Black Hole Sun von Dels ================================================================================ Kapitel 10: [ My own worst enemy ] ---------------------------------- Kalter Schweiss tropft von meinem Kinn und mein Atem stockt. Mein Herz hämmert zum Zerreissen und mein Kopf ist so wirr und vollgestopft, dass sich die Gedanken gegenseitig behindern. Ich sitze im Bad. Auf dem Rand der Badewanne und starre das Waschbecken an. Meine Brust schmerzt schon vom harten Schlagen meines total durchgedrehten Herzmuskels. Ein Traum? Einbildung? Illusion? Ich wage nicht, neben mich zu sehen. Der Junge liegt auf dem Boden in der Ecke. Rührt sich nicht. Beginnt dieser Alptraum von vorn? Ich will es doch garnicht sehen! Dieses Gesicht, dieses tote Gesicht hat sich eingebrannt in meinen Kopf, alle drei Male! Ich sehe Blut. Auf dem ganzen Boden. Nein.. nein, nicht noch einmal!! Lass diesen Alptraum nicht wahr werden! Meine Hand zittert so stark, dass ich aufpassen muss, dass der Arm nicht einknickt, auf dem ich mich abstütze. Vorsichtig beuge ich mich weiter hinüber, die Augen aufgerissen, Panik, dass sich dieses grauenhafte Szenario noch einmal wiederholt. Mühsam unterdrücke ich die aufkeimende Übelkeit, als ich Blut sehe. Aber nicht so viel wie in meinem Traum. Die Haare bewegen sich! Wie hypnotisiert starre ich auf die Haare, die leicht erzittern, angestossen durch den Atemhauch, der durch die blassen Lippen nach aussen dringt. Er atmet. Er lebt! Falls es einen Gott gibt, ist er sich jetzt meines tiefsten Dankes sicher. Noch immer zittern meine Glieder, das jedoch bei den hektischen Bewegungen kaum noch auffällt. Gar nicht schnell genug kann ich mich zu dem Jungen knien, ihn auf den Rücken rollen und die Platzwunde am Haaransatz begutachten. Scheint nicht ernst zu sein, sicher ist der Junge durch die Schläge bewusstlos geworden, nicht durch die Wunde. Ich bin so erleichtert wie selten in meinem Leben. Ich habe nicht getötet. Der Junge lebt. Trotzdem macht sich ein schlechtes Gewissen in mir breit. Der Junge atmet flach und kaum merklich, der zierliche, schneeweisse Körper weist schon ziemlich üble Prellungen auf und die Haaren sind vom Blut ganz verklebt. Die Rechtfertigung, dass er mich umbringen wollte, verliert mehr und mehr an Überzeugungskraft, je länger ich mir dieses bemitleidenswerte Geschöpf ansehe. Die Frage nach dem Warum lässt sich jetzt auch schneller beantworten. Der Hass und die Wut auf mich lässt sich nur dadurch erklären, dass er mich für den Tod seines Bruders verantwortlich macht. Vielleicht hat er uns beobachtet, als wir zu seinem Zwilling gegangen waren, Elena, der Professor, Sladis und ich. Kein Wunder sieht er in mir den Mörder seines Bruders. Das Problem ist nur, dass ich ihm in keinster Weise erklären kann, dass es nicht meine Schuld war. Überhaupt.. die Sache mit Elena und dem erschossenen Jungen hat jetzt einen ganz neuen Aspekt bekommen. Ich habe schliesslich den Jungen gesehen, der lächelnd in den Lauf von Elenas Pistole gesehen hat und auch Elena, die nicht Herr ihrer Bewegungen zu sein schien. Kann das sein, dass der Junge sich absichtlich erschiessen lassen wollte? Selbstmord? Hat er Elena so manipuliert, dass sie ihn gegen ihren Willen erschoss? Vielleicht sah der Junge es als eine Chance, sein klägliches Leben in Gefangenschaft zu beenden. Vielleicht die einzige Chance, die er gehabt hatte. Anders als sein Bruder. Er war weggelaufen. Er wollte leben. Und diesem Leben hätte ich beinahe ein Ende gesetzt. Mir fällt auf, dass mein Zorn und die Wut von vorhin verschwunden ist bis auf den kleinsten Rest. Zurück bleibt - Sorge. Und ein ultraschlechtes Gewissen. Schnell ist der kleine Albino vom Boden ins Bett im Schlafzimmer transportiert. Krankenschwester spielen war noch nie meine Stärke. Ich erinnere mich, als Angie mal mit einer Grippe im Bett lag. Sie musste mir alles vorkauen, was ich ihr machen sollte.. sooo.. Tee kochen, Grippetabletten besorgen, Taschentücher bereitlegen.. und so'n Kram. Aber Angie ist nicht da und so sagt mir jetzt keiner, was ich machen muss, um einen bewusstlosen, am Kopf blutenden Albino wieder gesund zu kriegen. Na schön. Denken wir nur an die vielen Ärzte-Serien im Fernsehen. Die werden spielend mit Jungs fertig, die den halben Körper weggeschossen bekommen haben und bluten wie ein Schwein. Da werde ich doch mit dieser.. kleinen.. klebrigen.. ach Gott, ist das ekelhaft.. Die ganzen Haare kleben schon an der Wunde fest und alles ist rot und.. brrr! Ich weiss schon, wieso ich Chemie studiere und nicht Medizin! Mein Innerstes weigert sich ja schon, dieses offensichtliche Mini-Wündchen anzuschauen und anfassen soll ich das auch noch.. Aber was tut man nicht alles, um ein schlechtes Gewissen zu besänftigen? Erstmal muss dieses ganze Blut weg. Also ab ins Bad, Handtuch nassmachen, ins Schlafzimmer. Mit Fingerspitzen das Handtuch auf die Wunde tupfen und ganz langsam löst sich das Rot vom Kopf und mit ihm die Ekelhaftigkeit. Ist eigentlich nur ein ganz kleiner Schnitt, der diese ganze Sauerei produziert hat - zum Glück! Jetzt noch die Haare ein bisschen abwischen und so schlimm sieht es nun gar nicht mehr aus. Jetzt bräuchte ich nur ein grosses Pflaster, das ich natürlich nirgends finde. Die Wunde blutet zwar nicht mehr, aber zumindest hab ich Ahnung von Keimen und Bakterien, die sich in frischen Wunden nur zu gerne einnisten und ne hübsche Entzündung austüfteln können. Also behelfen wir uns mit einem hoffentlich sauberen Taschentuch Marke TaTü aus meiner Hosentasche und einem Stoffstreifen, den wir kurzerhand aus einer der grauenhaft altmodischen Vorhänge reissen. Dieses Konstrukt nur noch um den Kopf gewickelt und fertig ist der 1A-Kopfverband. Wäre die Lage nicht so prekär, hätte ich sicherlich lachen müssen. Der Junge sieht aus wie eine erbleichte Vorzeit-Squaw mit hoffnungslos modeunbewußtem Kopfband. Aber es erfüllt seinen Zweck und aus diesem Grund bin ich auch ungeheuer stolz auf meine Improvisationsgabe. Etwas mulmig wird mir allerdings wieder, als sich der Junge regt. Was heisst regen, er versucht sich zu bewegen und bricht jeglichen Versuch mit einem Stöhnen ab. Sofort schnellt mir ein Gedanke in den Kopf - hat er sich womöglich bei dem Sturz was gebrochen? Eine Rippe vielleicht, oder er könnte sich was verrenkt haben. Hm. Schon scheisse, wann man sich nicht mal verständigen kann, um zu fragen, ob und wo's wehtut. Der Kleine blinzelt vorsichtig und ich schwöre, ich war noch nie so froh, diese roten Augen zu sehen. Ist immer wieder befremdlich. Als ob man ein Foto betrachtet, auf dem der "Anti-Rote-Augen-Blitz" jämmerlich versagt hat. Aber irgendwas sagt mir, dass ich mich womöglich selbst daran gewöhne. Im Moment ist es fast eine Erleichterung. Aber auch nur fast. Sofort wallt mir eine Welle purer Angst entgegen. "Äh.. hej.." Mein kumpelhafter Gruss scheint den Kleinen nicht viel zu jucken. Wo vorhin blanker Hass gewesen ist, sitzt jetzt nur noch Furcht ohne Ende. Natürlich will er sofort von mir wegrutschen weil er weiss, was ich gemacht habe, aber wenn ich schonmal Anwandlungen von Freundlichkeit habe, dann sollen die gefälligst nicht ignoriert werden. Also halte ich den Kleinen bei den Armen fest und drücke ihn vorsichtig, aber bestimmt wieder auf die Matratze. "Jetzt hör mal zu! Ich weiss ich hab dich vorhin schon das zweite Mal k.o. geschlagen, aber dazu hatte ich auch meinen Grund! Zweitens,... jaja, es tut mir leid, auch wenn du mich nicht verstehst, aber den Verband solltest du wohl schon bemerkt haben. Ja, das war nämlich ich, weil ich mir Sorgen mache, kapiert? Also. Wenn ich dir Böses wollte, hätte ich dich kaum behandelt!" Naja, von behandeln kann wohl kaum die Rede sein, aber wenigstens ist der Junge nicht mehr so wild drauf irgendwo hinzurutschen. Mit hochgezogener Augenbraue lasse ich laaangsam die Arme los und er bleibt tatsächlich liegen. Obwohl er noch zu überlegen scheint, ob er nicht doch Reissaus nehmen soll. Aber diesmal ist wohl die Vernunft stärker und er beobachtet mich nur. "Du verstehst kein Wort, oder?" Der verständnislose Blick sagt alles. Seufzend fahre ich mir durch die Haare und überlege, wie ich den Kleinen etwas besänftigen könnte. Schliesslich fällt mir wohl die klischeehafteste Idee überhaupt ein. Stammt aus der ersten Tarzan-Verfilmung. Mit einer überdeutlichen Geste zeige ich auf mich und formuliere langsam und deutlich: "Klement Richter! Kleeeement Richter!" Hat er das jetzt verstanden? So weltfremd kann ja schliesslich keiner sein. "Alles klar? Ich - Klement!" So, und nun ist er an der Reihe. Unschlüssig sieht er mich an und spricht ganz leise. "Kle..ment" Na Bravo! Wenigstens das ist jetzt klar. "Ja, der Klement. Und wie heisst du?" Was dann kommt, verstehe ich nicht. Er hört sich an wie eine Mischung aus Gurren und Seufzen. Das ist doch kein Russisch, oder? Meine Verständnislosigkeit muss man mir wahrlich ansehen, denn der Junge fuschelt plötzlich mir seinen Armen herum. Argwöhnisch betrachte ich die Finger, wer weiss, ob er damit irgendwas beschwören kann oder so. In Sachen Aberglauben hab ich meinen gesamten Atheismus über Bord geworfen angesichts dieser Ereignisse. Aber nichts passiert, er zeigt mir eine gespreizte Hand und einen Daumen. Sechs Finger. Hä? Es dämmert mir. Dieses Killerwiesel hat auch irgendwas von Zahlen gesagt, die auf der Flucht sind. "Six" sage ich und der Junge nickt. "Du heisst Six? Haben die euch keine normalen Namen gegeben?" Okay, es gibt auch verrückte Eltern, die ihre armen Kinder Sky, London oder Gotthilf benennen. Aber ne Zahl? Six. Man übersetze das nur ins Deutsche. Man kann einem Kind doch nicht zumuten, als personifizierte körperliche Liebe durch die Gegend zu laufen. "Okay, Six. Du brauchst nen neuen Namen. Erstens suchen die russischen Jungs dich unter dem einfallslosen Namen Süüüx und zweitens, nimm's mir nicht übel, aber er ist scheisse. Deine Erzeuger waren wohl nicht sehr kreativ." Natürlich versteht Six kein Wort aber er schaut aufmerksam, weil er den Klang seines Namens kennt. "Lass mal sehen. Wie könnten wir dich nennen.." Das ist wie als ob man seinem neuen Haustier einen Namen gibt. Ohne Frage, es macht Spass. "Ich hab's! Pass auf! Six - also Sechs auf Deutsch. Der sechste Monat im Jahr ist der Juni. Und weil man im Deutschen Juni und Juli gern verwechselt, sagt man zu Juni "Juno" und zu Juli "Julei"! Na jetzt? Wie findest du Juno? Weil!" Ich bin ja so stolz! "Juno hört auch sich ziemlich asiatisch an, findest du nicht? Ha! Das passt doch perfekt! Weil die doch auch so helle Haut haben, da fällt das garnicht auf. Dann färben wir deine Haare noch schwarz. Und abschneiden müssen wir die auch auf jeden Fall, das ist viel zu auffällig mit der langen Mähne. Und da du sowieso ein hübsches Gesicht hast und eh nur Mädchenkleidung hier ist, ist die Tarnung doch perfekt? Ha! Die Russen jagen einen männlichen Albino und kein asiatisches Mädchen. Na, ist das nicht genial?" Okay, er hat wieder nichts verstanden. Aber das macht nichts, mein Plan steht fest. "Nun schau her. Klement!" Geste auf mich. Er wiederholt brav. "So und du bist: Juno!" Er guckt etwas unverständich. "Du! Juno!" Zögernd nickt er und sagt es nach. Als ob man einem Kind sprechen beibringt. "Nochmal. Wer ist das hier?" Ohne Zögern folgt ein "Klement". So ist es recht. "Und das?" Diesmal guckt er eine Weile und sagt dann vorsichtig: "Ju..no.." Na bitte, geht doch. Mein Haustier hat einen neuen Namen. Mein Haustier schläft. Ich habe zwar versucht, ihm noch ein paar Worte beizubringen, aber es hat ihn sehr angestrengt und irgendwann ist er einfach eingeschlafen. Schon komisch. Wir beide waren bis vor ein paar Stunden noch Todfeinde und jetzt liegen wir friedlich nebeneinander auf einem fremden Bett und keiner hegt mehr Mordpläne gegen den anderen. Zumindest hoffe ich das. Aber der Junge hat nicht so ausgesehen, als ob er mir wieder an die Kehle wollte. Vielleicht wird er jetzt ein bisschen weniger scheu, wenn er meinen Namen kennt. Und einen neuen Namen hat er jetzt. Eine tolle Idee von mir. Sicher mag er seinen alten Namen auch nicht besonders, ich könnte mir vorstellen, dass er bei dem Namen immer nur an das Killerwiesel denken muss. Brrr. Ich will garnicht wissen, was diese Typen noch alles verbrochen haben. Wer Kindern Namen nach Zahlen gibt, der schreckt auch vor Schlimmerem nicht zurück. Dabei sieht er wirklich so friedlich aus wenn er schläft. Irgendwie niedlich. Ausser der Verband, der ist geradezu lächerlich und ich muss jedes Mal grinsen, wenn ich mir den Kopf angucke. Aber wenn's hilft.. Nicht lange und meine Knochen und vor allem mein Geist schreit ebenfalls nach Ruhe und mit einem letzten Blick nach rechts wage ich auch die Augen zu schliessen. Hach herrlich.. Schlaf.. wie sehr habe ich das gebraucht. Morgen ist sicher alles wieder in Ordnung. Vielleicht wache ich ja im Flugzeug auf und stelle fest, dass das alles nur ein böser Traum war und wir grade auf dem Weg zu einer langweiligen Geburtstagsparty sind. Die kalte Decke wärmt sich langsam und alles entspannt sich, erschöpft verabschiedet sich mein Denken für die nächsten 12 Stunden. Oder so. * * * * * * * * Es ist Morgen. Nein, Mittag. Ach egal. Es ist schön, warm und kuschelig, äusserst angenehm und ich habe absolut keine Lust, jetzt aufzuwachen. Das Bett ist viel zu gemütlich, nur die Haare kitzeln ununterbrochen und... moment. Welche Haare? Schwerfällig hebt sich eins meiner Augenlider und bei dem Anblick, der sich da bietet, bleibt fast mein armes Studentenherz stehen. Das ist nicht mein Bett. Das ist nicht mein Haus. Das ist nicht Angie, was da unverschämt eingekuschelt vor meiner Nase schläft. Mit einem Ruck bin ich in der Senkrechten und auch genausoschnell hellwach. Ach du scheisse. Doch kein Traum. Langsam sickert die ganze Geschichte wieder ins Gedächtnis zurück und der Kleine, der immer noch selig schlummert ist mir keine Hilfe bei dem Versuch, alles als Traum abzutun. Revidieren wir mal kurz die letzten Stunden: Nach Russland geflogen. Hinter Moskau mit getarnter Spionin in ein Geheimlabor eingebrochen. Dessen Zerstörung überlebt und Albino gefunden. Albino mitgenommen, von ihm fast zum Selbstmord überredet worden, Albino fast umgebracht und ihm dann einen Namen gegeben. Eingeschlafen. Stopp. Soweit die Tatsachen. Das! Ist! Doch! Wahnsinn!!! Was mache ich hier, zum Teufel?! Hatte ich nicht schon zigmal erwähnt, dass ich nicht James Bond bin und keinen Wert auf so unglaubliche Abenteuer lege?! Jetzt brauche ich erstmal ne kalte Dusche... Im Bad glotzen mir immernoch die Spuren des gestrigen Kampfes entgegen. Brrr.. ich hasse Blut! Aber bevor wir verschwinden, sollte ich es dennoch wegwischen. Muss ja keiner wissen, dass wir hier waren. Nachdem rotbraunes Wasser im Ausguss verschwunden ist und nach einer halben Ewigkeit das eiskalte Wasser etwas klarer geworden ist, stelle ich mich furchtlos darunter.. wenigstens für ein paar Sekunden. Der Plan von hier zu fliehen hat wieder Formen angenommen. Sobald wir etwas zu essen gefunden haben, verschwinden wir von hier und versuchen zur Stadt zu kommen. Von dort aus weiter mit dem Bus oder so. Oder mit der Bahn. Meine finanzielle Situation ist leider auch nicht so grossartig, aber für zwei Tickets und Verpflegung reicht es allemal. Und dann... wohin? Das ist eine gute Frage. Vorerst ist das "wovon-weg" vielleicht wichtiger, aber wenn wir jetzt anfangen wegzulaufen, sollten wir auch ein Ziel haben. Was soll ich mit dem Jungen machen? Inzwischen ist selbst mir klar, dass der Kleine erstens total überlebensunfähig ist und zweitens innerhalb kürzester Zeit wieder von den Kerlen aufgegriffen wird. Ich habe genug Kriminalfilme gesehen, ich kann mir vorstellen, dass dieser Sladis nicht alleiniger Drahtzieher war. Und wenn der Junge wirklich so wertvoll für sie ist... Wer weiss, vielleicht bringe ich mich in Teufels Küche, wenn ich mit dem Jungen zusammenbleibe. Was heisst vielleicht, das ist sogar höchst wahrscheinlich. Und wieso sollte ich mein Leben aufs Spiel setzen für einen unbekannten Jungen, der eigentlich nichts als Ärger bringt? Wieso? Ganz einfach. Ich bin zu weich. Jetzt, da ich ihm sogar einen Namen gegeben habe, kann ich ihn unmöglich irgendwo sitzenlassen und sagen: "Schau, wie du zurechtkommst!" Das geht ja nicht. Für ein Haustier ist man schliesslich auch verantwortlich und muss sich darum kümmern. Ich weiss nicht, was ich dauernd mit Haustieren habe, aber mein Entschluss, den Jungen hier rauszubringen ist somit sicher. Schlotternd versuche ich meine eisigen Glieder wieder warmzurubbeln, als ich eine Bewegung in der Tür merke und aufblicke. Albino steht am Bad und glotzt mich an, als wäre ich ein Alien. "Klement" sagt er und guckt jetzt an sich selber herunter. "Ju-no.." Komischer Kerl. "Noch nie nen nackten Mann gesehen?" lache ich, aber er guckt immer noch wie ein Auto. "Ja, da guckste, was? Drunter sehen alle gleich aus. Naja fast!" Aber der Kleine scheint wirklich wie vor den Kopf gestossen und plötzlich wie aus dem Nichts fängt er an zu grinsen, als wäre etwas unheimlich schönes passiert. "Klement!" sagt er wieder und lacht mich an. "Juno!" Nein, wie niedlich. Wie ein Baby, wirklich! "Ja genau! Klement sieht ohne Kleider aus wie Juno! Ist das nicht toll?" Und toll findet er das wohl wirklich. Ohne Vorwarnung läuft er los und klammert sich an mir fest, interessiert sich nicht dafür, dass ich noch klatschnass bin. Äh. Hallo? "Äh.. Äääh, Juno.. also.. kannst du das bitte lassen? Ich versteh ja, wenn du dich freust.. naja, eigentlich verstehe ich das nicht, aber..hey!" Das ist, als ob man gegen eine Wand spricht. Immernoch hängt der Klammeraffe an meiner Taille und brabbelt unverständliches Zeug, scheint fast ausser sich vor Glück zu sein. Herrje. Der wird doch nicht vom anderen Ufer sein?! "Also.. Juno.. JUNO!" sage ich streng und tatsächlich er hört auf seinen neuen Namen und guckt an mir hoch, lächelt noch immer und ist das das Wasser, oder heult der jetzt? Jedenfalls sieht er sehr glücklich aus, das bringt mich etwas aus dem Konzept. Aber ich muss mich in den Jungen versetzen. Sicher hat er noch nie einen nackten Menschen gesehen ausser sich selbst und seinen Bruder. Aha. Vielleicht denkt er jetzt, ich bin einer von ihnen. Jesus, so ein unschuldiges Kind gibt es wohl in ganz Europa nicht mehr. Vorsichtig mache ich seine Arme von mir los und gehe in die Hocke. Er will mich gar nicht mehr loslassen und klammert sich jetzt stattdessen an meine Arme. "Also Juno!" beginne ich und er schaut mir wirklich ins Gesicht. Jeeesus, wie goldig! Als würde er in mir einen Berg Eiscreme sehen. "Ich weiss du verstehst mich nicht, aber ich sehe, dass du dich freust. Jaja, Klement ist wie Juno.." Juno kiekst. "..äh.. aber ja.. also du bist ein Mann und ich bin ein Mann!" Wie erklärt man denn sowas? Wie soll man einem völlig weltfremden Russen den Unterschied der Geschlechter erklären bitte? "Ist ja schön, wenn du dich freust, aber weißt du, du kannst nicht gleich jeden Mann umarmen, der nackt ist.. äh.. die würden das sicherlich falsch verstehen. Ich kapier's ja, dass du dich freust, dass wir alle gleich sind, aber.. du hörst mir nicht zu, oder?" Seufzend lasse ich eben das Gegrabbsche über mich ergehen. Juno ist wie ein kleines Kind, da kann man beim besten Willen nichts Anstössiges finden. Und irgendwann hat er auch genug, zum Glück ohne vorher meine besten Stücke auch noch betatscht zu haben, weil das ginge mir dann doch zu weit. Aber er ist brav und lässt die Finger von mir, lächelt aber immernoch überglücklich. Wobei ein Vergleich von seiner Statur zu meiner schon ein himmelweiter Unterschied ist, grade mal am Rande bemerkt. Aber egal, wenn er schonmal da ist, kann ich ihn auch gleich unter die Dusche stellen. Zum Glück ist niemand im näheren Umkreis, der hätte das Kreischen sicherlich gehört. Zugegeben, das Wasser ist nun mal eiskalt, aber noch lange kein Grund, so ein Theater zu machen. Juno jammert wie ein getretener Hund und versucht aus der Dusche zu springen, aber da bin ich unerbittlich. Bitte, wenn er so sein will wie ich, dann soll er auch mal kalt duschen. Wenig später steht ein tropfendes, zitterndes und wimmerndes Opferlämmchen im Bad und lässt sich trockenrubbeln. Das Haar nervt. Das kommt jetzt runter. Ins Handtuch eingepackt setze ich ihn auf der Toilette ab und klappe aus Ermangelung einer Schere das Rasiermesser auf. "Wie kurz soll ich sie machen?" Keine Ahnung, ich bin ja kein Frisör. Aber nicht zu kurz, schliesslich soll er ja zumindest für eine Weile ein Mädchen spielen. Ich entscheide mich also für knapp brustlang und beginne mit dem Schneiden. Juno murrt ab und zu, wenn das Messer in den Haaren ziept, lässt die Prozedur aber sonst anstandslos über sich ergehen. Aber ich glaube mit meiner Nacktheit habe ich mir in kürzester Zeit jede Menge Vertrauen ergaunert und er hätte sicherlich auch nichts dagegen gehabt, hätte ich ihn langsam seziert. Das Ergebnis meiner coiffeuristischen Meisterleistung ist ... man könnte es sicher irgendwie irgendwo in der Welt als "modisch" beschreiben. Die Strähnen sind ausnahmslos unterschiedlich lang und auf der einen Seite habe ich mich ganz verschätzt, weil ich einen Pony machen wollte, der mir dann aber doch zu schwierig war. Aber im Grossen und Ganzen könnte man auch behaupten, dass sich ein Pariser Starfriseur gerade hier verwirklicht hat. In welche Richtung auch immer. Aber zumindest ist mal das primäre Ziel erreicht. Und das nächste folgt sogleich. Die nächsten Minuten werden der grösste Spass. Ich hab ja meine alten Kleider noch, obwohl ich mir auch demnächst etwas neues kaufen sollte. Aber für Juno steht eine wahre Boutique bereit. Zwar alles etwas einfältig und rustikal - Angie hätte die Hände über den Kopf geschlagen und sofort Amnesty International gerufen - aber es sind Mädchenkleider und sie passen Juno wie angegossen. Vieles ist aber viel zu bäuerlich, zu sommerlich oder schlicht und einfach zu hässlich. Mir macht es einen Heidenspass, Juno in jedes Kleid, das halbwegs akzeptabel ist, reinzustecken und ihn zu begutachten. Er scheint jetzt auch zu verstehen, dass er etwas zum Anziehen bekommt und freut sich noch mehr, weil ich ja auch etwas anhabe und er mir wieder ein bisschen ähnlicher wird. Naja... im weitesten Sinn. "Was hältst du davon?" Passt perfekt. Dunkler, schwerer Stoff, der schön warm geben könnte. Relativ neutral, sieht bei näherem Hinschauen fast wie ein Trauerkleid für Beerdigungen aus. Aber wen kümmert's. Sogar passende Stiefel sind da. Auch die passen wie durch ein Wunder. Aber jetzt gehen die Probleme los. Kaum lasse ich Juno allein stehen, kippt er zur Seite, ich halte ihn, aber mit dem schmalen Absatz kommt er einfach nicht zurecht. Klar, sind ja auch Weiberstiefel. "Tut mir leid, sonst sind nur die hier.." Ein verdrecktes Paar Ackerstiefel. No chance. "Dann lern halt Laufen in den Dingern" Während Juno durch die Zimmer geht, beziehungsweise stochert, mache ich mich mal auf die Suche nach etwas zu Beissen. Mein Magen hängt nämlich inzwischen wirklich in den Kniekehlen und der Kleine kann sicher auch was vertragen. Die Küche ist nicht wirklich ergiebig, ausser vermodertem Gemüse, das augenscheinlich schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, gibt es hier nur irgendwelche Kochutensilien, vergammelte Nudelschachteln und sonstiges, ungeniessbares Zeug. Aber daneben in der Abstellkammer! Jauchzet und frohlocket - Dosenfutter! Und zwar in dicken, nichtssagenden Blechdosen, die noch nach zweitem Weltkrieg aussehen, aber vielleicht ist trotzdem noch was geniessbar. Dann selbstgemachte Marmelade! Mir geht fast das Auge über. Ein herrliches Pflaumenmus in Omas Einmachglas und ganz ohne Alterserscheinungen. Was will man mehr? Kurzerhand schleppe ich das ganze Zeug auf den Esstisch und finde sogar noch einen Dosenöffner. Allerdings scheint er für diese Art von Dosen nicht gemacht zu sein, es dauert bestimmt fünf Minuten und eine Tonne bösartigster Flüche, bis die Dose vollständig auf ist. Der Inhalt sieht vielversprechend aus. Irgendein Fisch in Tomatensosse. Davon reichlich. Dazu serviert man eingelegte Gurken. Pökelfleisch. Blutwurst. Bierwurst. Eine Flasche Wein. Mahlzeit. Verständlicherweise ist Juno skeptisch, was unsere Essenszusammenstellung betrifft, aber mehr bietet sich leider nicht an. Ha! Die Jungs von der Bundeswehr wären sicher froh um so eine Tagesration. Ausserdem ist das meiste wirklich in gutem Zustand und ich denke, dass ich sogar eine kleine Magenverstimmung in Kauf nehmen würde, um endlich satt zu werden. Und so schlecht ist es garnicht. Juno hat grossen Gefallen an den Gurken und dem Fisch gefunden, es scheint ihm sogar sehr gut zu schmecken. Nur das mit dem Wein hab ich mal aussen vor gelassen, immerhin haben wir heute noch viel vor. Schon ein seltsamer Anblick da vor mir. Ein schneeweisses Wesen in einem dunkelblauen Kleid, das mit roten Fingern unbeholfen in einer Fischdose stochert. Wie Schneewittchen. Höhö. Das Wetter ist klar und klirrend kalt. Vom vielen Regen ist der Boden matschig und aufgeweicht aber immerhin ist die Luft trocken. Ich hab mir doch keine Mühe gemacht, alles wieder aufzuräumen und Spuren zu beseitigen. Es hätte zu viel Zeit gekostet und wahrscheinlich hätte es sowieso nichts gebracht. Irgend jemand wusste bestimmt von dem geheimen Gang und früher oder später würden sie hier alles durchkämmen und auf den Kopf stellen, wenn auch nur rein aus Prinzip. Alle Möglichkeiten mussten ausgeschöpft werden. Aber bis dahin sind wir hoffentlich schon über alle Berge. "Juno?" Der arme Kerl hat immernoch Probleme mit dem Gehen, aber langsam scheint er sich an die Tussitreter zu gewöhnen. Er sieht aus wie eine beschwipste kleine Prinzessin, wie er so rumwackelt. "Komm her!" So kann er sich wenigstens an meinem Anorak festhalten und wir kommen schneller voran. Ich habe nämlich die Befürchtung, dass wir ein ganzes Stück laufen müssen, bevor wir auf die nächste befahrene Strasse treffen, denn hier scheint seit Ewigkeiten kein Auto mehr unterwegs gewesen zu sein, so verlassen und öde.. "Was ist denn jetzt?" Juno ist stehengeblieben und fummelt an dem improvisierten Verband herum, der ihm fast über die Augen gerutscht ist. "Warte, lass mich.." Das gibt's doch nicht. Der Schnitt ist weg. Nur ein kleiner Strich erinnert noch an den Unfall. Jetzt fällt mir auch ein, dass Juno heute morgen im Bad ausgesehen hat wie sonst. Aber das ist ja das Problem. Er hätte über und über mit blauen Flecken übersät sein müssen. Aber die Haut ist weiss und blütenrein, ausser ein paar leichten Narben, die jedoch auch jedesmal blasser geworden waren, wenn er ihn angesehen hatte. Wow. Juno war anscheinend so ein Zeitraffer-Regenerations-Viech. Der hat es ja gut. Der braucht sich keine Gedanken machen, wenn er sich mal das Bein bricht. Was in den Stiefeln allerdings auch garnicht so abwegig ist. Mit dem gräusslichen Vorhangsstoff binde ihm ihm schnell die Haare zusammen und stülpe ihm die Kapuze über, denn der Wind ist heftig und ekelhaft kalt noch dazu. Juno scheint aber nicht zu frieren, obwohl der kurze Mantel ziemlich dünn ist. Eine Hand ist noch immer in meinen Arm geklammert, damit er nicht stürzt und langsam färbt sich das weisse Gesicht ein bisschen rötlich, zumindest die Nasenspitze und die Backen. Kann mir grade noch verkneifen, ihn zu tätscheln, aber der Drang dazu ist schon da, wie er so aussieht wie ne Porzellanpuppe mit den rosa Bäckchen. Hätte uns jetzt jemand zusammen laufen sehen, hätte er uns sicher für Vater und Töchterchen gehalten. Obwohl Juno schon ein bisschen zu gross und ich noch zu jung wirke. Vielleicht hätte man uns auch für ein Pärchen gehalten? "Klement Richter, was denkst du dir da für einen Mist zusammen?" "Das ist ein Baum. Baum!" Juno wiederholt und deutet auf eine riesige Eiche zu der ich genickt habe. "Genau, ein Baum. Und das hier, das ist eine Straße. Stra-ße!" Der Junge lernt schnell und vergisst nur selten ein neu gelerntes Wort. Jetzt kennt er schon so ziemlich alles, was um uns herum ist, leider ist das nicht viel. Wir sind seit knapp einer Stunde unterwegs und noch immer ist keine belebtere Strasse in Sicht. Juno kann jetzt schon viel besser laufen, hat sich aber geweigert, meinen Arm loszulassen. Naja, für ihn ist das "Draussen" schon unheimlich aufregend. Er kann sich garnicht sattsehen und deutet immer wieder ungläubig in die Ferne oder an den Himmel. Als er Vogelgezwitscher hört und das dazugehörige Tier entdeckt, ist er vollends aus dem Häuschen. "Nein, Juno! Ich werde jetzt sicher nicht anfangen, Vögeln nachzujagen. Warte.." Ich pfeiffe ihm ein paar Töne und schon ist seine Aufmerksamkeit wieder bei mir. Bis er einen Hasen entdeckt, der eilig übers Feld hoppelt. Ja, über Felder und nichts als Felder. Äcker und Wiesen mit zig Feldwegen, sonst kein Anzeichen von menschlicher Natur. Keine Autos, keine Häuser. Nicht einmal Telefonmasten. Wie öde... "Klement! Klement!" Immer wieder will Juno etwas wissen, deutet auf Schnecken und Blumen, Spitzmäuse und Pfützen. Eigentlich traurig, was ich hier zu sehen kriege. Der Junge war noch nie, noch nie, das muss man sich mal vorstellen, in freier Natur! Keine Pflanzen, keinen Himmel, keine Tiere. Nichtmal ne Pfütze. Vor Begeisterung sind seine Wangen jetzt so rot wie kleine Äpfel und er kriegt garnicht genug von seinem "Baum, Baum! Wolke! Schnäckä!" Und die Ferne. Selbst mir wird bewusst, wie gross die Welt hier draussen ist, wenn man kilometerweit über ebene Fläche sehen kann bis Himmel und Erde sich berühren. Und plötzlich hinter einem Hügel - eine Kreuzung. Rechts oder links? Ich erkläre Juno kurz, was Rechts und was Links ist und er stiert zielstrebig nach links, wo der Weg durch eine kleine Allee führt. "Llinkth!" Was dahinter ist, kann man nicht erkennen. Auf der rechten Seite führt die Strasse weiter ins Nirgendwo der Ackerländer und ich stimme zu, nach links zu gehen. Von Kartoffeln und Schnecken habe ich langsam auch genug. Kaum haben wir das Dunkel der Allee betreten, gleist vor uns ein Licht auf, das mich blendet. Scheinwerfer! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)