Vendetta - Blutrache von Voodoll (Vorläufiger Titel) ================================================================================ Kapitel 1: Seelendieb --------------------- Die laue, spätsommerliche Abendluft in Shibuya ist wie eine Achterbahn für die Sinne. Der Blick wandert durch die Menschenmenge die sich dicht gedrängt vorbeischiebt, entdeckt skurillste Gestalten neben elegant gekleideten Geschäftsleuten, kleine Kinder mit großen Augen neben alten Männern, Europäer neben Einheimischen. Die verschiedensten Gerüche mischen sich zu einem unverwechselbaren Duft, der wohl einzigartig auf der Welt ist. Stimmengewirr und die unterschiedlichsten Geräusche verbinden sich zu einem Summen das sich gleich einer Decke über dieses pulsierende Herz Tokyos legt. In einem kleinen Café in der Nähe der Hachikô-Statue[1] herrschte eine ausgelassene Stimmung. Einer der Gäste hatte wohl etwas zu feiern und innerhalb kürzester Zeit hatten sich alle Anwesenden um ihn versammelt um ihm zu gratulieren, obwohl die wenigsten wohl wussten, wozu. Nur einer beteiligte sich nicht an dem munteren Treiben. Ein junger Mann mit europäischen Zügen und auffällig orangenem Haar saß mit ausdruckslosem Gesicht in einer Ecke und starrte aus dem Fenster. Seit er das Café vor einer etwa Stunde betreten hatte, hatte er sich kaum bewegt und beobachtete ohne Unterlass das Treiben auf der Strasse. Das Glas das vor ihm stand hatte er kaum angerührt. Er wirkte, als würde er auf etwas warten, doch irgendetwas war falsch an ihm. Die Bedienung, ein junges Mädchen das noch zur Schule ging, sah immer wieder verstohlen in seine Richtung. Sie arbeitete noch nicht lange als Kellnerin und Ausländer verirrten sich recht selten hierher. Doch obwohl sie ihre Neugier kaum zügeln konnte und der Fremde alles andere als hässlich war, wagte sie sich nicht in die Nähe dieses seltsamen Mannes. Auch die Blicke der anderen verirrten sich nun immer häufiger in die Ecke in der er saß, denn sein offensichtliches Desinteresse an ihnen war mehr als ungewöhnlich. Eine der Frauen die über weit weniger Instinkt als die junge Kellnerin zu verfügen schien, fasste sich schließlich ein Herz und trat an seinen Tisch. Der Orangehaarige wandte seinen Blick von der Strasse ab und sah sie abwesend an. Sie hatte ihn eigentlich einladen wollen, sich zu ihnen zu gesellen, aber als sich ihre Blicke trafen zögerte sie einen Moment. Da war etwas in seinen Augen, etwas, was sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Ein Ausdruck von bestechend klarer Intelligenz und eisiger Kälte. Es war wie ein schwarzer Abgrund, in dem sich die dunkelsten Geheimnisse der Menschheit sammelten... Gerade als sie diese bedrückenden Gedanken erfolgreich verscheucht hatte und ihr ursprüngliches Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, schien ein Ruck durch die Wirklichkeit zu gehen. Ihre Augen wurden plötzlich glasig. Den Mund immer noch leicht geöffnet, starrte sie nun blicklos geradeaus. Ihr Gegenüber musterte sie noch einmal kurz von Kopf bis Fuß, dann drehte er sich wieder zum Fenster. Ein paar Sekunden später erwachte auch die Frau zu neuem Leben und sah sich verwirrt um. Dann ging sie wieder zu ihrer Gruppe zurück, ohne den offenbar wieder zu Stein erstarrten Mann noch eines Blickes zu würdigen. * * * Seine Finger hatten sich selbständig gemacht und spielten nun mit einem Schlüssel, der an einem ledernen Band um seinen Hals hing. Inzwischen war eine weitere Stunde vergangen, und in dem Café war etwas Ruhe eingekehrt. Die meisten Gäste hatten sich verabschiedet, um sich wieder in die berauschende Geschäftigkeit der Nacht zu stürzen, neuen Abenteuern entgegen. Er hing Gedanken nach, die nicht die seinen waren und registrierte beiläufig dass die Eingangstür geöffnet wurde. Er wusste, wer es war, noch bevor er ihn sah. Ein in einen langen schwarzen Mantel gehüllter großer Mann kam auf seinen Tisch zu. Aus dem Schatten unter dem breitkrempigen Hut blitzte ein vergnügtes Lächeln auf, das ebenso zu seinem Markenzeichen geworden war wie seine gelassene Stimme und seine elegante Ausdrucksweise. "Kuroudo-san..." sagte der Orangehaarige leise, als er ihn erreicht hatte. Das Lächeln des so Angesprochenen wurde eine Spur belustigter. "Warum so förmlich Schuldig? Das passt nicht zu dir." Mit einer fließenden Bewegung ließ sich Kuroudo auf den Stuhl gegenüber gleiten. Er machte keine Anstalten, den Mantel oder wenigstens den Hut abzulegen, sondern saß jetzt mit überschlagenen Beinen da und musterte Schuldigs Gesicht. "Du bist älter geworden..." sagte er nach einer Weile. Als Schuldig antwortete, erschien auf seinem Gesicht das erste Mal nach langer Zeit wieder sein unnachahmliches Grinsen. "Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geguckt?" Kuroudo, der Ältere der beiden, betastete mit behandschuhten Fingerspitzen sein Gesicht. "Nun, die Zeit geht auch an mir nicht spurlos vorüber. Immerhin ist es jetzt nahezu auf den Tag genau drei Jahre her, seit wir uns das letzte Mal sahen..." "Damals wolltest du mich noch töten...Die Zeit ist wie im Flug vergangen, findest du nicht?" Kuroudo, der auch Dr. Jackal genannt wurde, schob seinen Hut ein kleines Stück nach oben und sah Schuldig mit Augen an, in denen ein kaltes Feuer brannte. Und zum ersten Mal an diesem Tag war das Lächeln von seinen Lippen verschwunden. "Wer hat gesagt, dass ich das jetzt nicht mehr will? Du hast aus meinem Hut einen Schweizer Käse gemacht..." Schuldigs Grinsen nahm einen sarkastischen Zug an. "Und jetzt? Willst du mich gleich hier töten? Vor den Augen all dieser unschuldigen Menschen?" Er wusste dass dieses Argument bei Kuroudo nicht zog. Er kannte niemanden sonst, für den nur der ,Spaß' zählte und dem alles andere um ihn herum völlig gleichgültig war. Wortlos hob Kuroudo seine rechte Hand und wie aus dem Nichts erschien ein gleißendes Skalpell darin. Schuldig schluckte schwer und sein Grinsen wurde etwas unsicher. Sich innerlich schon für einen Angriff wappnend hob er abwehrend die Hände und sagte schnell: "Warte! Willst du nicht erst hören was ich zu sagen habe?" "Nein." kam prompt die Antwort. Das Skalpell befand sich jetzt gefährlich nahe vor Schuldigs Nasenspitze. "Es ist aber wirklich wichtig! Danach kannst du mich ja immer noch töten...!" Die nadelscharfe Spitze des chirurgischen Stahls hielt in ihrer Bewegung inne. Dann war sie genauso plötzlich verschwunden wie sie erschienen war. Kuroudo ließ langsam die Hand sinken und nach einem Augenblick kehrte das gewohnte Lächeln auf sein Gesicht zurück. Er lehnte sich zurück und sah Schuldig mit einem Blick an, der ihn aufforderte, mit seiner Geschichte zu beginnen. Also fing Schuldig an zu sprechen. Er redete als gäbe es kein Morgen. Und Kuroudo hörte zu, hörte sich an was er zu sagen hatte, mit dem festen Vorsatz, ihn zu töten sobald er geendet hatte. * * * Vor etwa einem Monat wurde Kuroudo für einen Auftrag angeheuert, der ihn nach Mougenjou, dem ,Schloss ohne Grenzen' führen würde. Diese riesige, ehemalige Baustelle eines Einkaufszentrums in Shinjuku war im Laufe der Jahre zu einem der gefährlichsten Orte in ganz Japan geworden. Der Abschaum der Menschheit landete hier, diejenigen, die vor dem Gesetz oder Schlimmerem geflohen waren, jene, die sonst nirgends geduldet wurden, alle die in der ,normalen' Gesellschaft keine Überlebenschance mehr hatten. Man konnte hier sehr leicht seinen Kopf verlieren, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Es war nicht das erste Mal, dass er sich hier aufhielt. Wenn man es genau nahm war Mougenjou sogar so etwas wie seine Heimat. Er war nicht hier geboren, aber die Abgründe der menschlichen Seelen, die sich hier auftaten, hatten ihn schon von klein auf magisch angezogen. Er überlegte flüchtig, was aus ihm geworden wäre wenn er nicht in dieser mörderischen Umgebung aufgewachsen wäre. Leider war das etwas, was er sich nicht vorstellen konnte, also kreisten seine Gedanken bald wieder um seinen Auftrag. Er schlenderte eine verlassene schmale Strasse entlang, von der er annahm, dass sie sich irgendwo auf mittlerer Höhe des Komplexes befinden musste und die genauso heruntergekommen war wie alles andere hier. Stellenweise musste er über die Überreste eingestürzter Mauern oder über die Ausläufer meterhoher Müllberge steigen. So etwas nannte er ein ,notwendiges Übel', etwas, das gelegentlich nicht zu vermeiden war, wenn man etwas erreichen wollte. Er würde sich neue Schuhe kaufen müssen... Schon seit er Mougenjou betreten hatte, spürte er, dass ihm jemand folgte. Dieser Jemand hatte sich jedoch während der ganzen Zeit nicht näher an ihn herangeschlichen, sondern war scheinbar darauf bedacht, eine genau bemessene Distanz einzuhalten. Bis jetzt hatte Kuroudo keinen Grund gesehen, sich näher mit dem Problem auseinanderzusetzen. Doch jetzt legte sein Verfolger es offenbar auf ein persönliches Kennenlernen an, denn er war während der letzten halben Stunde ein beträchtliches Stück näher gekommen. Als Kuroudo die nächste Kreuzung erreicht hatte, gestand er sich ein, dass er sich nicht gerade höflich verhielt, indem er ihn einfach ignorierte und beschloss, auf ihn zu warten. Als er also stehen blieb kamen die Schritte hinter ihm kurz ins Stocken. Den Moment ergriff Kuroudo, um den ersten Schritt zu unternehmen und sich nun seinerseits vorzustellen. Mit einer Bewegung, die das Auge kaum wahrzunehmen vermochte, befand er sich plötzlich hinter dem Fremden. Dieser war auf einmal wie zu Stein erstarrt. Auch als sich auf einer Seite ein paar Haare von ihm verselbstständigten und dem Boden entgegenschwebten, rührte er sich nicht. Das war nun mehr als ungewöhnlich. Im Regelfall begannen diejenigen, denen Kuroudo mit einem seiner Skalpelle einen neuen Haarschnitt verpasst hatte, unkontrolliert zu schreien und ließen sich wahlweise unter Schock zu Boden fallen oder liefen einfach weg. Das Verhalten dieses Individuums war dementsprechend ebenso merkwürdig wie interessant. Kuroudo trat näher an ihn heran um ihn aus der Nähe zu betrachten und vielleicht in seinem Gesicht einen Hinweis darauf zu finden, woher dieser Mut rührte. Was er allerdings sah, war, gelinde gesagt, eine Enttäuschung. Zum einen war der so genannte ,Mut' nicht mehr als die Erkenntnis, dass er nicht lebend aus dieser Angelegenheit herauskommen und dass jeder Fluchtversuch seinen Tod nur noch schmerzhafter gestalten würde. Zum anderen gehörte das Gesicht, in das Kuroudo blickte, zu einem Jungen, der fast noch ein Kind war und der ohne Zweifel Todesängste ausstand. Das Lächeln auf Kuroudos Lippen verwandelte sich in einen Ausdruck ungläubiger Frustration. Hier in Mougenjou, wo täglich mehr Morde begangen wurden als in ganz Tokyo in einem Jahr musste er ausgerechnet auf diesen Grünschnabel treffen. Dabei hatte ihn die Aussicht, ungestraft ein paar Lebensfäden durchtrennen zu können, bereits als er seinen Auftrag erhielt in Hochstimmung versetzt. Er stieß einen deprimierten Seufzer aus und wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten hörte er hinter sich ein unverständliches Murmeln. Obwohl es ihm widerstrebte, dreht er sich nochmals um und sah den Jungen, der jetzt wie Espenlaub zitterte, fragend an. Dieser versuchte erneut zu sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Er leckte sich nervös über die Lippen, und setzte dann von Neuem an: "Wa...warum haben Sie... mich nicht..." seine Stimme versagte wieder. Er hatte den Satz nicht zu ende geführt, trotzdem war klar, was er fragen wollte. Kuroudo wägte in Gedanken ab, ob dieser Bengel überhaupt einer Antwort wert sei, kam zu dem Schluss dass es vermutlich Zeitverschwendung war und entschied sich dann, es ihm trotzdem zu erklären. "Warum ich dich nicht getötet habe willst du wissen?" Der Junge nickte nur. "Ganz einfach Kleiner. Du bist noch nicht einmal trocken hinter den Ohren und hättest wahrscheinlich nicht einmal versucht, dich zu wehren. So macht es mir keinen Spaß. Das ist alles." Koroudo wartete auf eine Antwort, wenigstens ein bestätigendes Nicken des Jungen, dass er ihn verstanden hatte, als aber nichts kam drehte er sich auf dem Absatz um und ließ den Jungen allein zurück. Der stand noch einen Moment wie angewurzelt da und als er sich sicher war, dass der große Mann mit dem Hut wirklich gegangen war drehte er sich um und rannte, so schnell er konnte, zurück zu seinen Freunden um seine Wette einzulösen. Kuroudo kam unterdessen erstaunlich gut voran. Er war seinem Ziel schon sehr nahe, der Ort an dem ihm das Objekt übergeben werden würde, für dessen Transport er hergekommen war. Transporter war zwar noch nie sein Traumberuf gewesen, doch er brachte Abwechslung in Form von gefährlichen Gegnern und blutigen Kämpfen in sein Leben, was er durchaus zu schätzen wusste. Seit einiger Zeit sah er immer mehr Menschen auf der Strasse, was hier in den höheren Ebenen schon für sich genommen ein bemerkenswertes Ereignis wäre. Noch dazu tuschelten sie miteinander, dabei waren die Leute hier eigentlich sehr einzelgängerisch veranlagt. Leider war kein Wort von ihren Flüstereien zu verstehen, weil sie sofort verstummten sobald Kuroudo in Hörweite kam. Es beunruhigte ihn weniger als dass es ihn neugierig machte. Nachdem er durch den Jungen etwas desillusioniert war, was die berüchtigte Gefährlichkeit des Mugen-Towers betraf, brauchte er dringend eine Aufmunterung. Allerdings ließ sich keiner der Bewohner dazu überreden, ihm irgendeine Auskunft zu geben, nicht einmal als er einem von ihnen ein neues und dauerhaftes Lächeln verpasste. Missmutig ging er also weiter und versuchte, das Getuschel zu ignorieren, was gar nicht so einfach war. Nach einer Weile betrat er eine Art weitläufigen Raum ohne Decke, an dessen linker Seite sich ein hohes Gerüst befand. Es war keine Menschenseele zu sehen obwohl noch vor fünf Minuten die Straße nachgerade überfüllt gewesen war. Es roch förmlich nach einer Falle. Nun, vielleicht würde das seine Laune etwas heben. Als er etwa die Hälfte des Raumes durchquert hatte, vernahm er von irgendwo über ihm ein leises Geräusch, das aber unmöglich von einer Ratte oder Ähnlichem verursacht worden sein konnte. Er hatte also Recht behalten mit seiner Vermutung... Ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Züge. Er blieb stehen und sagte laut in die Stille hinein: "Wenn ihr mir schon auflauert dann habt wenigstens den Anstand und versteckt euch nicht vor mir. Das gehört sich doch nicht..." Er wartete. Die Antwort kam etwas verzögert, anscheinend hatten die Fallensteller nicht damit gerechnet, entdeckt zu werden sondern hatten gehofft, ihn hinterrücks überfallen zu können. Auf eine offene Konfrontation waren sie nicht vorbereitet... "Sind Sie Dr. Jackal?" Er erkannte die Stimme sofort wieder. Eigentlich hatte er gehofft, sie nie mehr hören zu müssen. Sie schwebte über seinem Kopf und hatte für ihn einen bitteren Nachgeschmack. Es war der Junge von vorher. Kuroudo stöhnte leise. "Was willst du? Hast du solche Sehnsucht nach dem Tod?" "Also sind Sie es oder nicht?" drängte die Stimme. "Oder bist du einfach nur sehr dumm?" "Sagen Sie mir wie Sie heißen!" antwortete die Stimme ungeduldig. "Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, sich zu verstecken während man mit jemandem redet?" Kuroudo verlor die Geduld. Er überlegte schon, ob er den Jungen eigenhändig von dem Gerüst herunterholen sollte als er ein Klappern und Scheppern hörte, das zeigte, dass sich der Junge auf dem Weg nach unten befand. Als er sich vor ihm aufbaute, versuchte er, seine Angst vor Kuroudo zu verbergen, was ihm nur sehr dürftig gelang. Als er antwortete, war das Zittern in seiner Stimme nicht zu überhören. "Ich habe keine Mutter mehr. Aber das tut nichts zur Sache. Sind Sie Dr. Jackal?" "Warum willst du das wissen?" Kuroudo wurde misstrauisch. Sein ,Künstlername' war zwar allgemein bekannt und gefürchtet aber im Regelfall blieb niemand übrig, der ihn hätte wieder erkennen können. Der Junge entschied sich, dass es für seine Gesundheit förderlich wäre, wenn er den Grund für seine Frage preisgab. "Wenn Sie es sind, dann wurde eine Nachricht für Sie hinterlassen." "Eine Nachricht? Von wem?" Sein Misstrauen wuchs nun fast ins Unermessliche. Dass der Junge ihn scheinbar kannte war eine Sache. Dass Nachrichten für ihn hinterlassen wurden war eine ganz andere. "Das weiß ich nicht... Aber ich kann Sie dorthin führen!" bot der Junge schnell an. Kuroudo stutzte. Hinführen? Was war das für eine Nachricht die man nicht einfach übergeben bekam sondern zu der man hingebracht wurde? Er dachte kurz darüber nach und sagte sich schließlich, dass es kein Fehler wäre, sich die Sache einmal näher anzusehen. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten sie eine weitere breite Strasse, die sich bei näherem Hinsehen als Sackgasse entpuppte. An ihrem Ende stand ein dichtgedrängter Haufen und diskutierte miteinander. Als sie Kuroudo bemerkten machten sie ihm hastig Platz, so dass sich eine Art Gasse bildete. Der Junge lief vor ihm her und sah die umstehenden Menschen mahnend an, so dass sie verstummten. Dr. Jackal verzog keine Miene. Als sie das Ende erreicht hatten sah er zuerst nur die Leiche die zusammengesackt an der Mauer lehnte, die Hände voller Blut. Er oder sie (das war aufgrund den Lichtverhältnisse nicht eindeutig zu erkennen) hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Für sich genommen also nichts, was einen derartigen Aufstand gerechtfertigt hätte. Erst als der Junge an seinem Mantelärmel zupfte und auf die Wand deutete, erkannte er die ganze Bedeutung dieser selbstzerstörerischen Tat. Mit ein paar schnellen Schritten ging er zu der Leiche. Er schob ihr seine Hand, die zum Glück in einen Handschuh gehüllt war, unter das leicht bläuliche Kinn und hob es an. Wie er es schon erwartet hatte, war ihm der Tote völlig unbekannt. Er richtete sich wieder auf und betrachtete die Schrift an der Wand. Von Nahem konnte man das Blut, mit dem die Lettern verfasst worden waren, noch glitzern sehen. Es war noch nicht ganz getrocknet. Der Tote hatte Suizid begangen um ihm diese Nachricht zukommen zu lassen, geschrieben mit seinem eigenen Blut. Diese Tat war sehr viel tiefgreifender als es sich die anderen Anwesenden vorstellen konnten. Als Kuroudo dem Toten kurz in die Augen gesehen hatte, hatte er etwas erkannt, das bewies, dass er nicht freiwillig so gehandelt hatte, obwohl nichts darauf hinwies, dass er dazu gezwungen wurde. Aber Dr. Jackal hatte auch noch etwas anderes gesehen... Er kannte nur einen Menschen, der dazu in der Lage war, andere durch Telepathie genau das tun zu lassen was er von ihnen wollte, selbst wenn das ihren Tod oder gar Schlimmeres bedeutete. Er war vor langer Zeit einmal sein Gegner gewesen und hätte es beinahe geschafft, dass sich Dr. Jackal in sein eigenes Schwert gestürzt hätte. Damals war es bei einem Unentschieden geblieben. Beide Gegner hatten zuviel Blut verloren um weiter kämpfen zu können. Er hatte es bis heute nicht vergessen. Er gewann oder starb im Kampf, doch ein Unentschieden war bis dahin undenkbar gewesen. Deshalb hatte er sich geschworen, dass er den Telepathen irgendwann dafür töten würde. Und nun hinterließ eben jener eine Nachricht für ihn. Etwas, das ihm verriet, wo er zu einer bestimmten Zeit zu finden war... Das Lächeln nahm wieder seinen alten Platz in Dr. Jackals Gesicht ein. Als er Mougenjou und seinem Auftrag den Rücken kehrte, begann er sogar, ein kleines Liedchen zu summen. Der Tag war besser geworden als er angenommen hatte. Die Nachricht lautete: "Dr. Jackal! Blut verbindet! Folge deiner Erinnerung..." Bevor er gegangen war hatte der Junge noch gemurmelte Worte von seinen Lippen vernommen, die nicht für seine Ohren bestimmt waren. "Ich kann es kaum erwarten, Schuldig..." Und etwa einen Monat später betrat Kuroudo Akabane alias Dr. Jackal das kleine Café in Shibuya... * * * Wenn man das Anwesen von außen betrachtete, würde man nie auf die Idee kommen, dass in seinem Inneren ein solches Geheimnis gehütet wurde. Die Parkanlage rings um die Villa wirkte sehr gepflegt, Lilien wuchsen im Schatten ehrwürdiger Bäume und auch ein kleiner Teich fehlte nicht. Das Haus selbst war im Stil der venezianischen Palazzos gebaut, mit hohen Decken und grossen Fenstern, die von leichter Gaze und dunkelrotem Samt geziert wurden. Es leuchtete in einem strahlenden Weiß, auf das der Schnee wohl neidisch sein würde, wenn er denn könnte. Einzig das Zwitschern einiger Vögel durchbrach die angenehme Ruhe die hier herrschte. Alles in allem wirkte alles sehr friedlich. Wie es bei solchen Häusern üblich ist, verfügte auch dieses über einige versteckte Türen und Gänge. Einer dieser Gänge führte zu einer schmalen Treppe, die in der Tiefe des Erdreichs verschwand. Stand man am oberen Ende, bemerkte vielleicht der ein oder andere eine beinahe körperlich spürbare Kälte, die aus der Dunkelheit aufstieg. Dort unten war das Geheimnis verborgen, begraben unter Tonnen fruchtbarer Erde und ebensoviel Beton und Blei, das ein Ausspionieren unmöglich machte. Es war wie ein krankes, verdorbenes Herz, es pochte und pulsierte, drängte sich immer wieder in das Bewusstsein, das es zu verdrängen suchte... Hinter der Tür am unteren Ende der Treppe herrschte eine Sauberkeit auf die jede Hausfrau neidisch gewesen wäre. Alles war weiß, die Wände, die Decke, der Boden, sogar die Türen die links und rechts des Ganges zu erkennen waren. Es herrschte eine Art klinischer Atmosphäre, die jedes angenehme Gefühl im Keim erstickte. Die Stille war fast unerträglich. Es war ohne Frage einer der wenigen Orte, an dem man sein eigenes Herz schlagen hören konnte. Am Ende des Ganges befand sich ein Kontrollraum, ausgestattet mit den neuesten Errungenschaften der Technik. Die Monitore tauchten den uniformierten Mann der vor ihnen saß in ein unheimliches Licht, das ihn fast wie eine Puppe erscheinen ließ. Seinen wachsamen Augen entging keine Bewegung auf den Bildschirmen. Durch einen kleinen Durchgang, den man durch diesen Raum erreichte, gelangte man auf einen weiteren weißen Gang, der diesmal aber keine Türen hatte. An seinem Ende konnte man ein Gitter erkennen, das den Weg auf ganzer Breite versperrte und von der Decke bis zum Boden reichte. Davor standen weitere zwei Wachleute in weißer Uniform. Sie erweckten den Eindruck von Pflegern, nur die Pistolen und die Funkgeräte, die an ihren Gürteln hingen, störte dieses Bild. Hinter dem Gitter befand sich ein weiterer Raum. Auch er war, wie sollte es anders sein, weiß gestrichen und auch er bot dem Auge wenig Abwechslung. Auf der linken Seite stand ein schmales, am Boden festgeschraubtes Metallbett, daneben ein kleiner Tisch und zwei Stühle, die ebenfalls festgeschraubt waren. Auf der rechten Seite war eine Wand in den Raum gezogen worden, die den Bereich, der dahinter lag vor Blicken schützen sollte. Dort befanden sich ein Waschbecken und eine Toilette. Eine Duschkabine gab es nicht. Der Duschkopf war an der Wand festgekettet und im Boden befand sich ein Abfluss, so dass man sich auch hier nicht verstecken konnte. An der Decke hingen mehrere Videokameras, die ein beständiges Bild des Raumes an den Kontrollraum übertrugen und für die es keine toten Winkel, keine Privatsphäre gab. Man konnte sich nicht vorstellen, dass hier ein Mensch lebte. Und selbst wenn, würde er wohl schon nach kurzer Zeit wahnsinnig werden. Außer, wenn er es schon war... Die Wachen waren speziell ausgebildetes Personal, das auf den Ernstfall vorbereitet worden war. Sie waren nie nachlässig oder unvorsichtig, denn das konnte sie ihren Kopf kosten. Außerdem waren sie zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet und sie waren wohl die einzigen Wächter in ganz Japan, die sich strikt daran hielten. Ihr Vorgesetzter, den sie kaum zu Gesicht bekamen und über den sie so gut wie nichts wussten, außer dass er Deutscher war, hatte das sicherste Mittel eingesetzt, um ihre Lippen zu versiegeln. Angst. Angst vor dem was geschah wenn auch nur ein Wort von dem, was hier unten vor sich ging, über ihre Lippen kam. Einer von ihnen hatte vor einiger Zeit seiner Frau hiervon erzählt, nicht viel, aber dennoch genug. Obwohl nicht einmal seine Kollegen etwas davon ahnten, schien der Deutsche am nächsten Tag bereits bestens unterrichtet zu sein. Wie er zu diesem Wissen gekommen war, war ihnen rätselhaft. Er bat ihren Kollegen und seine Frau, zu einer kleinen Unterredung zu ihm zu kommen. Danach hatte niemand von ihnen die beiden je wieder gesehen. Es ging das Gerücht, dass beide direkt danach aufgrund geistiger Umnachtung von einem Krankenwagen abgeholt worden waren und nun vermutlich ihren Lebensabend in der Irrenanstalt verbringen würden. Und sie wussten genau, dass ihnen das gleiche Schicksal drohte, wenn sie etwas erzählten. Auch wenn sie nicht in Erfahrung bringen konnten wie er es zuwege gebracht hatte. Plötzlich drang ein ekelhaft nasses Geräusch aus einer Ecke der Zelle an ihr Ohr. Es war zwar leise, doch es genügte, um ihnen einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Wenig später drang aus ihren Funkgeräten die Bitte aus dem Kontrollraum, sich in die Zelle zu begeben und nach dem Insassen zu sehen. Als sie die Zelle betraten, einer von ihnen trug einen Arztkoffer bei sich, war kein Laut zu hören. Aber sie hatten ihn schon gesehen, das ganze Gesicht blutverschmiert. Sie wussten, dass er äußerst gefährlich war, obwohl er noch nie einem von ihnen etwas angetan hatte. Dies war einer der Gründe, warum er Tag und Nacht eine speziell für ihn gefertigte Zwangsjacke und Beinriemen trug, die ihn am Laufen hinderten. Trotzdem näherten sie sich ihm nur sehr widerwillig. Er hatte sich die Zunge zerbissen. Wenn er niemanden hatte, den er verletzten konnte, dann verstümmelte er sich selbst und wies dabei erstaunlichen Einfallsreichtum auf. Sie wussten dass er den Schmerz nicht spürte, wie er niemals irgendetwas spürte... Er litt unter einer seltenen Genmutation, die dafür sorgte, dass die Nerven in seinem Körper keinerlei Informationen an sein Hirn schickten. Sie hatten schon oft darüber gesprochen, versuchten sich vorzustellen wie es wäre wenn man nichts mehr spürt. Keinen Schmerz zwar, aber eben auch sonst nichts. Keinen Wind auf der Haut, keine freundschaftliche oder liebevolle Berührung, keine Wärme, keine Kälte, nichts... Noch dazu bescheinigten ihm die Ärzte eine Agnosie[2], eine psychisch bedingte Krankheit, die meist infolge einer Hirnverletzung auftrat. Das hatte zur Folge, dass er, zumindest solange er die Zwangsjacke trug, erschreckend teilnahmslos war. Allerdings war er dadurch auch unempfindlich für das Leid anderer. Seine Gefühlswelt war schlicht tot. Das machte ihn aber nur umso gefährlicher. Jemand der kein Mitleid und kein Gewissen kennt, ein Mensch, den man schwer verletzten kann, ohne dass er den Schmerz spürt... Kann man sich einen kälteren Killer vorstellen? Und genau so einem Killer standen sie jetzt gegenüber. Er öffnete freiwillig den Mund und ließ sich ohne Gegenwehr verarzten. Er konnte einem fast leid tun, der junge irische Mann ohne Gefühle, dessen Name hier unten einem Fluch gleichkam: Farfarello. * * * Als das Café schloss redete Schuldig immer noch. Er hatte weit ausholen müssen, um Kuroudo die ganze Tragweite der Angelegenheit begreiflich machen zu können. Dieser seinerseits hörte ihm aufmerksam zu und hatte, seit Schuldig begonnen hatte, nicht ein Wort gesagt. Er schwieg wie das sprichwörtliche Grab. Dieser Umstand trug nicht geradezu dazu bei dass sich Schuldig in seiner Gegenwart wohler fühlte. Kuroudo hatte eine Aura an sich, die er nicht ausstehen konnte. Es war die Aura eines Menschen, der Blut mochte, der Spaß daran hatte, es zu vergießen... Als sie vor der Tür des Cafés standen, kam Schuldigs Redefluss für einen Moment ins Stocken. Er sah Kuroudo, der neben ihm stand, fragend an. Kuroudo schien seine unausgesprochene Frage verstanden zu haben und antwortete: "Lass uns ein wenig spazieren gehen. Etwas Bewegung schadet nicht..." Schuldig hatte zuerst vorschlagen wollen, in einen nahe gelegenen Nachtclub zu gehen um bei einem Glas Wein ihr Gespräch fortzusetzen, aber Dr. Jackals Vorschlag war durchaus reizvoll. Erstens bezweifelte er, dass er sich beim Anblick halbnackter Frauen noch ernsthaft auf seine Geschichte konzentrieren konnte (bei Kuroudo sah er in dieser Hinsicht keinen Grund zur Sorge, er war und blieb ein Eisklotz) und zweitens wagte er nicht, ihm zu widersprechen. Bei ihrem letzten Aufeinandertreffen war ihm wohl entgangen, wie groß Kuroudo tatsächlich war. Er überragte ihn um fast einen ganzen Kopf, dabei war Schuldig selber alles andere als klein. Seine Zurückhaltung gründete aber weniger in Angst als in dem Bestreben, ihn als Verbündeten zu gewinnen. Ziellos wanderten sie durch die Strassen von Shibuya. Nachts wurde es sogar hier unangenehm kühl und Schuldig begann in seinem grünen Mantel ein wenig zu frösteln. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Kuroudo, dem der kalte Wind, der durch die Straßen pfiff aber nichts auszumachen schien. Schuldig kam wieder der Begriff ,Eisklotz' in den Sinn und er musste unwillkürlich grinsen. Kuroudo ignorierte es. Als der Morgen graute neigte sich seine Geschichte dem Ende zu. Sie hatten inzwischen die Dogenzaka* erreicht, und Schuldig wünschte sich sehnlichst etwas Warmes zu trinken. Mittlerweile war er doch ziemlich unterkühlt. Er schloss mit den Worten: "...und aus diesem Grund habe ich dir die Nachricht hinterlassen. Was sagst du dazu?" Schweigen. Kuroudo war stehen geblieben und dachte nach. Schuldig widerstand mit Mühe der Versuchung, einen Blick in seine Gedankengänge zu werfen. Kuroudo hätte es vermutlich bemerkt und dann hätte er sein Vorhaben vergessen können. Als Kuroudo nach fünf Minuten immer noch nichts gesagt hatte, wurde es ihm allmählich zu bunt. "Was ist denn jetzt? Wie hast du dich entschieden?" drängte er. Kuroudo sah ihn lächelnd an und legte sich den behandschuhten Zeigefinger auf die Lippen. Sei still, sagte diese Geste. Schuldig hatte keine Lust auf solche Spielchen. "Warum?" fragte er ungeduldig. Kuroudo ließ seine Hand sinken und sah ihn mit einem Blick an, den Schuldig nur allzu gut kannte. Pure Vorfreude. "Wir bekommen Besuch." flüsterte er. "Was...?" Bei Schuldig schrillten die Alarmglocken, doch zu spät. Mit einem Mal waren sie umringt. Mindestens zehn Männer in identischen dunklen Anzügen, die unbegreiflicherweise selbst zu dieser Stunde ebenso dunkle (und ebenso identische) Sonnenbrillen trugen, bildeten einen undurchdringlichen Kreis um sie herum. Schuldig hatte sich wohl zu sehr auf sein Gegenüber konzentriert und dabei alle Vorsicht über Bord geworden, denn er hatte ihre Anwesenheit erst wahrgenommen als Kuroudo ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Er stieß einen leisen Fluch aus. "Besuch am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen" zitierte Kuroudo und ließ drei Skalpelle erscheinen. Als Schuldig dabei das Zucken seines Körpers sah, erinnerte er sich daran, dass Dr. Jackal diese Messer und noch weitere Waffen, insgesamt 108 um genau zu sein, in seinem Körper verbarg. Dieser Gedanke ließ ihn erschauern. Er konnte sich Angenehmeres vorstellen, als ständig mit so viel scharfem Metall im Körper herumzulaufen. Er hoffte inständig, dass Farfarello nicht auf dumme Gedanken kam, wenn die beiden sich begegneten... Plötzlich stutzte er. Er hatte sich aus reiner Gewohnheit in die Köpfe der Männer eingeschlichen, um herauszufinden was sie wollten und wozu sie bereit waren. Nur dass da keine Gedanken waren. Nur eine große schwarze Leere, angefüllt mit absolutem Gehorsam gegenüber einem gesichtslosen Herrn und der Bereitschaft zu töten... Er bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie sich Kuroudos Körper spannte. Er griff blitzschnell nach seinem Arm und hielt ihn fest. Der Blick, den er sich damit einhandelte war alles andere als erfreut, aber das war ihm im Moment gleichgültig. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Irgendetwas stimmte mit diesen Gestalten nicht, die sich so bedrückend ähnlich sahen. Als er dann sprach, klang seine Stimme selbst in seinen eigenen Ohren fremd. "Greif sie nicht an." Kuroudos Blick wurde noch eine Spur eisiger, sofern das überhaupt möglich war. "Ich kann mich nicht daran erinnern dass ich dich um deine Meinung gebeten hätte." Er wollte Schuldigs Hand von seinem Arm nehmen, doch der hielt ihn eisern wie ein Schraubstock fest. "Wenn du nicht selbst meine Skalpelle zu spüren bekommen willst dann lass mich sofort los." Obwohl Kuroudos Stimme sehr leise war, war die unausgesprochene Drohung in seinen Worten unüberhörbar. Schuldig schüttelte nur widerwillig den Kopf und sagte: "Das sind keine normalen Menschen. In ihrem Kopf herrscht nur Leere...so was hab ich noch nie erlebt..." Er wusste nicht wie er es erklären sollte. Alles was er wusste war, dass ein Angriff die schlechteste Lösung für dieses Problem war. "Nun, wenn sie keine normalen Menschen sind, dann ist es doch nur umso interessanter." "Kuroudo..." begann Schuldig erneut, wurde aber sofort unterbrochen. "Deine Geschichte versagt mir die Genugtuung, mich an dir zu rächen, aber du wirst mir nicht auch noch diesen Spaß verderben!" Damit riss sich Kuroudo endgültig los und ging ohne einen Augenblick zu zögern zum Angriff über. Schuldig hatte Kuroudo bereits vor drei Jahren im Kampf erlebt und selbst damals war es ihm nur unter größter Anstrengung gelungen mit Kuroudos Geschwindigkeit mitzuhalten. Ihm selbst hingegen schien seine enorme Schnelligkeit keinerlei Mühe zu bereiten und es wirkte beinahe wie ein Spiel. Schuldig hatte nicht geglaubt dass er sich noch steigern könnte. Vielleicht hatte er es auch einfach nicht wahrhaben wollen. Doch genau das sah er nun. Oder besser gesagt, er sah es nicht. Seine Augen waren nicht imstande, Dr. Jackals Bewegungen zu folgen. Der Reihe nach kippten drei der Männer um und verloren noch im Fall verschiedene Gliedmaßen oder zerfielen gleich komplett in ihre Einzelteile. Jedem war das berüchtigte J in den Rücken geschlitzt, dem Jackal seinen Namen zu verdanken hatte. Dann stand Kuroudo auf einmal hinter den Männern auf der anderen Seite der Gasse und lächelte ihnen wie zum Abschied zu. Gleich darauf wurde die Hauswand neben ihnen um einige Blutspritzer reicher. Während der ganzen Zeit war nicht ein einziges Mal ein Skalpell zu sehen, nicht einmal das verräterische Aufblitzen des Titans. Schuldig war so fasziniert von dem Geschehen dass er nicht bemerkte, wie sich ihm drei oder vier der Angreifer näherten. Sie hatten ihre Pistolen gezogen und legten auf ihn an. Die Schüsse peitschen durch den aufziehenden Nebel und sprenkelten das Mauerwerk mit hellrotem Blut und Gewebefetzen. Kuroudo hatte innegehalten und sah sich nun nach dem Urheber des Lärms um. Einige lange Sekunden war absolut nicht zu hören, sah man einmal von den Geräuschen ab, die die Schuhe der wieder näher rückenden Männer machte. Kuroudo dachte schon darüber nach, wer wohl Schuldigs Beerdigung ausrichten würde da er, soweit er wusste, keine Verwandten hatte. Ob sein seltsamer Verein von Psychopathen (bei dem Gedanken musste er leise lachen), Schwarz hieß er, wenn er sich recht erinnerte, das wohl übernehmen würde? Jackal entfuhr ein leises enttäuschtes Seufzen als rechts von ihm eine vertraute Stimme erklang, die vor Sarkasmus geradezu troff. Die Antwort auf diese Frage hätte ihn wirklich interessiert... "Vier gegen einen, also wirklich! Habt ihr noch nie was von Fairness gehört?" Ein ebenso sarkastisches wie breites Grinsen unterstrich die Ironie dieser Worte. Der Rauch von den Mündungen der beiden handgefertigten Waffen wurde mit einer effektvollen Bewegung weggepustet, bevor sie schwungvoll in ihre Holster am Rücken ihres Besitzers zurückgeschoben wurden. Vier der Männer waren an der Mauer zusammengesackt. Jedem von ihnen floss ein dünnes Rinnsal Blut aus der Schusswunde, die genau zwischen ihren Augen saß. "Noch dazu war ich unbewaffnet!" fügte Schuldig mit einem vorwurfsvollen Blick auf die Leichen hinzu. "Wie ich sehe, hütest du Hugin und Munin immer noch wie deinen Augapfel." stellte Kuroudo fest. Er meinte damit die beiden Pistolen von Schuldig, die dieser, schon seit er sie sich kurz nach seinem Eintritt bei ,Schwarz' hatte fertigen lassen, hingebungsvoll pflegte. Sie waren speziell auf seine Bedürfnisse abgestimmt und waren absolute Einzelstücke. Irgendwann hatte sich Schuldig dazu hinreißen lassen, sich Namen für seine ,Babys' auszudenken. Nach reiflicher Überlegung hatte er sich dann für Hugin, der ,Gedanke', und Munin, das ,Gedächtnis', entschieden. Dies waren die Namen der beiden Raben von Wotan, der nach einem alten Kult der Germanen der Vater aller Götter und ganz nebenbei allwissend war. Er fand seine Wahl äußerst passend. "Sicher. Wie oft findet man schon so treue Begleiter?" Als Schuldig das sagte tätschelte er seine beiden Unikate durch seinen Mantel hindurch. Kuroudo, der Feuerwaffen nur anfasste wenn es sich nicht vermeiden ließ, betrachtete diese liebevolle Geste skeptisch, sagte aber nichts weiter dazu. Statt dessen blickte er sich um und suchte offenbar nach neuen Gegnern. Schuldig merkte beiläufig an, dass sie alle beseitigt hätten, was ein erneutes enttäuschtes Seufzen von Jackal zur Folge hatte. Schuldig vermutete, dass es ihm zu einfach gewesen war. Weil er es aber sinnlos fand, weiter schweigend herumzustehen, beschloss er, ihr Gespräch da fortzusetzen wo sie stehen geblieben waren, bevor sie so unhöflich unterbrochen wurden. "Also, was sagst du? Du hast mir noch keine Antwort gegeben..." Kuroudo musterte ihn kurz und sagte dann: "Ich denke darüber nach. Komm in zwei Tagen an die Pforten von Mougenjou, dann werde ich dir meine Entscheidung mitteilen. Egal wie sie ausfällt..." Schon wieder eine wortlose Drohung. Schuldig wusste, dass er sich besser auf einen Kampf vorbereiten sollte, falls Kuroudos Antwort ein ,Nein' war. Dass er ihn allerdings nicht hier und jetzt angriff, sondern darüber nachdenken wollte, war zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer, also nickte Schuldig zustimmend. "Ich werde da sein." Kuroudo sah noch einmal zu den Leichenteilen herab, die um ihn verstreut waren, drehte sich auf dem Absatz herum und ging ohne ein Wort des Abschieds in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Bevor er im immer dichter werdenden Nebel verschwand, murmelte er noch etwas, was sich wie "Zu leicht..." anhörte. Schuldig hatte also recht behalten. Irgendwie ärgerte er sich darüber, dass er, auch ohne seine Fähigkeiten anwenden zu müssen, so genau über Jackals große Leidenschaft Bescheid wusste. Er war und blieb aber dennoch undurchschaubar und unberechenbar. Er sah ihm noch eine Weile nach, auch wenn er ihn schon lange nicht mehr sehen sondern höchstens noch erahnen konnte. Er dachte über das merkwürdige Gefühl nach, das er hatte, als diese Männer aufgetaucht waren. Er glaubte, dass er nun eine passende Umschreibung gefunden hatte: Sie hatten keinerlei wahrnehmbare Aura. Als wären sie tot. Nicht einmal bei Farfarello hatte er dieses Gefühl, obwohl dieser ja nachweislich nicht in der Lage war, Emotionen zu verspüren. Und in einem Punkt musste er Jackal Recht geben. Es war zu leicht gewesen. Sie hatten nicht einmal versucht, sich zu wehren. Es war, als ob ihnen der Tod keine Angst einflösste, ja, als ob es ihnen geradezu egal war, ob sie starben oder nicht... Er sah ein, dass er heute zu keinem Ergebnis mehr kommen würde. Er konnte noch so viel nachdenken, außer Vermutungen anzustellen konnte er nicht viel tun. Er wandte sich um und ging langsam in die entgegen gesetzte Richtung davon., nicht ohne sich noch einmal instinktiv davon zu überzeugen, dass die Männer wirklich tot waren und dass es keine Zeugen gab... * * * Die Straße lag verlassen da. Solche Stille wie sie nun herrschte war in Tokyo, die Stadt, der nachgesagt wird dass sie niemals schläft, nur sehr selten zu finden. Der Nebel wurde immer dichter und legte sich wie ein Leichentuch über die Überreste der Männer. Ein paar Ratten huschten durch das fahle Licht, auf der Suche nach etwas Fressbarem. In den Mülltonnen hier wurden sie schnell fündig, was man ihnen auch ansah. Nirgends in Japan gab es so wohlgenährte Ratten wie im Vergnügungsviertel Shibuya, und auf der Dogenzaka waren sie besonders fett. Eine dieser Tiere schlich sich nun zu den blutüberströmten Leichenteilen. Frisches Fleisch war selten und der Geruch nach Blut machte sie vor Neugier fast wahnsinnig. Der Kampf, der hier noch vor weniger als einer halben Stunde getobt hatte, hatte hunderte ihrer Artgenossen angelockt. Ratten sind nun aber von Natur aus ebenso neugierig wie misstrauisch. So wagte sich auch die Späherin nur langsam an den abgerissenen Arm heran, den sie anvisiert hatte. Wenn sie von dem ,Futter' gefressen hatte, würden die anderen sie beobachten und abwarten ob es vergiftet war. Ihr war klar dass es ihren Tod bedeuten könnte, das sagten ihr ihre Instinkte. Trotzdem... als erste von dem noch warmen Fleisch fressen zu dürfen ohne sich gegen ihre Verwandten durchsetzen zu müssen...für sie war es das durchaus wert, dafür ihr Leben zu riskieren. Der Arm lag so ruhig da wie man es von Gliedmaßen erwarten konnte, die von ihrem Körper getrennt wurden. Die Ratte näherte sich vorsichtig einem der Finger und roch daran. Sie konnte nichts Verdächtiges feststellen also entschied sie sich, das Blut das daran klebte einem Geschmackstest zu unterziehen und leckte an der Fingerkuppe. Es dauerte nicht lange und sie hatte alle Vorsicht hinter sich gelassen, saß auf der nach oben gerichteten Handfläche und schlug sich den Bauch voll. Für sie war es das Beste was sie jemals zwischen die Zähne bekommen hatte. Im Regelfall war das Fleisch, das sie fraß, bereits schwarz und stank erbärmlich. Sie konnte ja nicht ahnen dass es ihre Henkersmahlzeit werden sollte... Als die Hand zum ersten Mal zuckte, war sie zu irritiert um zu reagieren. Beim zweiten Mal jedoch zögerte sie keinen Moment sondern brachte sich mit ein paar ausgreifenden Sprüngen in Sicherheit. Nachdem sie etwa zwei Meter Abstand zwischen sich und den Arm gebracht hatte drehte sie sich um, um herauszufinden, was die Ursache für dieses völlig ungewohnte Verhalten ihres Futters war. Der Arm blieb nicht das einzige Körperteil, das sich bewegte. Auch alle anderen begannen nun ein merkwürdiges Eigenleben zu entwickeln, zum größten Teil noch in die Fetzen eines dunklen Anzugs oder eines weißen Hemdes gehüllt. Sie zuckten und wanden sich, manche Hände tasteten wie suchend über den Asphalt. Direkt neben der Ratte öffneten sich Augen hinter einer halb verrutschten Sonnenbrille. Die Männer die erschossen an der Wand gelehnt hatten, schienen unter schweren Krämpfen zu leiden, was eigentlich nicht sein konnte, da sie ja dummerweise tot waren. Die Ratte begann, sich halbherzig das Blut aus ihrem Pelz zu lecken. Sie saß immer noch näher als die anderen an den bebenden Stücken, dachte aber nicht daran, sich von ihrem Logenplatz zurückzuziehen. Obwohl sie wie alle ihrer Art über außergewöhnlich scharfe Sinne verfügte, nahm sie den Schatten, der plötzlich neben ihr in die Höhe wuchs, erst wahr als es schon zu spät war. Mit festem Griff wurde sie im Nacken gepackt und hochgehoben. Die Hand drehte sich dabei so dass sie völlig bewegungsunfähig auf dem Rücken lag und zu dem Schatten aufblicken musste. Als die Scheinwerfer eines Autos für einen Wimpernschlag die Gasse erleuchtete, blitzten zwei grüne Augen unter einem dunklen Hut auf. Die andere Hand der nun wieder nur verschwommen wahrnehmbaren Gestalt hob sich und streichelte mit einem Finger sanft über den Kopf der Ratte. Und wieder waren es ihre Instinkte, die sie davor warnten, dass diese Geste nicht so liebevoll gemeint war, wie sie sich anfühlte. Das Letzte was sie dachte, bevor sie ihr Leben aushauchte war: , Du warst nicht sehr nett zu mir, Tokyo...' Das trockene Knacken mit dem ihr Genick brach war in der Stille wie ein Gewehrschuß. Als ob dieses Geräusch ein Startsignal wäre begann ein hektisches Gewusel als sich die übrigen Ratten blitzschnell wieder in ihre Verstecke zurückzogen. Innerhalb von Sekunden war kein einziges Tier mehr zu sehen, mit Ausnahme der Getöteten, dessen lebloser Körper nun von der schattenhaften Gestalt achtlos auf einen nahen Müllberg geworfen wurde. Ihre Aufmerksamkeit galt nun den Leichenteilen, die sich nicht so benahmen wie es gehörte. Nach einer Weile verschwand eine Hand des Schemens in die Tasche seiner schwarzen Hose und zog etwas heraus, das entfernt an eine Taschenuhr erinnerte. Als er es aufklappte, begann es schwach violett zu glühen. Nach einem kurzen Blick in das Innere des Gebildes perlte ein einziges Wort über die Lippen des Fremden und durchdrang den Nebel: "Tamashii." Die Stimme war sanft, hatte einen fast melancholischen Klang, war aber definitiv männlich und offenbar befehlsgewohnt. Kaum hatte er das Wort ausgesprochen erstarrten die Arme, Beine und was sonst noch herumlag. Stattdessen bildete sich um sie herum eine Art violett pulsierende Aura, die immer heller leuchtete bis die Straße fast taghell erstrahlte. Der Mann streckte nun das taschenuhrähnliche Gebilde in ihre Richtung und befahl: "Setto!" Nun kam Bewegung in das Glühen um die Körper. Das Leuchten begann zu verschwimmen, floss wie Wasser über die Konturen, die kaum noch zu erkennen waren und sammelte sich etwa eine Handbreit über den Gliedmaßen langsam zu gleißenden Sphären aus Licht. Dann schwebten sie erst gemächlich, dann immer schneller auf den Mann zu der sie gerufen hatte. Mit einem letzten Aufglühen versanken sie in der Taschenuhr, die offenbar zu vielem zu gebrauchen war, nur nicht dazu, die Zeit auf ihr abzulesen. Als die letzte Lichtkugel in ihrem Inneren verschwunden war, wurde ihr Deckel mit einem leisen Klicken geschlossen. Der Mann beäugte das pulsierende Licht und wartete. Als das Licht plötzlich von dem sanften Violett zu einem satten Blau wechselte stieß er ein Zischen aus, das halb Lachen, halb unterdrückte Enttäuschung war und schob das nunmehr silbrig blau glimmende Metallgehäuse mit einem heftigen Ruck zurück in seine Tasche. Die abgetrennten und nun wieder unbeweglichen Körperteile waren wegen des Nebels kaum mehr zu erkennen, trotzdem schenkte er ihnen einen mehr als verächtlichen Blick und murmelte etwas, von dem nur die Worte ,synthetisch' ,spirituelle Energie' und ,zweitklassig' zu verstehen waren. Dann zog er sich den Hut tiefer ins Gesicht. Wie von einem Windhauch berührt begann der Nebel aufzuwallen und schien sich um den ruhig dastehenden Mann, der noch immer kaum mehr als ein Schatten war zusammenzuziehen. Ein stumpfes Dröhnen stieg auf, das so tief war das man es mehr spürte als wirklich hörte. Bald schon hatte sich um ihn eine milchige Säule gebildet, die kaum noch wie Nebel sondern viel mehr wie ein leichtes Tuch wirkte. Die Luft begann vor Spannung zu vibrieren. Sie entlud sich schlagartig, als aus der Mitte der Nebelsäule ein gewaltiger Blitz lautlos gen Himmel schoss und die Dächer der Stadt in ein violettes Licht tauchte. Als sie kurz darauf in sich zusammenfiel war der Mann verschwunden... Die aufgehende Sonne zerfaserte den Nebel und einzelne Strahlen verirrten sich in die verlassene Gasse. Sie tasteten sich langsam an einen ruhig daliegenden Arm heran. Als sie ihn erreichten, schienen abertausende Ameisen auf ihm zum Leben zu erwachen. Man konnte zusehen wie sich der Arm gegen die Sonne wehrte, als stecke immer noch Leben in ihm. Erst verfärbte sich die Haut nur langsam, wurde grau und brüchig. Dann begann der ganze Arm dünner und kleiner zu werden, die Finger bogen sich zu Klauen und färbten sich schwarz. Es war als ob er in einem Brennofen liegen würde, dabei strichen nur sanfte spätherbstliche Sonnenstrahlen über ihn hinweg. Schon nach kurzer Zeit erinnerten nur noch ein paar kleine Häufchen Asche an die Schlacht, die hier getobt hatte, und auch diese würden bald der Vergangenheit angehören. Der gesichtslose Mann hatte sie aus dem Gedächtnis der Welt gelöscht... * * * 1. Kapitel: Seelendieb -> Ende 2. Kapitel: Tödliches Blut [1] Hachikô-Statue: Die Statue eines Hundes am Bahnhof von Shibuya. Ein beliebter Treffpunkt. Es gibt einen Artikel bei Wikipedia darüber, und zwar hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Hachik%C5%8D [2] Agnosie gibt es tatsächlich, allerdings anders als hier beschrieben. Im Internet findet man zahlreiche Artikel darüber. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)