Robotnic Ai von Anshie ================================================================================ Kapitel 11: Außer Kontrolle --------------------------- Mitoki saß zu Hause auf dem Sofa. Seit Sato gegangen war schon. Es war mittlerweile dämmrig geworden. Also mussten Stunden vergangen sein. Stunden, die ihm vorkamen wie Minuten und zugleich wie Jahre. Er hatte die Beine fest an den Körper gezogen, hielt sie mit den Händen umschlungen, legte den Kopf auf die Knie. Starr sah er aus dem Fenster. Es hatte angefangen zu regnen. Wann hatte es angefangen? Nicht so wichtig. Nur ein Robotnic. Nur eine Maschine. Ein Wesen, was erschaffen wurde, um der menschlichen Rasse zu dienen. Dienen in welchem Sinne auch immer. Sato war anders. Ganz anders. Er war ein guter Mensch. Er behandelte Mitoki immer gut. Wieso sollte er denn weggehen? Er wollte nicht weggehen. Es war doch gut so, wie es war. Mitoki hatte Angst. Furchtbare Angst, dass er nicht hier bleiben durfte. Vor dem, was Arashi mit ihm vorhatte, auch wenn er sich nicht das Geringste darunter vorstellen konnte. Untersuchungen, Forschungsprojekt... diese Begriffe kannte er nicht. Aber wenn es das war, was er am Vortag hatte über sich ergehen lassen musste - dann mochte er diese Untersuchungen nicht. Nachdenklich wandte er den Blick vom Fenster und vom grauen Himmel da draußen ab und ließ ihn durch den Raum schweifen. Für ein paar Sekunden blieb er an einer Zimmerpflanze hängen, die auf dem kleinen Schreibtisch neben dem Computer stand. Und plötzlich geschah etwas Seltsames. Während er das Gewächs so anstarrte und dabei nur trübe, grünliche, verschwommene Umrisse vor Augen hatte, begann die Pflanze binnen Sekunden zu verdorren. Ganz plötzlich färbten sich die saftig grünen Blätter braun, kräuselten sich zusammen, wie zerknittertes Papier und hinterließen zum Schluss nicht einmal einen Ansatz von gesunder Farbe. Ein paar Blätter verloren den Halt des Stieles und landeten nach kurzem Segelflug in dem kleinen Blumentopf. Mitoki’s Augen wurden glasig, so dass er das Bild vor sich immer verschwommener sah und letztendlich überhaupt nicht mehr darauf achtete. Eine Träne überwand die Erhöhung seines Unterlids und bahnte sich ihren Weg allmählich über die rosigen Wangen. Beinahe zeitgleich begann der Becher auf dem Tisch zu wackeln. Erst ganz leicht, kaum merklich. Dann immer stärker, bis selbst das Sofa, der Tisch und alles andere im Raum zu beben begann. Mit einem dumpfen Geräusch fiel der Plastikbecher um und der Inhalt - der Saft, den Mitoki sich eingeschenkt hatte - ergoss sich über den Tisch. Einige Bücher fielen aus dem Regal, als das Beben noch stärker wurde. Mitoki hatte das Erdbeben bis jetzt gar nicht beachtet, war weiter stillschweigend dagesessen. Erst als das Regal hinter dem Sofa drohte, zu kippen, drehte er sich um und... Es war vorbei. Einfach so. Ein bisschen schaukelte die Deckenlampe noch, dann war es still. Mitoki drehte sich wieder um. Und tat als wäre nichts gewesen. Er schaute auf die Wanduhr. Normalerweise müsste Sato längst zu Hause sein. Doch Mitoki wollte jetzt nicht mehr warten. Hatte das lange genug getan. Also stand er auf und ging ins Schlafzimmer um sich umzuziehen. Sato hastete die Treppen nach oben. Selbst auf den Fahrstuhl zu warten, war ihm zuwider und kam ihm ja doch nur zu lange vor. Er kramte den Schlüssel aus der Jackentasche und schloss die Wohnungstür auf, rief schon im Flur: „Mitoki?“ Keine Antwort. Er seufzte, hängte die Jacke an den Kleiderhacken und schlüpfte aus den Schuhen. „Tut mir leid, dass ich so spät komme, aber ich hatte viel zu tun und dann gab es auch noch ein Erdbeben. Hier ist doch nichts passiert, oder?“ Während er geredet hatte, war er über den Flur gelaufen. Nun warf er einen Blick ins Wohnzimmer. Nichts. Ein paar Bücher lagen auf dem Sofa. Ein umgekippter Trinkbecher. Moment mal! Wieso hatte Mitoki diese Sauerei nicht aufgewischt? Das passte ja so gar nicht zu dem Kleinen. Ihm war doch nichts...? „Mitoki?“, fragte Sato erneut und lugte in die Küche. Niemand. Er öffnete die Schlafzimmertür. Mitoki drehte sich um. „Sato-san, da bist du ja!“ Sato blieb überrascht stehen, als er Mitoki mit nichts als seiner Schlafanzughose an und dem dazugehörigem Oberteil in den Händen vor dem Bett stehen sah. Kam es ihm nur so vor, oder fühlte sich sein Gesicht plötzlich beängstigen heiß an? Gott, was dachte er da wieder? „Ist irgend etwas?“, fragte Mitoki kindlich naiv wie er nun mal war und mit diesen großen, giftgrünen Kulleraugen. Sato schüttelte rasch den Kopf. „N...nein, es ist nur...“ Er wandte den Blick zu Boden. War wahrscheinlich besser so. „Nichts...“ Gab Mitoki sich mit dieser Antwort zufrieden? Er stand noch immer da und rührte sich nicht, als erwartete er, dass Sato noch etwas zu sagen hatte. „Ist dir... ist... was passiert?“, wechselte dieser also das Thema. „Oder war das Beben hier nicht so stark?“ Mitoki schüttelte den Kopf, was Sato natürlich nur aus den Augenwinkeln sehen konnte, da er immer noch zu Boden blickte. „Nein“, nuschelte der Junge leise. Ein paar Sekunden standen sie sich schweigend gegenüber. Bis Mitoki das ja doch irgendwie recht trockene Gespräch für beendet hielt und in die Ärmel des Schlafanzughemdes schlüpfte und es zuknöpfte. „Sato-san“, begann er dann leise. „Hm?“ „Muss Mitoki jetzt von dir weggehen?“ Überrascht blickte Sato auf und erfasste direkt diese unschuldigen, bekümmert dreinblickenden Augen. „Mi...toki...“, stammelte er. Mitoki schluckte. Doch irgendwie war dieser blöde Kloß in seinem Hals immer noch da. Er kannte diese Redensart. Er hatte sie in einem Buch gelesen. Und er hatte viele gelesen, wenn Sato nicht zu Hause war. Doch was es bedeutete, einen Kloß im Hals stecken zu haben, das verstand er erst jetzt. „Mitoki will nicht weggehen“, wisperte er. Sato spürte, wie sich sein Puls beschleunigte und er konnte gar nichts dagegen tun. So unkontrollierbar. Nur wegen diesen wenigen Worten. Nicht nur sein Puls. Irgendwie war es, als würde er seine eigenen Handlungen, Bewegungsabläufe nicht mehr steuern. Zumindest nicht mit dem Gehirn. Er ging auf Mitoki zu und legte die Hände auf dessen Schultern, drückte ihn leicht nach hinten, bis Mitoki sich aufs Bett setzte und kniete sich dann vor ihn, so dass sie ungefähr auf einer Höhe waren. Eigentlich wollte er jetzt etwas sagen. Es wäre der Moment gewesen, in dem er etwas hätte sagen müssen. Dem Jungen eine Erklärung hätte geben müssen. Doch ihm wollten leider abrupt nicht die richtigen Worte einfallen. Und irgendwie war Reden jetzt so ganz und gar nicht seine Absicht, wenn er so in diese traurigen Augen blickte. Stattdessen hob er den Kopf zu Mitoki’s, neigte ihn leicht zur Seite und berührte die schmalen Lippen des Jungen. Verdutzt riss Mitoki die Augen auf und hielt die Luft an. Für einen Moment lang trafen sich die Blicke der beiden, doch dann war es Sato, der die Lider schloss. Oh Gott fühlte sich das gut an! So verdammt gut, dass es ja nur verboten sein konnte. Etwas so unfassbar Schönes musste verboten sein. So war das ja immer im Leben. Und mit einem Mal war ihm klar, wieso manche Menschen trotzdem verbotene Dinge taten. Er richtete sich von den Knien auf, ohne die Lippen von Mitoki’s zu lösen, legte erneut die Hände auf dessen Schultern und drückte ihn endgültig nach hinten aufs Bett. Dann stieg er selbst aufs Bett, stützte sich links und rechts von Mitoki’s Gesicht mit den Händen ab, damit sein Gewicht dem Kleinen nicht zur Last wurde. Nur ungern löste er dann den Kuss, nur um ein weit aufgerissenes, überraschtes Augenpaar und wunderbar niedliche, gerötete Wangen zu erblicken. Er konnte nicht anders. Er musste ihn jetzt einfach küssen. Er wollte ihn schmecken, wollte wissen, ob er so süß schmeckte, wie er aussah. Und so schloss er erneut die Augen und küsste ihn wieder. Diesmal jedoch fordernder. Er bewegte die Lippen leicht auf denen des Anderen, fuhr vorsichtig mit der Zunge darüber und drängte sie schließlich zwischen Mitoki’s Lippen. In immer kürzer werdenden Abständen drangen leichte Atemzüge an seine Wangen und brachten ihn erst recht dazu, nicht mehr aufhören zu wollen. Nicht zu können. Schließlich hatte seine Zunge den Weg zu Mitoki’s gefunden. Nur ganz zaghaft hatte dieser den Mund geöffnet. Liebevoll umkreiste er Mitoki’s Zunge nun mit der eigenen. Wie süß er schmeckte. Noch viel besser, als er es je für möglich gehalten hatte. Eine seiner Hände legte sich sanft auf die zierliche Brust, die sich durch den dünnen Stoff merklich schnell hob und wieder senkte. Wie gebannt öffnete seine Hand den obersten Knopf de Schlafanzugs. Er löste die Lippen von Mitoki’s, nur um sie an dessen Hals wieder anzusetzen und sich bis zu seiner Brust nach unten zu küssen. Jedes Stück der blassen Haut, die er entblößte, indem er auch die restlichen Knöpfe öffnete. Als Mitoki’s Oberkörper komplett enthüllt war, ließ Sato seine Hand weiter nach unten fahren. Erst leicht die Hüfte entlang, dann vom Bauch aus abwärts, über den Bauchnabel, bis zu seinem Schritt. Er hörte den Jungen leise keuchen. Spürte, wie es ihn erregte. Und dachte gar nicht mehr daran, was er hier eigentlich tat. Das schnelle Atmen wurde immer unregelmäßiger, je tiefer seine Lippen sich ihren Weg küssten. Als sie schließlich beim Saum der Hose angekommen waren, zog Sato diese leicht mit der Hand nach unten. Ein gequältes Wimmern ließ ihn kurz aufblicken und... Schlagartig fuhr Sato hoch. Er weinte! Mitoki weinte! Hatte der zierliche Körper unter ihm die ganze Zeit schon so furchtbar gezittert? War er die ganze Zeit schon so verkrampft gewesen? Hastig, ja beinahe panisch stieg Sato vom Bett und blickte den halbnackten Jungen vor sich entsetzt an. „Was...“ wisperte er und starrte auf seine eigenen Hände. „Oh Gott, was hab ich getan?!“ Mitoki schluckte, biss sich verängstig auf die Unterlippe und setzte sich rasch auf. Er schnappte sich die Bettdecke und bedeckte damit seinen noch immer zitternden Körper. Ein leises Schniefen ließ Sato erneut schaudern. Noch immer rannen Tränen über Mitoki’s Gesicht. Sato stand regungslos da. Erst als er das Rascheln des Stoffes hörte, wagte er es, aufzublicken. Mitoki war aufgestanden, hatte das Hemd nicht zugeknöpft, sondern hielt die beiden Seiten mit den Händen, die sich zu Fäusten geballt in den Stoff krallten, übereinander geklappt. „Mi...“, begann er leise. „Mitoki geht auf dem Sofa schlafen.“ „Nein!“, schrie Sato und erst als er sah, wie Mitoki erneut zusammenzuckte, merkte er, dass er wohl lauter als geplant gesprochen hatte. Leise wiederholte er: „Nein...“, und ging zur Tür. „Ich... werde im Wohnzimmer schlafen. Du kannst hier bleiben.“ Und so ließ er Mitoki alleine. Völlig verwirrt saß dieser auf dem Bett. Er verstand die Welt nicht mehr. Hatte er doch gerade geglaubt, diese Welt endlich zu begreifen, da... Schluchzend ließ er sich zurückfallen, winkelte die Beine an und krallte sich in die Decke, die er bis über die Ohren hochgezogen hatte. Wie der Stoff unter seinem Kopf allmählich nass wurde, merkte er gar nicht mehr. Sato hob den Becher auf, der beim Erdbeben umgefallen war. Einen Moment lang sah er träumend auf das Trinkgefäß, schüttelte dann seufzend den Kopf und trug den Becher in die Küche. Dann wischte er mit einem Lappen den verschütteten Saft auf, ließ den Lumpen in den Eimer mit Wasser fallen, den er aus der Küche mitgebracht hatte, und sank in das Sofakissen. Verzweifelt vergrub er den Kopf in den Händen. „Was hab ich getan?“, wisperte er. Mit einem mal fielen ihm JT’s Worte von heute morgen wieder ein: Diese Perversen, die sich an Robotnics vergreifen... „Oh Gott...“ Feuchte Tränen liefen über seine Wangen. Mehr und immer mehr. Es war lange her, dass er geweint hatte. „Ich bin Abschaum“, dachte er. „Schlimmer als Abschaum!“ Er wollte es rechtfertigen. Wollte irgendwie begründen, warum er es getan hatte. Wollte sich selbst trösten, sich beruhigen in dem er sich vergewisserte, dass er nicht zu diesen Perversen gehörte. Er war nicht so einer, der über wehrlose Robotnics herfiel, sie von der Straße verschleppte und sich in einer dunklen Gasse an ihnen verging. Nein, so jemand war er nicht. Er wusste ja, wieso er es getan hatte. Die Streitereien mit Arashi, die Angst Mitoki zu verlieren... Das alles war einfach zu viel. Und dennoch: Er hatte etwas gegen Mitoki’s Willen getan. Er hatte ihm... etwas angetan! Und nichts konnte das je rechtfertigen. Auch nicht Liebe... Einige Stunden waren vergangen. Mitoki war eingeschlafen. Und wieder aufgewacht. Eingeschlafen. Und wieder aufgewacht. Schon ein paar Mal. Er konnte einfach kein Auge zu tun. Zu viel spukte ihm im Kopf herum. Seufzend stand er auf und schlich auf den Flur. In der kleinen Wohnung war es längst dunkel geworden. Mitoki warf einen Blick ins Wohnzimmer. Er konnte Sato auf dem Sofa liegen sehen. Vorsichtig schlich er in den Raum, trat näher und schaute, ob Sato schlief. Tatsächlich. Die Müdigkeit hatte ihn überwältigt. Mit dieser Gewissheit ging Mitoki zurück ins Schlafzimmer. Er suchte rasch seine Klamotten zusammen, die er zuvor auf den Sessel gelegt hatte und zog sich um. Immer schön darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Aus demselben Grund lehnte er die Schlafzimmertür nur leicht an, anstatt sie in die Angel fallen zu lassen. Als er über den Flur ging, schweifte sein Blick erneut ins Wohnzimmer. Sato schlief. Kein Zweifel. Und so ging Mitoki weiter seinem Vorhaben nach. Rasch schlüpfte er in seine Schuhe, zog sich eine dünne Jacke über - denn die Nächte waren auch im Sommer sehr frisch - und öffnete die Wohnungstür. Erschrocken zuckte er zusammen, als ein lautes Quietschen ertönte. Für einen Moment lang war er wie versteinert, vergaß sogar zu atmen, und lauschte angestrengt, ob sich im Wohnzimmer etwas tat. Nichts. Wohl noch einmal Glück gehabt. Und so ging er eilig auf den Hausflur, ließ die Tür langsam hinter sich zu gleiten. Zur selben Zeit an einem anderen Ort in Tokio. „Chef, sie haben mich rufen lassen?“ „Hm?“ Ein Mann, mittleren Alters, kräftig gebaut und mit lichtem Haar drehte sich um und blickte den Angestellten, welcher einen ähnlichen Anzug trug wie er selbst, an. Dieser Anzug sah nicht sonderlich anders aus, aber wenn man die Positionen der beiden Gegenüberstehenden bedachte, konnte man davon ausgehen, dass der des Chef zehnmal so teuer sein durfte. „Ja“, begann der Chef, kratzte sich am Bart und ging um den großen Schreibtisch aus Teakholz vorbei. „Haben sie das Erdbeben untersucht?“ „Ähm, ja, aber viel haben wir nicht herausbekommen, da es ja nicht besonders stark und auch nicht sehr lange angedauert hatte“, antwortete der brave Angestellte, sichtlich nervös. „Hm...“, brummelte sein Vorgesetzter nachdenklich. „Wissen wir ob es Helios war?“ „Zu neunundneunzig Prozent.“ „Hm...“ Nachdenklich ging der Mann ein paar Schritte, verschränkte die Arme erneut hinter dem Rücken und blickte aus dem Panoramafenster, welches eine prachtvolle Aussicht auf die zahllosen Lichter der Stadt dort unten in der Tiefe preisgab. „Ich möchte, dass ihr ihn mir zurückholt“, schloss er dann. „Was? Aber ich dachte...“ „Ich weiß, ich sagte, ich will sehen wie er sich außerhalb unserer Forschung entwickelt, aber das reicht mir jetzt. Wer weiß wozu er noch imstande ist. Ich muss mir diese Kräfte schleunigst wieder eigen machen.“ „Ich verstehe.“ „Selen beobachtet ihn nach wie vor?“ „Jawohl.“ „Dann dürfte er seinen Standpunkt ohne weiteres ausfindig machen können. Schicken sie umgehend ein paar Leute.“ „Jawohl Sir.“ Der Angestellte verbeugt sich höflich, kehrte dem Chef dann den Rücken und verließ das Büro. Nachdenklich, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, irrte Mitoki durch die Straßen. Der Himmel war dunkel. Doch die Straßen hell beleuchtet und belebt. Ständig wurde er hin und her geschubst, längst hatte er die Orientierung verloren, irrte ziellos umher. Wieso war er überhaupt abgehauen? Das war einfach nur blöde gewesen, wie er sich schon jetzt eingestehen musste. Aber andererseits machte es durchaus Sinn. Er wollte fort von allem. Fort von Arashi, aus Angst vor den Untersuchungen, fort von Sato, dessen Verhalten er einfach nicht verstand. Ein leises Schluchzen ging in dem lauten Nachtleben der Weltstadt klanglos unter. Und absolut niemand kümmerte sich um einen kleinen Jungen, der weinend durch die Dunkelheit irrte. Noch vor ein paar Stunden hatte er um jeden Preis bei Sato bleiben wollen. Doch nun... war er sich da nicht mehr so sicher. Er verstand es einfach nicht, konnte nicht begreifen, wieso Sato getan hatte, was er getan hatte. Er mochte Sato, keine Frage. Er mochte ihn sogar sehr. Aber für einen Moment lang, hatte er wirklich Angst gehabt. Seltsam. Wieso denn Angst? Vor Sato brauchte er doch keine Angst zu haben. Aber er hatte so anders gewirkt. So komisch. So, dass Mitoki die Welt nicht mehr verstand. Nicht mehr wusste, wohin er sollte, wo er bleiben konnte, wem er vertrauen durfte und wem nicht. Vertrauen durfte man in dieser Welt anscheinend niemandem. Was Vertrauen denn etwas Schlechtes? So viele Gedanken bedrückten ihn. Wieder seufzte er tief. Herr je... wo sollte er denn jetzt nur hin? Wie sollte es denn jetzt nur weitergehen? Zur gleichen Zeit hatte Sato einen mehr als nur unruhigen Schlaf. Keuchend und brummelnd drehte er sich von einer Seite auf die andere. Nuschelte Unverständliches und das nun schon seit einer ganzen Weile. Auf einmal jedoch rollte er zu weit, denn das Sofa war nicht halb so breit wie sein Bett und mit einem dumpfen Knall krachte er gegen die Tischplatte. Mit einem Mal war er wach. Fand sich auf dem Fußboden wieder. Sein Hinterkopf schmerzte höllisch. „Auuuh...“, stöhnte er mit verzogenem Gesicht, und rieb sich mit der flachen Hand die Beule. „Mist, verdammter...“ Er stand auf und streckte sich. Erst jetzt sah er, wogegen er eigentlich geknallt war und Sekunden wunderte er sich noch, wieso er denn im Wohnzimmer war. Doch dann fiel es ihm wieder ein. „Mitoki...“ Seufzend schloss er die Augen und gähnte. Mist, auf dem Sofa war es wirklich unbequem. Sein ganzer Rücken schmerzte, und sein Nacken war verspannt wie schon lange nicht mehr. Er ging aus dem Wohnzimmer und blieb einen Moment lang vor der Schlafzimmertür stehen, ehe er sich entschloss hineinzugehen. „Mitoki?“, flüsterte er. Keine Antwort. Hatte der Junge doch Schlaf gefunden? Zögernd ging er ein paar Schritte in den Raum hinein, den Blick stets auf das Bett gerichtet. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er mehr, erkannte er... Moment mal... er kniff die Augen zusammen, schaute angestrengter hin. „Mitoki?“, wiederholte er erneut, diesmal etwas lauter. Die Bettdecke lag aber seltsam da. Ohne weiter zu überlegen, ging Sato zum Bett und zog die Decke herunter. Nein, er hatte sich nicht geirrt. Das lag gar niemand im Bett. „Mitoki?“, schrie Sato, ließ dabei die Decke fallen und ging zügig zum Lichtschalter um ihn zu betätigen. Der Raum war gottverlassen. Er rannte auf den Flur, schaltete auch hier das Licht an. Niemand. „Mitoki, wo steckst du?“ Vielleicht im Bad? Er riss die Tür auf. Nein, hier auch nicht. In der Küche? Nichts. „Mitoki!“ Keine Antwort. Panik stieg in ihm auf. „Und was wenn...“, schoss es ihm durch den Kopf. Was, wenn der Kleine ihm sein Handeln nicht verzeihen würde? Wenn er es nicht verziehen hatte! Blitzschnell fuhr Sato herum, griff sich noch das Handy, welches auf dem Wohnzimmertisch lag, rannte zur Tür wo er Jacke und Schuhe anzog und stürmte aus dem Haus. tbc Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)