Cause I Am A Punk von Ayne (no more, no less) ================================================================================ Kapitel 3: Memories Of Condor ----------------------------- Chapter III: Memories Of Condor ~(Die Rache einer Frau: Barbie-Revolution und ein Mitbringsel für den Mausepuschel)~ Verzweifelt kramte ich in den Tiefen des Nachtschrankes meines Vaters. Wo war es denn abgeblieben? Wo nur? Da ich nicht davon ausging, dass es Beine hatte, müsste es eigentlich immer noch an der Stelle sein, an der ich es das letzte Mal gesehen hatte... oder, oh, Gott!!! Es war doch nicht etwa alle? Nein, das konnte nicht sein... das wäre doch schon... nein, nein, nein. Das läge doch nun wirklich am Rande jeglicher Perversitäten. So ein verdammter Mist! Ohne dieses Zeug würde ich es nicht schaffen! Gerade als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte und die Schublade wieder zuklappen wollte, sprang es mir förmlich entgegen. Jepp! Es ging doch. Man musste nur wollen. Schnell ließ ich es in meiner Jackentasche verschwinden, knallte die Schubladen nun entgültig zu und verschwand so schnell aus dem Zimmer, wie ich hineingehuscht war. Adieu, jetzt musste mein Vater erst mal einige Zeit ohne dieses wertvolle Item auskommen. Auf nimmer Wiedersehen! Denn heute war Schicksalstag. Mein Tag war gekommen, meine Stunde geboren und ich würde diese Gelegenheit sicherlich nicht verstreichen lassen. Auf in den Kampf! Heute war ich zuhause geblieben. Nach der peinlichen Kaffeegeschichte hatte ich keinen Bock, in die schadenfrohen Ekelfratzen meiner Mitschüler zu schauen, die sich schamlos auf meine Kosten amüsierten. Nein, das konnten sie sich sparen. Das Thema würde wohl weiterhin wohl oder übel Pausenfüller für die Tratschtanten und in diesem Falle wohl auch Tratschonkel sein, die die ganze Story so breittreten würden, dass nicht mal mehr eine mikroskopisch kleine Fruchtfliege ihren Stampfattacken entkommen wäre. Tja, aber da ich sowieso nicht da war, ging mir das alles so ziemlich am Arsch vorbei. Sollten sie doch lästern, ich wusste auch so, dass ich genug Feinde hatte. Für die Zicken war ich Konkurrenz, für die Streber Verderben und für die ach so coolen Jungs ein ungelüftetes Geheimnis. Aber damit kam ich klar. Besser eine richtige Freundschaft als zehntausend geheuchelte. Und wieso nett zu Leuten sein, die man nach dem Abschluss sowieso aus seinem Leben verbannt? Aber... genug davon. Schnell stapfte ich in mein Zimmer und sperrte den Kleiderschrank auf. Na ja, eigentlich war es einer von dreien, aber in diesem hier befanden sich die Sachen, die ich heute bevorzugt brauchen würde. Mit spitzen Fingern kramte ich meine unmodischten Plateauschuhe heraus, die bisher das unglaubliche Glück hatten, noch nicht in der Altkleidersammlung gelandet zu sein, denn immerhin waren sie schon älter als ein halbes Jahr. Dazu ein passender pinker Rock und eine rote Strickjacke. Ich drehte mich ein paar Mal im Spiegel. Mann, sah das scheiße aus. Na ja, machte nichts, alles nur Mittel zum Zweck. Und Gott sein Dank besaß ich soviel Selbstvertrauen, mich so auf die Straße zu trauen. In Kampfpose stellte ich mich vor den Spiegel. YEAH! Sekunde, da fehlte doch noch irgendwas. Mit sicherer Hand griff ich in meine Sammlung aus Haargummis. Na ja, der Begriff "Meer" hätte in diesem Falle wohl eher gepasst. Okay, mit sicherer Hand griff ich in das Meer aus Haargummis, das sich in einem Karton mit dem Füllvolumen von einem Kubikmeter befand und fischte zwei quietschorange heraus, an deren Enden sich jeweils ein kleiner Plastikmarinenkäfer und ein Schmetterling befanden. Gottchen, auf welchem Trip hatte ich mich denn befunden, als ich so was mal getragen und auch noch als schön empfunden hatte? Na ja, jeder war mal klein und naiv gewesen, redete ich mir ein und verbannte den Gedanken daran, wie stolz ich diese kitschigen Sachen auf meinem Kopf mit mir herumgeschleppt hatte. Hatte damals eigentlich jeder diesen Trend mitgemacht? Mit einem Lächeln auf den Lippen stellte ich mir vor, wie Gary oder Glen mit diesem Zeugs ausgesehen hätten. Bwuah... bei Glen hätte ich mir das sogar noch vorstellen können, aber bei Gary... Gott sei Dank wurden Jungs meist von solchen Trends verschont. Bei ihnen ging es dann eher um Idiotenkappen, Kampfroboter oder heutzutage halt diese Sieben-Tage-Klosett-Hosen. Halt die, die immer im Schritt baumelten und aussahen, als hätten sie überdimensionale Windeln an. Aber gut. Wenden wir uns doch wieder meiner äußerst originellen Frisur zu. Mittlerweile hatte ich mir die vollkommen verstrubbelten Haare an der Seite zu zwei Zöpfen gebunden. Das Problem war nur, dass ich ja einen relativ kurzen Haarschnitt hatte und meine Haare nur bis zu den Schultern gingen. Ich brauchte noch irgendwas.... Genau! Schnell trampelte ich runter in den Keller und baute von meinen alten, teilweise schon ziemlich zerschrotteten Barbiepferden den Schweif ab. Ein bisschen tat es mir schon im Herzen weh, den armen Viechern den Schweif rauszudrehen, aber... na ja, zur Not frisst der Teufel Fliegen. Mit dem Versprechen, ihnen sicherlich ganz schnell ihr Hinterteil wieder zurückzubringen, nahm ich die Sachen ganz schnell mit nach oben in mein Zimmer und verwurstete sie in meine Zöpfe. Ich hatte extra darauf geachtet, dass die Zöpfe beide Pink waren, sodass ich wenigstens einheitlich chaotisch aussah. Dann natürlich die übergroßen Plastik-Kreolen, in Fachkreisen auch Affenschaukeln genannt, an jeden Finger ein Ring aus dem Kaugummiautomaten und zwei Tonnen Ketten um den Hals. Wo ich die Dinger her hatte, blieb mein Geheimnis. Nach kurzem Überlegen setzte ich noch einen drauf. Ich war einfach nicht an dem grell rosa Lippenstift vorbeigekommen. Und auch der förmlich schreiende Liedschatten ließ nicht lange auf sich warten. Zum Schluss noch ein wenig Glitzer über das Haupt und Voilà! Fertig war mein Meisterwerk. Sah irgendwie aus wie gewollt und nicht gekonnt. Sah aus wie die perfekte Barbie. Na ja, eigentlich noch eine Nummer extremer. Eher wie Shelly. Shelly in ihren schlechtesten Kinderjahren. Aber das sollte ja so. Auf was anderes hatte ich ja gar nicht abgezielt. Ach, und die FINGERNÄGEL!!! Fast hätte ich es vergessen. Die bekamen natürlich auch noch die entsprechende Farbe zu meinem überaus heißem Outfit. Kurz räusperte ich mich. Perfekt! Jetzt nur noch das Handtäschchen, in dem ich das so eben im Nachtschrank meines Vaters erworbene Objekt sorgfältig verstaute und mir über die Schulter hing. Und ab die Post. Als ich schließlich die Treppe herunterwackelte, mich dabei aufgrund der ungewohnt hohen Schuhe mehr als einmal fast auf die Klappe legte, doch schließlich einigermaßen heile unten ankam und mich meiner Mutter präsentierte, erlitt diese den Schock ihres Lebens. Beim Betreten der Küchentürschwelle quollen ihre Augen förmlich aus dem Kopf und beim Ankommen am Tisch kullerten diese bereits über den Boden. War das etwa ihre Tochter? Jepp, das war sie. Zwar nicht "30 über Nacht" (Anlehnung an den gleichnamigen Kinofilm mit Jennifer Garner^^), aber immerhin wieder "10 über Tag". Stolz warf ich meine Zöpfe mit den ehemaligen Pferdeschweifen zurück und blickte sie erwartungsvoll an. Mum wurde blau, schluckte, hustete und schluckte wieder. "Kind? Was ist mit dir geschehen...? Was... wie... wo...? Hab ich da was in Sachen Trend nicht mitbekommen?" Ich kicherte. "Nein Mum, mach dir keine Sorgen. Du brauchst mich weder für vollkommen übergeschnappt zu erklären, noch in eine Anstalt zu stecken. Es reicht vollkommen aus, wenn du mich in die Stadt bringst." Meine Mutter blickte mich immer noch ein bisschen irritiert an, obwohl sie sich eigentlich mittlerweile langsam an die speziellen Ausbrüche ihrer Tochter gewöhnt haben musste. In Slowmotion griff sie zu ihrem Autoschlüssel und erhob sich aus ihrem Stuhl. "Ich warte immer noch auf den Tag, an dem du endlich 18 (und erwachsen) bist, und dich selbst fahren kannst. Aber bis dahin... wird wohl noch eine Weile vergehen. Nur Schade, dass Richard grade jetzt krank ist. Eigentlich müsste ich ja einen Ersatz für ihn finden, so oft wie er in letzter Zeit fehlte, aber... ich hab es ihm ja versprochen... von daher..." Ja, Richard. Unser Chauffeur. Auf ihr war eigentlich immer Verlass, aber in letzter Zeit war er sehr anfällig für Krankheiten jeglicher Art gewesen und deswegen war es oft zu Ausfällen gekommen. Aber ich war mir sicher, dass sich das nach einiger Zeit wieder legen würde. So musste Mum doch selbst zum Schlüssel greifen und mich schnell in die Stadt karren. Denn von Bahnfahren hatte ich wohl für die nächsten Wochen genug! Kühle Luft schlug mir entgegen, als ich die wohlige Wärme unserer schwarzen Limousine verließ und auf die offene Straße hinaustrat. Ich erntete noch ein: "Schatz, bist du dir sicher, dass du das auch wirklich willst?", von meiner Mutter, die immer noch kritisch ein Auge auf meine merkwürdige Kostümierung inklusive Kriegsbemalung geworfen hatte und mich offensichtlich daran hindern wollte, aus dem Auto zu steigen und mich somit zur öffentlichen Belustigung der ganzen Stadt zu machen. Doch watt mutt, datt mutt. Zähne zusammenbeißen, Augen zu und durch, schwor ich mir, als ich hoch erhobenen Hauptes den Bürgersteig betrat und mir elegant den Weg durch die Menschenmasse bahnte. Na ja, so schwer war das ja auch nicht, wenn dir die Hälfte eh auswich, weil sie Angst hatte, bei näherem Hinblicken blind zu werden. Wenn ich in diesem Karnevalsaufzug jemandem ungeplanten begegnen würde, wären meine Tage gezählt, aber das Risiko musste ich eingehen. Ich ließ unzählige suchende Blicke über die Menschenmassen schweifen, die allesamt wie kleine Ameisen ihren Geschäften nachgingen und ihre Einkaufstüten selber schleppten, weil sei keine Kohle für mindestens einen Bediensteten hatten. Arme Schweine. Na ja, aber es war halt nur Auserwählten gegönnt, in eine reiche Familie hineingeboren zu werden. Nach einer halben Stunde des verzweifelten Suchens, schienen sich meine Mühen endlich gelohnt zu haben. Unter einer kleinen Überdachung neben dem Kasino sah ich ihn stehen. Mit seinen sämtlichen angepinselten Freunden. Der eine hatte einen Irokesen-Schnitt und übertraf sogar noch seinen Hahnenkamm, der andere eine nervtötende Töle. Allesamt alles Leute, denen ich selbst bei Tageslicht in Anwesenheit von drei Polizeibeamten nicht für einen Cent über den Weg getraut hätte. Aber das waren ja seine Freunde, nicht meine. Überhaupt. Was ging mich denn sein Freundeskreis an? Diese Ganzkörper-tättowierten Freaks mit ihren Aufschriften "Punk's Not DeAd". Ich meine, die Punks hatten schon recht mit dem, was sie gegen diese "Friede-Freude-Eierkuchen"-Esoterik der Hippies einzuwenden hatten, aber... man braucht ja nicht gleich so zu übertreiben... Er schien mich nicht bemerkt zu haben, was ja in meinem Aufzug schon einem Wunder glich, sondern tauschte weiterhin mit seinen Freunden irgendwelche belanglose Floskeln aus. Ich wartete, bis er mit dem Rücken zu mir stand und wackelte los. Jetzt oder nie! Ein bisschen Herzklopfen hatte ich zu meiner Verwunderung auch. Wie würde er reagieren? Und vor allem: Wie würden seine Freunde reagieren? Ich setzte fest einen Fuß vor den anderen. Mit jedem weiteren Schritt in ihre Richtung fasste ich neuen Mut. DIE STUNDE DER RACHE WAR DA!!! Ich setzte das verboten dämlichste Lächeln auf, was ich auf Lager hatte, wackelte übertrieben mit dem Arsch und ließ meine Zöpfe wie Propeller um mich fliegen, sodass sie schon eher einer Waffe glichen, als einer Frisur. In einem Überwahn trat ich von hinten an ihn heran und schlug ihm mit einem lauten Klatschen auf den Hintern. Dabei achtete ich sorgsam darauf, dass ich nicht einen der Nietengürtel erwischte und mir womöglich noch die Hand aufspießte, sondern traf genau eine seiner wunderhübschen Arschbacken. Er schrak hoch und drehte sich in Blitzgeschwindigkeit zu mir um. Ich starrte in ein entsetztes Gesicht und legte eine furchtbar hohe Stimme auf. Auch die anderen hatten ihre Aufmerksamkeit auf mich gewandt. Das war meine Stunde... und keine andere. "Glennilein, mein Mausepuschel! Na, ist das nicht eine Überraschung?", leierte ich und näherte mich zu seinem Entsetzten gefährlich seinem Mund, bevor ich ihm einen nassen Schmatzer verpasste und somit einen schreiend pinken Abdruck auf seinen Lippen hinterließ. Verdammt, der Kerl schmeckte ja gar nicht so schlecht. Und der Lippenstift stand ihm... unglaublich. Farina, du darfst dich nicht aus dem Konzept bringen lassen, hämmerte ich mir selbst ein. Okay, das war geschafft, jetzt kam ich aus der Nummer nicht mehr raus. Nein, nicht jetzt, wo mich eine komplette Mannschaft von Vorstadtpunks aus weitaufgerissenen Augen anglotzte als wäre ich ein Mitglied der (T)Raumschiff Surprise und unter Captain Korks Kommando auf einem tödlichen Vernichtungsstreifzug durch die Innenstadt. Ich schielte kurz zu Glen, bevor ich zu meiner Massenvernichtungswaffe griff, zu dem Ass in meinem Ärmel, zu der Entstellung in Person. Er stand einfach nur da und war wie erstarrt. Na, tat das gut, Junge? Machte das Spaß? Hm? Es war wie Balsam auf meiner Haut. Mit meiner extrem hohen Stimme quäkte ich in einer Lautstärke von mindestens 300 Dezibel: "Ahja... und ihr seid also die tollen Freunde meines Hasenschwänzchens? Ohhh... er hat schon soviel über euch erzählt... ja, ich glaube, mit euch kann man wirklich Pferde stehlen!" Ich kicherte hysterisch, und das war noch nicht einmal besonders aufgesetzt. Wenn man krankhaft versucht, einen Lachanfall zu unterdrücken, kommt das halt ein bisschen hysterisch rüber. "So wie ich meinen Mausepuschel kenne, hat er sicher nicht viel über mich erzählt, was? Tja, ihr kennt ihn ja. Er ist immer ein bisschen steif, wenn es um solche Angelegenheiten geht, was?", dabei zwinkerte ich übertrieben und gluckste fröhlich in mich hinein. Hastig führte ich meinen Monolog weiter: "Lasst uns doch auch Freunde sein. Wisst ihr, erst letztens hab ich in der neuen "Wendy" gelesen, dass man glücklicher ist, wenn man viele, gute Freunde hat. Was meint ihr? Ich kann euch doch alles anvertrauen, oder? Wisst ihr, uns passieren aber auch immer die unmöglichsten Sachen! Erst gestern Abend wollten wir... na ja, ihr wisst schon... und dann... ist er auf einmal nicht gekommen! Ach, das war aber auch wirklich zum Piepen! Gerade, als wir kurz vorm Höhepunkt waren ist sein... äh ... ER total zusammengeschrumpft, wisst ihr... es wurde plötzlich so klein!", erzählte ich ohne einmal Luft zu holen und zeigte mit meinem lackierten Zeigefinger und Daumen die Größe seines angeblich zusammengeschrumpften... äh... ja, ich trau das eurem Vorstellungsvermögen zu. Ich sah, wie den restlichen Punks förmlich die Augen aus den Augenhöhlen quollen. Ihre Münder standen so weit offen, dass man ohne Probleme eine komplette Packung Räucherstäbchen hätte reinschieben können. Ich grinste in mich hinein. Und Glen? Glen stand da. Seine Augen hatten einen undefinierbaren Ausdruck angenommen. Es kam einer Mischung aus Schock, Wut und Entsetztheit ziemlich nahe. Aber er rührte sich nicht. Er tat absolut gar nichts, um das bahnende Unheil von sich abzuwenden. Er stand einfach nur stocksteif da und rührte sich nicht. Sein Brustkorb hob sich auf und ab und ein paar Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Strike! Na, wenn das mal kein Erfolg war. Aber ich war ja noch nicht fertig. Gespielt entsetzt schaute ich auf die Uhr. "Was? Schon so spät??? Gott, ich muss los. Entschuldigt bitte, meine Freunde.... ich muss jetzt aber wirklich. War nett, mit euch zu plauschen. Wir können unseren kleinen Smalltalk ja ein andermal fortsetzten? Wollen wir nicht mal zusammen einen Kaffee im "Tick on" trinken?" Ich wählte absichtlich das "Tick on". Es war das Nobelcafe der Stadt. Und die Preise waren auch dementsprechend hoch. "Na ja. Ich muss dann auch wirklich. Bye, bye, allerseits!" Mit der Hand kramte ich aus meiner feschen Handtasche das, was ihn vollkommen blamieren würde. Meine kleine Überraschung. Ich konnte es kaum erwarten, in die belustigten Gesichter seiner Freunde zu sehen, die auch jetzt schon erste Züge von einem fiesen Grinsen zeigten. Mit einem Ruck kramte ich die elastische Flasche aus der Tasche und drückte sie Glen in die Hand, der sie fast wieder fallen gelassen hätte, sich aber im letzten Moment noch beherrschte, um draufzugucken. Ich sah förmlich, wie seine Augen sich weiteten, sein Mund sich zu einem angedeuteten Schrei verzog und sein Inneres anfing, langsam zu explodieren. Jetzt hieß es schnell die Fliege machen und so weit wie möglich weglaufen, damit man nicht von der explodierenden Bombe erwischt wurde. Sekunde. Ich musste noch etwas an ihn loswerden. "Hier Schatz. Das hast du letztens bei mir vergessen." Mit diesen Worten nahm ich einen Kaugummiautomatenring von meinem Finger und steckte ihn ihm an. Er hatte die äußerst putzige Form einer Erdbeere. Hm, nun trug Glen also Erdbeeren am Finger. Hätte ich gewusst, wie gut es ihm stand, dann hätte ich noch mehr von der Sorte mitgenommen. Nun aber weg hier! Schnell strich ich ihm noch über den Kamm, zerzauselte ihn, genauso, wie er meine Haare zerzauselt hatte, drückte ihm noch einen Kuss auf die Wange und spurtete um die nächste Ecke. Ich sah noch aus den Augenwinkeln, wie er das Etikett der Flasche entzifferte. Ich rannte um mein Leben. Das war sein Gnadenstoß. Aber es konnte auch meiner werden, wenn ich nicht weit genug weg war. Doch der Schrei erschütterte das ganze Stadtteil. Er ließ die Fensterscheiben vibrieren und erschreckte alles, was sich in einem Umkreis von 500 Metern befand. "POTENZ-MITTEL???????????????????????????????!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!" Dann lautes Gelächter und Gespött. Noch ein Wutschrei und ein lauter Knall. Autsch, er sollte doch nicht gegen alles treten, was ihm in den Weg kam. Ich spürte die wütenden, elektrischen Wellen, die er mir zusandte. Ich spürte die Verwünschungen und Verfluchungen, die er über mich aussprach. Und ich wälzte mich innerlich darin. Ja, das hatte er gebraucht. Ich hatte ihn vor seinen Freunden total blamiert. Genauso, wie er mich. Wir waren quitt, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Mit mir legte sich schließlich niemand umsonst an. Überglücklich hüpfte ich die Einfahrt zu unserem Anwesen hoch. Die Zöpfe wirbelten mir um den Kopf und mit den Plateauschuhen konnte ich kaum laufen, aber ich war trotzdem um einiges erleichtert. Das war ja besser als Weihnachten. Dem hatte ich es gezeigt. Meine Mutter hatte aufgegeben, sich zu wundern, was ich hatte. Sie war glücklich, dass ihre Tochter glücklich war, und somit waren wir beide glücklich. Hatte doch auch was für sich. Ich stand vor meinem Spiegel und drehte mir die Zöpfe aus den Haaren. Sorgfältig legte ich sie auf die Kommode. Ich würde sie gleich sofort wieder runterbringen, ich hatte es ja versprochen. Schnell schminkte ich mich ab, entfernte somit das eklige pinke Zeug von meinem Antlitz, und schlüpfte in normale Hausklamotten. Die vielen Ringe und Ketten und was weiß ich noch alles nahm ich auch ab und verstaute sie sorgfältig in einem Karton. Man wusste ja nie, wozu man die mal wieder brauchen würde. Schließlich griff ich mir die Barbie-Pferde-Schweife und hechtete runter in den Keller. Schnell wieder dran gebaut, Pferde wieder ganz, nun gänzlich alle wieder glücklich. Gottchen, wie viele Mensche hatte ich heute schon glücklich gemacht? Ich überlegte kurz. Wohl hauptsächlich mich selbst. Aber das musste ja auch mal sein. Gerade als ich den Keller wieder verlassen wollte und schon die Hand am Lichtschalter hatte, fiel mir eine blaue kleine Schachtel in die Augen. Meine blaue Schachtel. Mein Schatzkästchen. Meine Erinnerungen. Was machte dieses Ding denn hier unten?! "MUM?!", schrie ich entsetzt nach oben. Dabei runzelte ich angestrengt die Stirn und wiegte das blaue Kästchen in meinen Händen. "WAS MACHT MEIN SCHATZKÄSTCHEN HIER UNTEN IN DIESEM VERSTAUBTEN LOCH???!!!", setzte ich noch hinterher, als ich keine Antwort bekam. Ein Grunzen schallte aus der oberen Etage zu mir nieder. "Keine Ahnung. Vielleicht hast du es da selbst hingetan, Schatz?" Ich protestierte heftig. Niemals würde ich so ein wertvolles Objekt in die Obhut der Mäuse und Ratten und sonstigem Ungeziefer, das sich hier unten befand, geben! Ich hatte es schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Eigentlich hatte ich es schon fast verdrängt. Na, dann wurde es doch mal wieder Zeit, dass es von der mittlerweile 17-Jährigen Fairy gründlich unter die Lupe genommen wurde. Was ich da wohl alles reingetan hatte? Hastig ließ ich es in meine Tasche gleiten. Gleich, wenn ich oben war, würde ich es öffnen. War schon gespannt, was ich damals verzapft hatte. Moment mal!!! Gedanklich scrollte ich ein paar Sätze zurück. Wie hatte ich mich genannt? FAIRY??? Oh, mein Gott! Das war ja wie ein Virus. Wie eine kleine, gemeine Bazille, die sich langsam und schleichend vermehrte und zunehmend Besitz von meiner ganzen Umgebung ergriff. Ja... ich wusste auch, wann ich mir diesen Virus eingefangen hatte: Vor ein paar Tagen, als ich mich auf den von Glen verseuchten Platz gesetzt hatte. Oder als er sich im Treppenhaus über mich gebeugt hatte? Nein, ich musste mich schon infiziert haben, als er mir den höllischen Drink spendiert hatte... Ach Gottchen, dieser ganze Mensch war ein lebendes Mutterschiff für Bakterien aller Art!!! Aber dennoch war ich mir sicher, dass ich heute ein paar Bakterien abgetötet hatte. Er hatte sein Fett weg, fragte sich nur, was als nächstes kam. Mit leicht zitternden Fingern öffnete ich das kleine, blaue Kästchen. Wie lange war es her, dass ich einen Blick reingeworfen hatte? Ich stellte mir meine kleinen Finger vor, wie ich damals alles sorgfältig verstaut hatte und musste unweigerlich lächeln. Ich war schon verrückt gewesen. Damals, als ich noch jeden Tag mit im Heim war. Ja, meine Tante leitete ein Heim, nicht, dass ihr denkt, dass ich ein Waisenkind war. Aber ich war jeden Tag dort und habe mit den anderen gespielt. Das waren schöne Zeiten gewesen. Mit einem dumpfen Klacken öffnete ich die Schachtel. Gespannt blickte ich hinein und versuchte, das Innenleben zu identifizieren. Oh, mein Gott! Was war das denn? Angeekelt holte ich sämtliche getrocknete Regenwürmer heraus. Widerlich! Was war ich damals nur für ein Kind gewesen?! Unter zahlreichen Blättern fand ich schließlich etwas Bläuliches. Es war aus Plastik. Ich kramte es interessiert hervor und drehte es in meinen Händen hin und her. Ein Plastikvogel? Was sollte ich mit einem Plastikvogel? Moment mal, da war doch irgendwas gewesen. Erinnerungsfetzen kehrten zurück. Ich versuchte alle möglichen Gesichter mit diesem Plastikding in Verbindung zu bringen. Hatte ich wirklich so ein schlechtes Gedächtnis, oder tat ich nur so? Gerade, als mein Schädel verdächtig anfing zu dröhnen und ich schon aufgeben wollte, hatte ich plötzlich ein verschwommenes Bild vor meinen Augen. Ja, da war er gewesen! Da war eine Erinnerung an ihn! Wer war er? Wo kam er her? Wie sah er aus? Ich strengte mich noch ein bisschen an und der Nebelschleier lichtete sich hinter meinen Gehirnwänden. Zum Vorschein kam das Bild eines kleinen, 5-Jährigen Jungen. Hellblonde Haare. Blaue Augen. Und ein bildhübsches Gesicht. "Condor...", flüsterte ich und bedeckte mit meinen Händen die Augen, damit ich das Bild in meinem Inneren besser erkennen konnte. Ja, Condor. Der einzige Junge, der mich mit seiner bloßen Anwesenheit zu wahren Schweißausbrüchen getrieben hatte. Meine erste Liebe. Und wohl auch bisher meine einzige. Denn die Jungs, mit denen ich seitdem zusammen gewesen war, waren alles nur kleine Luschen im Vergleich zu diesem Gott. C.O.N.D.O.R. Ein Traum. Ein wunderschöner Traum, um genau zu sein. Aber ohne Zukunft. Er war auch im Heim gewesen. Ich war bei unserem ersten Treffen schon hin und weg. Aber ich hatte es immer verborgen. Und dann war er plötzlich weg. Kurz bevor mir die Tränen kommen konnten, klingelte es plötzlich an der Haustür. Ich wischte mir über das noch trockene Gesicht, aus Angst, doch eine Träne vergossen zu haben und polterte die Treppen hinunter. Hastig fuhr ich mir über die Haare und machte dann auf. "Sara?", rief ich erfreut aus und umarmte meine Freundin. Wie nett von ihr, vorbeizukommen! "Hi, Fairy, wie geht es dir? Warum warst du heute nicht in der Schule?", fragte sie verwundert und schaute mich besorgt an. Als ob sie sich das nicht denken konnte!!! "Wegen was wohl? Oder sollte ich fragen: Wegen wem wohl?" Sara stöhnte. "Jetzt sag bloß, du bist nur wegen Glen nicht in die Schule gekommen...?" Schnell schlüpfte sie durch die Tür und wir gingen hinauf in mein Zimmer. Hastig versteckte ich das blaue Schächtelchen unter der Bettdecke. "Ja.... du hast es erfasst. Denkst du, ich will mir die Demütigungen meiner Mitschüler anhören???" Sara kicherte. "Was lachst du?", fragte ich sie entsetzt und blickte sie an. Was gab es denn daran so witziges? "Na ja, weißt du, Fairy. Du brauchst dir deswegen doch keine Sorgen zu machen. Die haben nicht lange drüber gesprochen.", sagte sie mit einem freudigen Lächeln. Was? Seit wann war unsere Klasse so sozial? Hatte ich da was nicht mitbekommen? "Warum?", fragte ich erstaunt. Sara blickte verlegen zur Seite. Ein kaum zu erkennender Hauch von Röte breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Er war zwar so mikroskopisch klein, dass man ihn als Normalsterblicher nicht erkannt hatte, aber ich als ihre beste Freundin sah ihn natürlich sofort. "Sara? Was ist los? Irgendwas verheimlichst du mir doch!!!" Sie bekam zu meinem Entsetzten einen ganz verträumten Ausdruck. Ihre Augen glänzten und ihre Hände zitterten so wie meine, als ich das Schächtelchen eben geöffnet hatte. "Oh, Fairy! Ich beneide dich so!!!", hauchte sie und fiel mir in die Arme. Sie beneidete mich? Warum? Gut, ein bisschen konnte ich es schon nachvollziehen, schließlich hatte ich ein hübscheres Gesicht, war besser gebaut und hatte zudem mehr Oberweite... aber? Das würde sie sich doch so nicht eingestehen, oder...? Ich spürte ihren aufgeregten Atem in meine Haare blasen. "Wir fahren auf Klassenfahrt!", hauchte sie. Das war ja mal was ganz neues. Das stand doch schon lange fest. Aber selbst, wenn Sara es aus unerklärlichen Gründen noch nicht mitbekommen hatte... warum beneidete sie mich darum? Sie fuhr doch auch mit, oder nicht? "Und?", fragte ich ungeduldig. Sie nahm noch einmal tief Luft uns verkündete dann mit süßer Stimme mein Todesurteil: "Du bist mit Glen auf einem Zimmer! Das Heim ist vollkommen überfüllt und so müssen sie Jungen und Mädchen mischen. Ihr beide habt das Vergnügen, mit einer Aufsichtsperson in dem kleinsten Zimmer der Jugendherberge zu schlafen." ... ... ... Ein Aussetzer. Gehirnblockade. Aufnahmekapazität erschöpft. So eine Hiobsbotschaft konnte mein Schädel nicht aufnehmen. "WIE BITTE???!!!", schrie ich und stieß Sara angewidert von mir. "Ich und Glen in einem Zimmer? Ich? Und diese lebendige Bazille? Dieser Punk? Dieser... ARSCH??? Verdammt Sara, das ist doch wohl ein schlechter Scherz!!! Das können die doch nicht machen!!! Stell dir mal vor, ich allein mit diesem komischen Kauz in einem Zimmer!!! Der wird mich doch umbringen, vergewaltigen... der wird sonst was mit mir machen, verdammt!!!!" Sara blickte mich erstaunt an. "Warum sollte er das tun?", fragte sie mit einem entsetzten Unterton in der Stimme. Warum? Warum??? Weil ich ihn heute vor seiner kompletten Clique zum Affen gemacht hatte!!! Aber davon wusste Sara ja nichts. Nein, es schien schlimmer zu sein, als erwartet. Ihren rosa Bäckchen nach zu urteilen hatte es sie voll erwischt. Und ich wurde den Gedanken nicht los, dass gerade Glen der Traum ihrer schlaflosen Nächte geworden war. Oh, mein Gott! War heute Freitag, der dreizehnte, oder was? Was hatte ich verbrochen, dass irgendjemand da oben auf die irrsinnige Idee kam, mir so etwas anzutun??? Ich schüttelte ausgelaugt den Kopf. Na, wenigstens nicht ganz allein. Es würde ja noch eine Aufsichtsperson mit dabei sein. Dann standen die Chancen, dass er sonst etwas mit mir machte, etwas niedriger. Ja, das bauschte die Suizidrate. "Freust du dich denn gar nicht?", fragte Sara noch einmal nach. Super. Ich freute mich riesig. Ich freute mich wahnsinnig auf die schlimmste Woche meines Lebens. Der nächste Feldzug würde wohl nicht lange auf sich warten lassen. Bald würde ich eine Woche zusammen mit dem Feind unter einem Dach verbringen müssen. Ich konnte nur hoffen, dass er mir nicht den Gnadenstoß gab. Denn ich traute seiner Fantasie schon einiges zu. Musik drang an mein Ohr. Unten lief das Radio. "Love is a battlefield". Liebe ist ein Schlachtfeld. Liebe? Urkomisch, dass gerade jetzt dieses Lied lief. Nein, verliebt war ich ganz sicher nicht. Glen verstand es, meinen Hass zu schüren und mich zum explodieren zu bringen, aber er würde es sicher nicht schaffen, mein Herz zu bewegen. So wie zum Beispiel Condor. Ich vergrub den Kopf in meinen Händen. Ich sollte gläubig werden. Schließlich hatte Gott schon so vielen Menschen angeblich geholfen. Wieso sollte er mich da auslassen? Ich faltete die Hände und hoffte, dass ich die bevorstehende Woche überleben würde. Amen. Chapter III: //*** Memories Of Condor ***\\ END Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)