Eren von tears-girl (Geheimnisse der Turanos) ================================================================================ Kapitel 62: Auf der Jagd nach einem Dämon ----------------------------------------- Als die Frau am Tor zur U-Bahnstation ankommt, fährt gerade ein bekanntes, dunkelblaues Auto vor, das neben ihr parkt. Gerade rechtzeitig, mittlerweile hat es nämlich angefangen zu nieseln. Die Frau reißt sofort die Beifahrertür auf, steigt ein, knallt die Tür zu und wirft die Tasche auf den Rücksitz.   „Fahr zum Turano-Anwesen“, weist sie den Mann am Steuer an, während sie nach dem Sicherheitsgurt angelt.   Der Mann ist Mitte Dreißig, hat einen dunkelblonden Fünftagebart und einen beidseitigen Sidecut, wobei er die verbliebenen, längeren Haare zu einem unordentlichen Zopf am Hinterkopf zusammengebunden hat. Er trägt einfache Jeans, ein rotes kariertes Hemd und wie immer eine Lederjacke dazu. Aus besorgten dunkelbraunen Augen sieht er sie an. „Was ist los, Lia?“   „Fahr los! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“, drängt die Frau flehend.   Für eine Sekunde sieht er so aus, als würde er noch etwas sagen wollen, doch dann nickt er und schlägt den Weg zum Turano-Anwesen ein. „Also, wieso zum Anwesen? Du weißt, dass es unmöglich sein wird, dort reinzukommen. Auch für dich.“   „Mag sein, aber wir müssen es versuchen. Ich hab Angst, dass sie Eren etwas Schlimmes antun werden“, gesteht sie.   „Eren? Du meinst, diesen Engel-Dämon-Jungen? Was ist mit ihm?“ Jack zieht beunruhigt die Augenbrauen zusammen. Die Frau hat ihm alles über ihren Job im Bunker erzählt. Es gibt keine Geheimnisse zwischen den beiden.   Sie nickt, nimmt ihre Brille ab und legt sie ins Handschuhfach. Die gehört ebenfalls nur zu ihrer Tarnung, die sie ja jetzt nicht mehr braucht. „Genau. Ich hatte eigentlich vor, nach ein paar Informationen zum Projekt Apex Life im Anwesen zu suchen, aber ich bin erwischt worden.“   „Was?! Gehts dir gut?“   „Ja, alles okay. Zum Glück hat mich Eren gerettet. Ich mache mir eher Sorgen, dass es ihm nicht gut geht.“ Dr. Ryu dreht sich um, öffnet die Tasche am Rücksitz und zieht eines der Geräte heraus. „Er wollte mich noch zum Tunnel begleiten, falls wir weiteren Wachen begegnen sollten … Ab da ist alles schief gelaufen.“   Jack mustert sie nur abwartend von der Seite. „Was ist passiert?“   „Turano und Ajax kamen plötzlich nach Hause. Eren und ich haben uns deshalb hinter der Couch versteckt, um zu warten, bis sie weg sind. Aber sie haben es sich nur bequem gemacht und über die denkbar schlechtesten Themen gesprochen.“ Die Frau hat das Gerät inzwischen eingeschaltet. Es besteht hauptsächlich aus einem Bildschirm mit einem Griff darunter und zwei Knöpfen am Rahmen. Sie legt es auf ihren Schoß und durchsucht ihr Handy nach den gestohlenen Dateien. Hauptsächlich geheime Informationen über einen Zwölfjährigen, die dieser größtenteils selbst nicht einmal weiß. „Eren hat es herausgefunden. Alles.“   „Alles?“, wiederholt der Mann fassungslos. „Anscheinend hat er es nicht gut aufgenommen, oder?“   „Ganz und gar nicht.“ Sie ist froh über die beherrschte Art ihres Freundes, sie hilft ihr, sich selbst zu beruhigen. Inzwischen hat sie auch die Infos gefunden und tippt eine mehrstellige Zahlenkombi auf dem Bildschirm ein. „Er weiß, dass die Turanos nicht seine Familie sind, dass sie an ihm und allen Anderen experimentiert haben, dass sie ihn nur benutzen, um an Engel- und Dämonenblut zu kommen. Er hat die Kontrolle verloren und wütet jetzt als Dämon im Anwesen herum. Ich hab Angst, dass es Turano und Ajax, in ihrem Versuch, ihn unter Kontrolle zu bekommen, übertreiben. Deshalb müssen wir ihn vor den Beiden erwischen und mitnehmen.“   „Mitnehmen? Wir schaffen es doch nicht einmal aufs Grundstück, du weißt genauso gut wie ich, was für Sicherheitsvorkehrungen die haben, und da willst du das wertvollste Experimente vor ihrer Nase einfach mitnehmen? Das werden die sicher nicht zulassen. Außerdem, was machen wir danach? Hast du dir überhaupt einen Plan überlegt?“ Jack ist alles andere als begeistert von ihrem Vorhaben, dennoch fährt er weiter auf das Turano-Anwesen zu.   „Ich weiß, dass es eine Schnapsidee ist, aber ich kann ihn nicht länger dort lassen.“ Dr. Ryu sieht ihn entschlossen an. „Wir müssen endlich was unternehmen und nicht nur rumsitzen und warten, bis wir herausfinden, was Turano überhaupt geplant hat. Dann kann es schon zu spät sein.“   „Hey, ganz ruhig. Ich steh auf deiner Seite, das weißt du, ich will nur sichergehen, dass es kein Fehler sein wird, einen Jungen zu uns zu holen, der eine ganze Stadt vernichten kann, wenn er einen schlechten Tag hat“, versucht er seine Zweifel zu erklären.   „Das weiß ich nicht. Aber er ist nicht böse. Die ganzen Lügen auf einmal zu erfahren, das ist einfach zu viel für ihn gewesen.“ Das Bild von Erens gequältem Gesicht taucht in ihren Gedanken auf. Sofort steigen wieder Tränen in ihren Augen auf. Eine Hand auf ihrer lässt sie aufblicken. „Keine Sorge. Wir retten ihn. Irgendwie. Immerhin ist es nicht unsere erste Flucht vor Turano, nicht wahr?“   Ein schwaches Lächeln hebt ihre Mundwinkel an. „Stimmt. Wir schaffen das schon. Außerdem herrscht dort sowieso gerade Chaos. Vermutlich wird uns da niemand beachten.“   Ein Pling lenkt ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Gerät in ihren Händen. Ein grüner Kreis leuchtet auf dem Bildschirm auf und eine Landkarte erscheint. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Navi. Es gibt einen kleinen Punkt mit Fähnchen auf dem „Aktuelle Position“ steht und ein weiteres Fähnchen mit dem Bild von Eren. Die Position ist allerdings nicht da wo erwartet. Er bewegt sich geradewegs durch oder eher über den Wald des Anwesens, direkt auf Haikla City zu. Die Bewegungsrichtung schließt den Tunnel somit aus. „Das ist seltsam. Wieso ist er auf den Weg in die Stadt?“   „Will er jetzt die Stadt angreifen?“   „Vielleicht“, antwortet sie nachdenklich.   „Soll ich umdrehen?“, fragt Jack, der bereits die Straße zum ersten Tor eingeschlagen hat und jetzt das Tempo drosselt.   „Ja. Kleine Planänderung. Wir müssen ihn in der Stadt erwischen“, entscheidet sie kurzerhand. Der Ortswechsel ändert nichts an ihrem Plan. Wenn überhaupt, vereinfacht es ihn.   „Aye, Madame!“ Da die Straße sowieso meistens leer ist, legt Jack eine stuntverdächtige Wende hin und fährt den Weg zurück, den sie gerade gekommen sind. „Zumindest müssen wir uns jetzt keine Ausrede einfallen lassen, wieso wir auf das Grundstück wollen.“ Während Dr. Ryu als Navigatorin dient, fährt Jack den Wagen gehorsam von einer Seitenstraße in die nächste. „Hat er überhaupt ein Ziel?“   „Ich glaube, er sucht etwas. Oder jemanden“, grübelt die Ärztin. „Ich hab nur keine Ahnung, was. Irgendwas muss im Anwesen passiert sein, weshalb er jetzt in der Stadt ist. Wie blöd, dass Ajax keinen Chip hat, sonst könnte ich jetzt überprüfen wo sich er und Turano aufhalten.“   „Vielleicht sind sie geflohen und Eren sucht sie jetzt? Anscheinend will er sich ja an den Beiden rächen“, mutmaßt der Mann.   „Hm. Gut möglich. Ich kann mir jedenfalls momentan nichts anderes vorstellen.“ Die Frau tippt auf Erens Bild, um sich die Informationen anzeigen zu lassen. „Seine Herzfrequenz ist zu hoch. Die Körpertemperatur auch, wobei das bei einem Dämon auch normal sein kann. Ich konnte seine Verwandlungen bisher ja nicht wirklich untersuchen. Was mir allerdings mehr Sorgen bereitet, sind seine Gehirnwerte. Er ist vollkommen durcheinander und überfordert.“   „Mach dir nicht so viele Gedanken“, versucht Jack sie zu beruhigen. „So wie du ihn mir beschrieben hast, hält er einiges aus. Es geht ihm bestimmt gut, sobald wir ihn haben.“   „Hoffentlich.“ Sie ist nicht überzeugt, will es aber gern glauben. Die Schuldgefühle, wenn dem nicht so wäre, würde sie nicht ertragen. Stumm seufzend geht sie zurück auf die Ortung. „Da vorne rechts.“   Der Dämon arbeitet sich wild quer durch die ganze Stadt, ohne System, ohne Plan. Momentan fahren die beiden durch eine Wohngegend mit hohen Appartementgebäuden. Eren wird hier langsamer, bis sein Bild komplett stehen bleibt.   „Er hat angehalten. Park da vorne rechts am Straßenrand.“ Die Ärztin vergleicht inzwischen das Bild der Karte mit den Gebäuden um sie herum. „Er muss irgendwo in der Gasse sein. Die Waffe ist im Kofferraum, oder?“   Jack nickt, stellt den Motor ab und löst den Sicherheitsgurt. Als Dr. Ryu Anstalt macht aussteigen zu wollen, hält er ihren Arm fest. „Ich halte es für besser, wenn du hier warten würdest. Zurzeit ist er anscheinend gefährlich. Ich will nicht, dass dir was passiert.“   „Aber mich kennt er“, protestiert sie. „Mich würde er nicht angreifen.“   „Es ist aber im Moment nicht Eren, über den wir sprechen, nicht wahr?“   Sie öffnet den Mund, schließt ihn aber gleich wieder und senkt den Blick. „Ja, stimmt.“   „Bleib hier“, wiederholt Jack. „Ich ruf dich an, wenn ich ihn hab. Außerdem weißt du doch gar nicht, wie man ein Gewehr hält“, zieht er sie noch auf und steigt aus, bevor sie etwas erwidern kann.   Jack öffnet den Kofferraum und die versteckte Klappe im Boden, wo ein Koffer zum Vorschein kommt. In diesem befindet sich ein Gewehr inklusive verschiedener Munition. Auch das AEUD-Serum hat die Ärztin aus dem Bunker geschmuggelt und sich auf Vorrat gelegt. Er bewaffnet sich mit beidem, schließt den Kofferraum und erkundigt sich noch einmal bei seiner Freundin, ob der Dämon noch immer in der Gasse sitzt. Als sie das bestätigt und ihn erneut erinnert vorsichtig zu sein, macht er sich auf den Weg.   An der Ecke angekommen, späht er vorsichtig in die Gasse, kann aber niemanden sehen, weshalb er sich schon fragt, ob sich das Trackinggerät geirrt hat. Doch dann hört er ein verdächtiges Krachen und hebt den Kopf. Da ist er. Der Dämon sitzt oben auf der Mauer der Dachterrasse und scheint sich nach etwas umzusehen. Gut, das heißt, er ist abgelenkt.   Lautlos lädt er die Waffe mit dem Serum, atmet tief durch, um sich zu beruhigen und zielt dann auf den Dämonenjungen. Er drückt ab. Er ist ein guter Scharfschütze, aber manchmal geht auch bei einem Profi ein Schuss daneben. Jack erwischt den Dämon zwar, aber nur am Knöchel, wodurch dieser alarmiert aufspringt. Verärgert presst der Mann den Kiefer zusammen. Das wäre seine beste Chance gewesen. Und die hat er vermasselt.   ~~~   Immer wieder hört Dr. Ryu einen Schrei und Kampflärm aus der Gasse. Bei jedem zuckt sie zusammen und ringt mit sich selbst, ob sie doch aussteigen und nachsehen soll. Es gefällt ihr nicht nutzlos im Hintergrund bleiben zu müssen, aber sie weiß, dass sie nur im Weg wäre. Jack hat ja recht, der Dämon ist nicht Eren. Er würde sie vermutlich wirklich angreifen. Zumindest ist die Chance, dass jemand von Turanos Männern sie hier findet, ziemlich gering. Deshalb hat sie ja alle Trackinggeräte gestohlen und Erens Daten - inklusive Chipnummer - gelöscht. Gut möglich, dass es irgendwo eine Sicherungskopie und Notfallgeräte gibt, aber da bisher keiner der Gegner aufgetaucht ist, zählt sie es als Erfolg.   Trotzdem macht es das Wissen nicht erträglicher, hier im Auto zu sitzen, den Kampfgeräuschen zweier Menschen zu lauschen, die sie beide wirklich lieb hat und dabei die Werte von Eren vor Augen zu haben, die sich plötzlich rapide verschlechtern. Sie kann es sich nur so erklären, dass Jack ihn mit ihrem Serum erwischt hat. Die Wirksamkeit findet sie immer noch erstaunlich, deshalb tut es ihr umso mehr leid. Zum wiederholten Mal fragt sie sich, weshalb sie es eigentlich so effektiv zusammengemischt hat. Eine schwächere Variante hätte Turano fürs Erste auch zufriedengestellt. Jetzt ist es zu spät, das zu bereuen. Turano hat das AEUD-Serum und der Dämon hat es gerade injiziert bekommen. Sie will Eren nicht verletzen, aber in diesem Fall hat sie keine andere Wahl. Sie wüsste nicht, wie sie den Dämon sonst bezwingen sollten.   Plötzlich klingelt ihr Handy, was sie erschrocken zusammenzucken lässt. Als sie „Jack“ auf dem Display liest, geht sie sofort ran. „Jack? Geht´s euch gut?“   „Hey, ich hab ihn. Du kannst herkommen.“   Darauf hat sie gewartet. Ohne eine Antwort zu geben legt sie auf, springt aus dem Auto, holt ihren Notfallarztkoffer aus dem Kofferraum und beeilt sich zu den Beiden zu kommen. Als sie die Gasse betritt, bleibt ihr vor Schreck und Kummer das Herz stehen. Eren … Nein, es ist immer noch der Dämon, der dort verwundet am Müllcontainer lehnt, den Kopf gesenkt, aber die Augen durchbohrend auf sie und Jack gerichtet.   „Was? Er hat noch die Dämonengestalt?“, stellt die Frau irritiert fest. Beim Engel hat die Dosis ausgereicht, um Eren zurückzubringen. Und der Engel sah nicht so voller Blut aus, wie der Dämon vor ihr. Liegt es an seiner höheren Schmerzresistenz? Oder an Erens emotionalem Zustand? Beidem? „Wie viel Serum hast du ihm injiziert?“   Jack hat vorsichtshalber noch immer das Gewehr auf die unregelmäßig hebende Brust gerichtet. „Zwei. Allerdings weiß ich nicht, wie viel vom Ersten tatsächlich in seinen Körper gelangt ist.“   „Okay.“ Also hat sie mit ihrer Vermutung recht? Auf alle Fälle sieht er echt mitleiderregend aus. Mehrere Wunden sind mit verkrustetem Blut umrahmt, seine Kleidung ist an diesen Stellen dunkel und verklebt, seine Schwingen liegen nutzlos neben ihm, eine davon weist drei Löcher auf. Ein Wunder, dass er mit denen überhaupt fliegen konnte. Rinnsale von schwarzem Blut laufen ihm aus Augen, Nase und Ohren. Er hustet und spuckt immer wieder Blut. Es muss ihm wirklich nicht gut gehen, aber er kämpft eisern gegen die Schmerzen an. Sein Gesicht ist vor Anspannung ganz verkrampft und sein rasselnder Atem geht stoßweise.   Ihr Herz tut bei dem Anblick weh, es blutet durch die Schuldgefühle, dass es ihr Serum ist, das ihn so leiden lässt. Aber sie will Eren zurückholen, da muss der Dämon jetzt durch. Sie müssen hier so schnell wie möglich weg. Wer weiß, wie lange sie noch Zeit haben, bis einer von Turanos Männern hier auftaucht?   Sie schluckt schwer und drängt all die schlechten Gefühle für den Moment in den Hintergrund. Langsam nähert sie sich dem Dämon, wird aber am Arm festgehalten. Verwundert bleibt sie stehen und sieht zu Jack auf.   „Sei vorsichtig. Er scheint gefährlicher zu sein, als du ihn mir beschrieben hast“, warnt er sie eindringlich.   Sie befreit ihren Arm und lächelt ihn schwach, aber zuversichtlich an. „Keine Sorge. Ich ken...“   … kenne ihn, wollte sie eigentlich sagen. Sie wusste, dass es nicht stimmt, in diesem Fall. Das hat sie vorher ja selbst zugegeben. Und trotzdem hätte sie nie damit gerechnet, dass er sie tatsächlich angreifen würde.   „Lia, pass auf!“, schreit Jack, während er gleichzeitig den Abzug betätigt.   Langsam dreht sie den Kopf herum, vor Entsetzen werden ihre Augen ganz groß. Der Dämon kniet auf allen Vieren, würgt und spuckt immer mehr Blut und Schaum aus. Nach und nach taucht schwarzer Rauch um ihm herum auf, die roten Adern verschwinden, das Mal schrumpft schnell auf einen Strich am Handgelenk zusammen. Seine Muskeln zittern deutlich, er kann sich kaum noch auf Händen und Knien halten. Als der dunkle Nebel ihn komplett umhüllt und den Dämon zurück in den Spiegel zwingt, versagt sein Körper endgültig.   In der Sekunde, in der Eren zurück ist, verliert er das Bewusstsein und bricht leblos zusammen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)