Mein Engel von Cowardly_Lion (Amor in Love) ================================================================================ Kapitel 9: ----------- Mit einem lauten Klatschen traf Kais Handfläche die linke Gesichtshälfte seines Großvaters. Für wenige Sekunden war es so, als hätte diese eine Aktion den gesamten Erdenkreis zum Stillstand gebracht; dann lösten sich Tala, Bryan, Ian und Spencer langsam aus der Starre, die alle Anwesenden befallen hatte, um den zeternden Voltaire zu packen und wortlos aus der Wohnung zu werfen. Dieses Mal war der alte Mann endgültig zu weit gegangen. „Verdammt! Ich hätte wissen sollen, dass dieser Bastard sich früher oder später einen Nachschlüssel für die Wohnungstür machen lässt…“, frustriert schlug Kai mit der Faust gegen den Türrahmen, drehte sich dann zu Ray um, „Hör zu, es tut mir wirklich leid, was da eben gesagt wurde; natürlich werde ich nicht…“ „Hey, schon okay, immerhin geht es hier um deine Zukunft!“, irgendwie gelang es Ray, ein Lächeln aufzusetzen, nach dem ihm absolut nicht zu Mute war, „Am besten, ich packe das bisher aufgebaute Zeug einfach wieder ein und fahre dann bei Mariah mit.“ Es war sowieso besser so; von vorneherein hatte festgestanden, dass er Kai unter die Haube bringen sollte, und da störte ein nerviger Mitbewohner, der zu allem Überfluss auch noch in den zu Verkuppelnden verliebt war, mehr als dass er half. Ray würde Kais Berufswünsche nicht gefährden, nur um dem selbstsüchtigen Verlangen nachgeben zu können, dem Anderen noch ein klein wenig länger nahe zu sein. Entgeistert starrte Kai ihn an: „Du hast es immer noch nicht verstanden, oder?“ „Was soll ich nicht verstanden haben?“ Nur immer lächeln und sich ja nicht auf den Schmerz konzentrieren, vielleicht tut es dann weniger weh… Hilflos schüttelte Kai den Kopf, ehe er mit hastigen Schritten den Raum verließ. Verwirrt drehte sich Ray zu Mariah um: „Habe ich was falsches gesagt?“ Seine Vorgesetzte vergrub daraufhin das Gesicht in den Händen: „Ich sage das ja nicht gerne, aber manchmal bist du ein kompletter Vollidiot!“ Damit war der Tag auch so ziemlich gelaufen; kurz nach dem ganzen Fiasko verabschiedete sich die Gang um Tala herum mehr oder minder wortkarg, Mariah warf ihm solange böse Blicke zu, bis sie sich darauf einigten, dass es wohl besser für sie war zu verschwinden, und Kai blieb den gesamten Nachmittag sowie einen Großteil des Abends in seinem Zimmer verschwunden. Die einzige Ausnahme dazu war, als er sich gegen acht Uhr in die Küche schlich, um etwas zu essen. Ray seinerseits versuchte sich von der angespannten Situation abzulenken, indem er einen Block und eine Packung Bleistifte aus den Umzugskartons hervorkramte und damit anfing, wahllos Skizzen zu zeichnen. Dass bei jedem Bild letztendlich ein Portrait von Kai herauskam, verbesserte seine Stimmung nicht unbedingt… ~~~ ; ~~~ Mit Mühe und Not hatte Enrico es geschafft, Oliver wieder zu beruhigen; nun lag der Andere auf der Couch und träumte einen unruhigen Dämmerschlaf, während Enrico in die Küche geflüchtet war, um sich mit zitternden Händen eine Tasse Tee zuzubereiten. Auch wenn er zuvor versucht hatte, Zuversicht zu vermitteln, so hatte sich sein Magen doch schmerzhaft verkrampft, als er von der ganzen Bespitzelungsaktion erfuhr. Verdammt, ihre Vorgesetzten hatten es tatsächlich geschafft, Oliver dazu zu bringen, seine Seele an den Teufel zu verkaufen – zum zweiten Mal! Das widersprach einfach allen Regeln des logischen Denkens. Enrico war enttäuscht von Oliver, aber er konnte sich nicht die moralische Überlegenheit einreden, in der selben Situation nicht genauso gehandelt zu haben; schließlich waren es nicht seine hohen ethischen Prinzipien gewesen, die ihn hierher gebracht hatten. Außerdem gab es momentan wichtigere Dinge zu klären… Sie mussten Emily vorwarnen, ihre weitere Vorgehensweise planen. Wenn sie das hinter sich hatten, konnte man immer noch darüber nachdenken, ob und wenn ja wie sich das verlorene Vertrauen erneut aufbauen ließ. In der Zeit, die der Teebeutel zum Ziehen benötigte, meldete Enrico sich und Oliver via Telefonanruf krank. Wie gesagt, es galt eine Menge vorzubereiten, und momentan interessierte es ihn einen feuchten Dreck, welchen Eindruck er bei den höherrangigen Dämonen hinterließ. ~~~ ; ~~~ Die nächsten zwei Tage waren so ziemlich die schlimmsten in Rays bisherigen Leben. Er und Kai redeten kein Wort miteinander, vielmehr ignorierten sie sich komplett, lebten einfach nebeneinander her. Das allein wäre schon hart genug gewesen, aber nicht einmal zu wissen, weshalb man morgens an verschiedenen Enden derselben Straßenbahn einstieg, machte die Situation unerträglich. Wie sollte man sich denn für einen Fehler entschuldigen, von dem man nicht die geringste Ahnung hatte, in was er eigentlich bestand? Es war dieses unbequeme Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, welches Ray letztendlich davon überzeugte, seinen Plan durchzuziehen; er war kein Feigling, aber so, wie die Dinge zwischen ihm und Kai standen, war es einfach das Beste, seinem Schützling eine Freundin zu suchen und dann so schnell wie möglich aus dessen Leben zu verschwinden. Alles andere würde sie Beide zu sehr verletzen. Der Engel wusste auch schon, wen genau er auf eine Verabredung mit Kai ansprechen würde: Emily. Sie entsprach allen Partnerkriterien Kais, teilte sein Interesse für Medizin und – was am wichtigsten war – sie war offensichtlich interessiert. Alles gute Gründe, sein ohnehin nur aus Eifersucht geborenes schlechtes Gefühl ihr gegenüber zu ignorieren und dafür Kais Glück zu sichern. ~~~ ; ~~~ Das Büro war ohne Enrico und Oliver entsetzlich verlassen und trostlos, weshalb Emily sich entschloss, in den nächsten paar Tagen lieber dem Außendienst nachzugehen. Doch selbst umgeben von dem Rauschen der Menschenmassen konnte sie an nichts anderes denken, als an ihr letztes Treffen mit Michael; immer und immer wieder spulte sie das Vorgefallene auf der Leinwand in ihrem Kopf ab, analysierte jedes Wort, jede Veränderung in Mimik und Gestik. Die Frage, was genau sie falsch gemacht hatte, ließ ihr einfach keine Ruhe. Waren es ausschließlich ihre Lügen, oder war das Problem bereits in ihrer Entscheidung anzusiedeln, überhaupt eine Beziehung mit Michael einzugehen? Immerhin hatte sie von vorneherein gewusst, dass sie ihn und damit auch sich selbst früher oder später verletzen würde. In ihrem Bestreben, ihn trotzdem an sich zu binden, war Emily egoistisch gewesen – und gerade das war es, was sie an der ganzen Sache verwirrte. Succubi hatten nicht die Tendenz, bei ihrem Handeln an sich selbst zu denken; sie waren darauf indoktriniert, einfach nur die ihnen zugeteilten Aufträge auszuführen und keine Fragen zu stellen. Was hatte sie also dazu bewogen, die erste wirklich wichtige Wahl in ihrem Leben zu treffen und sich für Michael zu entscheiden? In diesen und ähnlichen Bahnen verlief Emilys Denken die ganze Zeit über, nahm sie so sehr in Anspruch, dass sie weder etwas von ihrer Umwelt, noch von ihrer eigentlichen Okkupation mitbekam. Statt wie eigentlich geplant Kai schöne Augen zu machen und mehr über seine sozialen Hintergründe herauszubekommen, schleppte sich die Dämonin nur noch von Vorlesung zu Vorlesung, erinnerte dabei wohl mehr an einen Zombie als an ein lebendes Wesen. Es waren gerade diese Umstände, die es so verdammt ironisch machten, als ausgerechnet Ray am Ausgang eines Hörsaals auf sie wartete. „Hey, kann ich kurz mit dir reden?“, der Engel sah in etwa so mies aus, wie Emily sich im Augenblick fühlte. Er war blass, zu blass um genau zu sein, und seine ganze Körperhaltung wirkte unkonzentriert und verkrampft. „Schieß los!“, nur mit Mühe konnte Emily sich dazu bringen, ihre Stimme stark und entschlossen klingen zu lassen. Sie durfte sich auf gar keinen Fall anmerken lassen, wie unangenehm die gegenwärtige Situation für sie war… „Es geht um Kai. Aber könnten wir das vielleicht an einem Ort besprechen, der weniger… öffentlich ist?“ Ein flaues Gefühl machte sich in Emilys Magen breit. Hatte Ray etwa mittlerweile herausbekommen, um was es sich bei seiner Konkurrentin um Kais Interesse handelte und wollte sie nun auf diese Weise möglichst unauffällig entsorgen? „Sicher.“ Ohne dass sie selbst so genau wusste, wohin ihre Schritte sie eigentlich trugen, führte Emily Ray in den der Universität angegliederten botanischen Garten. Mit all den unterschiedlichen Pflanzen, die hier wuchsen, hatte dieser Ort schon immer eine beruhigende Wirkung auf sie ausgeübt; das war auch einer der Gründe gewesen, weshalb ihre erste Verabredung mit Michael hier stattgefunden hatte. Selbst im Winter, wenn alle Blumen längst verblüht waren und nur noch die heimischen Nadelbäume ihr grünes Kleid trugen, strahlte der Garten noch eine ungeheure Kraft aus. Die Augen schließend, sog Emily einmal kurz die kalte Luft ein, erdete sich, ehe sie zu einer vereinsamt stehenden Parkbank schritt. Mit vor der Brust verschränkten Armen ließ sie sich darauf nieder: „Was genau willst du mit dieser Unterredung erreichen?“ „Wenn ich das nur wüsste…“, meinte Ray lakonisch, ehe er sich neben sie setzte, „Hör zu Emily, unser erstes Zusammentreffen ist nicht besonders freundschaftlich abgelaufen und sowohl du als auch ich hätten es wahrscheinlich lieber vermieden, ein zweites folgen zu lassen – aber darum geht es hier nicht. Der entscheidende Punkt ist, dass du Kai all das bieten kannst, was er braucht. Also werde ich ein guter Verlierer sein und dafür sorgen, dass ihr Beide miteinander glücklich werdet.“ Der Engel holte einen säuberlich gefalteten Zettel hervor und drückte ihn Emily in die Hand: „Hier hast du unsere Telefonnummer; falls du Kai immer noch willst, rufst du an und bestätigst eure Verabredung. Nächsten Dienstag, um elf Uhr hier im Botanischen Garten.“ Irritiert verzog Emily eine Augenbraue; sie hätte nie gedacht, dass ihr Gegenüber so… intrigant traf es nicht, der noch am ehesten passende Ausdruck war wohl manipulativ… sein konnte. Jetzt nicht, dass Emily Ray böse Absichten unterstellt hätte… Es war nur für einen durchschnittlichen Engel einfach vollkommen atypisch, Dinge hinter dem Rücken von anderen zu arrangieren. Und das war der Moment, in dem Emily begriff. „Du bist in Kai verliebt.“ Dass eine gewisse Anziehung zwischen dem Engel und seinem Schützling bestand, war ihr schon vorher klar gewesen; dass diese so tief ging nicht. Sicher, keiner konnte die Blicke ignorieren, die sie sich zuwarfen, wenn der jeweils andere gerade nicht hinsah – aber zwischen einer harmlosen Schwärmerei und tatsächlicher Liebe bestand immer noch ein meilenweiter Unterschied. Verdammt, bevor sie Michael kennengelernt hatte, hatte sie ja noch daran geglaubt, dass so etwas wie Liebe nicht existierte und alle dahingehenden Beziehungen lediglich auf den übermächtigen Sexualtrieb des Homo Sapiens zurückzuführen seien… „Leb wohl, Emily.“, das letzte bisschen Würde zusammenraffend, welches er noch aufzubieten hatte, stand Ray auf. Mit einem seltsamen Ziehen in der Brust sah Emily ihm hinterher, als er an kahlen Sträuchern und raureifbedeckten Rasenflächen vorbei auf den Ausgang zustrebte. ~~~ ; ~~~ Ray war dankbar dafür, dass Kai noch nicht da war, als er in die gemeinsame Wohnung zurückkehrte; das Gespräch mit Emily war anstrengend gewesen, auf mehr als nur einer Ebene, und momentan hätte der Engel einfach nicht die Kraft gehabt, das zwischen ihnen herrschende Schweigen zu ertragen. Kais Abwesenheit gab Ray die Möglichkeit, sich erst mal in der Küche Fertigramen zu machen, zu essen und sich dabei mental für das zu wappnen, was noch vor ihm lag. Noch vor zwei Woche hatte er den Tag verflucht, an dem man ihm den Fall Kai Hiwatari zugeteilt hatte; nun war es der Gedanke, sich von dem Anderen trennen zu müssen, der weh tat. Und dennoch war es unvermeidlich, ja sogar notwendig. Kai hatte ein Recht darauf, die bestmögliche medizinische Ausbildung zu genießen. Er hatte es verdient, seine Träume in die Tat umsetzen zu dürfen, glücklich zu sein. Da konnte er es nicht gebrauchen, ständig einen liebeskranken Engel im Nacken sitzen zu haben, der ihm alle Chancen verbaute. … Ja, klar! In Wirklichkeit hatte Ray doch einfach nur Angst davor, Kai zu verlieren – also tat er etwas Paradoxes und verjagte den Anderen, weil er auf diese Weise zumindest Kontrolle über die Situation hatte! Die ganze Zeit über war es doch so gewesen, dass wann immer Kai und er einen Schritt auf einander zu machten, es Ray war, der anschließend wieder zwei Schritte zurück machte. Warum sollte es dieses Mal also anders sein? Aber er hatte doch den Auftrag erhalten, Kai in einer glücklichen Beziehung unterzubringen!? Indem er seinen Schutzbefohlenen an jemanden verschacherte, den der nur vom sehen kannte und das auch noch, ohne Kai vorher überhaupt mal nach seinen Gefühlen für die betreffende Person zu fragen? Seufzend fuhr sich Ray mit der Hand durchs Haar. Na das hatte er ja mal wieder großartig hinbekommen! Schlimmer noch, er konnte seinen Fehler nicht einmal mehr ausbügeln, denn in seiner Hast davonzukommen hatte er sich Emilys Telefonnummer nicht geben lassen. Im Telefonbuch nachschlagen entfiel auch, er kannte schließlich ihren Nachnamen nicht… ~~~ ; ~~~ Es dauerte drei Tage, bis Enrico und Oliver die Nachbeben des Geständnisses einigermaßen verdaut und sich bezüglich ihrer folgenden Schritte geeinigt hatten. Alles hätte viel schneller gehen können, wären da nicht die immer wieder zwischen ihnen auftretenden Irritationen gewesen; so bestanden ihre Konversationen größtenteils aus Herumstottereien und dem vorsichtigen Herantasten an Themen, die eigentlich vollkommen unproblematisch hätten sein sollen. Manchmal wurden Gespräche mitten im Wort abgebrochen, um stattdessen minutenlang betroffen ins Leere zu starren. Es war ein langsam voranschreitender, mühevoller Prozess, auch nur den einfachsten Smalltalk zu bestreiten, wie sollte man da bitte überhaupt zu den wesentlichen Entscheidungen kommen? Und doch gelang es ihnen schließlich, sich auf einen gemeinsamen Plan zu einigen. Zunächst einmal galt es, ihre eigene Position gegenüber allen beteiligten Parteien abzuwiegen: Emily war ihre Freundin, aber genauso sehr waren sie Ray Hilfe schuldig, weil er ihnen seinerseits unter die Arme gegriffen hatte. Was ihre Arbeitgeber anging… Es war nicht zu erwarten, dass einer von denen auch nur einen Finger krumm machen würde, wenn seine Angestellten in der Klemme steckten, also warum sollten Enrico und Oliver sich umgekehrt verpflichtet fühlen? Ihre Entscheidung war also darauf gefallen, Emily alles zu erzählen und sie dann dazu zu bringen, einen Deal mit Ray abzuschließen; Beziehungsproblem + Liebesengel = Lösung, so zumindest der theoretische Ansatz. Es war nicht so, als wären alle von Olivers Zweifeln und Ängsten danach schlagartig verstummt, im Gegenteil: Die Stimme in seinem Kopf, die ihm mitteilte, das alles hier sei kompletter Wahnsinn und er solle doch bitte stattdessen die dreißig Silberlinge nehmen, ertönte so laut wie nie. Aber verdammt, es ging hier um seine einzige Chance, die Leute die ihm etwas bedeuteten halbwegs sicher über die Runden zu bringen! Mit einem mulmigen Gefühl im Magen sah er zu der Theke mit der Kaffeemaschine hinüber, an der Enrico seit einer halben Stunde angelehnt stand und sich in einer immer noch leeren Tasse verkrallt hatte. Für einen Moment sah es aus, als wolle der Andere etwas sagen, doch dann kräuselten sich seine Lippen einfach nur zu einem Lächeln und er hob den Daumen. Es war nur eine kleine, unbedeutende Geste, aber in diesem Augenblick fühlte sie sich für Oliver nach Erlösung an. Die Bürotür flog mit einem lauten Knall auf und herein kam Emily. Ihre Freundin sah nicht gut aus; die Haare waren glanzlos, die Augen rot und verheult, die Kleidung wirkte, als hätte sie einfach blind das Nächstbeste aus dem Kleiderschrank gezogen. Momentan wäre wahrlich niemand auf die Idee gekommen, es könnte sich bei diesem Häufchen Elend um einen verführerischen Succubus handeln. „Hey…“, kraftlos ließ sich Emily auf den nächstbesten Stuhl fallen. Enrico und Oliver warfen sich alarmierte Blicke zu; als sie sich ihren Plan zurechtgelegt hatten, waren sie nicht unbedingt von solchen Umständen ausgegangen. Die Nachricht, welche es zu überbringen galt, war auch als solche schon deprimierend genug – da musste man nicht auch noch auf jemanden eintreten, der bereits am Boden lag. Nervös leckte Enrico sich über die Lippen: „Du siehst schrecklich aus! Ich meine… Alles okay?“ „Kommt darauf an, was du unter „okay“ verstehst…“, Emily kratzte sich im Nacken, „Michael hat mich mit Kai gesehen.“ „Oh… Das… Das ist ja schrecklich…“ Müde winkte die Dämonin ab: „Seid mir nicht böse, aber ich möchte einfach nicht mehr darüber reden; das Ganze verwirrt und deprimiert mich schon viel zu sehr, da möchte ich nicht auch noch euch mit hineinziehen. Außerdem habt ihr mich doch eigentlich hierher berufen, um über etwas anderes zu reden, oder?“ Verlegen räusperte sich Oliver: „Tja, das wäre dann wohl mein Stichwort… Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss…“ Obwohl er es schon einmal getan hatte, war es hart, die Worte auszusprechen. Zuerst nur stockend, dann immer schneller und schneller perlten sie ihm über die Lippen, eben so, wie die Scham über die eigene Tat mehr und mehr von dem Bedürfnis verdrängt wurde, alles möglichst schnell hinter sich zu bringen. Mit steinernem Gesicht hörte Emily seiner Selbstanklage zu. Egal was oder wie viel er sagte, um die unangenehme Stille zu füllen, sie saß einfach nur da und sah ihn mit unlesbarer Miene an. Erst, als Oliver geendet hatte, schien sie langsam wieder zum Leben zu erwachen: „Wow… Um ehrlich zu sein habe ich gerade nicht die geringste Ahnung, was ich denken oder sagen soll. Intellektuell betrachtet ist mir durchaus klar, dass du keine andere Wahl hattest als anzunehmen und dass wenn du es nicht getan hättest, Robert und Johnny jemand anderen für ihre Drecksarbeit gefunden hätten, aber…“ „Glaub mir, ich kann vollauf verstehen, wenn du nach der ganzen Sache nichts mehr mit mir zu tun haben willst, aber momentan sollten wir uns auf das größte Problem beschränken: Die Chefetage will dich und Michael auseinanderbringen!“, Oliver machte einige angespannte Gesten, „Und da haben Enrico und ich uns gedacht…“ „Wir haben uns gedacht, du und Ray könntet euch zusammentun.“, ergänzte Enrico den Satz. Bitter lachte Emily auf: „Wie stellt ihr euch das denn vor? Soll ich etwa zu dem Engel gehen und sagen ‚Ich bin zwar ein böser, seelenstehlender Dämon und so weiter, aber ich bräuchte mal deinen Rat in Beziehungsfragen!’? Der zeigt mir doch den Vogel! Und selbst wenn er das nicht macht, weil er sich gut in meine derzeitige Situation hineinfühlen kann und zufällig auch noch ein wirklich netter Kerl ist, bleibt da immer noch der Fakt, dass sich der Himmel einen feuchten Kehricht um Versager wie uns schert! Für die sind wir doch nur ein Haufen Abschaum. Mal ganz abgesehen davon, dass ich momentan einen enormen Zweifel hege, ob Michael je wieder auch nur ein Wort mit mir wechselt…“ Pikiert starrte Oliver sie an: „Und was willst du dann bitte stattdessen machen?“ „Ganz einfach: Ich werde diesen dreimal verfluchten Auftrag so schnell wie irgend möglich hinter mich bringen und unseren Vorgesetzten somit gar keine Zeit geben, meine ohnehin schon angeschlagene Beziehung noch weiter zu ruinieren.“, eilig zog Emily einen Zettel aus ihrer Manteltasche, der aussah, als sei er schon unzählige Male auseinander- und wieder zusammengefaltet worden, „Wenn die Gentlemen mich nun bitte entschuldigen würden: Ich habe noch ein dringendes Telefonat zu führen.“ ~~~ ; ~~~ Grummelnd vergrub Ray den Kopf unter seinem Kissen, versuchte das viel zu schrille Klingeln des Weckers auszublenden. Er wollte jetzt nicht aufstehen! Sein Bett war ein viel wärmerer und freundlicherer Ort, als die große, böse Welt da draußen je sein konnte… Doch schließlich ließ sich die Notwendigkeit unter der Decke hervorzukommen und einem geregelten Tagesablauf nachzugehen nicht mehr ignorieren, weshalb Ray sich wohl oder übel doch aus seiner Schlafstätte herausschälen musste. Sich gleichzeitig verschlafen am Bauch kratzend, schaffte er es irgendwie, mit der linken Hand unkoordiniert die Ausschalttaste des Weckers zu treffen, um dann anschließend mit noch halb geschlossenen Augen dem Badezimmer und damit der morgendlichen Dusche entgegenzuschlurfen. Dabei nuschelte er noch ein leises Dankeschön dafür gen Himmel, dass der Weg von seinem Zimmer aus zum Bad eine gerade Strecke ohne Hindernisse war, somit keine Gefahr drohte, in seinem derzeitigen Zustand gegen irgendwelche Ecken oder Möbel zu knallen. Nachdem das auf ihn einströmende warme Wasser der Dusche seine Denkfähigkeit zumindest partiell wiederbelebt hatte, hastete Ray so schnell wie möglich in seine eigenen vier Wände zurück, um die Kleidung anzuziehen, die er zuvor in seiner Trandösigkeit vergessen hatte. Wenigstens sah so der Plan aus, als Kai ihn bei der Durchquerung des Wohnzimmers abfing; da stand Ray also nun peinlich–berührt, tropfte den Parkettboden voll und war doch ziemlich dankbar dafür, die Geistesgegenwart besessen zu haben, sich ein Handtuch um die Hüften zu binden. Der Hitze in seinem Gesicht nach zu urteilen lief er knallrot an, während er ein piepsiges „Guten Morgen“ hervorstammelte. Interessiert musterte Kai seinen Mitbewohner, als sei dieser eine besonders seltene Spezies, von der man bisher nur in obskuren wissenschaftlichen Abhandlungen gelesen hatte: „Du hast keine Kleider an.“ „Ähm… ja.“ Eine verlegene Stille trat ein. Dann meinten beide gleichzeitig: „Ich muss dir etwas sagen!“ Unsicher lächelte Ray, kämmte sich mit den Fingern einige Knoten aus dem noch nassen Haar: „Fang du ruhig an.“ Er wusste, dass er Kai früher oder später über die Sache mit Emily aufklären musste, aber so hatte er zumindest ein paar Sekunden mehr Zeit, sich geeignete Formulierungen zurechtzulegen. „Ich war gestern Nachmittag noch mal am Grab meiner Eltern und habe da das Gesteck gesehen; da mein Großvater nie auf die Idee kommen würde, so etwas feinfühliges zu machen, gehe ich einfach mal davon aus, dass du es am Dienstag dorthin gestellt hast. Ich… Ich wollte dir für deine Anteilnahme danken.“, Kai holte hörbar einmal tief Luft, „Außerdem wollte ich dir einen Waffenstillstand anbieten. Ich hätte am Mittwoch nicht einfach so aus dem Zimmer rennen sollen, aber deine Reaktion war wie ein Schlag ins Gesicht für mich.“ Verlegen sah Ray zur Seite: „Kann ich gut nachvollziehen, immerhin habe ich mich ja auch aufgeführt wie der letzte Trottel… Du versuchst auf deine Art ständig, mir entgegenzukommen und ich blocke meinerseits stets nur ab. Zumal es da noch etwas gibt, von dem du bisher nichts weißt…“ Mit einem Klicken sprang der Anrufbeantworter an und dann ertönte auch schon eine Frauenstimme: „Hi Ray, hier spricht Emily. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich die Verabredung mit Kai liebend gerne annehme und mich schon wahnsinnig darauf freue. Dann also bis nächsten Dienstag! Ich werde pünktlich um Elf am Tor des Botanischen Gartens stehen.“ Für einen Augenblick entglitten Kai sämtliche Gesichtszüge. Dann verengte er die Augen misstrauisch zu kleinen Schlitzen: „Sag, dass das nicht wahr ist! Du kannst doch nicht wirklich auf die beschissene Idee gekommen sein, mich mit Emily zusammenbringen zu wollen!“ Betreten starrte Ray zu Boden. „Verdammt noch mal, ich hab dir doch gesagt, dass ich so was nicht will! So eine Aktion hätte ich meinem Großvater zugetraut, aber nicht dir… Zieh deine Klamotten an und verschwinde dann so schnell wie möglich aus dieser Wohnung!“ Kais Worte brachten Rays Herz zum Schmerzen. Am liebsten hätte er seinem Schützling jetzt gesagt, wie leid ihm die ganze Sache tat, dass sein gesamtes Handeln nur darauf ausgerichtet gewesen war, Kai zu helfen, doch das hätte auch nichts an der Situation geändert. Er hatte Kais Standpunkt gekannt und war dennoch über alles hinweggegangen, was dieser sich wünschte. Wie ein Panzer hatte Ray alles plattgemacht, woran Kai glaubte. Das konnte man mit einem einfachen „Sorry“ nicht wieder gut machen – letztendlich blieb für Ray nur, die Konsequenzen seiner Entscheidungen zu tragen und zu gehen. Unschlüssig stellte Ray seinen Koffer auf dem Treppenabsatz ab, setzte sich daneben. Und wohin jetzt? Noch vor wenigen Momenten war der Engel sich so sicher gewesen, zu verschwinden sei die einzig richtige Handlungsweise, dass er sich keinerlei Gedanken darüber gemacht hatte, wohin er eigentlich verschwinden sollte. Er hatte keine Ahnung, wo oder ob Lee in dieser Stadt eine Wohnung besaß, und das Restaurant machte erst gegen halb elf auf. In den Himmel konnte er auch nicht einfach so zurückkehren, nicht nach den ganzen bösen Blicken, die ihm Mariah (zugegebenermaßen zurecht) zugeworfen hatte; da würden dieses Mal sonst nur Schläge folgen. Verdammt, momentan würde er sich ja am liebsten selbst mal ordentlich die Fresse polieren! „Hey, warum sitzt du denn um diese Uhrzeit bei uns im Treppenhaus herum? Und wofür brauchst du den Koffer?“, erklang Max’ Stimme neben ihm. Als Ray aufsah, blickte er dem Blonden geradewegs ins besorgt wirkende, leicht verschwitzte Gesicht. Na toll, was sollte er denn jetzt bitteschön sagen? Immerhin handelte es sich hier in erster Linie um einen von Kais Freunden! Scheinbar konnte man Rays Gedanken ungefähr von seinem Gesicht ablesen, denn sofort meinte Max: „Keine Sorge, ich werde dir schon nicht den Kopf abreißen! Warum kommst du nicht erst mal mit hoch in die Wohnung von Tyson und mir? Ich dusche noch schnell und dann können wir uns in aller Ruhe beim Frühstück darüber unterhalten, was zwischen dir und Kai vorgefallen ist…“ Die Wohnung war gemütlich eingerichtet: Helle, freundliche Farben, viel Holz, bei den Möbeln ein Mix aus alten und neuen Stücken. Das Wohnzimmer war mit gut einem halben Dutzend Regalen vollgestopft, die vor Büchern, CDs und DVDs geradezu überquollen. Trotzdem beschränkte sich die Unordnung auf ein erträgliches Maß, machte lediglich deutlich, dass hier tatsächlich gewohnt wurde. Das war jedenfalls der erste Eindruck, der sich für Ray ergab, als Max ihn in die Küche führte und sitzen zu bleiben hieß: „Bin gleich wieder da. Wenn du was trinken willst: Saft und Wasser stehen im Kühlschrank, Kaffeepulver und Filter sind oben im zweiten Regal von rechts. Tassen und Gläser findest du eins weiter.“ Abwesend nickte Ray. Verschlafen kam Tyson in die Küche getapst, hauchte Max zwischen Tür und Angel einen Kuss auf die Wange und ließ sich dann erst mal auf einen Stuhl fallen. Gleich darauf ließ er seinen Kopf auf die Platte des Küchentisches sinken; es dauerte einen Moment, ehe ihm aufging, dass etwas anders war als sonst. Langsam wanderte sein Gesicht wieder so weit nach oben, dass er Ray einen Blick aus blutunterlaufenen Augen zuwerfen konnte: „’Allo…“ „Hi.“, Ray kam sich gerade ziemlich deplaziert vor. Nichts gegen Tyson, aber irgendwie war es schon verdammt seltsam, jemanden, den man kaum kannte, nur in einem Pyjama vor sich sitzen zu haben… Zumal das andauernde Schweigen zwischen ihnen nicht unbedingt dazu beitrug, die Situation irgendwie angenehmer zu machen. Es dauerte einige Minuten, bis Tyson wach genug war, um sich an die mysteriöse Funktionsweise der Kaffeemaschine heranzutrauen – und offenbar auch an die seiner Stimmbänder: „Weißt du, ich hab wirklich nicht die geringste Ahnung, wie Max es Tag für Tag fertig bringt, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen und joggen zu gehen.“ „Das liegt vielleicht daran, dass dein liebster Sport darin besteht, auf der Couch zu sitzen und anderen beim Fußballspielen zuzuschauen.“, sich an den Türrahmen lehnend, rubbelte Max sich grinsend mit dem Handtuch durch die noch feuchten Haare. In gespielter Empörung blies Tyson die Backen auf: „Das ist übelste Verleumdung! Du willst mir doch nicht etwa wirklich unterstellen, dass ich freiwillig Fußball schauen würde!“ „Okay, dann eben Tischtennis…“ Verwirrt sah Ray dabei zu, wie seine Gastgeber einander mit Grinsen bedachten, die ‚Warte nur ab, bis wir nachher allein im Schlafzimmer sind!’ zu sagen schienen; für ihn ergab sich mehr und mehr der Eindruck, an einem Ort gelandet zu sein, an dem er definitiv nicht sein wollte. Da nützte es auch nichts, dass man wenigstens den Anstand besaß, ihm eine Tasse Kaffee auszuschenken und einen Lebkuchen dazuzulegen. „Ray frühstückt heute übrigens mit uns, weil er und Kai Streit hatten.“, Max sagte es ganz beiläufig, während er sich einen Würfel Zucker in die Tasse warf. Verdammt, verdammt, verdammt! Gleich würden sie anfangen, Ray zu zerfleischen wie die Löwen ihre Beute… Und dabei hatte Ray bisher nicht einmal öffentlich zugegeben, dass dem so war! „Wirklich? Na ja, ich kann nicht sagen, ich sei über diese Nachricht überrascht; ist so eine Eigenart von Kai, sich früher oder später mit jedem in die Haare zu kriegen.“, ein deprimiertes Gesicht aufsetzend, zuckte Tyson mit den Schultern, „Nicht, dass er tatsächlich auf Krawall aus ist – er kriegt einfach tierisch schnell Dinge in den falschen Hals. Was hast du denn getan, um ihn so auf die Palme zu bringen, Ray?“ Um ehrlich zu sein, wusste Ray selbst nicht so genau, warum er überhaupt auf die Frage einging, doch zu seiner eigenen Verwunderung hörte er sich antworten: „Es gab da dieses Mal nicht besonders viel, was Kai in den falschen Hals kriegen konnte; ich war so dumm und habe versucht, ein Date mit einer Mitstudentin für ihn zu organisieren.“ Gepeinigt kniff Max die Augen zusammen: „Autsch! In Anbetracht dessen, was Kai in dir sieht, kommt das wirklich einer kalten Dusche gleich; kein Wunder, wenn er wütend reagiert hat. Aber warum hast du eigentlich etwas derart unüberlegtes getan?“ ‚Was Kai in ihm sah’ – was sollte denn das jetzt bitte bedeuten? „Ich… Na ja, also… ich wollte… Sein Großvater hat gemeint, er würde Kais weiteres Medizinstudium verhindern, wenn ich nicht ausziehe und Kai nicht innerhalb von sieben Tagen eine Freundin hat, und da wollte ich… Ich meine, ich will Kai ja schließlich nicht seine ganze Zukunft verbauen, und daher…“, gegen seinen Willen lief Ray rot an. Selbst ihm war klar, dass er sich gerade wie der letzte Volltrottel anhörte – eine Einschätzung, die noch bestätigt wurde, als Tyson in hysterisches Kichern ausbrach. „Hör auf zu lachen, das ist nicht komisch!“, Max verpasste seinem Partner einen leichten Klaps auf den Arm, was diesen nur dazu animierte, noch heftiger vor sich hin zu keckern. „Ignorier ihn einfach Ray, manchmal hat er einfach seine kindischen Phasen.“ Kurz hielt Tyson in seinem Ausbruch inne: „Aber… Du musst dir das mal überlegen: Die Zwei haben Streit, weil sie einander zu gern haben!“ Ein neuerlicher Lachanfall begann seinen Körper zu schütteln. Max entschloss sich daraufhin, Tysons Albernheiten einfach zu übergehen und wandte sich stattdessen wieder Ray zu: „Ich mach dir einen Vorschlag: Du gibst Kai dieses Wochenende über Zeit, sich wieder zu beruhigen, und wir versuchen dann am Montag ein Versöhnungsgespräch zu organisieren; solange kannst du auch vorerst bei uns im Gästezimmer übernachten. Abgemacht?“ Logisch betrachtet hätte Ray jetzt wahrscheinlich ablehnen und stattdessen versuchen sollen, Kais Leben von irgendwo außerhalb in Ordnung zu bringen; dummerweise war er nicht Amor geworden, weil er nach Logik ging. So schlug er ohne zu zögern in die Hand ein, die Max ihm entgegenstreckte: „Sieht so aus, als hätten wir einen Deal…“ Später am Tag ließ Max Tyson und Ray allein in der Wohnung zurück, um seinem Nebenjob – wenn Ray es richtig verstanden hatte, arbeitete Max neben dem Studium als Verkäufer in einem Plattenladen in der Altstadt – nachzugehen. Was Ray und Tyson wieder mit der Frage zurückließ, was zum Teufel sie eigentlich mit der Zeit anfangen sollten. „Äh, tja… Soll ich dir vielleicht dein Quartier zeigen?“, befangen kratzte Tyson sich am Hals. Ray brachte ein schiefes Lächeln zustande: „Das wäre nett.“ Als sie dann im Gästezimmer waren, verschwand Tyson sofort wieder, um frische Bettwäsche zu holen. Das gab Ray genug Zeit, um sich in aller Ruhe im Raum umzusehen: Wie der Rest der Wohnung machte auch dieses Zimmer einen positiven Eindruck. Die Wände waren in einem hellen Sonnengelb gestrichen, das wahrscheinlich jede Winterdepression dazu brachte, schreiend davonzurennen. Nicht unbedingt die Farbe, die Ray ausgewählt hätte, aber alles in allem doch angenehm… Und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte der Engel noch immer ein herrlich bequem aussehendes Bett gehabt, das ihn über diesen Umstand hätte hinwegtrösten können. Auf einer Kommode stand ein großer, quadratischer Glasbehälter, der Rays Aufmerksamkeit auf sich lenkte; wäre da nicht ein unleugbarer Mangel an Wasser und bunten Fischen gewesen, er hätte auf ein Aquarium getippt. Doch in dem von einer Wärmelampe beschienenen Behälter befanden sich nur Sand, einige wild wuchernde, tropisch aussehende Pflanzen, ein Wassernapf und ein ziemlich deformierter Stein. Für was das wohl gut sein sollte? Vorsichtig stupste Ray das vermeintliche Stück Fels an. Als dieses plötzlich sechs zusätzliche Auswüchse entwickelte und ernste schwarze Augen aus einem verrunzelten Gesicht heraus Rays Finger anklagend musterten, fühlte sich der Engel doch sehr verwirrt. „Ah, du hast Draciel entdeckt!“, neben dem Bettzeug hatte Tyson noch einen Teller voller Salatblätter in der Hand, als er den Raum wieder betrat, „Das hier war übrigens Max Zimmer, bevor wir angefangen haben, miteinander… Na ja, du weißt schon.“ Unwillkürlich musste Ray grinsen; irgendwie niedlich, wie Tyson da gerade knallrot anlief… „Hm, sag mal, wie haben du und Max euch eigentlich kennengelernt?“ Kai hat erwähnt, dass Max extra aus Amerika hierher gezogen ist und da habe ich mich gefragt…“ „Schon klar!“, zwinkernd stellte Tyson den Teller ins Terrarium, machte dann einen demütigen Knicks vor der Schildkröte, „Ihr Essen ist angerichtet, Mylady!“ Draciel warf ihm daraufhin einen Blick zu, der ‚Jetzt bist du endgültig vollkommen durchgeknallt!’ zu sagen schien. Prustend ließ sich Tyson nach hinten und damit aufs Bett fallen: „Eigentlich ist die Sache nicht besonders kompliziert: Mein großer Bruder ist Chemielaborant in derselben Firma, in der Max’ Mutter die Leiterin der Forschungsabteilung ist; irgend so ein millionenschwerer amerikanischer Konzern, dessen Name viel zu kompliziert ist, als dass ich ihn mir merken könnte. Wie auch immer, vorletztes Jahr hat mein Bruder mich eingeladen, Weihnachten mit ihn in den Staaten zu feiern. Weil er mich nicht vom Flughafen abholen konnte, hab ich mir ein Taxi geschnappt und bin zu ihm ins Firmengebäude gekommen; tja, und dort auf der Weihnachtsfeier bin ich dann zum ersten Mal Max begegnet.“ „Ah, also Liebe auf den ersten Blick, was?“ „Na ja, soweit würde ich nicht gehen; du musst dir vor Augen halten, dass da ein riesiges Büffet aufgebaut war, das sofort meine volle Konzentration in Anspruch nahm.“, Rays Gesichtsausdruck auf diese Äußerung brachte Tyson erneut zum Kichern, „Aber wir haben uns gut genug verstanden, um Emailadressen auszutauschen und dann so wahnsinnig zu sein, einander auch tatsächlich zu schreiben. Ein halbes Jahr später saß Max im Flugzeug…“ Ein warmes Gefühl machte sich in Rays Magen breit. Die ganze Geschichte, die Tyson ihm da erzählt hatte, klang so banal, so alltäglich… so unglaublich perfekt auf eine vollkommen schwachsinnige Art und Weise. Zum ersten Mal seitdem sie sich begegnet waren hatte der Engel das Gefühl, dass er und sein Gegenüber unter Umständen doch nicht so grundverschieden waren; es war dieser Eindruck, der es zwischen ihnen ‚Klick’ machen ließ, das bisherige unbeholfene Dulden des Anderen in tatsächliches Verständnis umwandelte. Im Verlauf des Wochenendes schafften seine Gastgeber es noch einige Male, Ray zu erstaunen. So stellte sich nach dem samstägigen Abendessen (einem hervorragend schmeckenden Hähnchen Masala) heraus, dass Tyson es gekocht hatte – eine Fähigkeit, ‚die sich von selbst ergab, wenn man allein mit seinem Großvater unter einem Dach lebte’ – und Max entpuppte sich nicht nur als Fan von romantischen Komödien, sondern auch als glühender Verehrer von Quentin Tarantino. Was sich bei genauerer Betrachtung als verdammt unheimlich erwies, denn der Amerikaner stellte mehrfach unter Beweis, dass er jeden Satz von Pulp Fiction auswendig konnte – und das in Englisch, Japanisch, Deutsch und… äh, Kantonesisch. Wie auch immer, zumindest konnte man nicht behaupten, die Zeit mit den Beiden sei irgendwie langweilig gewesen… Und selbst in diesem Falle wäre die gemeinsame Zeit Ray immer noch lieber gewesen als das, was ihm heute bevorstand. Sicher, die Aussicht, sich vielleicht wieder mit Kai zu vertragen, erfüllte Ray mit Hoffnung, aber zutreffend war nun einmal auch, dass er im gleichen Maße Schrecken empfand. Was, wenn Kai erst gar nicht bereit war, sich seine Gründe anzuhören? Was, wenn er es tat und trotzdem der Ansicht war, Rays Verhalten sei ganz und gar intolerabel? Es war schon beim ersten Mal schwer genug gewesen zu gehen, wie sollte Ray da die Kraft aufbringen, all seine Hoffnungen ein zweites Mal zu Grabe zu tragen? All das und mehr versuchte der Engel Max und Tyson begreiflich zu machen, doch die Beiden lächelten nur und klopften ihm beruhigend auf die Schultern, ehe sie hinunter in Kais Wohnung gingen, um eine Verabredung mit ihm auszumachen - wohlgemerkt ohne zu erwähnen, dass ein gewisser Mitbewohner von Kai mit von der Partie sein würde. So kam es, dass Ray sich noch am selben Abend in einer gut bevölkerten, rauchverhangenen Bar wiederfand und nervös ein Glas nach dem anderen von etwas hinunterkippte, das sich „Long Island Iced Tea“ nannte, aber seltsamerweise gar nicht nach Eistee schmeckte. Bislang war Kai noch nicht aufgetaucht, und wahrscheinlich war das sogar besser so, denn allein wenn Ray an den Anderen dachte, fing sein Kopf an, sich zu drehen. Wie eigentlich auch sonst bei allem was er tat, wie ihm jetzt gerade mal so auffiel… Max warf ihm einen besorgten Blick zu: „Sag mal, ist alles in Ordnung bei dir?“ Ehe Ray auch nur die Chance hatte zu antworten, bahnte Tyson sich mit Kai im Schlepptau einen Weg an ihren Tisch: „He, schaut mal, wen ich auf meinem Spaziergang draußen aufgegabelt habe!“ Kaum hatte Kai Ray entdeckt, verspannte sich der Blauhaarige sichtbar: „Was will der denn hier?“ „Setz dich erst mal, ehe du uns eine Szene machst!“, Max machte eine beschwichtigende Geste, „Dieser junge Mann zu meiner Rechten hat dir etwas zu erklären, das zwar ganz und gar unlogisch ist, deinem eigenen Wahnsinn aber so sehr ähnelt, dass du vermutlich in der Lage sein dürftest, es nachzuvollziehen.“ Misstrauisch verzog Kai eine Augenbraue, hatte aber zumindest die Güte, sich auf den Stuhl gegenüber Ray niederzulassen. Gleichzeitig gab er einer Kellnerin zu verstehen, dass sie ihm doch bitte einen doppelten Wodka bringen sollte. Für eine Weile saßen sie einfach nur so da und redeten kein Wort, nippten nur ab und zu an ihren Getränken. Anfangs versuchten Max und Tyson noch die Stimmung aufzulockern, indem sie mehr oder minder alberne Witze rissen, doch nachdem Kai sein Glas ein drittes Mal hatte auffüllen lassen, hörten auch sie damit auf. Stattdessen stieß Max Ray auffordernd seinen Ellenbogen in die Seite. Verwirrt sah der seinen Sitznachbarn an; was wollten die denn jetzt von ihm? Kai räusperte sich: „Ich warte immer noch darauf, von dir mitgeteilt zu bekommen, weshalb du mich mit Emily zusammenbringen wolltest.“ Oh, richtig! Da war ja noch was gewesen… „Dein Opa war doch scho schauer, weil du mit mir suschammen wohnst, scho schauer, dasser dir deine gansche Sukunft verschauen wollte, scho schauer war er. Und… Und… Und da hab’ch halt gedacht, wenn’ch dir die Emily alsch Freundin beschorge, dann’st dein Opa sufrieden und lässt dich in Ruhe und dann bischt du sufrieden und dasch macht dann misch sufrieden.“ Interessiert runzelte Kai die Stirn: „Ah ja… Und wie bist du auf diese geniale Idee gekommen?“ Ray schenkte ihm ein strahlendes Lächeln: „Weil’ch disch liebe! Und jetscht… Jetscht muss’ch aufsch Klo!“ Ehe einer der Anderen etwas sagen konnte, war er schon aufgestanden und in Richtung des Schildes mit der Aufschrift „Zu den Toiletten“ getorkelt. Als Ray die Toilettenkabine wieder verließ, konnte er seine Blase Lobeshymnen singen hören. Als er dann am Waschbecken stand, sich die Hände wusch und ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, blieb vom vorangegangenen Enthusiasmus nicht mehr viel übrig. Stattdessen meldeten sich die paar Gehirnzellen, die nicht im Laufe des Abends baden gegangen waren, zu Wort und spielten ihm das vorangegangene Gespräch noch mal in Großaufnahme ab. Oh! Mein! Gott! Im Spiegel sah Ray, wie hinter ihm die Tür aufging und plötzlich Kai mit jenem unlesbaren Gesichtsausdruck im Raum stand, den er bis zur Perfektion beherrschte. Hastig drehte sich Ray zu den Neuankömmling um: „Hör zu…“ Doch noch bevor er den Satz beenden konnte, hatte Kai ihm bereits an den Schultern gepackt, gegen die kalten Kacheln der nächsten Wand gepresst und küsste ihn mit einer Ausgehungertheit, die an Aggressivität grenzte. Als sich dann auch noch ein vorwitziges Knie zwischen seine Beine schob und Reibung an einer ganz bestimmten Stelle seiner Anatomie erzeugte, setzte das rationale Denken bei Ray endgültig aus. Im Nachhinein hatte Ray keine Ahnung mehr, wie Kai und er nach Hause gekommen waren; alles, was in diesem Moment zählte, war Kais Atem auf seiner Haut, der ihm Schauer über den Körper jagte, Kais Berührungen, die ihm flüssiges Feuer durch die Adern schießen ließen, Kais Lippen, die ihn um den Verstand brachten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)