Schwarze Reiter von _Delacroix_ ================================================================================ Ich habe einen Freund mitgebracht“, erklärte Jean und deutete auf seinen Begleiter. Sein Gegenüber runzelte die Stirn. „Einen Freund?“, wiederholte Claude und sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht wusste, was er davon halten sollte. Jean wunderte sich nicht. Er hatte ihm seit Jahren keinen Freund mehr vorgestellt, und Tichon war auch etwas gewöhnungsbedürftig. Sein Reitoutfit war von oben bis unten aus schwarzem Leder und schrie förmlich nach altem Adel und großem Geld. Dazu kam der stechende Blick aus seinen grünen Augen, dem man sich nur schwer entziehen konnte, und gelegentlich etwas, das Jean gerne als hochmütiges Schnauben interpretierte. Auf den ersten Blick schrie wirklich alles an ihm: Ich bin etwas Besseres als du. Und so wurde auch Claude erst einmal finster angeschaut. „Guten Tag“, fügte Tichon dann mit seinem schweren russischen Akzent hinzu, der ihn zusätzlich hart klingen ließ, „Jean hat mir schon von Ihnen erzählt.“ Claude zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Hat er das?“, erwiderte er misstrauisch, „dann hoffe ich, dass es wenigstens etwas Gutes war.“ Tichon ließ die Bemerkung unkommentiert. Stattdessen zupfte er mit Daumen und Zeigefinger an seinen Reithandschuhen. „Er hat mir erzählt, dass Sie eine Pferdezucht betreiben“, präzisierte er schließlich und glättete dabei eine fast unsichtbare Falte. Claude schüttelte den Kopf. „Betrieben“, verbesserte er ihn. „Im Krieg haben sie mir kaum mehr als eine lahme Mähre gelassen. Alle Tiere, die Sie heute hier sehen, habe ich erst vor kurzem gekauft. Man kann es kaum Pferdezucht nennen, wenn es noch kein einziges Fohlen gibt.“ Jean hüstelte leise, um wieder ins Gespräch zu kommen. „Ich bin sicher, der Erfolg wird sich schnell einstellen“, beschwichtigte er, „ich kenne niemanden, der so viel von Pferden versteht wie du, Claude.“ Claudes Mundwinkel zuckten. Er wollte es nicht zeigen, aber das Kompliment schien ihm zu gefallen. „Und jetzt willst du, dass ich dir und deinem Freund zwei Pferde leihe“, lenkte er unbeholfen ein. Jean nickte. „Das würde uns sehr freuen“, stimmte er zu. Der Alte warf ihnen noch einen prüfenden Blick zu. „Du willst bestimmt wieder Narcisse, nicht wahr? Ich hatte den Eindruck, dass sie dir gefällt. Und für deinen Freund habe ich auch ein braves Tier im Stall. Vielleicht ...“ „Was ist mit dem?“, unterbrach Tichon Claude und zeigte auf die Weide. Dort versuchten zwei Stallburschen schon seit einigen Minuten, einen Rappen einzufangen, der andere Pläne zu haben schien. Immer wenn sie das Tier eingekreist hatten, wagte es einen neuen Ausbruch. Sobald sich eine Hand dem Halfter näherte, schnappte der Hengst zu. Claude wurde blass. „Das ist Duke of Britannia. Unser neuer Deckhengst. Er kommt gerade von der Insel und ist sehr temperamentvoll. Ich glaube nicht, dass er ein gutes Anfänger-“ „Ich bin kein Anfänger“, unterbrach Tichon ihn erneut. „Und er hat Temperament. Ich mag Pferde mit Temperament.“ Claude warf Jean einen fragenden Blick zu, doch der konnte nur mit den Schultern zucken. Er hatte keine Ahnung, wie gut oder schlecht Tichon reiten konnte. Er hatte ihn noch nie auf einem Pferd gesehen. Aber er wusste, wenn sein neuer Freund sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es schwer, es ihm wieder auszureden. Und was sollte schon passieren? Entweder würde das Pferd Tichon deutlich zeigen, was es von seinen Plänen hielt: Dann würde er vielleicht endlich lernen, auf seine Mitmenschen zu hören, oder aber er hatte das Tier wirklich im Griff, dann würde es seiner Folgsamkeit sicher gut tun, wenn Tichon seine Energie in geordnete Bahnen lenkte. Claude schien zu einem ähnlichen Schluss gekommen zu sein, denn er warf seinem Begleiter einen langen Blick zu. „Pass auf, Junge. Wenn du es schaffst, ihn zu satteln, kannst du ihn haben, aber wenn er dir einen Finger abbeißt, ist das allein dein Problem.“ Tichon wandte den Blick nicht von der Weide. „Das nenne ich ein gutes Geschäft.“     Jean hingegen hatte ein flaues Gefühl im Magen, als er Narcisse sattelte. Sie war eine hübsche Apfelschimmelstute, deren weiß-graues Fell ihn vom ersten Moment an fasziniert hatte. Er mochte auch ihre dunklen Augen und die Art, wie sie seine Schulter stupste, wenn sie auf ein Häppchen hoffte. Sie war ein kluges Pferd, das sich seiner Kraft bewusst war und genau wusste, was es sich erlauben konnte und was besser nicht. Trotzdem gelang es Jean nicht, sich ganz auf sie zu konzentrieren. Seine Gedanken waren bei Tichon.  Er wusste nicht, ob es ihm gelungen war, den Hengst von der Weide zu führen und ob sich das heißblütige Tier überhaupt von ihm reiten lassen würde. Wenn er Pech hatte, hatte es ihn längst gebissen oder einfach aus dem Weg gedrängt. Bei einem ausgewachsenen Pferd konnte auch das schnell gefährlich werden. Seufzend griff er nach den Zügeln von Narcisse. „Was meinst du?“, fragte er und tätschelte ihr den Hals, „haben wir heute Gesellschaft oder machen wir unseren Ausritt wie immer zu zweit?“ Das Pferd schnaubte und trottete ihm willig hinterher. Sie verließen den Stall und blieben erst auf dem Vorplatz stehen. Jean war sich nicht sicher, wie lange er jetzt noch hier warten sollte, aber Narcisse stupste ihm die Schulter und er ging bereitwillig auf ihren Vorschlag ein. Eine Häppchenpause war genau das, was sie jetzt brauchten.   „Jean“, ertönte es nach zwei Karotten hinter ihm. Narcisse stellte die Ohren auf und er wandte sich um. Dort, auf der anderen Seite des Vorplatzes, standen sie. Wie Figuren aus einem Märchen. Ein schwarzer Reiter mit seinem Ross. Der Hengst tänzelte ungeduldig auf der Stelle, während Tichon den Kopf zur Seite neigte. „Können wir?“, fragte er.   Duke war ein temperamentvolles Pferd, das unbedingt als erstes den schmalen Pfad durch die bewaldeten Dünen nehmen wollte. Tichon ließ ihn gewähren und erkundigte sich nur ab und zu, ob sie noch auf dem richtigen Weg seien. Jean antwortete so gut er konnte. Die Dünen von La Teste-de-Buch waren nicht gerade klein. Die schmalen Pfade, die in sie hineinführten, veränderten sich ständig. Alte Wege wuchsen zu, neue schmale Pfade entstanden. Ein Wirrwarr, das sich nicht vollständig überblicken ließ, auch wenn die meisten Wege immer zum gleichen Ziel zu führen schienen. Dem Gipfel. Jean musste sich auf Narcisse konzentrieren, die den Weg zwar kannte, gleichsam aber vorsichtiger war, wenn es darum ging, einen Huf nach dem anderen auf den weichen Boden zu setzen. In der Ferne kreischten die Möwen, und wenn Jean ganz still war, konnte er das Rauschen des Meeres hören. Eine Weile ritten sie bergauf, dann hörten die Bäume auf und sie blickten auf den endlosen Strand. Er hatte schon an vielen Stränden gestanden, doch das hier war der Strand, den er seit Jahren kannte. Es war sein Zuhause, seine Vergangenheit und seine Zukunft. Er wusste noch immer nicht, wie er sich damit fühlte, diesen Teil seines Lebens mit Tichon zu teilen, doch er musste zugeben, dass es bisher besser gelaufen war, als er angenommen hatte. Dukes Fell glänzte in der Sonne ebenso wie Tichons schwarze Reiterkluft.Wenn ihm unter dem Leder heiß war, zeigte er es nicht. Nur sein dunkelblondes Haar widersprach der Beschreibung aus den alten Legenden. Er war ein schwarzer Reiter. Einer mit einem Farbklecks auf dem Kopf. Jean erlaubte sich ein Lächeln, als er sah, wie er neugierig in alle Richtungen blickte, um die Aussicht auf sich wirken zu lassen. Selbst der ungeduldige Hengst nahm sich einen Moment Zeit, um seine Nüstern mit der salzigen Seeluft zu füllen. Über ihnen kreischte eine Möwe, da brach den Bann und das Pferd stürmte den Hügel hinunter. Jean musste Narcisse antreiben, damit sie nicht den Anschluss verloren, aber als Duke endlich zum Stehen kam, hörte Jean seinen Reiter lachen. Der Hengst beobachtete die Brandung, die seine Hufe umspülte, bevor sie sich eilig ins Meer zurückzog. Jean ließ Narcisse langsamer werden und schließlich im Schritt zu ihnen ins Wasser steigen. „Und was war das?“, fragte er Tichon, der immer noch sehr amüsiert wirkte. „Claude hat recht“, antwortete er und klopfte dem Hengst auf den Hals, „Duke hat viel Temperament.“ „Und das gefällt dir.“, ergänzte Jean, der sich an diese Aussage noch gut erinnerte. Tichon streichelte weiter den Hals des Tieres und nickte. „Mein Leben lang haben die meisten Menschen alles getan, was ich wollte. Das klingt zwar toll, aber auf Dauer wird das Leben dadurch ziemlich langweilig. Ich mag es, wenn ab und zu jemand kommt und seine Meinung sagt. Und das tut Duke. Er ist ein gutes Pferd. Zwar keines, das man einem Anfänger geben kann, aber eines, das mitdenkt. Und offensichtlich mag er Wasser.“ „Offensichtlich“, stimmte Jean ihm zu. "Was meinst du? Machen wir ein kleines Wettrennen am Ufer entlang?“ „Ein Rennen?“, fragte Jean, „Du willst wirklich, dass ich mich auf ein Rennen gegen Claudes Zuchthengst einlasse?“ „Du kennst die Gegend viel besser als ich“, entgegnete Tichon, „die Gegend und natürlich dein Pferd. Und es ist ja nicht so, dass deine Stute langsam wäre.“ Jean warf ihm einen pikierten Blick zu. „Natürlich nicht“, erwiderte er. „Narcisse ist ein Angloaraber. Sie ist zum Galoppieren geboren. Wenn auch nicht so sehr wie dein neuer Vollblutfreund.“ Tichon streichelte den Hengst noch einmal. „Das war also ein Ja?“ „Was kriege ich, wenn ich gewinne?“, fragte Jean, und wieder lachte sein Gegenüber. „Wie wäre es“, schlug er schließlich vor, „wenn ich dich zum Essen einlade?“ „Ins Café?“ „Ich hatte an ein Restaurant gedacht, aber wenn dir der Sinn mehr nach Kuchen steht …“ Jetzt war es an Jean ein wenig zu lächeln. „Mir steht der Sinn immer nach Kuchen“, erklärte er. „Und was willst du, wenn du unerhörter Weise gewinnst? Soll ich dann dein Abendessen bezahlen?“ Tichon schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt, hatte ich etwas anderes im Sinn.“ Jean warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Ach ja?“, fragte er. „Ja“, antwortete Tichon knapp. „Hör zu, ich bin nächste Woche zu einer Hochzeit eingeladen.“ „Ah“, machte Jean, weil er den Eindruck hatte, dass eine Reaktion von ihm erwartet wurde. „Das ist doch nett.“ „Es ist eine russisch-französische Hochzeit“, fuhr Tichon fort. „Und ich kenne natürlich die russischen Bräuche, aber von den französischen habe ich keine Ahnung.“ „Also willst du, dass ich dir die Hochzeitsbräuche erkläre?“, riet Jean weiter. Tichon nickte. „Das würde mir gefallen.“ „Weißt du, du hättest mich auch einfach fragen können“, entgegnete Jean und ließ seinen Blick schon über den Strand schweifen. „Siehst du das Treibholz da hinten?“, fragte er schließlich. „Das könnte unser Ziel sein.“ Tichon nickte.„Also, wer als erster bei dem Holzhaufen ist?“ „Darauf kannst du wetten.“   Jean wusste, dass er nicht gewinnen konnte, als Duke mit voller Kraft losstürmte. Es war, als hätte Tichon ihm seine eigene Belohnung versprochen. Vielleicht hatte er das sogar. Narcisse gab ihr Bestes.Schließlich hatte Jean nicht gelogen, als er gesagt hatte, sie sei für Galopprennen geboren. Der Sand spritzte zwischen ihren Hufen auf, als sie vergeblich versuchte, den übereifrigen Rappen einzuholen. Jean wusste, dass er sie nach ihrer Rückkehr würde säubern müssen. Es würde eine Weile dauern, den nassen, klebrigen Sand aus ihrem weißgrauen Fell zu entfernen, aber er würde es gerne tun. Nie hätte er gedacht, dass ihm etwas so Sinnloses wie ein Rennen Spaß machen könnte, und doch ... Automatisch machte er sich im Sattel etwas kleiner, versuchte, den Luftwiderstand zu verringern. Es leichter zu machen, damit seine Stute vielleicht doch noch wertvolle Zentimeter gutmachen konnte, aber das Treibgut kam viel zu schnell näher, und kaum hatte er es bemerkt, waren sie auch schon an ihm vorbei. Wie auf Kommando wurde Duke etwas langsamer und ließ sie wieder aufschließen. „War das nicht unsere Ziellinie?“, rief Jean hinüber. „Ja“, kam die Antwort. „Aber Duke will laufen und ich glaube nicht, dass wir ihm das verbieten sollten.“ „Claude wird sich wundern, wenn sein temperamentvoller Hengst schlafend in der Ecke liegt.“ Tichon lachte. „Wird er sich wundern oder erleichtert sein?“, fragte er zurück und Jean musste zugeben, dass er sich da auch nicht so sicher war. „Wollen wir vor der Hochzeit noch einmal zusammen zu Mittag essen?“, versuchte er stattdessen das Thema zu wechseln. „Wir könnten uns beim Dessert über die Standardbräuche unterhalten.“ „Ich dachte, wir besprechen die Bräuche immer dann, wenn das Brautpaar sich daran macht, sie irgendwie umzusetzen.“ „Dazu müsste ich dich aber zu dieser Hochzeit begleiten.“ „Ehrlich gesagt hatte ich das auch genauso angedacht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)