Seasons of life. von robin-chan (If it's meant to happen, it will.) ================================================================================ Kapitel 2: Point of no return. ------------------------------ Edinburgh und Wetter. Entsprechend der Erwartungen begleitete Regen das Sightseeing. Während dieser Jahreszeit normal; wärmere Temperaturen waren reines Wunschdenken. Eigentlich galt Nami als Sonnenkind. War sie ehrlich, so passte das gesamte Inselklima gar nicht zu ihrem Gemüt. Aufblühen tat sie in heißen Regionen. Ironischerweise brachte ihr die erwartete Zukunft keine Besserung, sondern im Gegenteil, sie würde kälter werden. Monatelang könnte sie weit unter dem Gefrierpunkt liegen – purer Irrsinn, wenn sie darüber nachdachte. Vorerst lieber die Witterung genießen. Regen selbst hielt Nami nur in besonderen Fällen vom Erkunden ab. Wenn, dann musste ein ordentlicher Regen toben und die Ziele durften sich nur im Freien befinden. Bislang hatte er sich in Grenzen gehalten, nun wurde er allmählich lästig. Umso mehr freute Nami sich auf den nächsten Punkt ihrer Liste, das National Museum of Scotland. Vorübergehend bot es Schutz. Nach den Stunden, die sie seit dem Morgen unterwegs war, eine willkommene Abwechslung. Ein Weilchen im Trockenen, bevor sie zurück in ihre Unterkunft wollte, um sich für den Abend frisch zu machen. Überhaupt schien ihr Plan bislang aufzugehen, und es sah so aus, als könne sie das Wichtigste an einem Wochenende erledigen. Alles, was noch übrig blieb war die Erkundung des Umlands. Das musste auf später verschoben werden, auf ihren Sommerurlaub. Mittlerweile nahm das Vorhaben klarere Konturen an. Damit konnte sie arbeiten, denn die Reise stand bereits in zwei Monaten an. Mit neugierigen Schritten durchquerte sie das Gebäude. Hier blieb sie eine Weile stehen, dort ging sie schneller voran. Museen hatten für sie schon öfter als Ort der Entspannung gedient. In der Zeit blendete sie ihre Umwelt aus, tauchte in die Objekte, wie auch ihren eigenen Gedanken ein. Nami konzentrierte sich einfach auf das, was vor ihr lag, und sammelte nebenbei neue Eindrücke, Erkenntnisse, waren sie positiv und faszinierend oder, wie gerade, abstoßend. Sobald ihr Blick auf eine Ansammlung von Miniatur-Särgen fiel, verzog sie angewidert das Gesicht. Ein unangenehmes Kältegefühl lief ihr den Rücken hinunter, vielleicht verstärkt durch die geöffneten Augen der darin liegenden Puppen. Seltsam, wie sehr diese morbiden Objekte ihr Interesse weckten, in ihr den Drang auslösten, zu erfahren, was es mit ihnen auf sich hatte. Langsam trat sie näher, ihre Neugierde überwog tatsächlich die Abneigung. Noch bevor sie den Blick abwenden und den dazugehörigen Text lesen konnte, hörte sie eine Bewegung, die sie erschreckte. Sogleich stolperte sie einen Schritt zurück. Beruhigend legte sie ihre Hand auf die Brust, direkt über dem schnell schlagenden Herzen. Nami war normalerweise nicht die schreckhafteste Person, aber in diesem Moment, nun ja, da war sie vielleicht einen Hauch zu sehr in ihren Gedanken versunken gewesen. »Verzeihung.« Eine Frau entschuldigte sich, und obwohl Nami bereit war, eine scharfe Erwiderung zu geben, hielt sie inne. Schweigen statt Unmut. Als hätte das Universum ihre Worte in diesem Augenblick zum Stillstand gebracht – genau dann als Nami sie sah. Sie war groß, deutlich größer als Nami, auch ohne Absätze. Ihr Kostüm, perfekt geschnitten und anliegend, betonte ihre Figur auf elegante Weise und verlieh ihr eine zeitlose Schönheit. Ihre langen, schwarzen Haare, fielen ihr in sanften Wellen den Rücken hinab, wie ein seidiger Wasserfall in der Dunkelheit der Nacht. Doch all das schien in dem Moment nebensächlich zu sein, als sich ihre Augen begegneten. Das Museum, das um sie herum existierte, trat in den Hintergrund, und diese Frau war das einzige Kunstwerk, das wirklich lebendig war. In ihnen spiegelte sich die sanfte Ruhe des Gewässers, und ihre tiefe, blauschimmernde Farbe erinnerte an den klaren Himmel über einem malerischen Bergsee. Jeder Blick fühlte sich an wie ein Eintauchten in die Tiefe des Wassers, das die Geheimnisse und Schätze der Natur barg. Ein vertrautes Gefühl kroch empor und löste eine alte, aber prägende Erinnerung aus. Da fand sie den notwendigen Punkt. Endlich blinzelte Nami, um die Starre zu durchbrechen, und schüttelte sanft den Kopf. Was das gerade war, war befremdlich. »Ich war in Gedanken, alles gut.« Nein. Nichts war an der Situation gut. Ihr Blick verharrte wieder auf den Särgen, die plötzlich einen unerwarteten Reiz ausstrahlten. Erst jetzt bemerkte Nami, dass ihre Hand noch immer über ihrem Herzen ruhte, das genauso stürmisch pochte wie zuvor. Aber anstatt Ruhe zu finden, spürte sie eine unerklärliche Aufregung. Hatte Nami nicht schon öfter solche Gedanken gehabt, wenn sie eine Frau traf, die ihr gefiel? Gedanken waren flüchtige Impulse, oft bedeutungslos. Ab und zu hatte sie sogar erkannt, dass auch Männer eine gewisse Anziehung besaßen. Bedeutete das automatisch, dass sie sich mit ihnen auf Abenteuer einließ? Keinesfalls. Trotzdem nagte das unbestimmte Gefühl, dass hier etwas Seltsames vor sich ging, an ihr. Wieder schüttelte sie den Kopf, nicht über die ungewöhnliche Situation, sondern über ihre eigenen verwirrenden Gedanken. Sie zwang die Aufmerksamkeit zurück zu den Särgen. Dort weitermachen, wo sie gerade eben erst unterbrochen worden war. »Faszinierend, oder?« Eigentlich suchte Nami keine Unterhaltung. »Gruselig trifft’s eher«, murmelte sie zurück. In Wahrheit hatte sie kurzzeitig mit der Idee gespielt, umzudrehen und ihre Neugierde dem nächsten Stück zu schenken. Das Schicksal hatte offenbar andere Pläne. Rückblickend würde Nami den Augenblick als ihren ersten Fehler bezeichnen, denn sie sah zur Seite, und in ihrem Inneren spürte sie ein zartes Kribbeln in der Magengegend. Die Unbekannte hielt ihre Hand vor den Mund, als würde sie versuchen, ein Lachen zu unterdrücken. Und Nami erkannte erneut, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Sie wollte das Lachen hören. Sowohl das Gefühl wie auch der Anblick brannten sich unbemerkt ins Gedächtnis, wie eine dieser Erinnerungen, die in ihrem Herzen einen besonderen Platz einnahm. Eine wie die, die sie noch Jahre später mit einem Lächeln auf den Lippen erzählen würde, jedes Detail schildernd, als erlebte sie ihn gerade zum ersten Mal. »Entschuldige. Ich vergesse gerne, dass Ansichten unterschiedlich sind. Was andere abstoßend finden, fasziniert mich.« »Für mich sind sie gruselige Gesellen. Abstoßend und gruselig ist ein feiner Unterschied«, versuchte sich Nami selbst zu erklären, obwohl sie genau in dem Moment behaupten könnte, dass ihr die Artefakte gefielen. Das wäre eine Täuschung, das Unbehagen ihnen gegenüber bestand weiter. Sie bildeten lediglich eine Ablenkung. Die Anwesenheit brachte ihre Gefühlswelt zweifellos durcheinander, das wollte sich Nami nicht eingestehen. Noch nicht. Die Frau ließ ihren Arm sinken und nickte vor sich hin, als ob sie in ihren Gedanken versunken wäre. Ihr zweiter Fehler folgte. Eine einfache Frage: »Ist die Geschichte gruselig?« Die andere neigte den Kopf, wiederholte leise die Frage und ließ sie eine Weile zwischen ihnen stehen. »Hängt mit den Theorien zusammen?« Nami lächelte, und ihre Vermutung erwies sich als korrekt – die geheimnisvolle Frau besaß ein Hintergrundwissen. Die Quelle blieb noch verborgen, doch die Ausstrahlung verriet, dass sie bereits zuvor auf die acht Särge gestoßen war. »Sind sie auf der Tafel aufgeführt oder muss nachgehakt werden?« Ihre Mundwinkel zuckten verdächtig. »Arthur’s Seat ist-« »Einer der sieben Hügel auf denen Edinburgh erbaut wurde«, beendete Nami. Das war ihr vertraut, aus der Schulzeit. Zudem informierte sie sich vor einer Reise ausgiebiger. Zunächst warf ihr die Frau einen überraschten Blick zu, der jedoch bald von einem herzlichen Lächeln abgelöst wurde. Nami brauchte einen Drink. Als ob das Lächeln nicht reichte, trat die andere näher, und das Parfüm wurde intensiver wahrgenommen. Das, was sie trug, zog Nami an. Es fühlte sich an, als würde sie in einen geheimnisvollen Garten eintauchen, wo jede Blüte ihre eigene, verführerische Geschichte erzählte – eine kalte Dusche, ein paar Drinks und einen ordentlichen Hieb auf den Hinterkopf. Das brauchte Nami. Genau in der Reihenfolge, damit sie aus diesem bescheuerten Wirrwarr aufwachte. »Manchmal erlebe ich Urlauber, die einem das Gefühl geben, sie wüsste nicht, wo sie gerade sind. Andererseits muss ich eingestehen, dass es mit einer Angewohnheit zusammenhängt.« Gerade konnte sie Nami alles erzählen, sogar einen Mord beichten, sie würde nur die Stimme registrieren. Ein verführerischer Klang, der in den Ohren lag. Jedes Wort, das sie sprach, schien in samtigen Ton gehüllt zu sein. Es war eine Stimme, die man nicht vergessen konnte, eine Melodie, die das Herz zum Singen brachte und Sehnsüchte weckte. Erst mit der Kopfbewegung zurück zu den Särgen, fokussierte sich Nami zurück auf das Wesentliche. »Um die Stücke ranken sich mehrere Theorien. Bis heute tappen wir im Dunklen. Die Überlieferung besagt, dass eine Gruppe, bestehend aus fünf Jungen, die Särge zufällig im Jahr 1836 fand. Sie jagten ein Kaninchen, gefunden haben sie 17 Särge, verteilt auf drei Ebenen. Acht, wie du siehst, sind uns erhalten. Sie wurde von keinem Tischler gemacht, dafür sind sie zu grob und ungenau. Dafür schließen sie auf zwei Erbauer.« Konzentration war das Zauberwort. Nami versuchte das Gesagte zu behalten, sich vollends darauf zu konzentrieren. »Liegt an der Verarbeitung selbst?« »Genau. Man kann deutlich zwei verschiedene Stile ausmachen«, bestätigte die andere. »Gehen wir von den Puppen selbst aus, so sind sie wesentlich älter. Um ein paar Jahrzehnte und die Ähnlichkeit lässt vermuten, dass sie denselben Ursprung haben. Sagen wir, sie wurden eher zweckentfremdet und dienten vielleicht zum Spielen. Die offenen Augen-« »Sind furchtbar«, unterbrach Nami knirschend. »Etwas, ja – die Kleidung wurde später angefertigt. Der Stoff war zum Herstellungszeitpunkt der Puppen nicht in Umlauf«, beendete die Frau. Nun verschränkte Nami ihre Arme und betrachtete die Objekte genauer. Bislang blieb der Gruselfaktor aus. »Kommen wir der Sache näher. Was wird vermutet?« »Gerne interpretiert man ein Ritual hinein. Von Hexen wird gesprochen. Die Hexenjagd ist in Edinburgh ein eigenes Kapitel. Die andere, oft hergeholte Theorie, bringt sie mit William Burke und William Hare in Verbindung.« Eine beabsichtigte Pause entstand, begleitet von einem auffordernden Seitenblick, der Nami Zeit für Überlegungen einräumte. Eine Aufforderung, der sie nachkam. Die Erwähnung löste eine Reaktion aus. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass sie von diesen Namen bereits gehört hatte. Ihr Gefühl sagte ihr das. Doch sie konnte nicht genau feststellen, wann und wo. Als ob sie die Information irgendwann aufgeschnappt oder gelesen hatte, und ihr Gedächtnis versuchte nun, diese abzurufen. Es schwebte in der Luft, aber war sie nicht greifbar. »Hättest du einen Hinweis für mich? Irgendetwas?«, murmelnd sprach sie die Frage aus. Leicht neigte sich Namis Kopf, als käme damit eine Verbindung zustanden. Ein kleiner Ruck, der fehlte noch. »West-Port-Morde.« Da. Nami ergriff ihn. Natürlich kannte sie die Namen, deren Bedeutung. »Eine Mordserie. In dieser Stadt. Frühes 19. Jahrhundert. Das Gesetz zur medizinischen Leichenbeschaffung ist dadurch gelockert worden. Ich sollte mich auf dem richtigen Weg befinden, oder?« Herausfordernd sah sie auf. »Bist du. Du hast dich informiert«, schmunzelte diese. »Indirekt. Das Wissen entspringt einem langweiligen Abend auf der Couch. Irgendwann klickt man sich durch alle Ebenen. Was mit einem lustigen Video startet, endet meist mit den verrücktesten Themen. In dem Fall bin ich auf einige Serienmörder gestoßen.« Während der Recherchen rund um die Stadt, war ihr der Punkt vermutlich erneut ins Auge gestoßen, aber bislang hatte sie daran keine Gedanken verschwendet. Nun, wo die Erinnerung greifbar war, wusste sie wieder, woher sie kam. Ging ein Licht auf, wusste sie wieder, woher sie sie hatte. Ein kleiner Hinweis brachte das Gedächtnis auf die Spur. Es war erstaunlich, wie einige Informationen im Hintergrund blieben und dann auf subtile Weise abgerufen wurden, auch wenn sie nicht immer sofort in den Vordergrund drängten. »Zurück zum Thema. Die Morde selbst fanden ein paar Jahre davor statt. Finden sie darin den zusammenhängenden Punkt?« »Richtig und die Anzahl passt für Forscher.« Nami zog die Brauen zusammen, rieb sich daraufhin ihre Stirn. »Aber da fehlt ein Mord. Beide zusammen haben 16 Menschen getötet. Gefunden wurden 17 Puppensärge.« Darin sah sie einen Fehler in der Theorie. »Entweder wurde ein Opfer nie gefunden, sie haben nie darüber gesprochen oder sie wurden erwischt, bevor sie dem nachgehen konnten.« Während sich Nami den Kopf zerbrach, eine willkommene Verschnaufpause ihrer ersten Eindrücke, wurde sie schweigend von der Frau beobachtet. »Seien wir ehrlich. Erst töten sie, dann verkaufen sie die Leichen und tun was? Fertigen Minisärge und Kleidung an, um ihnen eine spirituelle Beerdigung zu schenken? Eine Gewissenserleichterung? Mit dem Aufwand?« Überzeugend fand sie das alles nicht und dabei half auch die Kleidung nicht, die sie wieder vermehrt ins Visier nahm. »Getötet wurden überwiegend Frauen. Eine ist ihnen damals sogar entkommen. Hier werden in erster Linie Hosen getragen. Warum? Ein Kleid ist rascher und einfach genäht.« Die Achterbahnfahrt ging in die nächste Runde. Obwohl sie sich in Rage geredet hatte, quittierte die Unbekannte ihren Redefluss mit einem leisen Lachen – dieses Mal hielt sie es nicht gänzlich zurück und es erfüllte die Atmosphäre mit einer unbeschreiblichen Magie und ließ Nami innehalten, während sie es sich wie ein vertrautes Lied ins Gedächtnis einprägte. »Können wir je die wahre Anzahl ihrer Morde benennen? Die Wahrheit selbst werden wir nie erfahren. Ob sie die Verantwortlichen hierfür sind oder ob jemand anderes dahinter steckt … es wird ein Geheimnis bleiben und genau der Punkt bietet unserer Fantasie Spielraum. Das finde ich faszinierend – die Wahrheit suchen und finden.« »Nie. Hört sich nach einer verdammt langen Suche an«, neckte Nami und die andere zuckte die Schulter. »Dieses Geheimnis ist nicht mein Gebiet.« Also gehörte sie doch auf eine Weise hierher. »Nein«, wurde Nami durchschaut. »Ich bin ein Gast. Schottisch gehört nicht zu meinen Vorlieben.« Nami gluckste. Wem sagte sie das. Mit dem Scots kam sie bislang kaum in Berührung, aber das würde sie endgültig durcheinanderbringen. Nun, da sie die Geschichte kannte, wandte sich Nami von den Artefakten ab und lächelte. »Danke.« Eine unwirkliche Begegnung, aber mit ihr wurde das Lernen von Neuem zu einem spannenderen Abenteuer. Besser als Texte lesen oder einer monotonen Stimme lauschen. Vielleicht lag das auch an dem Menschen, mit dem sie den Moment teilte. »Gern geschehen. Habe ich deinen kleinen Herzinfarkt wiedergutgemacht?« Den Schreck hatte sie. Wieder begann ihr Herz schneller zu schlagen, sobald ihr Blick in diese Augen eintauchte. Es war wie das sanfte Nachbeben einer süßen Verführung, die sie ergriff. Nichts anderes, nur das. Sie übte eine unübersehbare Anziehungskraft aus, aber das schob Nami ihrem Auftreten in die Schuhe. Solche Menschen existierten. Ihre Reaktion war normal und verflog, sobald sie auseinandergingen. »Kennst du weitere Hintergrundinformationen?«, fragte Nami unverblümt. Noch in der gleichen Sekunde wollte sie sich auf die Zunge beißen oder sich verfluchen. Hin und wieder wäre es klüger, erst zu überlegen und dann zu sprechen, dachte sie. Genauso konnte sie nicht nachvollziehen, warum ihre Gedanken so unruhig waren. Eine simple Frage, mehr hatte sie nicht getan und warum ging sie von einer positiven Antwort aus? Denn selbst, wenn sie welche hätte, würde es in einem angenehmen, unbeschwerten Gespräch enden. Ein nettes kleines Highlight auf ihrer Reise. Die Frau entfernte sich ein Stück und in diesem Moment nahm sich Nami die Zeit, die Umgebung zu betrachten. Sie atmete tief ein und aus. Als sie nach Edinburgh gereist war, hatte sie keine bestimmten Erwartungen gehegt. Sie hatte sich vorgenommen, die Stadt zu erkunden, abends in einem charmanten Restaurant zu essen und vielleicht in den gemütlichen Pubs den Tag ausklingen lassen. Aber das hier? Gerade erkannte sie sich selbst nicht. »Ich denke«, wurde sie aus den Gedanken geholt, »ich kann dir als Guide aushelfen. Ich sehe auch schon das Passende.« Die Frau setzte ihren eleganten Schritt in Bewegung, und Nami konnte nicht anders, als ihr verträumt nachzusehen. Ihr Gang hatte etwas Anmutiges, fast schon tänzerisch. Das weiche Licht des Museums strich sanft über ihre Konturen und ließ sie wie ein Gemälde aus einer anderen Zeit erscheinen. Ihr langes Haar, das leicht flatterte, verlieh ihrer Erscheinung eine verführerische Aura. Neue Reihenfolge. Erst der Schlag, dann die Dusche, dann die Drinks. Gehen. Nami wusste, dass sie gehen musste. Der beste Ausweg aus der verzwickten Situation, ihrer unbekannten, verstörenden Gefühlsduselei. Stattdessen war das Bleiben die Antwort. Sie wollte die Erzählungen hören. Bevor sie der Frau aber folgte, schob sich eine neue Frage in den Vordergrund, die ihr rascher als ihr lieb war, unaufhörlich auf der Zunge brannte. »Hat mein Guide einen Namen?« Nami gab der Neugierde nach. Ein Name war ein Name, und wenn sie vorhatte, die verbleibenden Ausstellungsstücke mit dieser Frau zu erkunden, wollte sie zumindest wissen, mit wem sie die Zeit verbrachte. Nach einigen Schritten hielt die andere inne. Sie wandte sich ihr mit einer anmutigen Bewegung über die Schulter hinweg entgegen und warf ihr einen Blick zu, der einladend und verführerisch war. Ihre Augen schienen ein Geheimnis zu bergen, das nur darauf wartete, entdeckt zu werden, und die Art, wie sie lächelte, bestärkte das Gefühl von Neugier. »Bell. Gertrude Bell.« Nami hatte sich auf alle möglichen Namen vorbereitet, nur nicht auf den, und so blieb sie überrascht stehen. Die Verwirrung dauerte nicht lange, und während sie die Sekunden überbrückte in denen sie verstand, war es sie, die sich bemühte, ein herzliches Lachen zu unterdrücken. Ein falscher Name. Ein Spiel, das Nami selbst zu spielen vermochte. »Okay, Gertrude. Der Tod steht dir.« Da war er, der eine alles verändernde Moment, in dem Nami den größten Fehler begann. Wäre sie nie auf den Scherz eingegangen, hätte sie den Besuch abgebrochen oder allein fortgesetzt, wären all die nächsten Schritte nie geschehen. Das Leben wäre geplant verlaufen, ganz nach ihren Wünschen. Keine Komplikationen. Keine Gefühlschaos, aber ohne die gemeinsame Zukunft. Hier war der letzte Punkt, an dem sie nur zwei Fremde waren, die ein Gespräch miteinander führten, das war er: ihr point of no return. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)