es liegt immerhin auch in meinem Interesse, dass der Kleine am Leben bleibt. Yuri, wenn ich Sie so nennen darf, ich mache es mir zu meiner Aufgabe, ebenfalls ein wachendes Auge über ihn zu haben.“ Schwach nickte Yuri und Shiro hob sie samt Baby hoch. Zufrieden und total fertig lehnte sie sich an ihn und wischte dem Baby mit den Handtüchern langsam das Gesicht sauber. Ohne ein weiteres Wort zu sagen ging er an dem Direktor vorbei und die Treppe hinab. Mephisto nickte verstehend und verschwand schnipsend in einer pinken Rauchwolke. Shiro brachte Yuri ins Schlafzimmer, wo er sie ins Bett legte und legte einige ihrer dicken Decken, die über einen Stuhl gehängt worden waren, auf sie. Sie und das Baby hatten es mittlerweile geschafft, sich aufeinander abzustimmen und der kleine Junge trank an der Brust seiner Mutter. Diese hatte am Anfang Schwierigkeiten mit der Positionierung gehabt, hatte dies dann aber auch geschafft. Gähnend griff Shiro nach dem Holzhocker am Fußende von Yuris Bett und sah zu ihr. Lange schwiegen sie sich an, lauschten den Geräuschen des Neugeborenen und auch Shiros Gedanken fuhren Achterbahn. „Und? Wie heißt er?“, fragte er plötzlich. „Rin“, lächelte Yuri stolz. „Gibt es einen Grund dafür?“ Sie zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder dem Baby an ihrer Brust. Ja, sie würde ihn ihr Leben lang ansehen können, aber er war zu magisch, nicht alle Blicke auf sich ziehen zu können... Shiro hatte anhand des Schulterzuckend realisiert, dass einen Grund für diesen Namen hatte, diesen allerdings nicht preisgeben wollte. Dann sah er endlich, nach der langen Zeit, auf sein Handy. Seine Augenbrauen hoben sich und ihm entwich ein überraschter Ton. Das zog Yuris Aufmerksamkeit an. „Was ist, Shiro?“ Er hielt ihr das kleine Gerät entgegen und wischte sich über die Stirn. „Du erinnerst dich doch an Himiko, oder? Sie ist mittlerweile ein Exorzist dritter Klasse. Sie hat vor wenigen Minuten ebenfalls entbunden. Allerdings hat der Kleine sie auch zwei Tage zappeln lassen“, fügte er am Ende schnaufend hinzu. „Oh, und, was ist es?“ „Ein Junge. Yukio.“ „Ein schöner Name... Ich hoffe ihr und dem Kind geht es gut.“ „Sie hat sich so sehr auf ihn gefreut, ich bin mir sicher, dass sie eine wundervolle Familie werden“, nickte Shiro bestätigend. Yuri senkte ihren Blick wieder und betrachtete Rin, der mittlerweile am kleinen Finger seiner Mutter nuckelte und auf ihrer Brust eingeschlafen war. Leicht schloss sie die Augen, nahm den Geruch des Neugeborenen wahr und liebkoste die Stirn des Babys wieder mit sanften Küssen. „Und du und Rin werdet das auch.“ „Danke, Shiro.“ Rin schreckte keuchend auf und krallte sich panisch in sein Oberteil. Genau an die Stelle, wo sein Herz unter dem Stoff panisch am Rasen war. Immer wieder atmete er schubweise ein und aus, schluckte dazwischen kurz und schüttelte schließlich den Kopf. Sein Bett stand genau neben seinem Fenster, durch welches ein dunkelblaues Licht in sein Zimmer drang: der Mondschimmer, der vom frischen Schnee reflektiert wurde. Dazu kratzte immer wieder ein Ast an dem Glas vorbei und hielt nur dann inne, wenn der Wind abschwächte. Und genau deshalb zog er die Vorhänge zu, drehte sich vom Fenster weg und legte sich sein Kopfkissen murrend auf den Kopf. Wie er es hasste, grundlos in der Nacht aufzuschrecken. Er hatte schon oft von Fujimoto gehört, aber nie von seinem Sohn. Bei dem Vater hatte er sich nie sonderlich geborgen gefühlt, aber irgendwo war dort dann doch ein Funken Sicherheit, die er ihm zutraute. Warum also erinnerte er sich nicht an ihn, wenn seine Mutter anscheinend so dicke mit ihm gewesen war früher?! Hatte er ihn überhaupt schon einmal getroffen? Abgesehen von der Sache vor wenigen Tagen... Und wie konnte ein so allem Anschein nach hohes Tier einen so verunsicherten Jungen als Sohn haben? Irgendetwas passte da doch hinten und vorne nicht. Aber sie waren nicht blutsverwandt, sie empfanden nicht das füreinander, was Blutsverwandtschaft ausmachte. Er hatte Yukio also adoptiert, weil dessen Eltern, für ihm unbekannte Gründe, gestorben seien sollen? Das machte doch nur klar, dass er ihn ohne Planung aufgenommen hatte. Wer weiß, vielleicht hatte er nie Kinder haben wollen? Und wieso war seine Mutter so versessen darauf, dass er sich mit diesem weinerlichen Brillenträger anfreundete? Gleichaltrige gab es doch wie Sand am Meer. Frustriert schlug Rin auf die Matratze und stöhnte genervt auf. „Man, das ist doch echt zum Mäuse melken, was soll das denn alles plötzlich? Soll ich Babysitter für einen angehenden Exorzisten spielen? Das können die sich ja mal schön abschminken.“ Yukio saß währenddessen an seinem Schreibtisch im Knabenstift und spürte ein unangenehmes Ziehen in der Brust. Kapitel 4: Reluctant confrontation ---------------------------------- „Ein Nephilim ist das Ergebnis aus der Kreuzung zwischen Mensch und Dämon.“ Yukio horchte auf. „Die erste Generation der Nephilim erbt die meiste Kraft von ihren dämonischen Elternseite, doch mit der Zeit wird das Dämonenblut so weit verzüchtet, dass die Nachkommen der Nephilim nicht mehr von normalen Menschen zu unterscheiden sind. Ein Nephilim hat eine längere Lebenserwartung als ein Mensch, wobei ein langlebiger Nephilim etwa zweihundert Jahre alt wird. Das ist aber nicht immer der Fall, denn manche von ihnen haben Körper, die sich schnell zersetzen. Zirka so, wie es bei der Besessenheit durch einen Dämonen der Fall ist. Einige Nephilim haben körperliche Merkmale ihrer dämonischen Eltern wie beispielsweise blasse Haut, andersfarbige Augen und spitze Ohren. Sie können in einigen Fällen auch mit anderen Dämonen kommunizieren.“ Der Lehrer schrieb mit einem Stück Kreide und das kurze Kratzen von Fingernägeln auf der Tafel ließ die Novizen zusammenzucken. Entschuldigend hob der Mann die Hand und führte seinen Satz fort. Yukio konnte in seinem Augenwinkel erkennen, wie seine Banknachbarin die Hand hob und eine Frage auf der Seele zu haben schien. Nach kurzem Schreiben wurde sie auch aufgerufen. „Wie verhält man sich einem Nephilim gegenüber?“ „Gute Frage, Moriyama. Nur leider kann ich dir diese nicht beantworten, da man nie weiß, wer Dämonenblut in sich trägt. Ich gehe davon aus, dass alle Personen in diesem Raum nur eine Masho erlitten haben und nicht aufgrund ihrer Eltern Dämonen sehen können.“ „Also könnte jeder theoretisch ein Nephilim sein, der sich nur gut tarnt?“, fragte Yukio und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Korrekt, Okumura.“ „Reagieren sie dann auch auf Weihwasser und all den Kram?“ „Wieder korrekt.“ Nachdenkend biss Yukio sich auf die Unterlippe und nickte verstehend. Dann griff er wieder nach seinem Kugelschreiber und führte seine Notizen fort. Selbst nachdem die Stunde vorbei war blieb Yukio an seinem Platz sitzen und ging seine Notizen ein weiteres Mal durch. Er fügte Dinge hinzu, die er im Schreibfluss vergessen hatte. Danach nahm er seine Brille kurz ab und rieb sich über die Augen. Währenddessen wurde ihm etwas auf den Tisch gelegt und eine weitere Person hievte sich auf den aufgeräumten Tisch. Direkt setzte Yukio sich seine Brille wieder auf und griff nach dem in Plastik eingewickelten Yakisoba-Brötchen. Ein Milchbrötchen gefüllt mit japanischen Bandnudeln und der typischen Yakisoba-Soße. „Vielen Dank.“ „Du warst die Stunde ganz schön auf Zack“, sagte Shima mit vollgestopftem Mund, und Yukio winkte nur ab und ließ das Brötchen in seinem Rucksack verschwinden. „Gibt's 'nen Grund dafür?“ „Die Gier nach Wissen“, antwortete Yukio und lächelte mit geschlossenen Augen. „Wer's glaubt. Bist du etwa einem Nephilim begegnet?“ „Was? Nein. Vater würde mich auslachen würde er wissen, dass ich von einem Nephilim getäuscht worden wäre. Wie sieht's bei euch aus?“ Auch Suguro und Konekomaru nahmen nun Platz auf Yukios Tisch und schüttelten verneinend die Köpfe. „Aber wer weiß... vielleicht lauert ja hinter dieser Tür einer von ihnen“ Shima versuchte irgendwie angsteinflößend zu wirken, versagte damit aber auf ganzer Spur. „Aber muss cool sein so alt zu werden.“ „Bis du dich mit einem Menschen anfreundest und dieser so viele Jahre vor dir stirbt“, bemerkte Suguro, und Shima schürzte die Lippen. „Man, Bon, verdirb einem doch nicht immer alles! Es muss bestimmt romantisch sein, bis an sein Lebensende zu wissen, dass man geliebt wird.“ „Können diese Dinger denn überhaupt Liebe empfinden?“ „Und nachdem du tot bist suchen sie sich für den Rest ihres Lebens wieder jemanden“, sagte Yukio stumpf und verstaute seinen Block im Rucksack. „Wie romantisch...“ „Kann mir ja egal sein, wenn ich tot bin-“ „Es kann dir auch so egal sein, weil nicht mal ein Nephilim sich auf dich einlassen würde“, mischte sich nun Izumo in das Gespräch ein und lief an der kleinen Gruppe vorbei zu ihrem Platz. „Warum sollte ein Nephilim die Hälfte seines Lebens mit einem Kerl wie dir verbringen?“ Überdramatisiert griff Shima sich an die Brust und imitierte den schlimmsten Herzschmerz, den er je in seinem kurzen Leben gespürt hatte. „Holla...“, sagte Yukio mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ach, das meint Izumo nicht so, du kennst sie do-“, winkte der Pinkhaarige ab, wurde aber von dem Mädchen direkt unterbrochen: „Und wie ich das meine!“ Suguro kicherte leise in sich hinein und der braunhaarige Brillenträger hielt nur angespannt die Luft an. Die konnte aber auspacken... Da kannte er aber auch jemanden, der das mehr als nur gut konnte. Ein gewisser Jemand, der ihm ein Buch mit sieben Siegeln war. Aber er würde Rin schon noch knacken. Und wenn es Yuri war, die ihm Antworten auf seine Fragen gab. Doch Suguros Hand, die vor einem Gesicht wedelte, riss ihn aus seinen Gedanken. „Ist alles in Ordnung mit dir, Okumura? Du bist so schweigsam und nachdenklich, schon den ganzen Tag.“ Suguro betrachtete ihn prüfend, doch Yukio winkte nur ab. „Ich mache mir nur Gedanken über meinen Geburtstag, das ist alles“, log er spontan und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Du hast Geburtstag? Wann denn?“ Shima lehnte sich von der Seite ins Blickfeld. „A-am siebenundzwanzigsten.“ „Das sind doch noch gut zwei Wochen. Und dann auch noch in den Ferien, ich kann nur eifersüchtig sein“, stöhnte der Pinkhaarige und warf sich einen Arm über die Stirn. Yukio lachte leise und nickte. Ja, es waren noch gut zwei Wochen bis zu seinem Geburtstag und er plante auch noch gar nicht groß – er war keine Person, die gerne feierte. Es war lediglich eine Notlüge gewesen, um sich nicht irgendwie über Yuri und Rin zu verplappern. Die Pause endete damit, dass Shiro das Klassenzimmer mit zwei Büchern unter dem Arm geklemmt betrat und seine Studenten kurz, aber dennoch nett, begrüßte. Anti-Dämonika stand auf dem Stundenplan. Shiro war ein guter Lehrer und ein noch besserer Exorzist, dem war nichts entgegenzustellen. Er wählte Worte, die man als Anfänger verstand und schrieb die Notizen an die große Tafel, die man zum Lernen und Nachschlagen brauchte. Fragen beantwortete er ausführlich und brachte sogar eigene Erfahrungen mit ein. Und als er eine Aufgabe für den Rest der Stunde aufgegeben hatte, winkte er seinen Ziehsohn leise zu sich ans Pult. Mit einem prüfenden Blick sah Yukio sich im Klassenraum um, ob auch wirklich er gemeint war, und erhob sich dann leise von der Sitzbank. Mit schnellen Schritten lief er an das Pult, wo Shiro saß und sich Notizen über die Beteiligung der Schüler machte. „Ja, Sie haben nach mit verlangt?“ Yukio stellte sich ordentlich hin – Shiros Meinung nach ZU ordentlich. „Versteif dich nicht so, Yukio. Hör zu, ich möchte, dass du Yuri nach der Schule bei etwas behilflich bist. Ist das in Ordnung?“ Er lächelte lieb und hielt Yukio einen Schlüssel entgegen. „Den brauchst du mehr als ich.“ „Ich...“, stotterte Yukio, ergriff dann aber den Schlüssel. „Kann... er das nicht tun?“ Er formulierte die Frage um, um keinen Verdacht schöpfen zu lassen, denn Suguro beobachtete sie aus dem Augenwinkel heraus und hatte die Ohren gespitzt. Yukio hatte es genau bemerkt. „Ihr habt euch nun seit über einer Woche nicht gesehen, ich denke, ihr kriegt das zusammen hin. Sieh' es als einen neuen Versuch.“ Widerwillig nickte Yukio. „Wenn es sein muss...“, murrte er, und sein Vater zog eine Augenbraue hoch. „Wie?“ „Jawohl, ich habe verstanden.“ „Setzen.“ Er kam der Aufforderung stumm nach und umklammerte den Schlüssel in seiner Hand nur noch fester. Was sollte das denn jetzt schon wieder? Er sollte helfen gehen und bekam am Ende doch eh wieder nur einen von Rin auf den Deckel, darauf konnte er schwören. Und wenn das wirklich der Fall sein würde, konnte seine Freundlichkeit und sein Interesse auch ganz schnell zu Wut und Desinteresse werden. Normalerweise war sein Geduldsfaden äußerst ausgeprägt, etwas, was sein Vater ihm seit seiner Kindheit beigebracht hatte. Denn es machte wenig Sinn, Energie in etwas zu stecken, was einen herunterzog. Aber Rin war ein wandelnder Eisblock, der alles an Hilfe ablehnte und vermutlich sogar lieber sterben würde, als mit ihm noch ein weiteres Wort zu wechseln. Was nach ihrem letzten Gespräch nicht gerade verwunderlich war, um ehrlich zu sein... Mit dem Ministerium zu drohen war wirklich absolut uncool gewesen, jetzt wo Yukio über seine Worte so nachdachte... Als er die Mine seines Bleistiftes abbrach, indem er zu feste auf das Papier aufdrückte, horchte er auf und wurde aus seinen Gedanken gerissen. Verwirrt starrte er auf das Graphit, das nun vor ihm auf dem Blatt lag und nur darauf wartete, auf den Boden gewischt und ersetzt zu werden. Doch anstatt seinen Spitzer rauszuholen legte Yukio den Stift weg und las den fast fertigen Satz vor sich. Die Art der Besessenheit eines Dämonen ist unterschiedlich; manche Dämonen dringen in die Herzen von Menschen ein, indem sie deren emotionale Labilität ausnutzen. Der Wirtskörper muss stark genug sein, u- „Was geht denn mit dir ab?“ Der Junge zuckte zusammen und sah neben sich. Suguro starrte ihm tief in die Seele und Schweißperlen liefen Yukios Stirn im Wettrennen hinab. „N-nichts.“ „Du bist kein guter Lügner, Okumura.“ Damit hielt er ihm einen Spitzer entgegen, den der Braunhaarige nur anstarrte. „Für deinen Stift.“ „Ach so, danke, Suguro!“ Lachend spitzte er seinen Stift wieder an und brach die Mine bei diesem Vorgang noch zwei Male im Spitzer ab. Bevor er Suguro das kleine Gerät wiedergab, erhob er sich und lief extra langsam zum Mülleimer, um die Späne wegzuwerfen. „Vielen Dank“, sagte Yukio und gab Suguro den Spitzer zurück, um sich dann wieder an seine eigenen Notizen zu setzen. Der Andere erwiderte nichts, sondern betrachtete ihn nur stumm von der Seite. Innerlich kochte Yukio vor Wut. Das konnte doch jetzt nicht ernsthaft alles so blöd gelaufen sein, dass Suguro irgendeinen Verdacht zu schöpfen schien, oder? Und dass er dann noch ein Gespräch hatte anfangen wollten. Der Kerl roch Lunte, das war nicht zu übersehen. Man, und all das jetzt nur wegen eines blöden Bleistifts... Yukio drückte wieder zu und zerbrach die Mine erneut. „Ich danke dir, Yukio. Wir bestellen uns zum Abendessen etwas nach deinem Wunsch“ mit diesen Worten drehte Shiro den Schlüssel im Schloss um, zog ihn heraus und drückte ihn Yukio wieder in die Hand. Der Teenager stöhnte genervt. „Du wirst schon Spaß haben.“ „Amen.“ Dann schubste Shiro ihn leicht durch die geöffnete Tür und schloss diese wieder hinter ihm. Mit beleidigt hochgezogenen Lippen sah Yukio hinter sich zu der Hüttentür, an de er gleich wieder klopfen müsste. Schnaubend richtete er sich seine Krawatte und inhalierte die frische Luft hier draußen. Es war schön, wenn auch kalt. Allgemein war es verrückt, was für einen Unterschied das Stadtleben machte. Man war immer auf Zack, konnte spontan mit öffentlichen Verkehrsmitteln Freunde oder Läden besuchen und man stand quasi immer unter Strom. Hier draußen war das nicht so. Keine Autos, keine lauten Geräusche, kein Geschrei, außer vielleicht von einem Tier und einfach nur... Ruhe. Wie als würde er eine Mücke töten wollen schlug Yukio seine Hände zusammen und zerstörte damit eines der Kohletierchen, das ihm vor die Nase flog. Angewidert wischte er seine Hände an seiner Jacke ab und klopfte dann auch schon an die Tür. „Ah, Yukio ist da!“, hörte er Yuri von innen freudig rufen, und ein ironisches „Wooho“ von Rin ertönte ebenfalls. Schon zuckte Yukios Augenlid, doch er atmete tief ein und aus. Denn Yuri machte ihm freudig die Tür auf und hielt sich zurück, ihn zur Begrüßung nicht zu umarmen. Deshalb verbeugte sie sich kurz, was der größere Junge direkt erwiderte. „Guten Tag, Yuri.“ „Es ist sehr nett, dass du dich bereiterklärt hast, uns ein wenig zu helfen“ Yuri trat zur Seite und ließ den verwirrten Yukio eintreten. Diesem kam kein Wort über die Lippen, aber die Verwirrung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Bereiterklärt? Indirekt dazu gezwungen würde eher passen. Trotzdem... sah Yuri viel zu glücklich darüber aus als dass er ihr nun die Stimmung mit diesem Fakt vermiesen wollen würde. Es war krass, wie man ihre Positivität in der Luft spüren konnte. Sobald man mit ihr in einem Raum war, hob sich die Stimmung immens und man konnte diese nur erwidern. Außer bei ihrem Miesepeter von Sohn, der auf der Couch saß und an der Konsole am Fernseher hing. „Rin, willst du Yukio denn nicht auch begrüßen?“, hakte Yukio etwas strenger nach und wuschelte ihrem Sohn durch die schwarzen Haare. Doch dieser zögerte kurz, schluckte seinen Konter dann aber herunter. „Hey, Essen steht in der Küche, falls du noch nichts gegessen hast“, sagte Rin nun für Yukios Überraschen äußerst zivilisiert. Doch Yukio zog sich erst Schuhe und Jacke aus und gesellte sich dann in das angenehm warme Wohnzimmer. Rin trug nur ein normales Shirt, während seine Mutter dann doch zu einer Strickjacke gegriffen hatte. Lag vielleicht auch daran, dass ihr als Frau schneller kalt wurde... oder weil Rins Temperament ihn wärmte, man weißt ja nie. „Danke, aber ich habe etwas aus der Schule dabei.“ Vorsichtig nahm er am Holztisch Platz und kramte in seiner Umhängetasche, in der sich auch noch sein Schulzeug befand, herum. Endlich würde das Yakisoba-Brötchen, das Suguro ihm mitgebracht hatte, seinen Nutzen erfüllen. Denn ihm knurrte schon seit der letzten Stunde der Magen. Doch auch das sollte ihm verwehrt bleiben. Das Geräusch des Plastiks ließ Rin sich umdrehen und er fiel fast über die Rückenlehne der Couch als er erblickte, was Yukio in der Hand hatte. „Boah, ist ja der Hammer, du hast ein Yakisoba-Brötchen dabei!“, schrie Rin glücklich und riss Yukio aus seinen Gedanken. Danach schüttelte er den Kopf und ohrfeigte sich innerlich dafür, dass er gerade so überreagiert hatte. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Der Jüngere sagte nichts dazu, sondern betrachtete das Szenario nur stumm. Was auch immer heute mit Rin los war, das sah ihm nicht ähnlich. Hatte Yuri ihm zu viel Zucker ins Müsli geschüttet? „Magst du die etwa?“ „Man kann nicht mit ihm einkaufen gehen, ohne dass er am Ende eins absahnt“, antwortete Yuri für Rin, der mittlerweile seinen Kopf in die Lehne der Couch gepresst hatte und seinen Impuls eben bis auf den Tod verfluchte. Seine Nägel krallten sich in den Stoff und er nickte dann noch als Antwort. „Hier, nimm“ Yukio hielt ihm das Brötchen entgegen, und Rin riss den Kopf hoch. „Aber du hast doch heute nach der Schule noch nichts gegessen, oder?“ Er legte den Kopf schief, doch sein Gegenüber am Tisch winkte ab. „Nein, alles gut, nimm es ruhig“, lachte Yukio lieb und reichte ihm das in Plastik eingepackte Brötchen. Kurz zögerte Rin, nahm es dann aber dankend an. Zufrieden betrachtete Yukio ihn dabei, wie er das halbe Brötchen mit nur einem Bissen herunterschlang und sich dabei auch noch verschluckte. Immer wieder klopfte er sich mit der Faust gegen den Brustkorb. So lange, bis er wieder atmen konnte und die zweite Hälfte dann mit zwei weiteren Bissen herunterschlang. Kopfschüttelnd betrachtete Yuri ihren Sohn dabei, wie er sich gerade fast selber umgebracht hatte. Der verhielt sich ja fast, als hätte er sein Lebtag nichts ordentliches zu Essen bekommen. Dabei wirkte er mehr als nur gesund genährt. Er war nicht groß, vielleicht kratzte er gerade so an den einen Meter siebzig, wohingegen Yukio schon an den einen Meter achtundsiebzig kratzte. Okay, zugegeben hatte er über die letzten Monate einen riesigen Schub gemacht, also würde er Rin nicht auf seine Größe degradieren. Die kleinsten Hunde bellten ja bekanntlich am lautesten. „Aber bitte, Yukio, du musst doch bestimmt Hunger haben“ Yuri erhob sich sofort wieder von der Couch und machte bei der Gelegenheit Rins Konsole aus. „Hey, ich hab noch nicht gespeichert gehabt?!“, rief Rin fassungslos und ließ die Schultern hängen. „Du isst Yukio sein Essen weg, der Junge hat hart gearbeitet in der Schule.“ „Mit dem Kopf vielleicht“ schmollend sank er tiefer in den Couchsitz und ließ den Controller auf den Boden fallen. „Rin.“ „Yuri, es ist wirklich nicht schlimm, ich habe es ihm doch angeboten“ abwehrend hob Yukio die Hände, und Yuri packte Rin am Ohr und zog ihn mit in die offene Küche am Ende des Raumes. „Aua, aua, aua, was soll das denn werden?!“ Yukio fühlte sich schuldig, dass er dem gleichaltrigen sein Essen angeboten hatte. Nur deswegen schien er nur leichten Stress mit seiner Mutter zu haben. „Wir haben noch Reis, mach bitte ein Omelett für Yukio“, antwortete Yuri lieb und ließ Rins Ohr los, als sie vorm Herd standen. Das Gesicht des Jungen hellte sich sofort auf. „Nichts lieber als das!“ Wollten die zwei ihn vielleicht vergiften? Wollte Vater Fujimoto ihn von der Bildfläche verschwinden lassen und hatte Mutter und Sohn angeheuert? Nein, da gingen seine Pferde mit ihm durch. Weder Yuri, noch Rin... wobei, Rin vielleicht schon, hatten einen Grund, ihn umbringen zu wollen. Noch immer von Skepsis angehaucht erhob Yukio sich vom Tisch und gesellte sich zu Rin in die Küche, wo der Junge summend die Gasplatte andrehte und eine Wokpfanne auf diese stellte. Mit einer flüssigen Bewegung schüttete Rin etwas Öl in die Pfanne und brach zwei Eier in einer Schale auf, um diese dann zu verrühren. Binnen kurzer Zeit schüttete er die Eier in die Pfanne und begann mit der linken Hand die Pfanne zu schütteln. Dabei griff er mit der rechten Hand nach Stäbchen und vermischte die Eier immer weiter – achtete genau darauf, dass sie nirgendwo an der Pfanne kleben blieben. So lange, bis das Ei halb fertig aussah. Dann begann Rin mit gekonntem Klopfen und Schieben darauf in einer Ecke der Pfanne ein Omelette zu machen. Er schob das Ei immer weiter um sich selber herum, bis es eine perfekte ovale Form hatte. Sich selber zunickend griff er nach dem Teller, auf dem ebenso ovalförmig ein Gemisch aus Fleisch, Reis und Gemüse präpariert worden war. Er hielt Yukio den Teller entgegen und gerade als der Junge diesen ergreifen wollte, hob Rin die Pfanne noch und mit einem eingeübten Wurf ließ er das Omelette aus der Pfanne fliegen, sodass es perfekt über dem Reis landete und sich wieder öffnete. Wie ein Vulkan lief das Ei den Reis hinab und bedeckte bald schon den ganzen Teller. Und mit einem letzten Griff verzierte Rin das Essen mit etwas Soße und Kräutern, ehe er den Teller in Yukios Hände gleiten ließ. Dieser war sprachlos von dem, was er eben gesehen hatte. Noch nie hatte er jemanden gesehen, der ihm live und in Farbe Omurice zubereitet hatte. Und dazu roch es auch noch abgöttisch gut. Rin schien ja doch irgendwo talentiert zu sein. Außerdem gab es keine Anzeichen von irgendwelcher Giftzugabe. „Bon appétit“, sagte Rin und verbeugte sich leicht, ehe er Yukio eine Gabel zum Essen auf den Teller legte und sich dann wieder auf das Sofa neben seine Mutter pflanzte und seinem verlorenen Spielprogress hinterher trauerte. Noch immer sprachlos setzte Yukio sich wieder an den Tisch, bedankte sich für das Essen und nahm den ersten Bissen. Seine Augen weiteten sich fasziniert, als das heiße Ei und der lauwarme Reis ihm auf der Zunge zerliefen. Anscheinend hatten sie erst kurz vor seiner Ankunft etwas gegessen, sonst könnte er sich nicht erklären, warum der Reis noch lauwarm war... Nicht glaubend, was er gerade aß, nahm Yukio einen weiteren Bissen und wurde nur noch verblüffter. Rin sah ihm heimlich von der Couch aus zu und freute sich dabei einen Ast ab. Es gab doch nichts Besseres, als wenn sein Essen jemanden schmeckte! Und so wie Yukio nun reinhaute war zu sagen, dass es ihm schmeckte UND dass er doch Hunger gehabt hatte. Weshalb Rin sich nun nur noch schlechter fühlte, dass er das Brötchen des Jungen gegessen hatte. Na, hatte Yukio nun eben etwas Warmes im Magen, darüber würde sich bestimmt auch niemand beschweren. „Das war echt gut. Danke, Rin“, sagte Yukio, legte die Gabel auf den komplett leeren Teller, und beschämt lachend kratzte Rin sich am Hinterkopf. Als seine Mutter ihm von der Seite einen Arm um den Hals warf und ein stolzes „Ist auch das Einzige, was er gut kann“ von sich gab, zog Rin einen Schmollmund. „Du bist manchmal so peinlich“, grummelte er, und Yuri zuckte mit den Achseln. „Du hast mich auch schon oft genug blamiert, mein Großer! Also, darf ich euch nun auf eure super tolle mega Geheimmission schicken?“ „Unsere was?“ Yukio zog eine Augenbraue in die Höhe. „Das sagt sie weil wir eine Axt brauchen“, erklärte Rin. „Holz hacken. Hast du überhaupt die Muskeln dafür?“ „Fürs Tragen bestimmt.“ „Perfekt, vier Arme tragen mehr als zwei“ Yuri klatschte in die Hände und lächelte die Jungs abwechselnd an. Yukio seufzte. Er sollte beim Holzhacken helfen? Hatte Rin das nicht vermutlich die letzten Jahre auch schon alleine gemacht? Was brauchte er denn plötzlich dabei Hilfe? Gott, was sollte das? Doch Rin erhob sich plötzlich von der Couch und griff nach seinem dunkelblauen Pullover, der über einem der Holzstühle hing. Er schlüpfte in diesen hinein und streckte sich dann ausgiebig. „Los, lass uns gehen“, meinte er und deutete Richtung Haustür. „Ich will weiterspielen.“ Anstatt Widerrede zu geben nickte Yukio zögernd, legte seine Tasche unter die Garderobe und schlüpfte in Schuhe und Jacke. „Die brauchst du nicht, dir wird schnell warm werden.“ „Ich ziehe sie trotzdem an, danke.“ Schulterzuckend öffnete Rin die Wohnungstür und sprang die wenigen Stufen hinab in den frischen, unberührten Schnee. Sein Gesicht hellte sich auf als er sprintend hinter das Haus rannte. Fröstelnd griff Yukio nach seinen Handschuhen, die in seiner Jacke lauerten. Yuri legte ihm einen von Rins Schals um und richtete den Kragen seiner Jacke ein wenig. Dass es sich um einen von Rins Schals handelte, wusste Yukio dabei nicht. „Vielen Dank, Yukio.“ „Wenn er mit 'ner blutverschmierten Axt zurückkommt, sucht nicht nach mir“, murrte Yukio und folgte Rin. Seine Hände hatte er in den Jackentaschen vergraben und sein Gesicht vergrub er bis zur Nase im Schal. Yuri lächelte schwer. Der konnte ja genauso ein Miesepeter sein wie ihr Sohn. Da hatte er sich Shiro wohl zu sehr zum Vorbild genommen, denn dieser konnte auch nett wirken, obwohl er innerlich total zerstreut war. Summend kam Rin mit der Axt über seine Schulter gelegt zurück zu Yukio. „Wir gehen in die Richtung“, meinte er und deutete in irgendeine Richtung. „Und warum genau in die?“ „Weil der Wind aus der entgegengesetzten Richtung kommt und uns dann keine Tiere riechen.“ „Gib mir die Axt“, forderte Yukio monoton und hielt seine Hand auf. „Ehm... nein.“ „Ich vertraue dir mit dem Ding nicht.“ „Ich vertraue dir auch ohne das Ding nicht“, erwiderte Rin und zuckte mit den Achseln. „Siehst du, dann kannst du mir sie ja genauso gut geben“ Yukio lächelte provozierend. „Ich kann's auch sein lassen.“ Yukio rollte mit den Augen und kapitulierte somit stumm. Triumphierend reckte Rin die Brust und lief los Richtung Wald. Widerwillig und mit einem letzten Blick auf die Hütte folgte Yukio ihm langsam und schmollend. Er hatte kein Problem mit der Kälte, er verarbeitete sie sogar ganz gut, aber er hasste es, wenn seine Nase kalt war und seine Ohrspitzen sich anfühlten, als würden sie jede Sekunde wie Eiszapfen abbrechen. Und Rin rannte nur mit einem Pullover vor ihm her, turnte dabei auch noch wie ein Affe hin und her, spielte mit Stöcken und genoss das Leben. Dass er nicht schwitzte war ein Wunder. Denn Kälte und Schweiß vertrugen sich nicht gut. Nasse Klamotten bedeuteten, dass man schneller zu unterkühlen drohte. Rin würde doch auch bestimmt halbnackt wie Tarzan im tiefsten Winter hier herumtollen... Yukio schüttelte wild den Kopf und versuchte dieses Bild irgendwie aus dem Kopf zu bekommen. „Fang, du wolltest sie ja haben!“, rief Rin plötzlich, und Yukio riss den Kopf hoch als Rin auch schon die Axt nach ihm werfen wollte. Panisch sprang Yukio hinter den nächstbesten Baum und ließ seinen Kopf gegen diesen fallen, als er das schadenfrohe Lachen seines Mitstreiters hörte. Er würde ihm noch den Hals umdrehen, früher oder später, das stand fest. Oh ja, das stand definitiv fest. „Ich hasse dich“, knurrte Yukio und stieß Rin im Vorbeigehen mit der Schulter gegen die Brust. Dieser lachte nur weiter und folgte ihm. Dabei hatte der Braunhaarige absolut keinen Plan, wo er überhaupt langlief. Er wartete nur darauf, dass Rin ihn unterbrach, doch dieser folgte ihm nur wie ein Hund und summte irgendwelche ihm fremden Lieder vor sich hin. „Weißt du wo wir hingehen?“, unterbrach der Schwarzhaarige dann doch irgendwann die Stille. „Nein“, antwortete Yukio entschlossen und lief weiter. „Ah, cool. Na dann, mach weiter so!“ Er reckte den Daumen und sah sich dann wieder weiter um. Als ein Knacken seitlich von ihnen ertönte wirbelte Yukio sofort herum, bereit, von irgendetwas angefallen zu werden. Dabei hätte es auch einfach Schnee sein können, der von einem Ast gefallen war. Aber das war es auch nicht. Die Augen des Novizen weiteten sich fasziniert und seine schlechte Laune war wie weggeblasen. „Schau mal, Frischlinge“, sagte Yukio fasziniert und ging in die Hocke. Dabei streckte er den sieben Frischlingen seine rechte Hand entgegen. „Ich hab noch nie welche in freier Wildbahn gesehen.“ „Wirst du auch vielleicht nie wieder“, sagte Rin vorsichtig und ging einige Schritte zurück als er eine dunkle Gestalt von der Seite auf die Babys zulaufen sah. „Wie...so?“ Yukio richtete sich sofort wieder auf und betrachtete den Keiler, der samt Bache vor den Frischlingen stand und den Jungen tödlich im Blick behielt. Mutter samt Babys verschwand im Wald und der, wahrscheinlich, Vater der Frischlinge blieb an Ort und Stelle zurück. „Verhalt dich einfach ruhig“, flüsterte Rin und entfernte sich immer mehr von Yukio, der dem Tier nur leicht Schnee entgegen kickte, um es auf Distanz zu bringen. Nur brachte das das genaue Gegenteil. Mit einem Satz kam das Tier näher und blieb wieder stehen. Es schien Yukios Angst förmlich zu riechen, denn es machte keinerlei Anstalt, ihn in Ruhe zu lassen und abzuziehen. „Du machst das schon, Kollege“, sagte Rin, klopfte Yukio aufmunternd auf den Rücken und brachte mit seinem Blick dann das Tier sogar dazu, kurz zurückzuweichen. Zumindest so lange, bis er genug Distanz zu Yukio aufgebaut hatte. Dann stand Yukio dem Tier alleingelassen gegenüber. Kapitel 5: Wounds treated ------------------------- Das dunkle Tier schnaubte laut, weshalb Yukio einen Schritt nach hinten ging, dabei aber über einen abgebrochenen Ast stolperte und zu Boden fiel. Der Schnee dämpfte seine Landung zwar, aber das Wildschwein vor ihm scherte kurz mit dem Huf und preschte dann auf ihn los. Rin ging kommentarlos einen weiteren Schritt zur Seite und ließ das Tier dabei nicht aus den Augen. Sein Begleiter hingegen fiel beim Aufstehen fast wieder auf die Nase während das Tier auf ihn zugerannt kam. Dabei fiel seine Brille in den Schnee, doch die war ihm jetzt egal. Yukio krallte sich panisch in die Rinde der Tanne, die wenige Schritte von ihm entfernt war und kletterte den Baum mit Mühen hoch. Immer wieder rutschte er an dem dunklen Holz ab, zerstörte sich seine Fingernägel dabei und nur dank des Adrenalins, das ihm durch die Adern schoss, war es ihm möglich, auf den erstbesten Ast zu klettern, der sein Gewicht einigermaßen halten konnte. Unter dem Ast lief das Wildschwein von links nach rechts und behielt den jungen Novizen mit seinen dunklen Augen im Blick. Die Stoßzähne waren nicht lang, aber dafür messerscharf. Die wollte Yukio nicht ins Bein oder noch schlimmer, in den Magen, bekommen. „Kusch, geh weg!“, rief der Braunhaarige und versuchte mit Gestikulationen das Tier wegzutreiben. „Warum greift es dich nicht an?!“ Yukio sah zu Rin, der nur wenige Meter neben dem Tier stand und seine Hände amüsiert in seinen Pullovertaschen vergraben hatte. Was ein Drecksack. „Ich habe es nicht durch hektische Bewegungen provoziert“, antwortete Rin ehrlich und grinste teuflisch. „Ich hol' dich später ab, ja? Kannst es ja mit Tannenzapfen bestechen oder so. Du machst das schon, Herr Novize.“ „Nein, Rin!“, rief Yukio und verschluckte sich vor Schreck, wie er das gerade gesagt hatte. Es hatte sich schon fast flehend angehört, weshalb selbst Rin die Schultern hängen ließ und zu ihm hinauf sah. Von sich selbst angewidert rümpfte Yukio die Nase und schüttelte hektisch Kopf. Nie im Leben würde er den Älteren darum bitten, ihm zu helfen. Wo käme man denn hin? „Wie war das?“, hakte Rin nach und hielt sich seine Hand hinter die Ohrmuschel, um genauer hinhören zu können. „Nichts“ patzig verschränkte Yukio die Arme und sah wieder zu dem Wildschwein runter. Für eine Sekunde hatte er überlegt, das Tier mit den Tannenzapfen abzuwerfen, aber das wäre sicherlich sein endgültiges Todesurteil. „Na wenn das so ist.“ Erneut ein Schulterzucken und Rin drehte sich zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Yukios Augenbrauen zogen sich zusammen und am liebsten wäre er dem Schwarzhaarigen an die Kehle gesprungen. Aber würde er das tun, würde das Vieh unter ihm ihm noch davor an die Kehle gehen. Deshalb griff er trotzig nach einem der Tannenzapfen und warf Rin diesen an seinen Dickkopf. Empört drehte sich dieser sofort um und hielt sich die Stelle, an der er getroffen worden war. Rin! Angesprochener drehte sich wieder um und sah auch schon seinen Cait Sith zwischen den Bäumen hervor rennen. „Nein, Kuro, es ist alles gut!“, rief Rin hektisch. Er wollte das Schauspiel noch ein wenig genießen, doch nachdem das nun verhältnisweise kleine Wildschwein die riesige Katze auf sich zurennen sah, suchte es sofort das Weite. Yukio sah auch in die Richtung, aus der die lauten Fußstapfen ertönt wareen, doch als Kuro bei ihnen angekommen war, war er wieder zu der kleinen süßen Katze geworden, die er die meiste Zeit über war. „Er hat tatsächlich einen magischen Diener...?“, fragte Yukio sich leise. Ein Knacken riss ihn aber dann aus der Schockstarre und keine zwei Sekunden später prallte er samt Ast auf dem Boden auf. Stöhnend hielt er sich Steißbein und Rücken und wand sich vor Schmerzen im kalten Schnee. Sein Gesicht presste er in diesen und schluckte die aufkommenden Tränen herunter. Er würde doch nicht wegen eines kleinen Sturzes vor dem Idioten anfangen zu Heulen. Wobei er echt ungünstig aufgekommen war und sein Knöchel ihn gerade dazu auch noch vor Schmerzen umzubringen versuchte. Allerdings hatte er nur zwei Hände, und die waren an seinem unteren Rücken und vor ihm im Schnee gebettet. Immer wieder griff er nach dem weissen Pulver, das binnen Sekunden in seiner Hand schmolz und zu Wasser wurde. Und als Yukio den Kopf hob, saß Kuro vor ihm und sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. Zumindest so lange, bis er am Nacken gepackt und hochgehoben wurde. „Ich habe doch gesagt, dass alles in Ordnung ist. Wir waren nicht in Gefahr.“ Rin sah beleidigt in die großen Augen des Katers mit zwei Schwänzen. Dieser schnaubte beleidigt und hob die Nase in die Höhe. „Meow.“ „Ich war nicht in Gefahr. Kein Grund zur Sorge, mit so 'nem Vieh werde ich auch alleine fertig.“ Kuro sah verwirrt zu Yukio. Rin folgte dem Blick der Katze und Yukio sah ihn mit knirschenden Zähnen an. Dann rappelte er sich langsam auf, achtete dabei aber auf seinen schmerzenden Körper. „Ich meine nicht dich, sondern das Wildschwein. Meine Güte, selber Schuld, wenn du dich angesprochen fühlst.“ „Du...“, grummelte Yukio wutenbrannt und suche im Schnee nach seiner Brille, ehe er diese unter seinem Hintern fand. Kaputt. Na toll. Natürlich hatte er genug Ersatzbrillen, aber es war immer wieder ärgerlich, wenn eine Brille das zeitliche segnete. Und jetzt redete der Depp vor ihm auch noch mit einem Cait Sith und tat so, als würde er ihn verstehen. Wo hatte sein Vater ihn bloß reingeritten... Am liebsten hätte er vor Frust geschrien. Eine Hand wurde ihm vor die Nase gehalten. Yukio folgte der Hand über den Arm zu Rins Gesicht, der ihn gelangweilt ansah. Kein Lächeln, absolut keine Emotion war in seinem Gesicht zu finden. Nur Kuro, der nun auf seiner Schulter saß und sich an seine kalte Wange rieb. Für einen Moment überlegte Yukio die Hand einfach wegzuschlagen und selber aufzustehen. Doch hatte der Cait Sith von Rin ihm gerade wortwörtlich den Arsch gerettet. Also ergriff er widerwillig Rins Hand und dieser ließ sich von diesem mit Leichtigkeit zurück auf die Beine ziehen. In den wenigen Sekunden, in denen sich ihre Hände berührten, durchschoss eine angenehme Wärme Yukios Körper und es war nicht zu glauben, dass diese Wärme nur von Rins rechter Hand ausgegangen war... Dabei trug er doch nur Hose und Pullover, er sollte eigentlich eiskalt sein. Stattdessen fühlte er sich an wie eine Heizung im Sommer. Irgendetwas stank hier gewaltig... Doch der stechende Schmerz in seinem Knöchel zog ihn zurück ins Hier und Jetzt. Mit einem Pokerface sah er Rin kurz an und öffnete dann seine Jacke ein wenig. Den Schal um seinen Hals lockerte er und sah weg. „Danke“, entwich es ihm, und er steckte das kaputte Brillengestell in seine innere Jackentasche. „Hast du dir weh getan?“ Die Frage kam zu Yukios Überraschen. Schweigend sah der Braunhaarige auf seine Fingernägel, von denen einige bluteten und eingerissen waren. Zum Glück war kein Nagel komplett abgerissen, denn die Schmerzen vom Einreissen reichten ihm schon. Das musste passiert gewesen sein, als er die Tanne hinaufgeklettert war, wovon sein Adrenalin ihn aber abgelenkt haben musste. Seinen Knöchel würde er vermutlich nicht lange verheimlichen können, einen Versuch war es aber dann dennoch wert. Rin legte den Kopf leicht schief und musterte den größeren Jungen von sich von oben bis unten. Natürlich waren ihm die blutigen Fingernägel aufgefallen, aber wenn Yukio sich so einschätze, dass sie keine großen Schmerzen bereiteten, war das doch gut. Wegen einem eingerissenen Nagel direkt zu weinen wäre auch ein wenig übertrieben. Aber ihn dennoch so bedrückt zu sehen löste in Rin das Gefühl von Schuld aus. Er hätte sich im Lebtag nicht gedacht, dass sich der Keiler den Brillenträger zum Ziel machen würde, obwohl dieser seiner Familie gar nicht bedrohlich nahe gekommen war... Also war es irgendwo ja auch seine Schuld. Gedankenverloren und geschlagen sah Yukio weiterhin weg, weshalb Rin spontan seine Hand in den braunen Haaren vergrub und diese mit wenigen Bewegungen total zerzauste. Was sollte das denn jetzt? „Nein“, log Yukio nun knapp und zog sich seine Kapuze auf, um Blickkontakt zu meiden. „Ich will einfach nur zurück.“ Erneut schluckte er schwer und ballte seine Hände in seinen Jackentaschen zu Fäusten. Es war schwer zu übersehen, dass er sich zurückziehen wollte und nicht mehr reden wollte. Den Rotschimmer auf den Wangen des Größeren hatte Rin aber dennoch erhaschen können. Vielleicht war ihm aber auch einfach nur kalt. Na toll, da wollte Rin mal nett sein und die Stimmung auflockern und dann reagierte Yukio so versteift und gab ihm das Gefühl, dass die Geste unangebracht gewesen war. Dennoch klopfte er Yukio aufmunternd auf den Rücken und gab somit das Signal ihm zu folgen. Würde Yukio nun wieder die Leitung übernehmen, würden sie nie vor Sonnenuntergang an der Hütte ankommen, denn der Orientierungssinn des Schülers entsprach dem eines Stück Brotes – zumindest von dem, was Rin erlebt hatte. Er war in den Bergen aufgewachsen, er kannte den Wald wie seine Westentasche und fand selbst in tiefster Nacht zurück nach Hause. Kuro hatte sich währenddessen in Rins Kapuze gelegt und war schnurrend eingeschlafen. Wie ein Kleinkind dem man Lutscher und BonBons geklaut hatte, trottete Yukio hinter Rin her und wirkte, als würde er einfach nur aus der Existenz genommen werden wollen. Irgendwo war es amüsant, den große Töne spuckenden Yukio so ruhig und geknickt zu sehen, aber es passte einfach nicht zu ihm. Er verhielt sich wie ausgewechselt und nicht mal Rin hatte richtig Lust, sich über ihn lustig zu machen. „Es war doch nur ein Wildschwein, das passiert allen Menschen mal“, durchbrach Rin plötzlich die Stille und zog Yukio einen Schritt zur Seite, bevor dieser in einen Baum laufen konnte, den er wegen seines gesenkten Kopfes nicht gesehen hatte. „Du hast leider total falsch reagiert. Normalerweise werden die Viecher nicht aggressiv, außer sie haben halt Frischlinge, sind in der Paarungszeit oder es sind Keiler... Wobei, es ist mitten im Winter, gerade ist Paarungszeit... und... es war ein Keiler...“ Der Schwarzhaarige legte sich nachdenklich eine Hand ans Kinn und schüttelte dann den Kopf. „Wie beruhigend...“, murmelte Yukio monoton und vergrub sein Gesicht bis zur Nase hinter seinem Schal. „Entferne dich das nächste Mal einfach ganz langsam von dem Tier, dann fühlt es sich nicht bedroht und weicht ebenfalls zurück. Du hast auch alle Warnsignale ignoriert, die es von sich gegeben hat. Manchmal schlagen sie auch Haken, um einem Angst zu machen. Da hattest du wohl oder übel einfach Pech.“ Er versuchte sein Bestes, irgendwie aufmuntern zu wirken. „Hatte ich das, ja...“ Yukio rollte mit den Augen. Konnte der Typ nicht dann mal die Klappe halten, wenn es angebracht war? Natürlich war es lieb, dass er ihm das erklärte und fürs nächste Mal vorbereitete. Aber... um ehrlich zu sein wollte er gar kein nächstes Mal erleben. Und eigentlich wollte er Rin dafür die Schuld geben. Er hätte einschreiten können, so blöd sich das auch anhörte. Aber dann kam ihm wieder in den Kopf, wie er wie ein kleines Mädchen Rin darum gebeten hatte, ihn nicht alleine zu lassen. Gott, war das peinlich... und wieder bildete sich ein Rotschimmer auf Yukios Wangen, was er aber einfach wieder auf die Kälte schob. „Das sagt mir ein Kerl, der denkt, er könnte mit 'nem Cait Sith reden“, trotzte Yukio und schnaubte. „Warum hast du dem Wildschwein nicht gesagt, es soll sich verziehen, wenn du Spinner so ein Tierfreund zu sein scheinst?!“ Yukio war sauer, was mehr darauf zu führen war, dass er zu Fuß gehen musste, was ihm höllische Schmerzen bereitete mit jedem Schritt, den er durch den knöchelhohen Schnee stampfen musste. Und vielleicht war er auch sauer, dass er sich bis aufs Knochenmark blamiert hatte... Aber nur vielleicht. „Du bist ganz schön unfreundlich“, erwiderte Rin trocken und sah leicht über seine Schulter nach hinten. „Falls du es nicht bemerkt hast, ich versuche hier gerade mit dir zu kommunizieren und dir nicht mit der Axt den Kopf abzunehmen.“ „Du bist ein wahrer Profi der Kommunikation“ Yukio sprudelte nur so vor Ironie, was Rins Stimmung nun auch wieder kippen ließ. Er versuchte hier nett zu sein und sein Gegenüber meckerte ihn nun auch noch an? „Ach ja, wer von uns ist völlig blind in irgendeine Richtung gelaufen? Nur weil du keine fünf Meter denken kannst, ist es nicht meine Schuld! Heul rum so viel du willst, aber piss mir nicht ans Bein und beschuldige mich für deine Dummheiten!“, platzte es aus Rin heraus, und Kuro hob den Kopf und sah mit angelegten Ohren zu Yukio. „Und Kuro rettet dir auch noch den Hintern! Hast du dich mal bedankt?! Nein! Und warum?! Hat Daddy dich so verhätschelt, dass du denkst, du seist der König der Welt?! Meine Fresse, werd' erwachsen.“ Auf diese Beschuldigungen hin schwieg Yukio und sah den Kleineren einfach verblüfft an. So sehr er es auch hasste, aber sein Gegenüber hatte tatsächlich einfach Fakten von sich gegeben, die er widerwillig akzeptierte. Dabei wäre ihm Konfrontation so viel lieber gewesen im Moment. Gründe zu finden, Rin die Schuld zu geben. Aber nein, der Dunkelhaarige war im Recht; ER war abgehauen weil sein Ego mal wieder zu groß gewesen war... Kuro rieb währenddessen seinen Kopf gegen die Wange von Rin. Als wollte er ihm sagen, dass er sich beruhigen sollte und nicht die Fassung verlieren sollte. „Ich...“ „Ich lasse dich auch gerne hier stehen, mir ist es nämlich egal, was mit dir passiert. ICH kenne mich hier aus!“, unterbrach Rin ihn scharf und hielt ihm den Finger unters Kinn. „Kapiert?! Du brauchst mich, nicht andersherum!“ Schnaubend drehte Rin sich wieder um und stapfte weiter. Und Yukio folgte ihm einfach stumm. Er hatte keine Absicht, sich hier mit dem Kleineren zu streiten. Immerhin hatte dieser noch immer die Axt in seiner Hand. Nicht dass er ihm zutraute, dass er ihn umbringen würde. Noch nicht. „Rin...?“, entwich es aus der Kehle des Braunhaarigen, und Rin blieb genervt stehen. Er drehte den Kopf, dass er Yukio aus dem Augenwinkel heraus sehen konnte. Dieser stützte sich mit einer Hand an einer Tanne ab und schüttelte den Kopf, um wieder klar sehen zu können. Immer wieder tanzten schwarze Punkte vor seinen Augen herum, was definitiv nicht davon kam, dass er keine Brille trug. Naja, mal von dem Blut an den Fingern abgesehen: er sah einfach fertig aus. „Alles okay?“, hakte Rin nun nach und drehte sich vorsichtig um. Yukio Kapuze rutschte ihm nach hinten vom Kopf und Rin war schockiert, wie blass der plötzlich Junge war. Er hatte ja von Natur aus einen hellen Hautton, aber gerade wirkte er wie ein Patient, der Angst vor Nadeln hatte und kurz vorm Blutspenden stand. Kam das jetzt nur von der Kälte oder hatte das Vieh ihn wirklich so sehr traumatisiert? „Gib mir fünf Minuten, ja?“ Yukio hob seine Hand und deutete Rin die Minutenanzahl, woraufhin der Kleinere zu ihm lief und ihn gerade noch packen konnte, als er einen weiteren Schritt gehen wollte, seine Beine aber unter ihm nachgaben. Er konnte ihn gerade davor bewahren, wieder Bekanntschaft mit dem Schnee am Boden zu machen. „Hey!“ Rin hielt ihn fest und schlüpfte so unter ihn, dass er Yukios Arm über seine Schultern legen, konnte und ihn stützen konnte. „W-was hast du denn?!“ Kuro schnupperte kurz an Yukio und rümpfte dann kopfschüttelnd die Nase. „Meow.“ „Er hat eine erhöhte Cortisolabgabe? Stresst dich das mit dem Keiler so hart?“, wandte er sich nun an Yukio und setzte ihn ordentlich am Baum ab. „Ich hab mir vorhin nur beim Fallen den Fuß verstaucht, das geht bald wieder“, grummelte Yukio und sah beschämt weg. „Das war nur ein doofer Zufall, wir können gleich weiter.“ Rin richtete sich etwas auf und sah sich kurz um. Seine Augen verengten sich dabei zu schlitzen und seine Schultern ließ er plötzlich hängen. Bevor Yukio aber fragen konnte, wonach er gesucht hatte, begann der Kleinere wieder zu sprechen. „Gib mir mal meinen Schal“ Ihm wurde Rins offene Hand entgegengehalten. Yukio sah ihn und seine Hand verwirrt abwechselnd an, weshalb Rin sein Tun genauer erklärte. „Du musst Druck auf das Gelenk aufbauen. Dadurch kann das Entstehen von Schwellungen und Blutergüssen minimiert werden.“ Moment mal. Seinen Schal? „Das weiß ich, aber es sollte eine elastische Binde sein und kein Schal aus Stoff“, widersprach Yukio ungewollt indirekt, doch Rin schnippte ihm gegen die Stirn und zog ihm stattdessen nun selbst den Schal vom Hals. „Halt doch einfach mal die Klappe und hör auf mich. Druck ist Druck. Alternativ könnte man auch mit Beinwellblättern arbeiten, um die Schmerzen zu lindern. Aber hier in der Nähe gibt es keine Pflanzen, die ich spontan holen könnte, um sie zu verarbeiten“, murmelte Rin am Ende zu sich selber. Dann schnürte er den von Yukios Haut gewärmten Stoff um den bereits geschwollenen Knöchel. Bedacht, Yukio nicht zu große Schmerzen zu bereiten. Dieser zuckte nur dann zusammen, als der Kleinere den Schal mit einem Knoten befestigte. „Beinwellblätter?“, entwich es nun Yukio fragend. „Man kann aus der Wurzel quasi 'nen Umschlag machen, den man auf das schmerzende Körperteil legt. Dadurch lassen sich Quetschungen, Wunden und Knochenbrüche heilen“, erklärte Rin und gestikulierte dabei ein wenig passend zu seiner Erklärung. „Meine Mutter hat mir viel über Pflanzen beigebracht, weil hier kein Arzt in der Nähe ist. Wenn etwas dringlich ist, war es sinnvoller, alleine zu handeln.“ Yukios Mund öffnete sich einen Zentimeter und er sah die pechschwarzen Haare von Rin an, der noch immer fokussiert auf den Fuß war. Schließlich ließ er ihn in den kalten Schnee sinken und bedeckte den Knöchel nachdenklich mit der eiskalten Substanz. Dabei verließ kein Wort seine Lippen, weshalb der Novize sich dafür entschied, die Konversation am Leben zu erhalten. „Was tust du da?“ Yukio ließ die Schultern hängen und lehnte sich von links nach rechts, um zu sehen, ob Rin irgendeine Absicht mit seinem Tun verfolgte. „Irgendwie versuchen, ihn zu kühlen... es tut mir leid, aber was Anderes fällt mir gerade nicht ein.“ Wieso entschuldigte er sich denn bitte? „Hör zu, ich kann dich nicht ausstehen... aber unsere Eltern kennen sich länger als dass wir existieren. Ich will ihre Freundschaft nicht zerstören, nur weil wir uns nicht ausstehen können.“ Widerwillig nickte Yukio und half dem Kleineren dabei, seinen Knöchel mit Schnee zu bedecken. Dabei spürte er die Haut darunter schon gar nicht mehr, so kalt war der Schnee. Es war mehr etwas automatisches, was er gerade tat, da er sonst nicht gewusst hätte, was er tun sollte. „Woher kennen sie sich? Unsere Eltern.“ Noch wusste Yukio nicht, dass Rin im Klaren war, dass Shiro nicht sein leiblicher Vater war. „Verdammt, ich weiß es doch auch nicht“ Yukio schüttelte den Kopf. „Es lief alles gut, bis ich jetzt mit euch in Kontakt treten soll. Ich will einfach nur meiner Ausbildung nachkommen, das ist alles. Ich habe keine Zeit für all das hier. Die Schule verlangt mir vieles ab, dann noch das Kolleg? Vater denkt auch, ich sei ein Wunderkind.“ „Du verhältst dich doch auch wie eins“, erwiderte Rin prompt und hielt sich sofort die Hand auf den Mund. „D-das war jetzt nicht negativ gemeint. Du hast eben nur viel Ahnung, vielleicht denkt er, du kannst das locker packen und-“ „Denkst du das wirklich?“ „Wie alt bist du nochmal?“ „Fünfzehn, ich habe am siebenundzwanzigsten Geburtstag...“ „Du auch?!“ Yukio schreckte zurück und sah Rin erschrocken an. Dieser hob sofort entschuldigend die Hände und lachte überrascht. „Ich auch!“ „Und du bist... wie alt?“ „Auch fünfzehn! Wir haben am gleichen Tag Geburtstag, ist ja cool! Um wie viel Uhr?“, fragte Rin intensiv weiter und lehnte sich interessiert zu Yukio. „Irgendwann gegen Abends...“ „Dann bin ich älter, ich bin nachmittags geboren.“ Unsicher hob Yukio eine Augenbraue und lächelte einfach mal motivierend. Was war denn jetzt daran so wichtig? Der Zufall, dass Rin und er theoretisch im gleichen Krankenhaus hätten geboren werden können, ist ja schon lustig genug. Da machte die Geburtszeit doch gar keinen Unterschied. Vielleicht war er ja so jemand, der sich etwas darauf einbildete, weil er zwei Stunden älter ist... die Weisheit des Alters. Und trotzdem, es war faszinierend zu sehen, wie Unterschiedlich das Leben sein konnte. Sie waren quasi exakt gleich alt, dennoch war Yukio mindestens einen halben Kopf größer als er. Natürlich spielte die Genetik eine riesige Rolle und er wusste nicht, wie groß seine Eltern gewesen waren, auch kannte er Rins Vater nicht und wusste nicht, ob der Junge ihn noch einholen würde... Das war alles einfach nur verrückt, wenn man es betrachtete. Plötzlich wurde Yukio aus seinen Gedanken gerüttelt und hielt sich reflexartig fest. „H-hey, was machst du denn da?!“ „Halt den Mund, du hast dir den Knöchel verstaucht, du solltest ihn nicht noch mehr belasten als du es eh schon getan hast!“, keifte Rin und versuchte einen passenden Griff zu finden, dass Yukio ihm nicht vom Rücken rutschte. Denn er hatte den Braunhaarigen gefühlt absolut problemlos auf diesen gehievt und machte den Anschein, ihn Huckepack zurücktragen zu wollen. „Es ist doch nur ein verstauchter Knöchel!“, protestierte Yukio und wollte irgendwie von Rins Rücken klettern, doch der Kleinere war viel stärker als er aussah. Verdammt, er war doch kein kleines Kind! Er war sogar größer als Rin! Man, war das peinlich. Wobei das alles ja eigentlich Rins Schuld gewesen sein muss. Immerhin hatte er vor Kurzem noch damit geprahlt, dass Wildschweine ihn respektierten. Hätte er sich also nicht einfach einschalten können und ihm früher helfen können? Diese Gedanken sprach er aber nicht aus. Nein, sie hatten sich deswegen schon angekeift wie zwei Katzen die sich über eine Dose Thunfisch zankten. Aber irgendwie quoll Wärme in seiner Brust auf, dass Rin ihm gerade trotzdem half. Nach all dem, was er ihm, mal wieder, an den Kopf geworfen hatte. Zwar war er noch immer auf Krawall gebürstet, aber sein Knöchel stach wirklich wie als wenn man immer wieder tausende kleine Nadeln in diesen bohrte. Und unter Schmerzen konnte man keine Konfrontation gewinnen. Vielleicht wollte er das ja auch gar nicht. Der Halt tat gut. Und unbewusst verstärkte Yukio den haltenden Griff um Rins Hals und drückte sich an dessen Rücken. Seinen Kopf drehte er zur Seite und beobachtete stumm die Bäume, die an ihm vorbeizogen. Auch Rin blieb diese Geste nicht unbemerkt. Am Anfang hatte er überlegt, einen weiteren dummen Spruch zu reißen, weshalb Yukio sich denn gerade nun doch wie ein Kleinkind an ihn klammerte. Aber irgendwo tat es auch mal gut, nicht nur die Arme seiner Mutter um sich zu spüren. Man konnte ja mal eine Ausnahme machen... Wobei ihn Yukio gerade sehr an Shiro erinnerte. Er kannte Shiro, hatte aber nie eine große Bindung zu ihm aufgebaut. Für ihn war der Mann eher wie der beste Freund seiner Mutter, den man nur alle paar Wochen mal sah. Und Yukio, der von ihm erzogen wurde, strahlte seine eigene Aura von sich, aber irgendwo war auch ein Stück von Shiro an ihm. „Wie ist es so mit einem Vater aufzuwachsen?“, fragte Rin plötzlich kleinlaut, und Yukio hob mit einem fragenden Laut den Kopf. „Wie?“ „Wir haben gar kein Holz geholt“ Rin sah sich kurz um und ließ dann die Schultern hängen. Und erst jetzt bemerkte Yukio, dass Rin ihn nur mit einem Arm stützte und in der anderen Hand noch immer die Axt hielt. Was hatte Yuri ihm denn zu Essen gegeben in der Kindheit? Nur Proteinhaltiges Zeug? Wie konnte er so ohne Probleme einen siebzig Kilogramm wiegenden Menschen tragen als wäre er eine Packung Milch? Die Bergluft konnte dafür nicht zuständig sein, nie und nimmer. „Tut mir leid, ich erkläre Yuri das und mache das morgen alleine“, sagte Yukio, weshalb Rin ein leises Lachen entwich. War das sein Ernst? „Du? Du kannst ja nicht mal richtig laufen.“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Ich mach das alleine, lass mal gut sein. Ich habe das alles hier verbockt, ich bade das auch aus.“ „Danke...“ „Kümmere du dich erstmal um deinen Knöchel, dann reden wir weiter.“ Während ihres Rückwegs redeten sie noch weiter und Rin erklärte Yukio sogar netterweise, wie er es schaffte, sich in den Tiefen der Wälder zu orientieren. Und wenn es nur eine leichte Markierung war, die so subtil war, dass eine unwissende Person sie gar nicht wahrgenommen hätte. Rin achtete eine Menge auf seine Umgebung und ihre Einzigartigkeiten. Vieles hatte sich aber auch seit seiner Kindheit in seinem Kopf eingebrannt, das kam natürlich auch noch extra dazu. Dazu schien er einen ausgeprägten Geruchsinn zu haben, denn er schnupperte den Rauch, der aus dem Kamin hinauszog, schon aus einer weiten Distanz. Bei Yukio dauerte es noch einige hundert Meter, bis seine Nase den Geruch auch wahrnahm. Bevor sie aber das von Bäumen befreite Grundstück im Schnee betraten blieb Rin urplötzlich stehen. Er hackte die Axt in einen bereits angeritzten Baumpfahl und holte tief Luft. „Sag mal, du hast mich damals gefragt, woher ich meine Masho habe. Woher hast du deine eigentlich?“, fragte er nach kurzem Zögern, und sofort verkrampfte Yukio sich spürbar. Er ignorierte die Frage, weshalb der Ältere nachhakte. „Yukio?“ „Das geht dich gar nichts an.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, wow. Und genau deshalb beließ Rin es auch bei dieser Antwort auf seine Frage. Allerdings drückte Yukio sich dann auch schon von ihm, rutschte vorsichtig mit seinen Füßen in den Schnee und machte sich auf den Weg zur Haustüre. Man konnte ein deutliches Hinken an seiner Gangart sehen, die offensichtlich von seinem Fuß ausging. Rin ließ die Ohren hängen, zog seine Axt wieder aus dem Totholz und brachte sie zurück an ihren Lagerort. Yukio war von Yuri begrüßt worden, hatte sich sofort bei ihr entschuldigt und sie über das informiert was passiert war. Sofort hatte sie ihn sich geschnappt, auf der Couch platziert und war ins Bad, um Salben und einen ordentlichen Verband zu holen. Rin hatte, ihrer Aussage nach, alles richtig getan und war schlau an die Verletzung herangegangen. Und als dieser schließlich ebenfalls die Wohnung betrat wurde er direkt mit dem nächsten Unheil begrüßt: Yukio saß panisch auf der Couch und tastete immer wieder die vielen Taschen, die sich aus Hose und Jacke ergaben, ab. Mit jedem Mal Checken wurde er hektischer und erst als Yuri ihn behutsam an den Schultern ergriff blickte er auf. „Was suchst du, Yukio?“, fragte sie ruhig, in der Hoffnung, den Teenager so auch ein wenig beruhigen zu können. Yukio zog sich die Jacke in Panik wie einen Pullover über den Kopf hinweg aus und schüttelte sie aus. „Der Schlüssel meines Vaters, der mich hier herbringt!“, antwortete der Junge panisch, stand auf und klopfte seine Hose ab. Schließlich ließ er sich auf die Couch zurücksinken und vergrub seufzend sein Gesicht hinter den Händen. „Vater reißt mir den Kopf ab...“ Rin rümpfte die Nase, konnte sich aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Was war das denn jetzt für ein Paarungstanz?“ Der Jüngere funkelte ihn mit einem Blick an der hätte töten können, wenn es möglich gewesen wäre. „Sei froh dass du die Axt nicht in meiner Nähe gelassen hast, Rin.“ Er war stinksauer. „Es ist doch nur ein Schlüssel-“ „Nur ein Schlüssel?! Diese Schlüssel sind in unserer Welt wie ein Ticket an einen Ort, an den man sonst nicht kommt! Ohne das Drecksding komme ich hier nicht weg!“ Rin verließ jegliche Emotion im Gesicht. „Wir müssen diesen Schlüssel finden!“, rief er und sah seine Mutter hilfesuchend an. „Ich will den nicht hier behalten!“ „Yuri hast du keine Möglichkeit...?“ Yukio spielte darauf an, ob Yuri einen ihrer damaligen Schlüssel behalten hatte, doch die Mutter schüttelte verneinend den Kopf. „Ich will Heim, ich muss Hausaufgaben machen und-“ „Ich bin mir sicher, dass Shiro früher oder später nach dir sieht, wenn du nicht zurückkehrst“, sagte Yuri warm und lächelte. „Du kennst ihn.“ Yukios Blick fiel auf die tickende Uhr über der Zimmertür. Draußen war es schon am Dämmern für die Nacht, also war es wirklich nur ein Spiel mit der Zeit. Und zu den Schmerzen in seinem Knöchel, um den Yuri sich anfing zu kümmern, nachdem sie ihn beruhigt hatte, merkte Yukio wie sein Körper etwas auszubrüten begann. Ihm entwich ein Niesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)