The Balance of Creation von Autumn (TYKA u. a.) ================================================================================ Kapitel 35: Seelenwanderung (Teil 1) ------------------------------------ Kapitel 35: Seelenwanderung (Teil 1) Der Vorraum zu Tysons Krankenzimmer war überfüllt. Daichi stand in eine Ecke gedrückt und heulte. „Das ist nicht fair!", schluchzte er leise. „Warum müssen Tyson und Kai so viel leiden? Sie haben sich doch geliebt, oder nicht?" Carlos legte die Arme um ihn und streichelte ihm durchs Haar. „Ihre Liebe war von Anfang eine Gefahr für Hades. Deshalb müssen sie leiden. Er hofft, das Band zwischen ihnen damit endgültig zu zerbrechen. Zwei seiner größten Widersacher einfach nur zu töten ist in ihrem Fall nicht genug. Sie sollen in tausend Stücke zerschellen. Das ist es, was Hades will." „Aber... das ist grausam!" „Ja. Und Hades ist die personifizierte Grausamkeit. Du bist jung, Daichi. Eigentlich zu jung für all das, was man dir aufgebürdet hat." „Du bist erst neunzehn! Du bist auch jung!" „Sicher, aber zwischen fünfzehn und neunzehn besteht doch ein Unterschied, meinst du nicht? Ich weiß, dass dir dein Schicksal keine Wahl läßt - aber mir wäre es lieber, du wärest nicht in diese verdammte Sache verwickelt. Dann müsste ich mir nicht so viele Sorgen machen." Der Rothaarige schmiegte sich an ihn und der Spanier küsste seine Stirn. Links von ihnen sprachen sich Miguel und Claude gegenseitig Trost zu, obwohl man ihnen anmerkte, dass sie nicht so recht an ihre eigene Zuversicht glaubten. Mathilda wischte sich nachlässig die Tränen aus dem Gesicht, während Mariam sie fürsorglich umarmte. Lee und Raul, flankiert von ihren Schwestern, hüllten sich in trübsinniges Schweigen. Rick erging sich in gemurmelten Verwünschungen über alle Mächte des Bösen, angefangen beim Herrscher der Unterwelt bis hin zu Deimos und George W. Bush. Romero brütete traurig vor sich hin, während Garland und Mystel sich gegenseitig festhielten. Im Krankenzimmer selbst befanden sich sowohl Mr. Dickenson als auch Ray, Max und Hiro, die nur noch auf Kai und Bryan warteten. Bevor sich diese beiden zu Tyson begaben, wollten sie noch den ehemaligen Krieger des Zorns besuchen. Es sollte das erste Wiedersehen von Feuer und Eis sein. Zögernd schoben sie sich durch die Tür. Der Vorhang zu Enriques Bett war zugezogen, ein Blick dahinter verriet, dass er tief und fest schlief. Tala hingegen war wach, auf seinem Nachtkästchen stand ein Tablett mit Frühstück, aber er hatte praktisch nichts davon angerührt. Er lächelte Bryan zu, doch sein Gesicht verhärtete sich kummervoll, als er Kai sah. „Mein Freund... zuletzt haben wir am Telefon miteinander gesprochen..." „Ja, du hast mich vor dem Eis-Kuss gewarnt. Aber ich fürchte, dass ich deine Hoffnungen enttäuscht habe. Ich konnte Tyson nicht zur Vernunft bringen, obwohl ich alles versucht habe. Hat Bryan dir von seinem Zustand erzählt?" Er nickte. „Mach dir keine Vorwürfe. Die Magie eines Ritters der Verdammnis zu unterschätzen, war noch nie eine gute Idee. Iras war mächtig. Sicher, nicht ganz so mächtig wie Deimos, aber doch Zweiter in der Rangfolge. Der strahlende Hauptmann von Prinz Genbu ist tief gefallen." Seine Stimme klang zermürbt und unglücklich. In seinen Träumen jagten ihn zuweilen die Schreckenstaten, die er damals in Eden und in der Gegenwart vollbracht hatte, um seinen finsteren und grausamen Herrn zufriedenzustellen. Und nun war es auch noch seine Schuld, dass Tyson mit einem erstarrten Herzen darniederlag, zwischen Leben und Tod schwebend! Wie oft hatte er sich schon gefragt, warum er nicht stark genug gewesen war! Stark genug, um dem Schwarzen Gift zu widerstehen und Hades‘ Einflüsterung keinen Glauben zu schenken! Aber seine Eifersucht, seine Wut, sein verletzter Stolz und jene Einsamkeit, die der König der Unterwelt in Gestalt von Boris Balkov zu einer unzerreißbaren, brutalen Kette geschmiedet hatte, um seinen Willen zu brechen und ihn gefühlskalt zu machen, hatten ihn verleitet. Er konnte es sich nicht schönreden. Er hatte sich zum Bösen verführen lassen. Obwohl er zu seinem wahren Ich zurückgefunden hatte, würde dieser Makel an ihm haften bleiben. Ein unsichtbarer Makel, den ihm niemand ansehen würde - aber er würde ihn spüren, für den Rest seines Lebens. Aus einem solchen inneren Machtkampf konnte eine Seele nicht hervorgehen, ohne etwas zurückzubehalten. Tala Iwanov war die Reinkarnation von Iras. Und auch wenn er sich der guten und edlen Dinge erinnern konnte, die Wolborgs Wächter im Dienste des Wasserprinzen geleistet hatte, so würde dies das Bewusstsein seiner Verfehlungen, seiner Schuld nicht tilgen. Er hatte sich verändert. Die Geschehnisse um sein Alter Ego und seine Vergangenheit hatten ihn mit der eigenen Verwundbarkeit konfrontiert, ihn, der sich stets eingebildet hatte, absolut unbesiegbar zu sein. Er würde nie wieder die Nase rümpfen, wenn Gefühle zur Sprache kamen. Er würde Tränen nie wieder als ein Zeichen der Schwäche betrachten. Und er würde nie wieder derselbe sein. „Was das betrifft... Max hat mich gebeten, dir auszurichten, dass er später ebenfalls mit dir sprechen möchte." „Max? Das ist ungewöhnlich. Wir kennen uns doch kaum." „Er ist Genbus Wiedergeburt, vergiss das nicht." Der Graublauhaarige schwieg eine Weile. „Tala... ich habe mir viele Gedanken gemacht, ehe ich mich dazu entschloss, Bryan bei diesem Besuch zu begleiten. Natürlich, unser erster Kontakt erfolgte über das Telefon, aber das läßt sich mit einer persönlichen Begegnung nicht vergleichen. Du sagst, ich soll mir keine Vorwürfe machen, und so bitte ich dich, dasselbe zu tun. Wir beide haben gemeinsam zu viel durchgestanden, um unsere Freundschaft an einer Rivalität zerbrechen zu lassen, die Hades künstlich geschürt hat. Auch Suzaku und Iras waren einmal Freunde, ehe dieser wandelnde Alptraum ihre Welt heimsuchte! Wenn ich ehrlich bin, bist du sogar mehr für mich als ein Freund: Du bist mir ein Bruder, Tala. Ich hätte dir das schon früher sagen sollen, ich weiß, aber ich habe es nicht über mich gebracht. Ich war zu stolz... und zu feige. Ich hatte immer Angst davor, mich anderen zu öffnen, selbst meinen Leidensgenossen in der Abtei. Das ist vorbei. Ich habe einen neuen Mut in mir entdeckt... ich habe gelernt, meine Gefühle als solche zu akzeptieren. Soll das, was uns verbindet, wegen Hades zugrunde gehen?" Ahnte er, was diese ehrlichen Worte in dem Älteren auslösten? Tala hatte den Eindruck, nach den Folgen eines schrecklichen und erbarmungslosen Schiffbruches endlich das rettende Ufer zu erreichen. „Du bist mir ein Bruder" - konnte es einen größeren Vertrauensbeweis geben als dieses offene Geständnis? Unwillkürlich füllten sich seine Augen mit Tränen, und zum ersten Mal in seinem Leben schämte er sich ihrer nicht. „Du... verzeihst mir? Nach allem, was war?" „Ja. Nach allem, was war." „Warum?" „Nun, da du weißt, was du mir bedeutest... muss ich es noch erklären?" Der Rothaarige schüttelte den Kopf. Er schluchzte, hin und hergerissen zwischen dem Gedanken, diesen Großmut nicht zu verdienen und einer grenzenlosen Dankbarkeit, die sein Herz anschwellen ließ. Er fühlte, wie Kai und Bryan ihn beide umarmten und umklammerte sie wie ein Ertrinkender. Sein Bruder und sein bester Freund. Sie waren hier bei ihm... und fingen ihn auf! Seine Tränenflut reinigte seine gepeinigte Seele, wusch die inneren Verletzungen aus und war ihnen ein Balsam, der ihre Heilung begünstigen würde. Niemand sagte ein Wort, nur Talas leises Weinen war zu hören. Die starre Maske, die er so lange nach außen hin präsentiert hatte, die Maske, die niemals empfindet, war zerbrochen. Endgültig. Und für immer. Nach einem Moment, der kaum mehr als eine Ewigkeit währte, lösten sich die zwei Russen von ihrem Kameraden. Sie zögerten, ihn zu verlassen. „Geht nur", meinte er mit einem ernsten Lächeln, „Ich weiß, dass Tyson wartet." „Du hast recht. Und Tala..." „Ja, Kai?" „Ich bin sehr froh, dass du wieder da bist." Sie kehrten zu den anderen zurück. Mr. Dickenson empfing sie freundlich. „Da seid ihr ja. Nun hört zu. Wie ich euch bereits sagte, gibt es eine Möglichkeit, um Tysons gefrorenes Herz zu heilen, aber es handelt sich dabei um eine gefährliche Prozedur. Einer von euch muss in seine Seele eintauchen und versuchen, sein Bewusstsein zu erreichen." „In seine Seele eintauchen?", wiederholte der Wächter von Falborg skeptisch. „Ist Ihnen klar, was Sie da verlangen? Tysons Seele ist getrübt durch die Erfahrungen in der letzten Zeit. In ein abgeschottetes Bewusstsein einzudringen, ist äußerst riskant! Die Seele des Fremden könnte dabei einen ebenso irreparablen Schaden erleiden wie die des Zurückgezogenen! Von Ohnmacht über Koma bis zum vollständigen geistigen Tod ist alles dabei! Wollen Sie das wirklich?!" „Es geht hier nicht um das, was ich will, sondern um das, was Kai will." Er wandte sich an Dranzers Hüter. „Eine Seelenwanderung zählt zu den Magien des höchsten Levels. Ihr Einsatz setzt die Anwesenheit der vier Elemente voraus, die einen Schutzkreis um denjenigen bilden, der sich auf Wanderschaft begibt. Aber je tiefer er eintaucht, umso gefährlicher wird es für beide Seelen. Der Schutzkreis kann eine Hilfe sein, aber er ist keine Garantie für eine sichere Rückkehr ins bewusste Leben. Ray steht für die Erde, Max für das Wasser, Hiro für die Luft und ich werde das Feuer verkörpern. Bryan wiederum wird verhindern, dass uns jemand dabei stört, wenn wir uns in Trance versenken, denn in diesem Zustand sind wir angreifbar. Bist du tatsächlich bereit, es zu tun? Vergiss nicht, das Risiko ist hoch." Der Zwanzigjährige betrachtete die reglose Gestalt seines Geliebten, umgeben von Maschinen, Schläuchen und Kabeln, die sein Herz zum Schlagen veranlassten. Er streichelte seine Wange. Die weiche Haut fühlte sich erschreckend kalt an. „Ich werde es tun." „Gut. Dann lasst uns beginnen." Hiro, Ray, Max und der Zaubermeister stellten sich um das Bett des Blauhaarigen auf und gaben einander die Hände. Kai hockte auf einem Stuhl und hatte seine schlanken Finger an Tysons Schläfen gelegt. Bryan verwandelte sich und zog sein Schwert, um die Gruppe im Notfall verteidigen zu können. „Sprich mir nach, Wächter des Heiligen Phönix." Diomedes verwendete eine Zauberformel in der alten Sprache von Eden, die Kai nur mit Mühe richtig wiederholen konnte, aber es gelang ihm. Ein helles Licht umhüllte die vier Männer, griff langsam auf die Bettstaat und schließlich auch auf den Japaner und den Russen über. Der Ältere hatte den merkwürdigen Eindruck, sich von seinem Körper zu lösen und zu verschwinden. Ein unsichtbarer und schmerzhafter Sog erfasste ihn und schleuderte ihn mitten hinein in eine unergründliche Finsternis. Tödliche Kälte breitete sich um ihn herum aus, obgleich er sie nicht in all ihrer Brutalität spürte. Für ihn war sie nur eine vage Bedrohung. Als er es wagte, die Augen zu öffnen, erhob sich vor ihm ein gigantischer Wall aus bläulichem, blinkendem Eis. „Was... was ist das?" „Das kann ich dir verraten! Das ist die Mauer, die der Eis-Kuss in Tysons Seele erschaffen hat, um ihn gegen alles Gute und Positive, das von außen in ihn eindringen könnte, abzuschirmen." „Was zum...?! Su-Suzaku?!" „Überrascht?" „Setz dieses alberne Grinsen ab, die Situation ist viel zu ernst!", fuhr Kai sein Alter Ego an, das offenbar mit ihm zusammen auf Seelenwanderung geschickt worden war. „Was machst du überhaupt hier?" „Na, was wohl? In der realen Welt kann ich nur als Geist außerhalb deines Körpers existieren, aber hier bist auch du nichts anderes als ein Geist. Wir befinden uns jetzt auf derselben Ebene. Also werde ich dich begleiten." „Das hat mir gerade noch gefehlt..." „Kai-Schätzchen, dein Sarkasmus ist genauso deplatziert wie mein Grinsen! Ich bin hier, um dir zu helfen! Tyson ist Seiryuus Reinkarnation und der Mann, den du liebst! Glaubst du wirklich, ich lasse dich bei so einer wichtigen Sache im Stich? Mittlerweile solltest du mich ein bisschen besser kennen..." Der Russe grummelte etwas Unfeines und betrachtete die gewaltige Eiswand, die ihn daran hinderte, tiefer in das Bewusstsein des Japaners einzudringen. Ob er seine Feuerkräfte nutzen konnte, um dieses Ungetüm zu schmelzen? Er konzentrierte sich und probierte, ob er eine Flammenladung erzeugen konnte, die mächtig genug war, um zum Erfolg zu führen - er konnte es nicht und Suzaku musste das natürlich kommentieren. „Ich will dich nicht kritisieren, mein Eisblöckchen, aber wenn ich dir einen Tipp geben darf: Frag mich mal. Ich bin hier der Prinz." „Ich denke, ich bin deine Wiedergeburt!?" „Sicher. Aber normalerweise habe ich die Oberhand, wenn du dich verwandelst. Die volle Macht besitzt du nur, wenn ich dominiere oder wenn ich es dir erlaube, sie zu besitzen." „Ich vergaß." „Geht der Tonfall noch etwas frostiger? Lass mich das übernehmen, sonst sitzen wir in drei Tagen noch da! Auch ich will Tyson retten!" „Willst du das?" Diese Frage veranlasste den Prinzen, sein anderes Ich verwirrt zu mustern. „Da fragst du noch? Ich verstehe dich nicht! Die Schutzgötter wissen, wir hatten unsere Differenzen, aber im Bezug auf Tyson war doch zwischen uns alles klar? Er ist zwar nicht der echte Sei, aber er bedeutet mir noch genauso viel wie einst!" „Und das ist das Problem. Was hat er dir bedeutet?" Suzaku wurde unsicher, er sah verstört aus. „Wie meinst du das?" „Weißt du nicht mehr, was Tyson gesagt hat? ‚Seiryuu war für Suzaku nur ein Zeitvertreib, einer seiner vielen Gespielen, die er beliebig austauschen konnte.‘ Seine Wahrnehmung mag durch den Eis-Kuss verändert worden sein, aber ich glaube nicht, dass er sich auf die Sicht der Vergangenheit auswirken kann. War Seiryuu für dich nur einer von vielen?" Ein langes Schweigen senkte sich auf die beiden Männer, die sich nach außen hin so ähnlich waren und doch unterschiedlicher nicht hätten sein können. Dann traf eine geschickt platzierte Faust Kais Kinn und er stürzte zu Boden. Suzakus Augen glichen brennenden Schlitzen. „Wie kannst du es auch nur wagen, mich das zu fragen?! Sei war mein ein und alles!! Oh ja, ich habe die Liebe genossen, ohne mein Herz in Fesseln legen zu lassen, und ich war stolz darauf, noch nie eingefangen worden zu sein!! Aber meine Gefühle wandelten sich! Ich habe dagegen angekämpft, weil ich es zunächst nicht wahrhaben wollte!! Sei war mir ein treuer Freund und eine wichtige Stütze gewesen, doch ich hatte ihn nie als Romanze in Betracht gezogen! Kannst du dir vorstellen, wie überrascht, ja, geradezu erschrocken ich war, als ich erkannte, dass ich ihn zu begehren, zu lieben begann - mit meinem ganzen Herz, nicht nur mit einem Teil davon?! Für einen Mann, der es gewohnt ist, sein Herz fest in der Gewalt zu haben, ist das eine außerordentlich einschneidende Erfahrung! Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben!! Zieh das nie wieder in Zweifel, hast du mich verstanden!?!" Er war ernsthaft wütend. „... Verzeih... aber warum hat Tyson dann...?" „... Es ist möglich, dass Sei am Anfang so gedacht hat. Ich habe damals mit ihm geflirtet und ihm den Hof gemacht, weil ich hoffte, damit mein Ziel zu erreichen, aber das hat nicht funktioniert. Ich glaube, er war empört, dass ich versuchte, ausgerechnet ihn zu meiner Liste der Eroberungen hinzuzufügen, wo wir einander doch schon seit unserer Kindheit kannten. Vielleicht dachte er tatsächlich, meine Absichten seien wie gewöhnlich unaufrichtig und ich nur auf eine meiner üblichen Affären aus. Ich gebe zu, dass ich falsch vorgegangen bin. Sicher, ich konnte Männer verführen, die mir gefielen, doch ich hatte nie zuvor um einen Mann geworben, der mich so gut kannte. Da lag mein Fehler. Und nachdem meine ersten Bemühungen erfolglos geblieben waren und Sei sich davon eher verärgert als erfreut gezeigt hatte, verzichtete ich in seiner Gegenwart aufs Schäkern. Für eine Weile glaubte ich sogar, meine Gefühle würden sich abkühlen, aber da irrte ich mich gründlich. Ich verliebte mich ihn... leidenschaftlich und tief, und das ruinierte meine Selbstsicherheit. Bevor Seiryuu in Liebe zu mir entflammte und meine echten Gefühle entdeckte, mag er durchaus gedacht haben, ich sei nur darauf aus, ihn zu einem unter vielen zu machen." „Ich begreife. Du hattest also auch Schwierigkeiten, dir deine Liebe einzugestehen." „Zu Beginn... ja. Ein Casanova ist erfahrungsgemäß nicht daran gewöhnt, wirklich zu lieben. Das ist ihm zu kompliziert, zu anstrengend. Aber gegen die wahre Liebe ist man machtlos." Der Russe erhob sich und berührte die Eismauer. „Suzaku... bitte hilf mir." „... Hm. Mit dem größten Vergnügen!" Der Prinz des Feuers entfachte ein Inferno glühendheißer Flammen, die auf den Wall einstürmten wie ein Heer feindlicher Soldaten. In wenigen Sekunden schmolz das Bollwerk zu einer riesigen Pfütze zusammen und sie konnten endlich Tysons Seeleninneres betreten. Es war stockfinster und fast unerträglich kalt, sodass beide als Lichtspender schwebende Feuerkugeln erschufen, die ihnen voraus leuchteten. Gegen die Kälte waren sie weitgehend resistent, so wie alle Feuerwächter. Sie wanderten eine Weile schweigend nebeneinander her, bis sie gedämpftes Schluchzen vernahmen. Inmitten der Dunkelheit hockte ein kleiner Junge in zu großgeratenen Kendogewändern und weinte. Er mochte etwa zehn Jahre alt sein und hatte einen saphirblauen Pferdeschwanz. Tyson! Kai lief auf ihn zu und fasste ihn bei den Schultern. Das Kind hob den Kopf. „Ty! Weine doch nicht! Ich bin jetzt hier! Ich werde rückgängig machen, was der Eis-Kuss dir angetan hat!" „... Du willst mir helfen? Nein, das kann nicht sein! Lass mich los! Lass mich los!!!" Er sträubte sich heftig, schlug mit seinen kleinen Fäusten gegen die Brust des Zwanzigjährigen, entwand sich schließlich seinem Griff und rannte davon. „Tyson! Was soll denn das?! Halt an! Ich will dir nichts tun!" „Das wird er dir nicht so ohne weiteres glauben. Vergiss nicht, dass der Eis-Kuss seine Gefühle betäubt oder verdreht hat. Diese Seele ist verletzt, ängstlich, einsam und fühlt sich wehrlos und ungeliebt. Er vertraut dir nicht mehr." „Aber wie kann ich ihn dann erreichen?" „Sag ihm, was Sache ist." „Bitte?" „Muss ich dir in Gefühlssachen eigentlich alles dolmetschen?! Gestehe ihm deine Liebe, verdammt nochmal! Also ehrlich, alles muss man einzeln in dein Hirn reinhämmern...!" Kai hielt es für unter seiner Würde, darauf zu antworten. Bei dieser Gelegenheit wurde ihm auch zum ersten Mal das Outfit seines Alter Egos bewusst - Lederstiefel, eine schwarze Hose aus irgendeinem sehr figurbetonenden Material, dazu ein Gürtel mit Phönixschnalle und darüber ein ärmelloser langer Mantel aus feuerrotem Lackleder, den er offen über seinem entblößten Torso trug. Die kurzen schwarzen Handschuhe komplettierten das Ganze. „Wie kannst du in einer Situation wie dieser nur so geschmacklos herumlaufen?!" „Na prima... jetzt fängst du auch noch an, mir deinen eigenen Sex-Appeal vorzuwerfen! Es ist nicht meine Schuld, dass du zu prüde bist, um sowas anzuziehen!" „..." Der Russe warf ihm einen tödlichen Blick zu und lief dem flüchtenden Tyson hinterher. Der Junge hatte sich erneut am Boden zusammen gekauert und schluchzte. Er hob seine tränennassen braunen Augen zu den beiden Männern empor, als er sie kommen hörte. „Ihr... seid noch da?" „Warum sollten wir denn weg sein, kleiner Prinz?", lächelte Suzaku ihm entgegen und wuschelte ihm liebevoll durch die Haare. Das Kind schien diese Geste höchst erstaunlich zu finden und es fragte leise: „Wieso berührst du mich?" „Warum sollte ich es nicht tun?" „Man berührt nur jemanden, den man gern hat. Und mich hat niemand gern!" „Was für ein Unsinn! Es gibt sehr viele Menschen, die dich gernhaben!" Der Kleine musterte Dranzers Wächter mit sichtbarer Skepsis. „Das kann nicht sein! Wenn das so wäre, wüsste ich das! Man kann doch nicht vergessen, dass einen andere Menschen gernhaben. Oder dass man selbst andere Menschen gernhat. Das geht nicht!" „Hast du denn jemanden gern?" „Ich erinnere mich daran, dass ich mal jemanden sehr mochte. Aber ‚Er‘ will nicht, dass mir das wieder einfällt. Sobald ich eine schöne Erinnerung, einen schönen Gedanken oder ein schönes Gefühl in dieser Finsternis gefunden habe, taucht er auf und zerstört alles Schöne. Er will nicht, dass ich glücklich bin... deswegen macht er das Schöne kaputt!" „Wer ist ‚Er‘?" „Das ist der, vor dem ich mich fürchte.", erwiderte Ty-chan und seine Stimme zitterte. Es hingen noch Tränen in seinen Wimpern und sein Gesichtsausdruck war verschreckt und verzweifelt. „Er ist da irgendwo... in der Dunkelheit." „Wie recht du doch hast, du klägliches Überbleibsel. Und du tust gut daran, dich vor mir zu fürchten, das kannst du mir glauben." Das Licht, das die zwei Flammenkugeln spendeten, erhellte bekannte Züge. Es war Tyson in seiner tatsächlichen Gestalt als junger Erwachsener, komplett in Schwarz gekleidet und mit einem boshaften Grinsen versehen; Attribute, die ihm das Flair eines Ritters der Verdammnis verliehen. „Soso, Prinz Suzaku und seine Möchtegern-Reinkarnation beehren mich mit einem Besuch. Welch Glanz in meiner Hütte. Wie bedauerlich, dass ihr zu spät kommt. Die Kälte dieses gefrorenen Herzens wird bald auch den letzten Rest seines mittlerweile mickrigen Widerstandes brechen und dann werde ich in dieser Seele herrschen! Es ist sinnlos, sich einer Entwicklung entgegenzustellen, die fast abgeschlossen ist." Die „Möchtegern-Reinkarnation" schob sich in den Vordergrund des Geschehens und legte beschützend die Arme um die Schultern des kleinen Tyson. Er machte sich unter dieser Berührung steif wie ein Brett, aber er stieß Kai nicht mehr von sich. Irgendetwas sagte ihm, dass er an der Seite dieses Menschen keine Angst haben musste. „Lass ihn zufrieden! Du bist das Produkt des Eis-Kusses, ein Wesen, geschaffen aus Lügen und verzerrter Wahrnehmung. Du bist das Dunkle in ihm, und du ernährst dich von seinem Schmerz, seiner Furcht und seiner Einsamkeit! Aber sein echtes Ich ist noch da!" „Dieses erbärmliche Kind? Zugegeben, das ist noch da. Es besitzt zwar keine konkreten Erinnerungen an das Gute und Schöne in seinem Leben, aber dieses Gefühl in ihm, diese Ahnung, dass es in seiner Existenz noch etwas anderes als Leid gibt, kann ich nicht ausrotten. Der dumme Bengel hält immer noch daran fest - und glaubt allen Ernstes, dass er einmal geliebt hat! Dabei ist er allein und wird es bleiben! Jeder wird allein geboren und jeder stirbt allein! Du solltest deine lächerlichen Illusionen endlich vergessen und kapitulieren!", wandte er sich an sein jüngeres Ebenbild, das vor ihm zurückwich. „Du bist wertlos und bedeutest keinem auch nur das geringste! Je eher du das merkst, umso besser ist es! Also bilde dir nicht ein, dass du jemals jemanden geliebt hättest! Das hast du nicht! Keiner hat dir Liebe geschenkt und du hast keine Liebe erwidert! Liebe ist Selbstbetrug! Sei doch ehrlich: Wer würde eine solche Jammergestalt wie dich schon lieben? Du bist schwach, klein, unwichtig, nutzlos, bedauernswert! Du wirst niemals geliebt werden!" Ty-chan war in sich zusammengesunken und heulte. Er war ein Kind, das man auf grausamste Weise verletzt hatte. Nichts schmerzte schlimmer als die Wunden der Seele. Kai hielt das bebende Bündel umschlungen und drückte es fest an sich. „Hör auf zu weinen.", sagte er ruhig und sanft. „Es ist nicht wahr, dass niemand dich liebt. Erinnere dich an Ray, Max und Kenny. Du bist ihnen ein unersetzlicher Freund und sie haben dich sehr gern. Erinnere dich an deinen Bruder und deinen Großvater. Sie lieben dich auch. Und erinnere dich... an mich." „... an... an dich...?" „An ihn solltest du dich besser nicht erinnern! Er war der Schlimmste von allen! Er hat dich am meisten gequält, hat dich betrogen und deine Gefühle mit Füßen getreten! Du warst ihm immer gleichgültig! Er interessiert sich nicht für dich und hat es nie getan! Ausgenutzt hat er dich, wenn es ihm in den Kram passte, aber du selbst warst ihm immer egal!" Ty-chan betrachtete seinen Gegenüber in tiefem Schweigen, fuhr mit einem Finger seine Konturen nach, von der Stirn über die Nase, zu den Wangen und dem Kinn. Lange verharrte der Finger auf den blauen Dreiecken, die sich von der blassen Haut abhoben. Dann wanderte sein Blick hoch zu den rubinfarbenen Augen. Ja. Er kannte diese Augen. „Stimmt es?", flüstere er zaghaft. „Stimmt es, dass du mir wehgetan hast? Stimmt es, dass du mich nur ausgenutzt hast?" „Ich habe dich nicht ausgenutzt. Aber es stimmt, dass ich dir wehgetan habe. Ich habe keine Entschuldigung dafür, keine Rechtfertigung. Ich kann dich nur bitten, mir zu verzeihen. Das ist ziemlich anmaßend von mir, da ich selbst selten bis nie verzeihe, ich weiß. Einsamkeit, Angst, Schmerz... sie sind mir nicht fremd. Und über die Jahre hinweg, in denen man mir meine Hoffnung zertrümmerte und mir meine Gefühle austrieb, sind Hass und Bitterkeit in meinem Herzen gewachsen, bis es einfror. Es gab eine Zeit, in der auch ich glaubte, dass niemand mich je lieben könnte. Dass ich niemals lieben könnte. Tyson... wir beide haben Fehler begangen, aber noch ist es nicht zu spät, egal, was dieser Bastard dir einzutrichtern versucht. Wenn du mir nichts bedeuten würdest... wäre ich dann hier?" „Du... hast mich gern? Wirklich?" Kai lächelte. Es war ein zärtliches, inniges, besitzergreifendes Lächeln, das über jeden Zweifel erhaben war. Ty-chan wagte ebenfalls ein schmales Lächeln und umarmte den anderen. Sein Vertrauen zu diesem Menschen wurde größer. „AUSEINANDER, SOFORT!!!" Ein Zischen und ein Klirren hallten in der Finsternis wider. Der zweite Tyson hatte ein Schwert gezückt und sich angeschickt, die beiden mit einem brutalen Hieb zu trennen, doch Suzaku ließ das nicht zu. Die geheiligte Klinge erschien in seiner Hand und er wehrte die Attacke ab. „Ich warne dich nur einmal: Rühr sie nicht an oder du wirst es büßen!" „Denkst du, das beeindruckt mich? Prinz oder nicht, du bist kein Gegner für mich!" „Ich gebe dir einen guten Rat: Giess kein Öl in die Flammen, sie könnten dich verbrennen! Es war schon immer gefährlich, mit dem Feuer zu spielen!" Indessen hatte sich das schlechte Wetter über Tokyo nach wie vor nicht aufgelöst; der Wind, obgleich weniger eisig als bisher, tobte mit ungeminderter Stärke weiter und der Regen prasselte unablässig in dicken Tropfen hernieder. Ozuma kam gerade aus einer Telefonzelle. »Zeo, dieser Drückeberger! Wo steckt der bloß?! Keiner geht ran, und das ist mein zehnter Versuch heute! Allmählich wird‘s langweilig! Puh, und dieses Sauwetter verbessert meine Stimmung nicht die Bohne! Diomedes hat sich auch nicht gemeldet und Kenny zu erreichen ist ein hoffnungsloses Unterfangen! Wo sind die alle?! Und warum sagt mir keiner was?! Mann, wie mich das nervt!!« Er warf sich sein braunes Regencape über und stapfte missmutig durch die grauen Straßen der japanischen Metropole. Plötzlich hielt er inne. Sein Instinkt warnte ihn vor etwas Bedrohlichem, dem er keinen Namen geben konnte. Gleichgültige Gesichter hasteten an ihm vorüber, ahnungslos und unbeteiligt. Da....war jemand....er spürte ganz deutlich die Präsenz eines Magiebegabten, aber es war eine dunkle, verderbliche Magie. Der Jemand schälte sich aus der Menge und näherte sich ihm mit langsamen, bedächtigen Schritten. Seine Ruhe bildete einen seltsamen Kontrast zu der Hektik, die um ihn herum herrschte. „Ich freue mich sehr, dich zu treffen, Würdenträger", erklärte der Fremde mit einer Stimme, die merkwürdig tief und dumpf klang, fast wie verfälscht. Er trug ein schwarzes Trenchcoat über gleichfarbigen Stiefeln, Pullover und Hose, ein breitkrempiger Hut verbarg sein Haar, das Gesicht war unter einer gespenstisch weißen Maske versteckt, die mit der Bemalung in Gold und Rot und mit der klassischen einzelnen Träne unter dem linken Auge jenen Masken glich, die man vom Karneval in Venedig her kannte. „Wer... wer bist du?" „Du darfst mich Phantom nennen. Ich bin der Soldat des Krieges und einer der vier Apokalyptischen Reiter - und ich bin gekommen, um dich zu töten!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)