Eren von tears-girl (Geheimnisse der Turanos) ================================================================================ Kapitel 35: Versager -------------------- Ajax geht an den Käfig heran und betrachtet seinen kleinen Bruder mit schwer deutbarem Blick. Zufriedenheit oder Mitgefühl ist es auf alle Fälle nicht. „So eine Enttäuschung. Ich hab dich gewarnt was passiert, wenn du die Kontrolle verlierst.“   Dr. Ryu räuspert sich kurz, um die Aufmerksamkeit des älteren Turano auf sich zu ziehen. „Wenn Sie erlauben, Herr Turano, heute hat Eren schon mehr von beiden vollständigen Verwandlungen gezeigt und hat auch länger durchgehalten als die Male davor. Er wird stetig besser. Ich bitte Sie von einer Bestrafung abzusehen. Wir wissen noch lange nicht genug über seine Kräfte, um uns anmaßen zu dürfen, wir wüssten, zu was er schon alles fähig sein sollte.“   Die Frau ist die einzige, die sich erlauben darf so mit einem Turano zu sprechen, auch wenn sie dabei dennoch sehr auf die Wortwahl achten muss. Benedikt Turano hält viel zu viel von Dr. Ryu, um sie wegen so einfachen Gründen zu beseitigen, wegen denen andere schon längst spurlos verschwunden wären. Dass sie diejenige ist, die am meisten über alle Experimente im Bunker weiß, ist mit Sicherheit der Hauptgrund dabei.   Deshalb wirft Ajax ihr nur einen warnenden Blick zu, der die Frau nervös ihre Brille hochschieben und den Blick auf ihr Tablet sinken lässt. Ohne auf ihre Einwände einzugehen, weist er sie an: „Dr. Ryu, bleiben Sie bei ihm, bis er aufwacht. Sorgen Sie aber dafür, dass er spätestens um 17 Uhr in seinem Zimmer ist und sich fertig macht. Er hat heute noch einen Termin. Ich muss jetzt weg und Vater von dieser Enttäuschung berichten.“   „Okay, verlassen Sie sich auf mich, Herr Turano“, willigt die Ärztin sofort ein.   Ajax schnaubt noch einmal abfällig, dreht sich am Absatz herum und marschiert mit festen Schritte auf das Portal zu. Da es noch immer die Einstellungen des letzten Ziels im Speicher hat, muss er diese lediglich einschalten. Sobald der Turano verschwunden ist, weist die Ärztin die Wachen an, alles wieder einzupacken und den Käfig zu säubern. Sie selbst befreit Eren von den Ketten und lässt ihn von dem Wachmann in eines ihrer Untersuchungszimmer im Bunker bringen. Dort wird er auf die Liege gelegt und vorsichtshalber angebunden. Die Frau setzt sich daneben und wartet darauf, dass er die Augen aufschlägt.   Zumindest für zwei ganze Minuten. Dr. Ryu kann nicht einfach nur still dasitzen und warten, dafür ist sie viel zu nervös. Deshalb sucht sie sich irgendwelche Arbeiten, um beschäftigt zu sein. Sie wischt Eren das Blut vom Gesicht und reinigt die Hand- und Fußgelenke, die seltsamerweise noch immer wund sind. Das ist nicht gut. Hat ihn das Mittel so weit geschwächt, dass er sich nicht einmal heilen kann? Und dann soll er auch noch heute einen Auftrag erledigen? Als behandelnde Ärztin sollte sie es eigentlich verbieten, aber sie weiß, dass Ajax das anders sieht. Er schickt Eren auf diese Mission, egal in welcher Verfassung der Junge ist.   Dr. Ryu seufzt schwer. Alles was sie tun kann, um ihm zu helfen, ist alles zu tun, damit es ihm bis 17 Uhr wieder so gut geht, dass er zumindest wach ist und stehen kann. Dafür hat sie noch knapp zwei Stunden Zeit. Also gut. Keine Zeit zu verlieren.   Zunächst injiziert sie dem Jungen ein Schmerzmittel, sicherheitshalber, danach behandelt sie seine Gelenke und bandagiert sie. Anschließend verfällt sie in eine Art Putzwahn. Sie läuft im Zimmer herum, um in jeder Ecke ein wenig aufzuräumen und horcht dazwischen immer wieder sein Herz ab, prüft die Atmung und stellt sicher, dass alle Vitalwerte im grünen Bereich sind und bleiben. Zu ihrer Erleichterung werden die Werte stetig besser. Trotzdem würde sie ihn am liebsten über Nacht unter Beobachtung stellen.   ~~~   Um Viertel vor Fünf sieht Dr. Ryu noch immer angespannt auf die tickenden Zeiger der Uhr. Eren ist noch immer nicht wach. Ihr Blick gleitet kurz zur Überwachungskamera neben der Uhr, sie seufzt schwer. Sie wird beobachtet, das heißt, sie muss den Jungen jetzt zwanghaft wecken, um nicht Ajax´ Zorn auf sie beide zu verschlimmern. Es gefällt ihr nicht, aber sie keine Wahl.   Dazu hat sie einen Behälter mit Aufschrift NaCl aus dem Schrank genommen und eine Spritze mit der durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. Diese injiziert sie in seinen Oberarm und setzt sich wartend auf den Hocker neben der Liege. Sie legt ihm eine Hand auf die angespannte Stirn und seufzt. „Komm schon, Eren. Du willst doch nicht zu spät zu deiner Mission kommen, oder? Wach auf.“   Kurz darauf bäumt er sich auf, würgt, hustet und spuckt Blut. Die Gurte, die seinen Oberkörper und seine Beine am Tisch fixieren, hindern ihn daran sich aufzusetzen, weshalb er lediglich den Kopf drehen kann, um nicht am eigenen Blut zu ersticken. Sofort ist Dr. Ryu zur Stelle, öffnet den obersten Gurt, sodass Eren zumindest den Oberkörper ein wenig drehen kann und legt ihm beistehend eine Hand auf die Schulter. Erst ein paar Minuten später beruhigt er sich einigermaßen. Erschöpft bleibt er einfach so liegen und blinzelt benommen vor sich hin. Ihm tut alles weh.   „Wie geht’s dir?“, erkundigt sich die Frau besorgt.   „Ich hab schon wieder versagt, nicht?“ Es ist mehr eine heisere Feststellung als eine Frage.   Dr. Ryu senkt den Blick auf ihre Hand, die noch immer auf seiner Schulter ruht. „Ich fürchte, ja.“   „So ein Mist!“, ärgert er sich. „Wieso krieg ich das einfach nicht hin?“   „Hey, du schaffst es schon irgendwann. Du wirst von Mal zu Mal besser“, versucht die Frau Eren aufzumuntern.   Der Junge dreht den Kopf leicht in ihre Richtung. „Irgendwann ist aber nicht gut genug. Ajax hat recht, ich sollte doch mit Zwölf schon längst meine Kräfte kontrollieren können. Ajax war in meinem Alter selbst schon Mentor und ich bin immer noch dabei herauszufinden, was eigentlich meine Kräfte sind.“   „Vergleich dich nicht immer mit deinem Bruder“, rät die Frau streng und beginnt damit die restlichen Gurte zu öffnen. „Du hast ganz andere Fähigkeiten als er und bist auch noch der einzige, der ein Hybrid aus Engel und Dämon ist. Wir wissen noch gar nicht, was du alles mal können wirst. Setz dich nicht so unter Druck, sonst blockierst du dich nur selbst.“   „Ich weiß, aber trotzdem“, beharrt Eren darauf. „Wenn ich nicht bald zumindest eine Form beherrsche, wird mich Ajax auf keine Mission mehr schicken und ich darf wieder nur im Bunker hocken trainieren.“ Bei dem Stichwort Mission fällt ihm plötzlich etwas ein, was ihn gestresst die Augen aufreißen lässt. „Wie spät ist es?!“ In einem Ruck setzt er sich auf und bereut es prompt. Der gesamte Raum dreht sich und sowohl sein Kopf als auch sein Magen springen begeistert auf das Kurrassel mit auf.   „Zehn vor Fünf“, antwortet sie mit gerunzelter Stirn. „Musst du den Termin heute noch wahrnehmen? Mir wäre es lieber, wenn du dich heute Nacht von den Nebenwirkungen erholen würdest.“   „Das geht nicht.“ Eren hat die Augen geschlossen, eine Hand auf die Stirn gelegt und die andere auf den Bauch. So atmet er konzentriert ruhig ein und aus. „Der Auftrag ist zu wichtig.“   Die Ärztin seufzt. Das hatte sie schon erwartet. „Mir gefällt das nicht. Du bist noch ein Kind, du solltest in die Schule gehen, mit Freunden spielen, Blödsinn machen und nicht rund um die Uhr trainieren, kämpfen und morden müssen. Außerdem ist heute Halloween, bekommst du nicht mal da ein paar Stunden frei?“   „Du kennst doch meinen Vater und Bruder, für sie gibt es sowas wie Feiertage und Geburtstage nicht.“ Der Junge lacht bitter auf und nimmt eine hochnäsige Haltung ein. „Jeder Tag, an dem nicht gearbeitet oder trainiert wird, ist ein vergeudeter Tag“, zitiert er den Spruch, den er schon so oft gehört hat. „Aber ist schon okay, ich hab mich daran gewöhnt“, fügt er so überzeugt hinzu, wie es ihm gerade möglich ist, um der Ärztin zu versichern, dass es ihm nichts ausmacht auch an Halloween trainieren, kämpfen und morden zu müssen. Wobei diese Punkte heute hoffentlich nicht auf der Mission gebraucht werden. So gefährlich kann eine Halloweentour doch nicht sein, oder?   „Das ist traurig“, kommentiert die Frau und reicht dem Zwölfjährigen ein Glas Wasser. „Hier. Trink zumindest was, bevor du aufbrichst. Geht´s dir überhaupt gut genug?“   „Ja, das wird schon. Danke.“ Als Eren das Glas entgegennimmt, fallen ihm seine Handgelenke auf. Fragend zieht er eine Augenbraue gen Stirn. Seine Wunden werden so gut wie nie bandagiert, dafür sind sie viel zu schnell verheilt. Dementsprechend irritiert ist er beim Anblick der weißen Verbände.   „Als ich dich hierher gebracht hab, waren deine Gelenke noch wund, deshalb hab ich sie verbunden“, antwortet sie auf die unausgesprochene Frage. „Ich fürchte, das neue AEUD-Serum war ein wenig zu stark dosiert, es hat deine Kräfte zu gut unterdrückt. Entschuldige.“   „Ist mir deshalb so schlecht? Und sind die Male deshalb so klein?“ Sie sind unter den Bandagen nicht einmal zu sehen, dabei erinnert er sich gut daran, dass sie fast den gesamten Arm eingenommen haben.   „Ja. Deswegen halte ich es ja auch für eine schlechte Idee, dass du heute noch eine Mission erfüllen sollst. Eigentlich sollte ich es dir als deine Ärztin verbieten, aber du würdest eh nicht auf mich hören“, prophezeit sie und bekommt dafür ein bestätigendes Schmunzeln. Sie seufzt geschlagen, stemmt dann streng die linke Hand in die Hüften und hebt bestimmend den rechten Zeigefinger. „Aber ich werde dir noch ein Schmerzmittel geben und was gegen die Übelkeit und zur Behandlung der offenen Gelenke. Keine Widerworte, klar?“   „Okay, okay.“ Abwehrend hebt Eren die Hände, hat dabei aber noch immer gekräuselte Lippen. „Du bist die Ärztin. Aber beeil dich, ja? Ich muss mich noch für die Mission vorbereiten.“ Was bedeutet, er muss noch duschen und sich umziehen. So blutig kann er sich Max doch nicht zeigen. Obwohl, der würde vermutlich glauben, dass das ein Halloweenkostüm sei und wäre begeistert.   Erneut seufzt die Frau, sagt aber nichts weiter dazu. Stattdessen sucht sie aus den Schränken alle benötigten Fläschchen, Spritzen und was sie sonst noch braucht zusammen und kehrt damit zu ihrem Patienten zurück. Eren hat mittlerweile angefangen die Verbände abzunehmen. Die Haut darunter ist noch immer offen, rot und geschwollen, aber es blutet nicht mehr und seine Heilkräfte haben auch endlich eingesetzt. Allerdings um einiges langsamer als er gewohnt ist. Normalerweise sollten solche kleinen Wehwehchen innerhalb von Sekunden verschwinden. Hoffentlich sieht seine Haut normal aus, wenn er bei diesem Eiscafé FrostYum ankommt.   „Dr. Ryu, wie feiert man eigentlich Halloween?“, fragt Eren unerwartet, den Blick auf den dünnen schwarzen Armreif gerichtet, der trotz der abgeschabten Haut sichtbar ist.   Die Ärztin stockt überrascht, ehe sie weiter die Spritze mit der klaren Flüssigkeit aufzieht. „Wie kommst du jetzt darauf? Ich dachte, ihr feiert kein Halloween?“   „Tun wir auch nicht“, bestätigt der Junge. „Ich bin nur neugierig. Es scheint eine ziemlich große Sache zu sein. Wenn man durch die Stadt fährt, ist alles mit Kürbissen, Geistern und Spinnen geschmückt.“   Verstehend lächelt die Frau, klopft gegen die Spritze, um die Luftbläschen zu lösen und injiziert sie anschließend in Erens Oberarm, der nicht einmal zusammenzuckt. „Also, ursprünglich war Halloween ein Fest, um böse Geister abzuwehren, entweder sollten sie verscheucht oder besänftigt werden, aber heute ist es eher eine große Gruselparty. Alle verkleiden sich als irgendwelche Hexen, Geister oder Monster. Viele wandern von Tür zu Tür, um Süßigkeiten einzusammeln oder gehen auf Halloween-Partys. Es werden Kürbislaternen gebastelt, alles gruselig dekoriert, auch das Essen und alle versuchen ihre besten Freunde zu Tode zu erschrecken.“ Dr. Ryu gluckst amüsiert. „Eigentlich ist es ziemlich albern, aber ich mag das. Alles ist dann irgendwie ein wenig unheimlich und erschreckend, aber auch lustig, wenn man sich mit Freunden zusammen gruselt und danach darüber lacht.“   Nachdenklich wickelt Eren seinen rechten Knöchel frei, der noch genauso geschunden aussieht wie die Handgelenke. Für ihn klingt Halloween irgendwie … er weiß auch nicht … Irgendwie kann er es noch nicht einordnen. Es wird also alles Gruselige gefeiert, zu essen gibt’s irgendwas in Form von Körperteilen und alle haben Spaß daran sich gegenseitig zu Tode zu erschrecken und alberne Kostüme zu tragen? Sein Vater hat wohl recht, es klingt nach einer Zeitverschwendung. Und trotzdem würde Eren das alles gerne mal miterleben. Kann er ja auch. Für ein paar Stunden und nur die Tour. Auf die Schulparty darf er nicht, zu viele Leute und zu wenig Gelegenheiten etwas herauszufinden. Deshalb wird er gleich nach der Süßes oder Saures-Tour wieder abgeholt werden.   Dabei fällt ihm ein, was ist, wenn Max nur ein gewöhnlicher Junge ist? Dann kann er ja gar keine versteckten Fähigkeiten herausfinden. Wie lange soll er ihn denn dann noch ausspionieren? Er bezweifelt, dass sein Vater und Bruder noch sehr viel mehr Zeit mit dieser Schulmission verschwenden wollen. Das bedeutet, er muss heute sein bestes geben. Er will heute nicht noch einmal versagen. Nicht nach der niederschmetternden Blamage der vollständigen Formen.   Die Ärztin verabreicht dem Jungen noch eine weitere Spritze und besteht darauf, dass er vorsichtshalber Tabletten mitnimmt, falls die Nebenwirkungen des Serums wieder schlimmer werden. Da er schon vorher wusste, dass er eine Diskussion verlieren würde, hat er die kleine Dose einfach in die Hosentasche gesteckt und sich auf den Weg nach Hause gemacht, um sich für die Mission vorzubereiten. Dr. Ryu hat angeboten ihn zu begleiten, aber er wollte das nicht. Er ist nicht so schwach, dass er die Hilfe von jemanden braucht, um in sein Zimmer zu kommen. Das schafft er doch wohl noch allein. Auch wenn der Weg durch die Gänge, die Fahrt mit dem Aufzug, der nächste Gang und dann die Einschienenbahn ziemlich an ihm gezerrt haben. Es war anstrengend, ein paar Mal musste er sich an die Wand lehnen und eine Pause einlegen.   So gestaltet sich der Weg in sein Zimmer länger als gewöhnlich. Dann tritt er endlich in sein Zimmer und kann die Tür schließen. Er hat zwar nur noch eine Viertelstunde, um sich fertig zu machen bis er in die Stadt fahren muss, aber die Zeit, um mit geschlossenen Augen tief durchzuatmen und zu versuchen die Heilkräfte zu wecken, nimmt er sich dennoch. Ajax würde ihn umbringen, wenn er in diesem Zustand vor Max treten würde. Und seinem großen Bruder noch weitere Gründe für Strafen und Lektionen zu bieten, wo er eh noch eine wegen dem gescheiterten Training erwartet, will er lieber nicht riskieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)