Schwarzer Drache: Manticor von abranka (Schwarzer Drache II) ================================================================================ Prolog: Was bisher geschah... ----------------------------- (Oder auch: Eine kurzer Zusammenfassung von "Schwarzer Drache") Vier Jahre sind vergangen, seit Hitomi von Gaia auf die Erde zurückgekehrt ist. Der Kontakt zu Van ist abgebrochen, dunkle Ahnungen erfüllen sie. Hitomi hat den Willen zu Leben verloren und will sich von einer Klippe stürzen. Doch die Verbindungen zwischen Van und ihr ist zu stark - Van erscheint und rettet sie. Hitomi kehrt nach Gaia zurück und trifft auf alte Freunde - und alte und neue Feinde. Allens Schwester Serena scheint geheilt zu sein - die Vergangenheit als Zaibacher Krieger Dilandau liegt offenbar in der Vergangenheit. Dass dies nur eine Illusion ist, zeigt sich beim ersten Zusammentreffen von Serena und Van. Der Hass siegt und aus Serena wird wieder Dilandau. Er flieht aus Farnelia und schließt sich den Feinden von Farnelia an. Das Zaibacher Reich ist zwar zerfallen, aber ein alter Feind bedroht Farnelia. Sarya, ein kleines Land erschüttert den Frieden. Und die Ehe des Königs von Farnelia mit der Prinzessin von Sarya scheint der einzige Ausweg zu sein. Van versucht zwar, sich Rat bei seinem verstorbenen - und wiederbelebten Bruder Folken zu holen, doch eine politische Ehe scheint die einzige Möglichkeit zu sein, den Frieden zu wahren. So kommt die saryanische Prinzessin Auriana nach Farnelia, um diese Bündnis zu schmieden. Als Hochzeitsgeschenkt bringt sie etwas besonderes mit - den Löwenjungen Louvain. Doch Auriana ist nicht, was sie zu sein scheint. Intrigant bis ins Mark versucht sie die Macht an sich zu reißen - und scheitert nur an Vans schneller Reaktion. Doch eine Niederlage lässt sie nicht auf sich sitzen - sie lässt Hitomi, die Geliebte des Königs, und Prinzessin Milerna entführen. Van, Allen und Dryden brechen auf, um die beiden Frauen zu retten. Dryden sieht sich in der Konkurrenz zu Allen, seit er entdeckt hat, dass seine Ehefrau Milerna und der Ritter des Himmels ein Verhältnis unterhalten. Der Händler stirbt den Heldentod, als er sich seiner Frau beweisen will. Hitomi und ein seltsamer schwarzer Drache, der sich als der verehrte Drachengott entpuppt, treten in Kontakt. Als beschützender Schatten begleitet der Drache Hitomi. Zwischen Merle und Louvain entwickeln sich langsam erste zarte Bande... Als Folge der Entführung wird die Ehe von Van und Auriana aufgelöst und Auriana des Landes verbannt. Der Krieg steht unvermeidbar vor der Tür. Farnelia rüstet auf. Unerwartete Verstärkung bekommen sie von den Biestmenschen, die in Sarya verfolgt werden und in Farnelia eine neue Zuflucht finden. Schließlich ist es so weit - die saryanischen Truppen stehen vor dem Tor. Durch zwei Duelle soll der Kampf entschieden werden. Van tritt gegen Dilandau an und Folken gegen Orlog, den Sohn des verstorbenen Kaisers Dornkirk, König von Sarya und Vater von Auriana. Als Van im Kampf zu unterliegen scheint, gibt es Einmischung von unerwarteter Seite. Der schwarze Drache stürzt vom Himmel und tötet Dilandau - gleichzeitig befreit er damit einen alten Feind als seinem Gefängnis und lässt eine neue Bedrohung auf Gaia los. Ein alter Feind, an dessen Seite Auriana stehen wird... Kapitel 1: 1. Auf dem Weg nach Palas ------------------------------------ Van seufzte leise und starrte aus dem Fenster des Crusados. In wenigen Stunden würden sie in Asturia ankommen. Er blickte wieder auf das Medaillon, das er in seiner Hand hielt und ließ es erneut aufschnappen. Die winzige Zeichnung zeigt das Gesicht einer Frau, ein Gesicht, das ihm mittlerweile vertraut geworden war. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er sie in den letzten neun Monaten angesehen hatte. Tayana. Die Frau, die mein Bruder geliebt hat... Er blickte wieder in die hellbraunen Augen, entdeckte die Sommersprossen auf ihrer Nase und das glückliche Lächeln auf ihren Lippen. Eingerahmt wurde das Gesicht von dicken, schwarzen Locken. Ja, sie war wirklich eine Schönheit. Van seufzte erneut, ließ das Medaillon zuschnappen und sah wieder aus dem Fenster. "Van?" Hitomi trat von hinten an ihn heran. Er drehte leicht den Kopf und nickte ihr zu. "Ist alles in Ordnung?" fragte sie nach. Van nickte stumm. "Ja, ja. Ich hoffe nur, dass wir sie dieses Mal finden. Und nicht wieder vor einem losen Ende stehen." Hitomi runzelte leicht die Stirn. Sie fand nicht, dass es bisher so schwer gewesen war, die Spur dieser Frau zu verfolgen. Sie trat neben Van ans Fenster und hing ebenfalls ihren Gedanken nach. Vor knapp neun Monaten war die ,große Schlacht' gewesen, der Zweikampf zwischen den saryanischen Befehlshabern und der Brüder vom Volk des Drachengottes. Nicht nur Folken hatte den Tod gefunden, sondern auch Dilandau und der König von Sarya, der sich gleichzeitig als Dornkirks Sohn herausgestellt hatte. Folkens letzte Gedanken hatten der Frau gegolten, die Van und sie nun suchten. Recht schnell hatten sie herausbekommen, dass Tayana, die Frau auf dem Bild, in jungen Jahren als Tänzerin im Palast von Farnelia gearbeitet hatte. Nachdem aber ihre Affäre mit dem Erstgeborenen des Königs aufgeflogen war, hatte man sie des Schlosses verwiesen. Anschließend hatte sie noch einige Jahre in einer der Kneipen der Hauptstadt getanzt. Als jedoch erneut herausgekommen war, dass Folken und sie ihre Beziehung aufrecht erhalten hatten, wurde sie des Landes verwiesen. Sie hatte sich nach Palas begeben und dort in einer Taverne namens ,Das fliegende Einhorn' getanzt. Das war vor ungefähr elf Jahren gewesen und nun waren sie auf dem Weg nach Palas. Neben Van und Hitomi befanden sich noch Allen, Louvain, Merle und Lothian an Bord. Louvain diente Allen mittlerweile als Knappe und Lothian Van. Beide waren bestrebt die Ritterwürde zu erlangen und mussten nun den dafür vorgeschriebenen Weg gehen. Das bedeutete vorrangig eine gewisse Zeit in den Diensten eines Ritters oder Königs zu stehen und von diesem zu lernen. Für Lothian würden sie in Asturia einen eigenen Guymelef kaufen müssen. Louvain hatte von Van Castillo geschenkt bekommen, den Guymelef, in dem zuerst Dryden und dann schließlich Folken gestorben waren. Lothian hatte Castillo abgelehnt, da er keinen Guymelef mit einer so schlechten Aura hatte haben wollen. Der Löwenjunge Louvain hatte das Ganze viel pragmatischer gesehen: Hauptsache ein Guymelef, mit dem er kämpfen konnte... Hitomi schüttelte die Gedanken an die Vergangenheit ab und zwang sich in die Gegenwart zurück. Sie lehnte sich an Vans Schulter und er nahm sie liebevoll in den Arm. "Weißt du, Van, ich freue mich schon darauf endlich Allens und Milernas Tochter zu sehen. Sie ist ja jetzt schon drei Monate alt," sagte sie. "Hm," brummte Van und Hitomi merkte, dass er mit seinen Gedanken woanders war. "Wo bist du gerade, Van?" lachte sie. Er sah sie verwirrt an, musste dann aber auch lächeln. "Ich habe mich nur gefragt, ob Admiral Vitguer auch so lange ohne mich zurechtkommt." Jetzt musste Hitomi richtig lachen. "Van, du machst dir wieder viel zu viele Sorgen," besänftigte sie ihn. "Admiral Vitguer hat schon erfolgreich Kriege geführt. Und in Farnelia ist im Moment doch nicht wirklich etwas los. Sarya hat sich problemlos als Provinz eingefügt und das Einzige, was er im Moment machen muss, ist, dafür zu sorgen, dass in Sarya genug Lebensmittel ankommen, bis sie ihre Landwirtschaft vernünftig aufgebaut haben." Der König von Farnelia lächelte nun auch. "Du hast ja recht, Hitomi!" Zärtlich wuschelte er ihr durch das Haar. Mittlerweile war das Schwarz ganz herausgewachsen und sie hatte sich wieder ihre Kurzhaarfrisur schneiden lassen. Mit langen Haaren konnte sie sich einfach nicht anfreunden. Auf der Brücke stand Allen am Fenster und blickte auf die Waldlandschaft, über der der Crusado dahinflog. "Kommandant?" sprach Gardes ihn an. "Ja, Gardes?" Allen drehte sich lächelnd um und blickte den braunhaarigen Mann aus seinen tiefblauen Augen an. "Ist alles in Ordnung, Kommandant?" "Aber ja, Gardes." Allen sah wieder aus dem Fenster. "Ich freue mich nur darauf Milerna und Ayres wiederzusehen. Und natürlich auch Drayos. Die kleine Ayres ist doch erst drei Monate alt." "Kommt Ihr mit Drydens Sohn mittlerweile besser zurecht?" Allen nickte. "Ja, er hat sich langsam an mich gewöhnt. Er nennt mich zwar immer noch ,Allen', aber das ist in Ordnung. Ich bin ja nun einmal nicht sein Vater. Trotzdem hat er Drydens Tod noch immer nicht verarbeitet." Der blonde Ritter seufzte leise. "Wenigstens ist er nicht mehr so offen feindselig." "Kinder sind nun einmal schwierig, Kommandant," murmelte Gardes. "Hast du etwa selbst welche, Gardes?" fragte Allen spöttisch. Gardes musste grinsen. "Natürlich nicht. Würde ich das sonst sagen?" Im Frachtraum kuschelte sich Merle an Louvains goldenes Fell. Das Katzenmädchen war überglücklich, ihn gefunden zu haben. Louvain lächelte und strich ihr sanft über das rosafarbene Haar. Auch er hatte den Eindruck, dass sie das Beste war, was ihm hatte passieren können. Lothian verdrehte bedeutungsvoll die Augen und ging zu Escaflowne herüber. Stumm vor Respekt und Ehrfurcht blickte er aus seinen gelben Augen zu dem berühmten Guymelef empor. Der Wolfsjunge hoffte, dass sein Guymelef irgendwann einmal genauso berühmt sein und er wenigstens ein genauso guter Kämpfer wie Allen oder Van sein würde. Unruhig zuckte er mit dem buschigen grauen Schwanz. Wie gerne würde er Escaflowne steuern! Wenigstens ein einziges Mal! Leise seufzte er. Er wusste schließlich, dass der Guymelef von Isparno nur von dem König von Farnelia gesteuert werden konnte. Hinter sich hörte er Merle und Louvain leise kichern. Der Wolfsjunge blickte kurz über die Schulter und verdrehte wieder die Augen. So langsam gingen ihm die beiden auf die Nerven. Es war nicht so, dass er Louvain oder Merle ihr Glück missgönnte, aber... Sie nerven einfach, dachte er. Sie sind immer nur zusammen. Und dann kuscheln sie und küssen sich. Und sonst was. Nie ist Louvain mal alleine. Er seufzte noch einmal. Ein einziges Mädchen und schon hatte sich Louvain völlig verändert. Lothian knurrte leise vor sich. Er wollte es sich zwar nicht eingestehen, doch irgendwie war er eifersüchtig auf Merle geworden. Er hatte immer mehr den Eindruck, dass sie ihm seinen besten Freund einfach weggenommen hatte. Kapitel 2: 2. Kinder -------------------- "Wir landen in fünf Minuten in Palas!" Gardes' Stimme hallten durch den gesamten Crusado. "Komm, lass uns auf die Brücke gehen," meinte Hitomi und zog Van mit sich. Der schwarzhaarige Junge steckte noch das Medaillon in seine Tasche und folgte dann dem Mädchen vom Mond der Illusionen widerspruchslos. Auf der Brücke trafen sie nicht nur mit Allen und Gardes, sondern auch mit den drei Tiermenschen aus dem Frachtraum zusammen. Hitomi musste lächeln, als sie sah, wie glücklich Merle und Louvain zusammen aussahen. Das Katzenmädchen und der Löwenjunge gaben wirklich ein schönes Paar ab. Dann streifte Hitomis Blick den Wolfsjungen und bestürzt erkannte sie, wie unglücklich er wirkte. Seine gelben Augen blickten immer wieder missbilligend zu seinem besten Freund und dessen Freundin herüber und Hitomi meinte sogar ein leises Knurren aus seiner Kehle zu hören. Vielleicht sollte ich mich in nächster Zeit ein bisschen um ihn kümmern. Oder zumindest dafür sorgen, dass Van es tut, dachte sie. Schließlich wandte sie ihren Blick wieder aus dem Fenster und sah, dass der Crusado bereits von Königin Eries und ihrer Schwester Milerna erwartet wurden. An Milernas Seite stand der kleine dunkelhaarige Drayos und auf dem Arm hielt sie unverkennbar ein Baby. Kurz vor der Geburt hatte Eries ihre Schwester nach Palas gebeten, damit auch Milernas zweites Kind im Palast zur Welt kommen konnte. Milerna hatte sich zwar erst etwas gesträubt, die Freunde in Farnelia zu verlassen, doch dann schließlich doch nachgegeben, da nach der asturianischen Tradition, der Geburtsort großen Einfluss auf das Schicksal und das weitere Leben des Kindes hatte. Und schließlich gehörte Ayres zur Königsfamilie Asturias, sodass ein anderer Geburtsort völlig undenkbar erschienen war. Sobald der Crusado gelandet war, stürmte Allen über die Rampe auf das Flugfeld. Er fiel Milerna lachend um den Hals und küsste sie zärtlich. Anschließend liebkoste er seine Tochter und seinen Stiefsohn. Sehr viel ruhiger verließen die anderen das Flugschiff nach ihm. Eries trat mit einem freundlichen Lächeln auf sie zu. "Willkommen in Palas," sagte sie. Der Wind fasste in ihr langes hellblondes Haar und spielte mit ihrem Kleid. Hitomi ging wieder auf, was für eine großartige Königin sie doch war. Sie hatte eine Ausstrahlung, die es vollkommen unnötig machte, von Leibwachen umgeben zu sein. Niemand würde es je wagen, ihr in irgendeiner Form zu nahe zu treten. Sie hatte eine Autorität, über die noch nicht einmal ihr Vater verfügt hatte. Nach einander begrüßte Eries förmlich alle Ankömmlinge. Während Hitomi schließlich zu Allen und Milerna trat um die kleine Ayres das erste Mal zu sehen, sprach Eries Van und Lothian an. "Ich habe bereits einige Guymelef-Modelle herausstellen lassen. Es sind ein paar wirklich ausgezeichnete dabei. Natürlich müsst Ihr aber ausprobieren, welcher am besten zu Euch passt, Lothian." Lothian nickte unsicher. Er wusste immer noch nicht genau, wie er sich in der Nähe von Adeligen, insbesondere von Königinnen und Königen, verhalten sollte. Er winselte leise. "Königin Eries, das ist sehr freundlich von Euch," lächelte Van. "Ich werde noch einen kurzen Besuch in der Stadt machen. Danach werden Lothian und ich uns sofort die Guymelefs ansehen." Eries nickte zustimmend. "Sie ist wirklich wunderschön," sagte Hitomi und streichelte sanft über die Finger des Babys. Milerna und Allen lächelten stolz. Der Säugling blickte Hitomi aus riesigen blauen Augen an und lachte breit. "Hey!" Drayos zupfte an Hitomis Kleid. "Und was ist mit mir?" Hitomi lachte ihn an. "Du bist natürlich auch wunderschön," antwortete sie und stieß ihn mit dem Zeigefinger in den Bauch. Drydens Sohn sprang kichernd zurück. "Hitomi," unterbrach Van das kurze Spiel, "Ich gehe jetzt in die Taverne. Geht ihr schon mal mit ins Schloss. Ich komme dann nach." Hitomi senkte zustimmend den Kopf und drückte Van noch einen liebevollen Kuss auf die Lippen. Dann sah sie ihm nach, wie er in Richtung Stadt lief. "Immer noch die Suche nach dieser Frau?" fragte Allen. Hitomis grüne Augen funkelten übermütig, als sie ihn ansah. "Was denn sonst? Er gibt nicht eher Ruhe, bis er Folkens letzten Wunsch erfüllt hat. Und bis er diese Frau endlich kennen gelernt hat." "Ich kann ihn verstehen," meinte Milerna und ihre violetten Augen schimmerten dabei nachdenklich. "Er will doch nur wissen, wer seinem Bruder so nahe stand. Würdest du das nicht wollen?" Hitomi stimmte ihr zu und nahm dann Drayos auf die Schultern. Gemeinsam liefen die Freunde zum Schloss. Auf der Rückseite Gaias, inmitten der ewigen Stürme, gab es einige Ruinen. Es waren die Überreste einer alten Kultur, die schon lange dem endlosen Wind und den ständigen Blitzen zum Opfer gefallen war. Regen fiel hier selten und die Landschaft war felsig und trocken. Der Wind tobte unaufhaltsam durch Staub und Sand und peitschte lautstark gegen die wenigen heilen Fenster der einzigen, erleuchteten Ruine. Es war das einzige Gebäude, das noch nicht völlig verfallen war und das sich eng zwischen die hohen Felsen presste. Auriana lief in der Eingangshalle unruhig auf und ab. Die beiden Frauen hätten schon längst hier sein sollen. Ihr blondes Haar war sorgfältig frisiert und sie trug eines ihrer elegantesten Kleider. Von der Schwangerschaft sah man ihr nichts mehr an und sie war genauso schlank wie zuvor. In einer dunklen Ecke der Halle kauerte ein mächtiger Schatten und sein ruhiger Atem ließ die Kerzen immer wieder aufflackern. "Sie verspäten sich," grollte er mürrisch. "Ich weiß, Herr," fauchte Auriana gereizt zurück. Sie blickte kurz zu den beiden Wiegen, die in einer Ecke standen. Sie wollte die Kinder endlich weggeben, damit sie ihr andauerndes Geschrei nicht mehr ertragen musste. Im Moment mochten sie zwar ruhig schlafen, aber das war für ihren Geschmack viel zu selten der Fall. Die Tür der Halle wurde plötzlich aufgestoßen und Auriana zuckte zusammen. Ein Diener trat ein und verneigte sich höflich. "Prinzessin Auriana, die Damen von Lethe und von Styx." Ihm folgten zwei edel gekleidete Damen, deren seidige Umhänge nun von Staub bedeckt waren. "Entschuldigt, Prinzessin, aber der Sturm..." begann Lady von Lethe, doch sie wurde sofort von dem Schatten unterbrochen. "Das spielt keine Rolle," knurrte er grollend. Die beiden Frauen zuckten zusammen und spähten angstvoll in die Dunkelheit, aus der die Stimme gekommen war. Erkennen konnten sie dort nichts. Allein Schwärze umgab den grollenden Schatten. Auriana winkte die beiden zu den Wiegen und nahm das erste Baby hoch. "Sein Name ist Laures und er wird bei euch aufwachsen, Lady von Styx." Damit drückte sie der Frau das Kind in die Arme und nahm sofort den zweiten Säugling hoch. "Und Lauria wird bei Euch aufwachsen, Lady von Lethe." Damit hatte sie auch das zweite Kind übergeben. "Ihr wisst, wie Ihr die Kinder zu erziehen habt," sagte Auriana noch und wandte sich dann ab. "Ihr wisst, wie wertvoll sie für unsere Zukunft sind," ergriff nun der Schatten das Wort. "Sie tragen das Blut vom Volk des Drachengottes und vom Volk des Manticors in sich. Achtet gut auf meine Kinder." Die beiden Damen verneigten sich ehrfürchtig in Richtung der Stimme und huschten dann aus der Halle. Kapitel 3: 3. Im fliegenden Einhorn ----------------------------------- Van lief schnellen Schrittes zum Hafen. In der Nähe eines der Piere wurde er schließlich fündig. Ein verrottetes Schild verkündete den klingenden Namen ,Das fliegende Einhorn'. Die Zeichnung neben dem Schriftzug war verblasst und nur schwach war ein geflügeltes, weißes Einhorn zu erkennen. Van blieb vor der Tür noch einen Moment stehen und atmete tief durch, dann drückte er die morsche Tür entschlossen auf. Im Inneren sah es nicht viel besser aus, als der äußere Anschein hatte erahnen lassen. Der Schankraum war leer und strotze nur so vor Staub und Dreck. Vor dem Tresen standen halbzerbrochene Hocker, die Tische standen kreuz und quer und überall lagen zerbrochen Flaschen und Gläser auf dem Boden. "Wir haben geschlossen!" fauchte eine tiefe Stimme hinter dem Tresen. Sekunden später kam das Gesicht eines älteren Mannes zum Vorschein, dem man den übermäßigen Alkoholgenuss deutlich ansah. Es war aufgequollen und besaß glasige Augen. Van erkannte sofort, dass der Mann nicht mehr nüchtern war. "Was willst du?" brummte der Kerl und strich sich durch die fettigen, grauen Haare. "Seid Ihr der Wirt?" fragte Van ruhig. "Wer denn sonst?" kam die geknurrte Antwort. "Ich habe eine Frage an Euch." Van setzte sich auf einen der Barhocker. Umsichtig hatte er einen ausgewählt, der nicht so aussah, als wenn er jeden Moment zusammenbrechen würde. "Nur, wenn du was trinkst," brummte der Wirt und nahm selbst einen Schluck aus einer bauchigen Flasche. Van spähte hinter ihn und versuchte auf dem Regal eine der Flaschen zu identifizieren, gab es aber sehr bald auf. Die Dreckschicht war dazu viel zu dick. "Gebt mir einfach irgendetwas," murmelte er. Der Wirt griff nach einem Glas, wischte kurz mit dem Finger durch und goss etwas aus seiner Flasche hinein. Dann schob er es zu Van herüber. "Macht drei Taler." Der junge König seufzte leise, zog die Geldstücke aus der Tasche und ließ sie auf dem Tresen fallen. "Also, beantwortet Ihr mir jetzt meine Frage?" "Aber selbstverständlich, Junge. Worum geht es?" Der Wirt lehnte sich vor und blickte Van ins Gesicht. "Moment mal," stockte er, "dich kenne ich doch irgendwoher. Wie ist dein Name?" "Van Farnel." Der Betrunkene wurde blass. "Der König von Farnelia? Ihr in meiner Kneipe? Entschuldigt mein Benehmen, edler Herr..." stammelte er. Van winkte ab. "Lasst es gut sein. Beantwortet mir nur eine Frage. Was wisst Ihr über die Tänzerin Tayana? Tayana Dazéra?" "Tayana..." murmelte der alte Mann zur Antwort und nahm noch einen tiefen Zug aus der Flasche. "Tayana. Sie war die schönste Tänzerin von ganz Gaia. Und auch die Beste. Als sie hier getanzt hat, war das fliegende Einhorn noch eine gute Adresse. Alle kamen her um sie zu sehen. Sie war einfach wunderbar... Alle kamen her... Doch als sie ging..." Er seufzte leise und fuhr sich wieder durch das Haar. "Als sie ging, verschwanden auch die Gäste. Niemand kam mehr her. Und das hier ist, was aus dem schönen Einhorn geworden ist." Mit einer weiten Handbewegung deutete er auf den leeren, heruntergekommenen Schankraum. Dabei schlug er sich fast selbst ins Gesicht. "Und wo ist Tayana jetzt?" "Vor zehn Jahren," brummte der Wirt, "Ist sie gegangen. Sie wollte weg von hier. Weg von den Menschen, die sie immerzu an ihre große Liebe erinnert haben. Weg von den Männern, die sie haben wollten, weil der Sohn eines Königs sie liebte. Auch wollte sie ihrem Sohn diese Umgebung nicht zumuten. Sie hat sich zurückgezogen. Irgendwo in den Wald an den Klippen." Eine einzelne Träne rann ihm über die Wange. "Sie hatte so viel Schmerz erfahren und wollte ihn nicht mehr jeden Tag hören. Tag für Tag dieselben dummen Fragen und Bemerkungen. Irgendwann war es ihr einfach nur genug." Er wischte sie die Träne von der Wange und blinzelte Van an. "Aber sagt, warum sucht Ihr sie jetzt? Nach all den Jahren?" Van atmete tief durch und zog das Medaillon aus der Tasche. "Das hat mein Bruder Folken mir gegeben, als er starb. Er wollte, dass ich Tayana finde. Seine letzten Worte und Gedanken galten allein ihr. Er hat sie nie aufgegeben. Über all die Jahre nicht," antwortete er. Geräuschvoll schnäuzte sich der Wirt in den schmutzigen Ärmel seines Hemdes. "Das ist ja richtig romantisch. Wie gesagt, sie ist irgendwo in den Wald auf der Klippe gezogen. Es sind nur wenige Wegstunden von hier, aber trotzdem ist der Wald dort so dicht und undurchdringlich, dass niemand sie gefunden hat. Und viele haben es versucht. Wer weiß, vielleicht ist sie auch längst nicht mehr dort." Van stand auf und nickte dem Betrunkenen noch einmal zu. "Ich danke Euch. Ich hoffe, dass ich sie finden werde." "Das wünsche ich Euch, König von Farnelia. Vor allem um ihretwillen. Sie muss wissen, dass er sie nie vergessen hat." Als Van endlich am Schloss ankam, wurde er schon ungeduldig erwartet. Vor allem Lothian und Louvain konnten es kaum abwarten, endlich einen Guymelef für den Wolfsjungen auszusuchen. Die beiden Tiermenschen liefen vor der Eingangstür auf und ab und sprangen immer wieder auf die Mauer der Einfahrt, um von dort aus besser sehen zu können. Merle hätte gerne an der Auswahl teilgenommen, da sie am liebsten jede Minute des Tages mit Louvain verbrachte, war aber dann doch von Hitomi überzeugt worden mit dieser auf den Markt zu gehen. "Jetzt beruhigt euch doch endlich," brummte Allen ungehalten. Er saß auf dem Mäuerchen in der Sonne und musterte die beiden Jungen kritisch. "Gehört sich so ein Verhalten etwa für angehende Ritter?" Lothian und Louvain zogen geknickt die Köpfe ein und ließen sich neben Allen nieder. Sekunden später sprangen sie wieder auf und riefen gleichzeitig: "Da kommt er!" Auch Allen stand nun auf. "Hast du Erflog gehabt, Van?" fragte er. "Es geht. Ich weiß jetzt, wo ich weitersuchen muss." Van grinste schief. "Lass uns aber erst einen Guymelef aussuchen. Sonst drehen die beiden hier noch durch." Mit diesen Worten strich der blonde Ritter beiden Tierjungen sanft über die Köpfe. Als Antwort erhielt er ein drohendes Knurren und ein ungehaltenes Fauchen. Kapitel 4: 4. Spannungen ------------------------ Direkt im Eingangshof warteten fünf verschiedene Guymelef-Modelle auf die vier Männer. Van und Allen gingen sie mit kritischem Blick ab und blieben schließlich einvernehmlich neben einem großen, hellgrauen Guymelef mit einem violetten Umhang stehen. Er entsprach dem überarbeiteten Modell von Scheherazade. "Versuch den hier mal, Lothian," meinte Van. Gehorsam kletterte der Wolfsjunge an der Kampfmaschine hoch und ließ sich ins Cockpit sinken. Er machte einige Schritte und fuhr dann das Schwert aus. Nachdem er es einige Male durch die Luft hatte sausen lassen, trat er wieder an seinen Platz in der Reihe zurück und Lothian sprang aus dem Cockpit. "Er ist toll," lachte der Wolfsjunge. "Ganz leicht zu steuern. Und extrem beweglich. Der Sitz fühlt sich auch so an, als wenn er für mich geschaffen wäre." Van musste angesichts dieser Begeisterung lachen. "Dann merk ihn dir. Und jetzt probierst du noch den daneben." Merle lief mit mürrischem Gesicht neben Hitomi über den Markt. Während das Mädchen vom Mond der Illusionen immer wieder mit großen Augen stehen blieb und die Auslagen betrachtete, grummelte Merle vor sich hin. "Was ist denn los, Merle?" fragte Hitomi schließlich entnervt. "Was soll ich denn hier, Hitomi?" jammerte das Katzenmädchen. "Ich will bei Louvain sein." "Merle." Hitomi seufzte leise und nahm das Katzenmädchen sanft an den Schultern. "Lass ihn doch auch einfach mal was mit Lothian machen. Er braucht auch mal seine Ruhe. Wenn du immer nur bei ihm bist, dann gehst du ihm vielleicht sogar noch auf die Nerven. Siehst du etwa Van und mich oder Allen und Milerna dauernd auf einander hocken?" Störrisch blickten Merles blaue Augen sie an. "Wieso denn? Wir lieben uns und wir sind immer zusammen." "Das will ich dir doch gar nicht nehmen," erwiderte Hitomi und ließ auf der Brüstung der nahen Brücke nieder. Anschließend bedeutete sie dem Katzenmädchen sich neben sie zu setzen. "Weißt du, jeder braucht seinen Freiraum. Im Moment geht das mit dir und Louvain so vielleicht noch gut, aber auf Dauer wird er das Gefühl haben, dass du ihm die Luft abschnürst. Hast du außerdem mal an Lothian gedacht?" "Was hat der denn damit zu tun?" Merle fuhr sich ungehalten durch das rosafarbene Haar und zuckte ungeduldig mit dem Schwanz. Warum sollte sie sich das eigentlich alles anhören? "Merle, Lothian ist eifersüchtig. Er hat das Gefühl, dass du ihm seinen besten Freund wegnimmst. Wenn das so weiter geht, wird er unangenehm werden und vielleicht irgendetwas tun, das dir oder Louvain sehr wehtut." "Ach, du spinnst doch!" fauchte das Katzenmädchen, sprang auf und war sofort in der Menschenmenge verschwunden. Hitomi sah ihr kopfschüttelnd nach. Da wäre ich mir nicht so sicher, Merle, dachte sie. Im Schloss hatte Milerna es sich auf einem der Balkons bequem gemacht. Sie saß in der Sonne und blickte über die Dächer von Palas. Neben ihr stand Ayres' Wiege und Drayos spielte zu ihren Füßen. Sie fühlte sich ganz und gar zufrieden. "Hier bist du also, Schwester," sprach Eries, als sie sich zu Milerna setzte. Milerna lächelte ihrer älteren Schwester freundlich entgegen. "Hast du mich etwa gesucht, Eries?" erkundigte sich Milerna. "Nicht direkt. Ich wollte schon seit längerem mit dir reden, habe aber nie den richtigen Zeitpunkt gefunden." "Nun," meinte Milerna mit einem Lächeln, "Dann tu es doch jetzt." "Wie du meinst." Eries zuckte mit den Schultern. "Ich halte es nicht für richtig, dass du Allen geheiratet hast. Nicht so kurz nach Drydens Tod. Und nicht so völlig ohne jede offizielle Zeremonie. Milerna, du bist Prinzessin von Asturia. Also verhalte dich auch so!" Mit jedem Wort war Eries' Stimme schärfer geworden. "Darum geht es also," erwiderte Milerna gelassen. "Ich wusste, dass es dir nicht gefallen würde. Warum eigentlich nicht? Allen ist doch eine gute Partie. Und wir wissen doch beide, dass es meine Pflicht gewesen wäre, nach Drydens Tod wieder zu heiraten. Schon allein wegen des riesigen Handelsimperiums, dass ich allein gar nicht führen kann." "Kann Allen es denn? Wohl eher nicht. Er ist ein Ritter. Ein General. Ein Kämpfer. Aber sicher kein Händler. Ich sage ja nicht, dass Allen für eine Prinzessin unangemessen ist. Er ist es nur für dich. Und die Hochzeit war es unter diesen Bedingungen auch." Eries blaue Augen blitzten hart auf. "So? Warum ist er denn für mich unangemessen? Oder gilt nicht viel mehr: er wäre für dich angemessen gewesen?" Milerna beugte sich vor und auch in ihrer violetten Augen trat ein zorniges Funkeln. Eries sprang auf. "Wie kannst du es wagen mir so etwas zu unterstellen?" zischte sie wütend. Dann drehte sie sich auf dem Fuße um und stürmte mit wehendem Kleid davon. Milerna sah ihr verblüfft nach. "Ich glaube, ich habe da in ein Wespennest gestochen," murmelte sie leise. Lothian hatte mittlerweile alle Guymelefs getestet und verschiedene Übungen mit ihnen durchgeführt. "Und, was meinst du?" fragte Van. "Der Erste. Der ist genau der Richtige," erwiderte der Wolfsjunge. "Ja, ich hatte auch den Eindruck, dass er zu dir passt," mischte sich nun Allen ein. "Gut." Van wandte sich an den Händler. "Wir nehmen den mit dem violetten Umhang. Wegen des Geldes wendet Euch bitte an Königin Eries." Dieser nickte und entfernte sich dann. "Eries bezahlt ihn?" erkundigte sich Allen verblüfft. "Nein," lachte Van. "Sie streckt das Geld nur vor. Meinst du etwa, dass ich mit so einer Summe durch die Gegend laufe?" Jetzt stimmte auch der blonde Ritter in das Gelächter ein. Derweil nahm der Löwenjunge Lothian bei Seite. "Du brauchst noch einen Namen für ihn," sagte er. "Schließlich haben alle guten Guymelefs einen Namen. "Ja, du hast Recht, Louvain." Der Wolfsjunge legte den Kopf schief und spähte zu seinem Guymelef empor. "Na, wie sollst du denn heißen?" brummte er, dann lachte er laut auf. "Ich habe es! Du heißt Lavender!" Kapitel 5: 5. Im Wald --------------------- Am nächsten Tag flogen Van und Hitomi mit Escaflowne zu dem Wald, von dem der Wirt des fliegenden Einhorns gesprochen hatte. Es war ein warmer und sonniger Frühlingstag. Hitomi und Van genossen es beide gleichermaßen, endlich wieder zusammen mit Escaflowne zu fliegen. Wenn sie es nicht besser gewusst hätten, dann hätten beide den Eindruck gehabt, dass sich Escaflowne mindestens genauso darüber freute endlich wieder zu fliegen. "Sieh mal! Da unten ist der Wald, von dem der Wirt gesprochen hat!" rief Van gegen den Wind an und deutete nach unten. Hitomi nickte. "Wir sollten landen!" Wenig später setzte der Guymelef auf der Wiese vor dem Waldrand auf. Beim Landen verwandelte sich Escaflowne wieder in die mächtige Rittergestalt zurück. Van fand sich im Cockpit wieder und ließ Hitomi von Escaflownes Hand sanft zu Boden. Hitomi kam weich im Gras auf und sah sich um. Sie begriff nun, warum es bisher niemand geschafft hatte, zu Tayana in den Wald vorzudringen. Ihnen stellte sich ein undurchdringliches Dickicht entgegen. "Ich glaube, mit Escaflowne kommen wir am besten hindurch!" rief sie Van zu. Dieser nickte zustimmend und ließ Hitomi wieder auf die Hand des Guymelefs springen. Er setzte sie auf Escaflownes Schulter ab und begann dann seinen Kampf gegen den dichten Wald. Sie kamen nur langsam voran. Escaflowne konnte zwar einen Teil der Pflanzen einfach bei Seite schieben, aber manchmal musste er doch einige Äste mit seinem Schwert bei Seite schlagen oder sogar ganze Bäume fällen. "Van, das ist doch aussichtslos," meinte Hitomi schließlich. "So finden wir sie nie." Van blieb stehen und dachte nach. Er wusste, dass Hitomi Recht hatte, aber andererseits wollte er auch nicht aufgeben. Dann kam ihm eine Idee. "Ich werde es mit deinem Anhänger versuchen," sagte er. "Gute Idee. Ich werde mich auch auf Tayana konzentrieren. Vielleicht kann ich dir damit helfen." Van nahm den roten Anhänger in seine Hand und schloss die Augen. Auch Hitomi schloss ihre Augen und lehnte sich auf Escaflownes Schulter zurück. Van stellte sich vor, wie das Pendel ausschlug und ihn in die richtige Richtung führte. Er konzentrierte sich ganz auf Tayana. Vor seinem inneren Augen konnte er sie fast sehen. Als das Pendel ausschlug, begriff er, in welche Richtung sie gehen mussten. Hitomi fand sich in Dunkelheit wieder. Sie stand in einer seltsamen Traumlandschaft. Am Horizont pendelte der vertraute, rote Anhänger und schlug ruhig im Sekundentakt. Dann wechselte die Szene und sie stand im Wald neben einer Hütte. Direkt vor ihr stand eine hübsche, dunkelhaarige Frau mit traurigen Augen, in der sie Tayana erkannte. Plötzlich brach eine Gestalt durch das Dickicht. Ein Dragon Slayer! Hitomi wollte schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Beiläufig zog der rote Guymelef sein Schwert. Tayana schrie und wollte wegrennen, doch die Maschine war schneller. Gedankenschnell hatte das Schwert die Frau durchbohrt und tot am Boden zurückgelassen. Anschließend tarnte sich der Guymelef wieder. Hitomi rannen Tränen über das Gesicht, während sie sah, wie ein kleiner dunkelhaariger Junge aus dem Haus gestürzt kam... "Hitomi! Ich weiß, wo wir hinmüssen!" Van riss sie aus der Vision. Benommen nickte das Mädchen vom Mond der Illusionen. Van hatte nicht bemerkt, was geschehen war, und so konnte sie ihren Gedanken nachhängen, während sich Escaflowne unaufhaltsam den Weg zu der Hütte bahnte. Ich kenne diesen Guymelef. Das war Dilandau. Er muss es gewesen sein! Aber... Von wann waren diese Bilder? Das war nicht die Gegenwart. Das war die Vergangenheit! Aber von wann? Wann ist das geschehen? Sie konnte keine dieser Fragen beantworten. Zudem überlegte sie fieberhaft, wie sie Van von ihrer Vision erzählen sollte. Doch letztlich entschloss sie sich zu schweigen, um ihm seine Hoffnung nicht zu nehmen. Gleichzeitig hoffte sie innig, dass die Vision falsch gewesen war. Endlich erreichte Escaflowne eine Lichtung. Mitten auf dieser Lichtung stand genau die Hütte, die Hitomi in ihrer Vision gesehen hatte. "Wir sind da," sagte Van und setzte Hitomi ab. Dann sprang er selbst aus Escaflownes Cockpit und landete im hohen Gras. Langsam schritten sie auf das verfallene Gebäude zu. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass die Hütte wohl doch nicht so verlassen war, wie es den Anschein hatte. Neben der Eingangstür stapelte sich frisches Feuerholz und das Gras war erst vor kurzem niedergetreten worden. "Hallo?" fragte Van und klopfte an die Tür. Nachdem nichts geschah, schob er sie vorsichtig auf. Im Inneren war es schattig und kühl. Die Hütte war karg eingerichtet. In einer Ecke war ein Nachlager auf dem Boden und ansonsten befanden sich nur ein Tisch und zwei schiefe Stühle im Inneren. Die Feuerstelle in der Ecke war kalt. Mit einem Schulterzucken trat Van wieder nach draußen zu Hitomi. "Nichts." Gemeinsam gingen sie um die Hütte herum und blieben erschrocken stehen. Sie standen sie vor einem Grabstein. Auf dem Stein war ein Name eingemeißelt: Tayana Dazéra. "Wir kommen zu spät," sagte Van enttäuscht und fiel vor dem Grab auf die Knie. Er ging sich mit beiden Händen durch die Haare und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, doch es gelang ihm nicht. Er hatte so sehr darauf gehofft Tayana zu finden und jetzt musste er feststellen, dass sie gestorben war. Hitomi legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. Sie ahnte, was in ihm vorging, wusste aber nicht, was sie sagen sollte. "Was wollt ihr hier?" knurrte auf einmal eine tiefe Stimme hinter ihnen. Van sprang auf und wirbelte gleichzeitig mit Hitomi herum. Vor ihnen ein stand ein junger Mann, der völlig in Schwarz gehüllt war. Er hatte sein Schwert gezogen und wies mit der Spitze auf Vans Kehle. "Keine falsche Bewegung," fauchte er. Van hielt inne und auch Hitomi stand still. Beide musterten sie den Fremden. Als Erstes relativierte Hitomi ihre erste Schätzung seines Alters, die sich auf etwa zwanzig Jahre belaufen hatte. Er konnte höchstens fünfzehn, sechzehn Jahre alt sein. Seine Augen blitzten tiefbraun auf und erinnerten sie sehr an Folken. Er hatte auch diese unendlich tiefen Augen gehabt. Das Haar des Fremden war schwarz, kurz geschnitten und leicht gelockt. Jetzt fuhr er sich unruhig hindurch und eine Falte entstand zwischen seine Augenbrauen. "Wer seid ihr?" fragte er ungehalten. "Van Farnel und Hitomi Kanzaki." "Farnel?" Der Schwarzgekleidete stieß mit dem Schwert so weit vor, bis er Vans Kehle berührte. "Farnel, du kommst zu spät. Sie ist schon tot. Zehn Jahre schon." Dann ließ er das Schwert sinken und schob es in seinen Gürtel zurück. "Darf ich fragen, wer Ihr seid?" Van sah den Jungen neugierig an. Im Gegensatz zu ihm ahnte Hitomi bereits, wer ihnen dort gegenüberstand. Und seine Antwort bestätigte es ihr. "Mein Name ist Alexander Dazéra. Ich bin Tayanas Sohn." Kapitel 6: 6. Schwarzer Ritter ------------------------------ Langsam erholte sich Van von der Überraschung. "Tayanas Sohn?" fragte der König von Farnelia schließlich nach. Alexander nickte. "Ja, sie war meine Mutter." Traurig blickte er auf ihr Grab hinunter. Sanft strich er mit der schwarz behandschuhten Hand über den Namen. "Wie ist sie gestorben?" erkundigte sich Hitomi vorsichtig. "Ein Guymelef. Ein Dragon Slayer hat sie umgebracht. Einfach so." Alexander schluckte hart. "Sie war einfach nur da. Sie hat nichts getan. Wir hatten keinen Krieg mit Zaibach. Nichts. Er hat sie umgebracht, weil sie einfach da war. Nur aus Willkür. Weil er es konnte." Hitomi nickte traurig. "Ich weiß, ich habe es gesehen." Alexander hob überrascht den Kopf. "Aber wie...?" "Ich hatte eine Vision," erklärte Hitomi. "Ich habe gesehen, wie der Dragon Slayer durch den Wald gekommen ist und sie getötet hat. Und wie du aus dem Haus gerannt bist." "Weißt du, wer es war?" hakte Van nach. Hitomis Visionen konnten ihn mittlerweile nicht mehr überraschen. Er wünschte sich nur, dass sie häufiger mit ihm darüber reden würde. "Sie nannten ihn Dilandau. Dilandau..." Alexander ließ den Namen auf seiner Zunge rollen und schien ihn richtig zu schmecken. Seine Augen blitzten kalt auf. "Dilandau ist tot," berichtete ihm Van. "Vor neun Monaten ist er in der Schlacht gestorben." Tayanas Sohn sah Van überrascht an. Langsam ließ er sich zu Boden sinken. "Tot? Einfach... tot?" Alexander schüttelte den Kopf und blickte abwechselnd von Van zu Hitomi. Dann legte er den Kopf schief und starrte ins Leere. "Tot? Ich habe doch geschworen ihn eigenhändig zu töten! Wie kann er dann einfach schon... tot sein?" Van legte dem Jungen vorsichtig die Hand auf die Schulter. "Komm mit uns nach Palas. Wir werden dir alles erzählen." Ruckartig sah Alexander auf. "Warum habt ihr sie eigentlich gesucht?" wechselte er das Thema. "Mein Bruder hat mich im Moment seines Todes darum gebeten. Er wollte, dass ich ihr sage, dass er sie geliebt hat. Und zwar nur sie." Alexander lächelte traurig. "Alles in ihrem Leben kam irgendwie zu spät," seufzte er. Dann stand er langsam wieder auf und strich noch einmal über den Namenszug auf dem Grabstein. "Lass mich raten: der Name deines Bruders war Folken..." Van nickte und sah den Junge neugierig an. Er begann zu ahnen, worauf dieser hinauswollte. "Dann bist du mein Onkel. Denn ich bin Folkens Sohn. Der Sohn von Folken Farnel und Tayana Dazéra." Der König von Farnelia atmete einmal tief durch, bevor er antwortete. "Das habe ich mir gedacht. Du hast Folkens Augen und genau die gleiche Stimme." Er lächelte sanft. "Willkommen in der Familie, Alexander." Damit nahm er den schwarzhaarigen Jungen vorsichtig in den Arm. Im ersten Moment versteifte sich Alexander, doch dann erwiderte er vorsichtig die Umarmung. Als Van ihn wieder losließ, lächelte er scheu. "Verzeih mir, aber ich bin den Umgang mit Menschen nicht gewöhnt." Van winkte ab. "Erzähl uns lieber, wie du so lange Zeit allein zurechtgekommen bist." Alexander nickte und zu dritt ließen sie sich im warmen Gras nieder. In Palas wirbelte Merle durch das Schloss. Sie suchte Louvain. Er war am Morgen einfach aus seinem Zimmer verschwunden ohne ihr Bescheid zu geben und sie hatte ihn seither nicht mehr gesehen. Wo ist er nur? fragte sie sich. Schließlich rannte sie Milerna in die Arme. "Hey, Merle. Suchst du was?" fragte die Prinzessin und hielt das Katzenmädchen lachend fest. "Hast du Louvain gesehen?" "Er ist mit Allen und Lothian vor der Stadt. Sie haben eine Trainingseinheit. Lothian soll lernen mit seinem neuen Guymelef zurechtzukommen. Sie sind schon bei Sonnenaufgang aufgebrochen." "Und warum hat mich keiner gefragt?" schniefte Merle. "Merle, dabei können sie dich nun wirklich nicht gebrauchen. Was sollst du da auch? Sie müssten ja Angst haben, dich aus Versehen mit den Guymelefs zu zertrampeln." "Trotzdem hätten sie mich fragen können." Beleidigt starrte Merle auf eines der Porträts der astonschen Familie. Liebevoll strich ihr Milerna über das Haar. "Merle, das war doch nicht böse gemeint. Du kannst nur nicht ständig an Louvains Seite sein. Lass ihn doch auch mal etwas alleine machen. Er braucht auch seinen Freiraum." "Jetzt fängst du auch noch damit an," stöhnte Merle gereizt auf. "Das habe ich schon von Hitomi gehört." "Damit hat sie auch ganz Recht." Milerna lachte leise. "Komm, wir setzen uns auf den Balkon und quatschen so richtig, ja?" Merle nickte langsam und hakte sich dann bei der Prinzessin unter. Alexander stand vor Escaflowne und blickte den Guymelef beeindruckt an. "Das ist also Escaflowne, der berühmte Guymelef von Isparno..." murmelte er. "Ich komme zwar nicht besonders viel herum, aber... Wer hat denn auch noch nicht von Escaflowne gehört?" Van lachte und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Ja, und wer hat noch nicht davon gehört, wie ich ihn bei der letzten Schlacht demoliert habe? Die Isparno haben Monate gebraucht um ihn wieder zu reparieren." Hitomi sah Van vorwurfsvoll an. "Das findest du lustig? Fandest du es etwa auch lustig, als Dilandau dich fast getötet hat?" Mandelbraune Augen blickten sie entschuldigend an. Dann nahm Van sie in die Arme und drückte sie liebevoll an sich. "Natürlich nicht. Ich schulde diesem Drachen noch so einiges," spielte er auf seine Rettung durch den schwarzen Drachen an. "Nur leider habe ich ihn seither nicht wieder gesehen. Du etwa?" Zärtlich zupfte er an einer vorwitzigen, braunen Haarsträhne. Hitomi lächelte ihn an und schüttelte den Kopf. "Bisher noch nicht. Aber ich denke, dass er sich bald melden wird. Ich habe das Gefühl, als wenn sich irgendetwas zusammenbraut. Ich weiß nur noch nicht was." Ernst blickten ihre grünen Augen Van an. Dann lachte sie verlegen und zuckte mit den Schultern. "Es ist eben einfach nur so ein Gefühl..." Kapitel 7: 7. Junge Kämpfer --------------------------- Van hatte Escaflowne wieder in einen Drachen verwandelt und nun waren sie auf dem Rückweg nach Palas. Er konzentrierte sich ganz auf das Fliegen, während die beiden weiteren Passagiere, Hitomi und Alexander, ihren Gedanken nachhingen. Schließlich brach Alexander die Stille und meinte: "Ich weiß nicht, ob mich darauf freuen soll, nach Farnelia zu gehen. Ich möchte zwar sehen, wo mein Vater gelebt hat, aber andererseits... Wie werden die Menschen reagieren?" Hitomi sah ihn mitfühlend an. "Mach dir nicht so viele Gedanken. Das führt zu nichts. Du wirst schon wissen, wie du dich verhalten musst. Und was die Leute denken, kann dir doch am Ende egal sein." Alexander lächelte sie dankbar an. Dieses Mädchen verstand so viel. "Mir geht etwas ganz anderes durch den Kopf," wechselte Hitomi das Thema. "Was denn?" "Wie kann das vor zehn Jahren Dilandau gewesen sein, der deine Mutter getötet hat? Ich meine, er wäre jetzt so alt wie Van und ich, also etwa neunzehn. Damals war er erst neun oder vielleicht zehn Jahre alt. Wer setzt denn ein Kind in einen Guymelef?" Hitomi sah Alexander fragend aus ihren grünen Augen an. Dieser zuckte nur mit den Achseln und hielt sich dann kurz an Escaflowne fest, weil der mechanische Drache von einer Böe plötzlich emporgetragen wurde. Auch Hitomi musste sich kurz festkrallen. Als Escaflowne wieder ruhig flog, antwortete Folkens Sohn: "Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ihn jemand so gerufen hat. Dilandau." Zur gleichen Zeit wurde der Oberbefehlshaber in die sturmumtoste Eingangshalle der Ruine gerufen. "Balthéro." Die massige Gestalt aus dem Schatten begrüßte den Ankömmling mit kalter Stimme. "Mein Gebieter." Balthéro verneigte sich förmlich und spürte wieder das Zittern, das seine Glieder immer durchlief, wenn er sich in der Nähe dieses mächtigen Geschöpfes befand. Der Oberbefehlshaber der raschwachsenden Streitkräfte war ein hoch gewachsener, schlanker Mann mit dunkelbraunem Haar und kühlen, grünen Augen. Man sah ihm an, dass er kampferfahren und kräftig war. Seine Bewegungen kündigten von überdurchschnittlicher Geschmeidigkeit. "Was macht der Nachwuchs?" fragte Auriana, die sich bisher zurückgehalten hatte. Sie stand von ihrem Thron auf und trat dem Kommandanten entgegen. "Sie machen sich gut. Derzeit verwende ich eine Methode, von der mir General Dilandau berichtet hatte. Die Kinder steuern ihre ersten Guymelefs und machen Jagd auf bewegliche Ziele." "Bewegliche Ziel?" Auriana zog fragend eine Augenbraue hoch und blieb dicht vor Balthéro stehen. Sanft fuhr sie ihm mit dem Fingernagel über die breite Brust. "Verurteilte Verbrecher. Gefangene. Alles was entbehrlich ist, Prinzessin," antwortete der Krieger mit belegter Stimme. Die Prinzessin verwirrte ihn. "Das ist gut," lachte sie. "Dann werden wir auch gleichzeitig unnötige Esser los." "Wenn Ihr meint, Prinzessin." Demütig senkte Balthéro den Kopf. "Wir werden dich bald brauchen, Balthéro," unterbrach der Schatten das Geplänkel. "Halte dich bereit. Es wird nicht lange dauern und du wirst deine Rache an Dilandaus Mörder bekommen. An Van Farnel." Ein erfreutes Funkeln trat in die grünen Augen. "Das freut mich außerordentlich, Herr." "Du kannst jetzt gehen, Balthéro," knurrte der Schatten. Nachdem der Kommandant den Saal verlassen hatte, wandte sich Auriana an die massige Gestalt. "Ich dachte, der Drache hätte Dilandau getötet." Leises Lachen antwortete ihr. "Na und? Balthéro ist nur ein Mittel um Van Farnel zu töten. Er ist das Kind des Drachen. Was spielt es also für eine Rolle?" In Asturia kehrten drei müde Kämpfer in den Palast zurück. Allen, Lothian und Louvain waren müde und erschöpft. Die Trainingseinheiten hatten alle drei mitgenommen, aber auch sehr zufrieden gestellt. Vor allem Allen war von der Begeisterung und den Fähigkeiten der beiden Tierjungen immer wieder angetan. Louvain und Lothian wirbelten unermüdlich in ihren Guymelefs herum und ließen sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Jetzt schlichen die beiden Tierjungen still neben dem blonden Ritter in den Speisesaal. Dort wurden sie bereits von Merle, Milerna und Eries erwartet. Van und Hitomi hatten angekündigt, erst sehr viel später nach Sonnenuntergang zurück zu sein. Lautlos ließen sich die Jungen auf ihre Plätze sinken und machten sich über das Abendessen her. Sie hoben weder den Kopf noch sprachen sie irgendein Wort. Sie waren vollauf damit beschäftigt zu essen. "Wie war eure Trainingseinheit?" brach schließlich Milerna die Stille. "Wunderbar, Liebling," antwortete Allen. "Die beiden sind unglaublich talentiert und zäh. Jetzt sollten sie aber so schnell wie möglich ins Bett." Er lachte freundlich. Louvain hob kurz den Kopf und schenkte seinem Lehrmeister ein schiefes Grinsen. Dann wandte er sich wieder seinem Teller zu. "Hey!" Merle stieß ihn in die Seite. "Was ist los?" "Bin müde," nuschelte der Löwenjunge und biss noch ein Stück Brot ab. "Ich dachte, wir gehen heute Abend tanzen. Das hast du mir versprochen!" Merle blickte ihn aus babyblauen Augen einschmeichelnd an und lehnte den Kopf kokett zur Seite. "Merle," schnaufte Louvain. "Ich bin müde und gehe gleich ins Bett. Ich kann nicht mehr. Ich will einfach nur noch schlafen. Bitte versteh das." Damit stand er auf und taumelte in Richtung Tür. "Aber..." Merle starrte ihm hinterher. Wie konnte er nur? "Bitte," brummte der Löwenjunge noch einmal, dann war auch schon mit Lothian an seiner Seite durch die Tür verschwunden. "Was soll das denn?" fauchte Merle empört. "Er hatte er versprochen!" "Das Tanzen wird er sicher noch nachholen. Du hast doch gesehen, wie erschöpft er ist," sagte Milerna beruhigend. "Pah, der kann mich mal," zischte Merle, sprang auf und rannte aus dem Saal. Milerna, Allen und Eries sahen ihr kopfschüttelnd nach. Schließlich wandte sich der Ritter an die Königin. "Ihr sagt ja gar nichts, Eries. Ist alles in Ordnung?" "Aber ja doch," antwortete diese mit einem liebevollen Lächeln. Milerna betrachtete ihre Schwester nachdenklich. Was ging bloß in ihr vor? "Ach, Allen. Prinz Shid kommt morgen früh zu Besuch. Er möchte gerne mit Euch sprechen." Allen nickte. "Das sollte möglich sein." Er schenkte der Königin noch ein freundliches Lächeln, dann zogen sich Milerna und er zurück. Als Allen durch die Tür ging, sah Eries ihm mit einem verträumten Blick nach. Dann schüttelte sie den Kopf und trat ans Fenster. Mit finsterem Gesicht verfolgte sie den Sonnenuntergang. Was ist bloß los mit mir? fragte sie sich stumm. Kapitel 8: 8. Blick zu den Sternen ---------------------------------- Spät in der Nacht kamen die drei Reisenden mit Escaflowne in Palas an. Um die Nachtruhe im Schloss nicht zu stören, entschlossen sich Van, Hitomi und Alexander im Crusado zu übernachten. "Van?" Hitomi fuhr sich schlaftrunken mit der Hand durch die braunen Haare. Rechts von ihr lag Alexander in seiner Decke zusammengerollt und schnarchte ruhig vor sich hin. Links von ihr hatte bis gerade noch Van gelegen, doch sie konnte ihn nicht mehr entdecken. Draußen war es noch immer dunkel und sie konnte die Sterne durch das Fenster schimmern sehen. Sie stand auf und taumelte zur Tür hinüber. Am gestrigen Abend hatten sie sich kurzer Hand ein Schlaflager auf der Brücke zurechtgemacht, da sie auch Gardes und seine Crew nicht hatten stören wollen. Einige Decken hatten ihnen dabei ausgereicht. Jetzt stieg Hitomi langsam die Rampe herunter und blieb auf dem Flugplatz stehen. Die Sterne leuchteten am Nachthimmel. Auch der Mond und der Mond der Illusionen waren klar zu sehen. Hitomi legte den Kopf in den Nacken und starrte den Mond der Illusionen an. Die Erde. Ihre ursprüngliche Heimat. Immer noch verspürte sie ein leichtes Ziehen im Bauch, wenn sie ihren Heimatplaneten am Himmel sah. Aber andererseits wollte sie auch gar nicht zurück. Sie wollte nie wieder von Van weg. Nur leider sagte sie ihm das zu selten. Leise seufzte sie. "Er leuchtet schön heute Nacht, nicht wahr?" Van trat von hinten an sie heran und umarmte sie zärtlich. Stumm nickte Hitomi und schmiegte sich an ihn. "Wünscht du dir nicht manchmal zurückzugehen?" "Nein." Hitomi schüttelte energisch den Kopf. "Eigentlich nicht. Weißt du, das da oben ist längst nicht mehr meine Welt. Meine Welt ist hier. Hier bei dir. Nirgendwo anders will ich sein." Sie drehte sich zu Van um. Er lachte sie an und küsste sie zärtlich. "Du weißt gar nicht, wie glücklich du mich machst." "Mindestens so glücklich, wie du mich," strahlte Hitomi zurück. Van nahm sie an die Hand und gemeinsam entfernten sie sich einige Schritte vom Crusado und ließen sich ins Gras sinken. Nebeneinander lagen sie auf dem Rücken und blickten zu den Sternen. Van hielt Hitomis Hand fest in seiner. Sollte er sie heute Nacht fragen? War dies endlich der richtige Moment? Der Moment, auf den er so lange gewartet hatte? Ja, er musste es einfach sein... "Hitomi," begann er. "Hm?" brummte sie und wandte ihm den Kopf zu. Er blickte in ihre unendlich tiefen grünen Augen und wusste, dass er ihr alles anvertrauen konnte. Dass sie immer da sein würde und dass er niemals Angst vor ihr haben musste. Er verlor jegliche Unsicherheit. Mit einem Lächeln auf den Lippen setzte er sich auf. "Hitomi, ich möchte, dass du immer bei mir bist. Willst du meine Frau werden?" Hitomi sah ihn verblüfft an. Damit hatte sie nun nicht gerechnet. In den letzten Monaten hatte sie sich zwar immer wieder gefragt, warum er ihr noch keinen Antrag gemacht hatte, aber dann hatte sie an seine bisherigen Erfahrungen - mit Auriana - zurückgedacht und verstanden, dass er einfach noch etwas Zeit brauchte. Sie würde auf ihn warten. Wenn es sein musste, bis ans Ende der Zeit. Van wurde langsam nervös. Warum sagte sie nichts? Warum sah sie ihn einfach nur so an? "Oh Van!" Hitomi fand ihre Sprache wieder, setzte sich auf und umarmte ihn. "Natürlich will ich dich heiraten! Nichts lieber als das!" Sie küsste ihn stürmisch. Van lachte erleichtert auf. "Du hast mich erschreckt," brummte er dann vorwurfsvoll. "Mein armer Kleiner," lachte Hitomi und wuschelte durch seine dichten schwarzen Haare. "Von wegen klein!" Van warf sie zu Boden und wenig später kugelten sie lachend über die Wiese. Schließlich blieben sie liegen und küssten sich ausgiebig. Dann hoben sie ihre Köpfe und sahen dem Sonnenaufgang entgegen. Merle hatte in der Nacht kaum geschlafen. Sie war immer noch sauer auf Louvain, weil er sein Versprechen gebrochen hatte. Langsam schlichen sich aber auch andere Gedanken durch ihre Wut hindurch. Sie begann sich zu fragen, ob sie nicht vielleicht völlig falsch reagiert hatte. Schließlich hielt sie es im Bett nicht mehr aus und setzte sich auf die Fensterbank. Sie blinzelte dem Sonnenaufgang entgegen, während ihre Gedanken tobten. Was hättest du denn gewollt, wenn du vollkommen erschöpft nach einem langen Tag nach Hause gekommen wärst? Du hättest auf Verständnis gehofft, nicht wahr? Oh Merle, was hast du nur wieder angestellt? Das Katzenmädchen seufzte leise und fuhr sich durch das verwuschelte kurze Haar. Nun gut, er hätte gestern Morgen Bescheid sagen können, aber wahrscheinlich wollte er mich einfach nicht wecken. Louvain würde dich doch niemals ernstlich verärgern oder gar verletzen wollen. Nein, er doch nicht. "Was bin ich doch für eine blöde Kuh!" rief sie aus und schlug die Hände vor das Gesicht. Sie war zu der Erkenntnis gekommen, dass sie so einiges gutzumachen hatte. Leise schlich sie sich aus ihrem Zimmer und huschte zu Louvains Schlafgemach. Auf Zehenspitzen schlich sie hinein und ließ sich auf der Bettkante nieder. Er sah so friedlich aus. Mit den geschlossenen Augen, der wallenden blonden Mähne und dem leichten Lächeln auf den Lippen. Merle musste lächeln und strich ihm schließlich zärtlich über die Wange. Danach küsste sie ihn liebevoll auf den Mund. Langsam öffnete Louvain die Augen und blinzelte seine Freundin an. "Merle, was..." "Ich wollte mich entschuldigen, Louvain. Ich habe mich gestern unmöglich benommen," gab sie zerknirscht zu. "Kannst du mir noch einmal verzeihen?" "Na klar," brummte der Löwenjunge. "Und jetzt komm rein und schlaf noch etwas. Ist doch noch viel zu früh." Er hob die Bettdecke leicht an und Merle huschte zu ihm ins Warme. Sie kuschelte sie eng an ihn und beide schliefen mit einem Lächeln auf den Lippen wieder ein. "Wer bist du denn?" Alexander wurde von einer lauten Männerstimme geweckt. Ohne schon richtig wach zu sein, sprang er auf und zog sein Schwert. In Verteidigungsstellung funkelte er sein Gegenüber plötzlich hellwach an. "Sag mir lieber, wer du bist," knurrte er. "Gardes, der Führer dieses Luftschiffs. Und du?" Gardes wollte sich nicht von diesem schwarz gekleideten Jungen einschüchtern lassen, war aber von ihm überrascht worden. Er zog jedoch eine friedliche Lösung vor. Was hatte er schon davon, wenn er einen Jungen verprügelte? "Alexander Dazéra. Der Neffe von Van Farnel." "Neffe?" Gardes blickte den Jungen verwirrt an. Dann musste er ja Folkens Sohn sein. Wie sollte das denn möglich sein? "Ist schon gut, Gardes," erklang Vans Stimme hinter ihm. Gardes drehte sich um und sah Van und Hitomi hinter sich stehen. Beide hatten wirres Haar, verschlafene Augen und Gras an ihren Kleidern hängen. "Wenn Ihr meint, Van," brummte Gardes und ließ die drei allein zurück. Alexander entspannte sich wieder und ließ das Schwert sinken. "Ich hasse es, wenn ich so geweckt werde," murmelte er und ließ sich wieder auf seine Decke sinken. Kapitel 9: 9. Schwarzes Licht ----------------------------- "Tante Eries, wo finde ich denn Ritter Allen?" Prinz Shid von Freyd sah die Königin von Asturia ungeduldig an. "Er ist auf dem Flugplatz, Shid und kümmerte sich um das Verladen der Guymelefs. Er muss die nächsten Tage wieder nach Farnelia. Admiral Vitguer hat ihn um seine Rat gebeten," erwiderte Eries geduldig. Sie musterte ihren Neffen. In den letzten Jahren war er immer mehr gewachsen und richtig schlaksig geworden. Mittlerweile war er zwölf Jahre alt und wirkte doch schon viel erwachsener. Das brachte aber auch seine Herrschaft über Freyd mit sich. Lächelnd fuhr sie ihm über sein kurzes blondes Haar. Er erinnerte sie so sehr an Marlene. "Und was ist mit mir? Ich brauche auch Allens Rat!" Ungeduldig löste Shid sich von seiner Tante und lief im Thronsaal auf und ab. "Dann geh doch zu ihm und sprich mit ihm." Sie zuckte mit den Achseln. "Du wirst ihn schon nicht stören." Wie könnte er dich auch zurückweisen! Shid nickte, winkte seiner Tante noch einmal zu und rannte los. Auf dem Flugplatz machte sich alles zur Abreise bereit. Allen hatte die Guymelefs erfolgreich im Frachtraum verstaut. Vier Guymelefs waren schon fast zu viel für den Crusado, doch Gardes hatte ihm schließlich versichert, dass das Luftschiff diese Last schon tragen könne. Das hatte es bisher schließlich immer geschafft. Van, Lothian und Louvain hatten den Ritter tatkräftig unterstützt, sodass endlich alle Seile und Leinen fest angezogen waren. Nun konnte keine der wertvollen Kampfmaschinen mehr durch die Gegend rutschen und so beschädigt werden. Auf der Brücke stand Hitomi neben Alexander und Gardes und blickte auf das Flugfeld hinaus. Sie sah eine kleine blonde Gestalt über den Platz rennen, bei Milerna, die draußen in der Sonne saß, kurz innehalten und schließlich an Bord kommen. "War das nicht gerade Prinz Shid?" fragte Gardes verwirrt. "Das sah so aus," erwiderte Hitomi. "Was sah wie aus?" erkundigte sich Merle, die gerade auf die Brücke kam. Shid rannte in den Frachtraum. In der Tür prallte er mit Allen zusammen und fiel zu Boden. "Immer langsam mit den jungen Pferden," lachte der Ritter und zog den blonden Prinzen hoch. "Entschuldigt, Allen," stammelte der Prinz mit hochroten im Gesicht. "Ich wollte Euch fragen, ob Ihr..." Weiter kam er nicht. Allen bedeutete ihm still zu sein und legte seinen Kopf schief. "Was ist das? Hörst du das auch, Van?" fragte er über die Schulter zurück. Van stimmte ihm zu, konnte das Geräusch aber auch nicht einordnen. Irgendwie kam es ihnen sehr bekannt vor. Ein leises, fast unhörbares Zischen, so, wie es die weiße Lichtsäule gemacht hatte, als sie Hitomi davon getragen hatte... Auf der Rückseite Gaias schob sich der Manticor langsam aus dem Schatten. Seine Schultern bewegten sich geschmeidig bei jedem Schritt. Das Fackellicht ließ sein dunkelrotes Fell noch blutiger schimmern und gab der dicken, dunkelroten Mähne einen Anschein von Lebendigkeit. Die schwarzen, ledrigen Flügel hatte er eng an den Körper angelegt. Sein Skorpionsschwanz zuckte leicht, als er vorwärts ging. Dicht vor Auriana blieb er stehen. Die blonde Prinzessin blickte nur kurz in die bodenlosen schwarzen Augen, dann senkte sie den Blick. "Es ist an der Zeit. Um die Zukunft zu sichern, müssen wir sie herholen. Den Sohn des Drachen, Van Farnel, und das Mädchen vom Mond der Illusionen, Hitomi... Sie allein stehen uns im Weg. Sie müssen verschwinden." "Und wie sollen wir das tun?" Aurianas Stimme zitterte bei dieser Frage. "Wir werden sie herholen," grollte der Manticor und schloss seine schwarzen Augen. "Hier können wir sie am besten vernichten..." Er begann sich zu konzentrieren. "Los, auf die Brücke!" rief Van und schob sich an Allen vorbei. Sofort rannten sowohl dieser, als auch Louvain, Lothian und Shid hinter ihm her. Milerna setzte sich verwirrt im Gras auf. Was war das? Was war das für ein dunkler Lichtschein, der auf einmal über dem Crusado lag? Plötzlich erfasste eine schwarze Lichtsäule das Luftschiff und hob es in die Luft. "Kommt zu mir, Sohn des Drachen und Mädchen vom Mond der Illusionen!" grollte der Manticor. "Allen!" Milerna schrie auf, als sie begriff. "Allen!" Sie wollte auf das Schiff zulaufen, doch es war schon verschwunden. Und mit ihm die schwarze Lichtsäule. An Bord des Crusado waren allen von dem plötzlichen Lichtwechsel überrascht. Schwarzes Licht... Das Luftschiff wurde durchgeschüttelt und jeder suchte irgendwo Halt. Hitomi presste sich die Hände auf die Ohren, doch die grollende Stimme durchdrang alles. "Kommt zu mir, Sohn des Drachen und Mädchen vom Mond der Illusionen..." "Oh nein!" kam auf einmal eine gedonnerte Erwiderung. "Du bekommst sie nicht!" Hitomi spürte die Anwesenheit des Drachen, seine Kraft und sein Eingreifen. In die Schwärze des Lichtes mischte sich immer mehr Weiß und langsam wich das Schwarz einem immer heller werdenden Grau. Dann übernahm das Weiß die Oberhand und der Crusado fand sich unter blauem Himmel wieder. Und stürzte ab. "Noch bin ich nicht stark genug," fauchte der Manticor zornig. "Aber bald werde ich es sein. Verlass dich darauf!" "Das werde ich," kam die spöttische Antwort des schwarzen Drachen. "Das werde ich, alter Feind." Der Manticor zog sich hinter seinen Schutzschleier zurück und schloss erschöpft die Augen. Gleichzeitig fauchte der Drache ungehalten. Er hatte den Aufenthaltsort seines alten Feindes immer noch nicht bestimmen können. Dieser Schutzschleier hinderte den Drachen daran, dem Manticor sowohl in der Realität als auch auf der Traumebene zu nahe zu kommen. Nun, es gibt aber eine Möglichkeit... kam es dem Drachen in den Sinn. Der Crusado war direkt über einer tiefen Schlucht aufgetaucht und wurde nun von der Schwerkraft unaufhörlich nach unten gezogen. Gardes versuchte noch ihn irgendwie in der Luft zu halten, hatte aber keinen Erfolg. "Wir stürzen ab, Kommandant!" schrie er Allen zu. Dann neigte sich das Luftschiff langsam nach vorne und durch die große Frontscheibe wurde der scheinbar endlos tief unter ihnen liegende Boden der Schlucht sichtbar. Kreischend krallten sich alle fest. Die meisten hatten Glück und fanden schnell sicheren Halt. Besonders Merle und Louvain hatten schnell Erfolg, denn ihre katzenhafte Wendigkeit kam ihnen sehr entgegen. Hitomi konnte sich nur mit Mühe an einem festgeschraubten Sitz festkrallen. Sie sah Van an sich vorbeirutschen und packte sofort zu. Dankbar blickte er sie an und hielt sich an ihrer Hand fest. Auch die anderen hatten mittlerweile Halt gefunden. Und immer schneller stürzte der Crusado dem Boden entgegen. Schwarze Krallen griffen nach dem zerbrechlichen Luftschiff und plötzlich stoppte der Fall. Durch den harten Ruck verlor Hitomi den Halt. Gleichzeitig spürte sie auch, wie Vans Hand abrutschte und er fiel. "Van!" Sie schrie laut auf und wurde fast gleichzeitig von Allen am Gürtel gepackt. Mit hartem Griff zog er sie hoch. "Van!" Dieser blickte sich noch einmal um, rollte sich dann eng zusammen und durchschlug die Glasscheibe. Er stürzte dem Boden entgegen. "Wo ist Shid?" erkundigte sich Eries, als sie den Flugplatz betrat. Milerna sah auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "An Bord des Crusado." "Und wo ist der?" fragte Eries ungehalten. "Weg," flüsterte Milerna. "Einfach weg." Sie schluchzte laut auf und fiel ihrer Schwester um den Hals. Eries strich ihr sanft über den Rücken und fragte sich stumm, was bloß passiert war. Kapitel 10: 10. Schwarzer Schutzengel ------------------------------------- Van breitete verzweifelte seine Flügel aus. Weiße Feder stoben um ihn durch die Luft, als er mit der Felswand zusammenprallte. Er spürte einen stechenden Schmerz in seinen Flügeln. Irgendetwas brach und er fiel ungebremst weiter. Urplötzlich schoss eine Gestalt mit schwarzen Flügeln vom Himmel. Sanft wurde er aufgefangen und wieder nach oben getragen. "Wer...?" Van blickte seinem Retter ins Gesicht. "Folken?!" Sein toter Bruder lächelte ihn an. "Dieses Mal, Bruder. Und irgendwann wieder. Wenn du mich brauchst." Kaum am Rand der Schlucht angekommen, setzte Folken seinen jüngeren Bruder ab und verschwand ohne ein Wort wieder in den Wolken. "Folken! Hey! Das kannst du nicht machen! Du kannst nicht einfach so auftauchen und dann wieder verschwinden!" Van brüllte ihm verzweifelt hinterher. Wie konnte er jetzt einfach so wieder verschwinden? Das konnte doch nicht war sein! Dann überkam ihn der Schmerz aus seinen Flügeln wieder und langsam sackte er zusammen. Blutig hingen die weißen Schwingen von seinem Rücken, als er auf die Knie sank. "Folken," wimmerte er. "Folken..." Der schwarze Drache setzte den Crusado sanft ab und flog anschließend zu Van herüber. Leise landete er neben dem schwarzhaarigen Jungen. "Van," sprach der Drache leise und berührte ihn vorsichtig mit seinem Flügel. Van hob das verweinte Gesicht und blickte den Drachen an. "Was willst du denn?" schniefte er. "Was willst du?" "Du hast Schmerzen," sagte der Drache sanft und fuhr mit seiner Nase behutsam über die gebrochenen Flügel. "Warum? Warum ist er gekommen? Und warum wieder gegangen? Ich versteh das nicht!" Van schluchzte laut auf. Es war ihm egal, was der Drache von ihm dachte. "Es war seine Wahl. Er darf dein Schutzengel sein und dich weiter beschützen. Aber dafür muss er sich an die Regeln halten. Er ist nicht mehr lebendig. Zumindest nicht so wie du." Der Drache lachte leise und leckte vorsichtig über die gesplitterten Knochen der Flügel. Langsam verspürte Van, wie sich eine angenehme Wärme in seinen Schwingen ausbreitete. Der Schmerz war verschwunden. "Er darf nicht dauernd hier sein. Nur dann, wenn du ihn wirklich brauchst. Wenn dein Leben von ihm abhängt. Dann darf er zu dir. Und nur dann." Vans nasse Augen sahen den Drachen traurig an. "Nur dann?" "Nur dann." Der Drache nickte noch einmal, streckte sich und schwang sich wieder in die Luft. "Deine Flügel sollten wieder besser sein," rief er freundlich zum Abschied und verschwand nun auch in den Wolken. "Van!" Hitomi stürmte als Erste aus den Trümmern des Crusado. Hektisch wischte sich Van über das Gesicht. Man musste ihm ja nicht unbedingt ansehen, dass er geweint hatte. Allen, Merle und der Rest der Crew folgten Hitomi auf dem Fuße, während Alexander genauso überrascht wie die beiden Tierjungen und Prinz Shid in der verbogenen Tür stehen blieb. "Er hat Flügel," brachte Folkens Sohn mühsam heraus. "Toll!" Lothian hatte seine Begeisterung sofort wiedergefunden. "So sehen also die Flügel vom Volk des Drachengottes aus." Zusammen mit Louvain stürmte er los. "Wusstest du nicht, dass er Flügel hat?" erkundigte sich Shid. Alexander schüttelte den Kopf. "Woher denn? Wusstest du es?" "Ich hatte davon gehört." Shid lächelte wissend. "Wer bist du überhaupt?" hakte Alexander nach. "Gestatten," begann Shid mit einem spöttischen Zwinkern in den Augen, "Prinz Shid, Herzog von Freyd, derzeit, na ja, Luftschiffbrüchiger. Mit wem habe ich die Ehre?" "Alexander Dazéra. Unehelicher Sohn von Folken Farnel. ...Euer Hoheit." "Lass den Titel weg. Was bringt der hier draußen schon? Außerdem, wahrscheinlich hast du auch Flügel. Wenn Van welche hat und du der Sohn seines Bruders bist..." Shid zuckte mit den Achseln und lief nun auch zu der Gruppe herüber. "Ich habe... Flügel?" Alexander blickte ihm verblüfft nach, dann rannte auch er los. "Van! Ist alles in Ordnung? Was war das gerade?" Hitomi kam außer Atem bei Van an. "Immer mit der Ruhe," lächelte Van und nahm sie in den Arm. "Das sind nur ein paar Schrammen. Das ist nicht weiter schlimm." "Ich bin so froh. Als du abgestürzt bist, da..." Sie schluckte schwer. "Ich dachte, ich hätte dich verloren." Hitomi presste ihren Kopf an seine Brust und konnte das Schluchzen nicht mehr unterdrücken. "Hey, hey. Es ist doch alles gut, Hitomi. Es ist doch alles gut." Tröstend streichelte Van ihr über den Rücken. "Van!" Jetzt erreichten auch Allen, Merle und die Crew des Crusado die beiden. "Geht es dir gut?" "Will mich das jetzt jeder fragen?" entgegnete Van grinsend. "Ja, mir geht's gut. Ich hatte einen Schutzengel." Dann fiel Allens Blick auf Hitomi und sofort jagte er die anderen mit schnellen Handbewegungen zum Crusado zurück. "Wir werden mal ansehen, wie schlimm es um den Crusado steht. Und erkunden die Umgebung." Damit wandte er sich ab und schob die anderen vor sich her. Als die Tierjungen an ihm vorbeilaufen wollte, packte er beide kurzerhand am Kragen. "Los, seht euch an, wie es um die Guymelefs steht," befahl er und sofort wirbelten die beiden herum und stürzten wieder davon. Merle schloss sich ihnen sofort an. Langsam fing sich Hitomi wieder. Gemeinsam ließen Van und sie sich im Gras nieder. "Was hat der Drache gesagt?" wollte sie wissen. "Dass Folken mein Schutzengel ist," gab Van zurück. "Er hat mich aufgefangen." "Folken?" Van nickte. "Ja. Der Drache hat gesagt, dass mein Bruder immer da sein wird, wenn ich in Gefahr bin. Aber das reicht nicht. Ich will Folken immer bei mir haben. Es ist... Er fehlt mir so, Hitomi." "Ich weiß." Sanft legte sie ihm die Hand auf die Schulter. "Aber zumindest weißt du, dass er über dich wacht. Er ist doch immer da. Nur kannst du ihn nicht sehen. Van, das ist eine Gewissheit, die sich viele andere wünschen würden." Van seufzte leise und sah Hitomi an. "Warum weißt du nur immer das Richtige zu sagen?" fragte er und küsste sie auf die Stirn. Dann stand er auf. "Komm, die anderen können unsere Hilfe sicher brauchen." Er zog Hitomi hoch. "Mich würde nur eins interessieren, Van, Und zwar was das für eine schwarze Lichtsäule war. Und wer sie eigentlich beschworen hat." "Hast du etwas mitbekommen? Hitomi, über so etwas musst du mit mir reden." Sie zuckte mit den Schultern. Sie mochte es nicht, wenn sie die Verpflichtung spürte, über ihre Gedanken zu reden. Sie machte immer noch viel lieber alles mit sich selbst aus. Dass das jedoch nicht immer ging, sah sie aber ein. "Ich habe eine Stimme gehört. Ich habe das Gefühl, dass ich sie irgendwoher kenne. Ich habe sie schon einmal gehört... Sie hat mich gerufen. Das Mädchen vom Mond der Illusionen. Und den Sohn des Drachen. Damit muss er dich gemeint haben. Dann kam die Stimme von dem Drachen dazu. Er hat sich eingemischt und verhindert, dass wir an den eigentlichen Zielort gebracht wurden." Van schüttelte nachdenklich den Kopf. "Ich wüsste nur zu gerne, was da eigentlich vorgeht." Zustimmend nickte Hitomi. "Ich werde möglichst bald mit dem Drachen reden. Er hat ja gesagt, dass ich ihn jederzeit erreichen kann. Und das sollte ich mal wieder nutzen." "Gut. Aber lass mich diesmal dabei sein. Es geht mich schließlich auch an." Kapitel 11: 11. Lernen zu fliegen --------------------------------- "Nur gut, dass du darauf bestanden hast, die Guymelef so fest zu verstauen, Allen," meinte Louvain, als er aus den Tiefen des Crusados auftauchte um Allen über die Lage Bescheid zugeben. "Ein paar Dellen sind alles, was passiert ist. Du kannst Scheherazade jetzt rausholen." Louvain sah sich suchend nach Van um, während der Ritter schon auf dem Weg in den Frachtraum war. Dann sah der Löwenjunge den König von Farnelia. "Van! Hol bitte Escaflowne raus!" rief er und war auch schon wieder auf dem Weg zu seinem eigenen Guymelef. Van lief nun auch los und kletterte hinter dem Löwenjungen in die Trümmer. Der Crusado lag schräg auf der Erde und entsprechend wirkte im Inneren alles etwas verdreht. Außerdem waren die Metallstreben verbogen und an verschiedenen Stellen ragten scharfe Metallstücke in den Gang. Trümmerstücke lagen herum. "Ein Wunder, dass wir das überlebt haben," brummte Louvain leise. Van konnte nichts anderes tun, als den Kopf angesichts der Zerstörung zu schütteln. Es erschien ihm vollkommen unmöglich, dass der Crusado je wieder fliegen würde. Endlich erreichten sie den Frachtraum. Hier hatten sich etliche Teile der Decke gelöst und versperrten den Weg. Genau auf der Ladeluke des Frachtraums war der Crusado aufgekommen. Sie war halb aufgesprungen, sodass sich Gras und Erdreich hindurch schoben. Dann sah Van, dass Allen und Lothian längst in ihren Guymelefs saßen. "Hey Allen! Wie wollen wir hier denn rauskommen?" rief Van. "Durch die Wand!" antwortete Allen. "Wir haben keine andere Wahl." Damit zog er Scheherazades Schwert und begann durch die Wand zu schneiden. Sie teilte sich unter dem harten Stahl wie Papier. Danach schob sich Scheherazade ins Freie, und dicht nach ihr folgten die Guymelefs Castillo und Lavender. Schließlich drängte auch Van mit Escaflowne nach draußen, gerade rechtzeitig, um die Standpauke mitzubekommen, die Gardes seinem Kommandanten hielt. "...es ist ja so schon schwer genug irgendetwas davon zu reparieren, aber nachdem Ihr auch noch die Seitenwand zerstört habt..." Gardes schüttelte den Kopf. "Ich sehe da keine Chance. Nicht hier und vor allem nicht jetzt. Kommandant, Ihr hättet mich wenigstens vorher fragen können! Niemand kennt die Beschaffenheit des Crusados besser als ich. Dann hättet Ihr zumindest eine andere Wand genommen. Eine, die wir reparieren können!" Gardes stapfte zornig auf und ab. "Jetzt sitzen wir hier sicher fest. Herzlichen Dank, Kommandant!" "Gardes, jetzt beruhig dich wieder. Was hätten wir ja schon an diesem Wrack retten können? Was? Fliegen wird das da, nicht mehr. Mit Sicherheit nicht." Allen verschränkte die Arme trotzig vor der Brust. "Ach, versteht Ihr auf einmal etwas von Luftschiffen? Davon, wie man sie am besten repariert?" Allen schwieg betreten. Er wusste, dass er viel zu schnell und gedankenlos gehandelt hatte, doch andererseits wollte er jetzt auch nicht nachgeben. Nicht nach dieser Schimpftirade. "Wir sehen ihn uns nachher gemeinsam an, in Ordnung?" fragte er schließlich versöhnlich. Gardes schnaubte nur und wandte sich dem abgestürzten Schiff zu. "Kommt, Jungs," wandte er sich an seine Männer, "Sehen wir uns mal an, was wir noch retten können." Er funkelte noch einmal zornig in Richtung des blonden Ritters, dann verschwand er durch das frische Loch im Inneren des Luftschiffs. Allen schüttelte den Kopf und winkte dann Lothian und Louvain zu sich. "Kommt, wir kümmern uns um die Guymelefs." Die beiden Tierjungen gesellten sich zu ihm und zu dritt begannen sie, die glücklicherweise oberflächlichen Schäden zu begutachten. "Hat Escaflowne etwas abgekriegt?" erkundigte sich Alexander und betrachtete den berühmten Guymelef. "Auf alle Fälle nichts Schlimmes," gab Van zurück und öffnete das Cockpit. "Sind wohl nur ein paar Schrammen." Mit einem Lächeln kam er neben seinem Neffen auf. "Aber das kann warten. Wir sollten uns erst einmal die Umgebung ansehen. Kommst du mit?" Alexander zuckte mit den Schultern und nickte dann. Es gab schließlich nichts, was dagegen sprach. "Hitomi! Ich geh mit Alexander die Umgebung erkunden." "Ist gut." Hitomi lächelte ihm zu. "Shid, Merle und ich sichten in der Zwischenzeit, was noch an brauchbaren Vorräten aus dem Crusado geblieben ist." Sie winkte Van noch einmal zu, dann kletterte sie in den Crusado zurück. Gemeinsam wanderten Van und Alexander durch den Wald. "Erzähl mir von meinem Vater," bat Folkens Sohn schließlich. Nachdenklich blickte Van zu den Baumwipfeln empor. "Weißt du, Folken war vor allem ein starker Mann. Ein sehr starker Mann. Er war immer von den Dingen überzeugt, die er tat. Selbst auf seinen Irrwegen wirkte er so unbeirrt." Er lachte leise. "Er war auch immer so ruhig und gelassen, genau wie du. Aber wenn es sein musste, war er innerhalb einer Sekunde bereit alles zu geben. Er ist zweimal für Farnelia gestorben. Zweimal für sein Volk." Van blieb stehen und lehnte sich an einen Baum. "Er war ein liebevoller Bruder und ich bin sicher, wenn er von dir gewusst hätte, dann wäre er auch ein liebevoller Vater gewesen." Alexander runzelte die Stirn. "Warum wurden Mutter und er eigentlich getrennt? Sie hat sich immer sehr unklar ausgedrückt." "Es war ein unziemliche Verbindung. Mein Vater konnte in dieser Hinsicht sehr streng ein. Vielleicht gerade, weil er sich selbst über alle Konventionen hinweggesetzt hatte und seinem Sohn diese Schwierigkeiten ersparen wollte. Hinzu kam, dass Folken ursprünglich der Nachfolger meines Vaters werden sollte. Er hat im Kampf gegen den Drachen aber den Kürzeren gezogen und ist dann verschwunden." "Wie hast du ihn wiedergefunden?" "Auf der Seite der Zaibacher. Aber das ist eine lange Geschichte..." "Na und?" Alexander zuckte mit den Schultern. "Wir haben viel Zeit." Van begann zu erzählen. Als er schließlich geendet hatte, stellte Alexander die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf dem Herzen lag. "Van, vorhin... Ich habe deine Flügel gesehen. Shid meinte, dass alle vom Volk des Drachengottes welche haben. Und mein Vater... Er hatte auch welche. Habe ich dann auch Flügel?" "Hast du das noch nicht herausgefunden?" Alexander schüttelte den Kopf. "Ich habe es schon als Kind gemerkt, denn wegen meiner Mutter wusste ich es." Van hielt inne und grinste schelmisch. "Wir können es ja ausprobieren." "Und wie?" Alexander schaute ihn neugierig an. "Sieh mir zu." Van blickte zum Himmel und breitete die Arme aus. Er konzentrierte sich auf seine Flügel. Sekunden später zerriss sein Hemd auf dem Rücken und helle, weiße Schwingen breiteten sich aus. Alexander ließ seinen angehaltenen Atem zischend entweichen. Er hatte noch nie etwas vergleichbares gesehen. Van erhob sich einen halben Meter in die Luft und hielt seinem Neffen dann die Hand hin. "Komm, flieg mit mir," forderte er ihn auf. Automatisch ergriff Alexander die ausgestreckte Hand. Er spürte, wie sich eine angenehme Wärme in seinem Inneren ausbreitete. Er wollte fliegen. Es schien so natürlich, es zu versuchen. Er lächelte Van zu. In dem Moment zerriss auch sein Hemd auf dem Rücken und gefiederte Flügel breiteten sich aus. Sie schimmerten seidigweiß und leuchteten hell. Alexander schlug ruhig mit den Flügel und schwang sich dann in den Himmel. Hand in Hand flogen sie durch die Baumwipfel, der Sonne entgegen. Schließlich ließ Van Alexanders Hand los. "Du kannst es doch!" rief er lachend. "Ich fliege!" jubelte Alexander. "Ich fliege!" Kapitel 12: 12. Gespräch mit dem Drachen ---------------------------------------- Am Abend versammelten sich alle um ein großes Lagerfeuer. Nachdem sie gegessen hatten, begannen sie über ihre Situation zu diskutieren. "Was ich hauptsächlich wissen will, ist, wo wir hier überhaupt sind und warum wir es sind. Und was dieser Drache damit zu tun hat," meinte Allen "Das warum kann ich dir vielleicht nachher beantworten. Ich werde mit dem Drachen sprechen," erwiderte Hitomi. "Wie das?" erkundigte sich Merle neugierig. "Ich kann ihn rufen. Frag nicht warum, aber ich kann es. Van und ich werden mit ihm reden," erklärte das Mädchen vom Mond der Illusionen. "Ich glaube, ich sollte irgendwann aufhören, mich über dich zu wundern, Hitomi," seufzte Allen leise. "Gut. Unsere Position können Gardes und ich nachher mithilfe der Sterne bestimmen. Das dürfte kein Problem sein." Gardes hatte sich im Laufe des Nachmittags wieder beruhigt. Die Schäden am Crusado waren nicht ganz so schlimm, wie es auf dem ersten Blick ausgesehen hatte, und mittlerweile war er schon wieder recht optimistisch geworden, was eine mögliche Reparatur betraf. So nickte er jetzt zustimmend und lächelte sogar in das Feuer. Hitomi stand schließlich auf und fasste Van an der Hand. "Es ist Zeit," sagte sie und gemeinsam verschwanden sie in der Dunkelheit. Sie liefen in durch Wald, bis sie auf eine Lichtung kamen, die vom Licht der beiden Monde hell erleuchtet wurde. Hier blieb Hitomi stehen und sah sich um. "Wo bist du?" fragte sie in die Dunkelheit. Van hielt sich stumm im Hintergrund. "Ich habe mich schon gefragt, wann du mich rufst," kam die Stimme des Drachen aus den Schatten unter den Bäumen. Langsam schlich er näher und ließ sich neben den beiden Menschen im Mondlicht nieder. Seine schwarzen Schuppen glänzten, als ob sie feucht wären, als er sich gemächlich zusammenrollte. "Nun, was liegt euch auf dem Herzen?" fragte er mit einem leichten Lächeln. "Wer hat diese schwarze Lichtsäule geschaffen? Wer hat Van und mich gerufen?" begann Hitomi und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen vor dem Drachen nieder. Auch Van setzte sich in das weiche Gras. "Das war der Manticor. Wir sind seit Urzeiten schon Gegner. Zwei Seiten der gleichen Medaille, wenn man so will." "Ist das der alte Feind? Ich habe diese Stimme nämlich schon einmal gehört. Bei der ,großen Schlacht'. Als du Dilandau getötet hast." Der Drache seufzte leise. "Du verstehst viel, Mädchen. Also muss ich viel erklären." Seine Flügel raschelten, als er es sich etwas bequemer machte und dann begann er zu erzählen. "Vor langer, langer Zeit wurden zwei Völker geschaffen. Das Volk des Drachengottes auf der einen Seite und das Volk des Manticors auf der anderen. Jedes der Völker bekam einen Beschützer, die einen den Drachen, die anderen den Manticor. Wenn du so willst, Van, bin ich also der, den das Volk deiner Mutter als den Drachengott verehrt hat. Vor etwas mehr als einem Jahrhundert kam es zu einem umfassenden Krieg zwischen dem Drachen- und dem Manticorvolk. Bei dieser Schlacht konnte ich den Manticor besiegen und mit einem Fluch versiegeln. Dafür musste ich aber schwören, mich nicht mehr in das Schicksal und das Leben meiner Kinder einzumischen. In der jüngsten Schlacht habe ich das bewusst missachtet und ihm damit wieder zur Freiheit verholfen." Er blickte nachdenklich zum Nachthimmel hinauf. "Ich musste eingreifen, denn sonst hätte ich mein letztes Kind verloren." Er lächelte Van sanft an. "Außerdem wusste ich, dass er früher oder später aufwachen würde. Auf Dauer ist es für unsereins einfach unmöglich, sich nicht einzumischen." Der Drache machte eine kurze Pause und ließ seine Worte auf Van und Hitomi wirken, dann fuhr er fort. "Von beiden Völkern gibt es nur noch wenige. Van ist mir als Einziger geblieben. Der Manticor hat auch nur noch zwei seines Volkes. Ich kann ihre Bilder aber nur schwach erkennen, denn er hat sie immer vor mir abgeschirmt. Es ist auf alle Fälle eine Frau. Und ein Mann." "Du irrst dich," sagte Van plötzlich. "So?" Belustigt legte der Drache den Kopf schief und sah den Jungen an. "Da ist auch noch Alexander. Er ist Folkens Sohn. Er trägt auch dein Blut in sich." Interessiert blickten die gelben Augen des Drachen ihn an. "Sollte ich etwa so nachlässig geworden sein?" sprach er leise zu sich selbst. "So nachlässig, dass ich einen von meiner eigenen Art übersehen habe?" Für den Moment schloss er die Augen und öffnete seinen Geist. Als er seine gelben Augen wieder aufschlug, lächelte er. "Ja. Ich war so auf dich konzentriert, dass ich ihn ganz übersehen habe. Seine Aura ist noch schwach, aber sie wird stärker. Noch viel stärker." Wieder lachte er leise, auf seine ganz eigene Art. "Es liegt noch etwas in der Luft. Eine neue Art. Eine andere Zukunft. Der Gedanke streift mich nur hin und wieder. Er bleibt nicht lange genug, um ihn wirklich zu fassen. Die Saat für diese Art ist längst gesät und geht auf. Erst zum Zeitpunkt der Ernte können wir wieder eingreifen." Er schüttelte den Kopf, als ob er einen lästigen Gedanken loswerden wollte. "Was sollen wir tun?" fragte Hitomi. "Nun, der Manticor will euch haben. Auch wenn ich noch nicht verstehe warum. Aber da er euch will, müsst ihr euch ihm entziehen. Ihr könnt nichts anderes tun, als vor ihm weglaufen. Mit ihm könnt ihr es nicht aufnehmen. Ich allein kann es. Aber dazu muss er aus seinem Versteck kommen. Ich muss ihn fordern. Mit ihm kämpfen. Aber das kann ich nicht, wenn er sich verkriecht." "Dann werden wir ihn eben aus seinem Versteck locken," sagte Van mit fester Stimme. "Kleiner Drachenreiter," lächelte der Drache, "du hast keine Vorstellung, auf was du dich da einlassen willst. Du kannst ja noch nicht einmal begreifen, wer ich bin. Wie willst du dann verstehen, mit wem du dich da anlegen willst?" "Das brauche ich gar nicht. Er will Hitomi und mich haben, gut. Die Bedrohung ändert sich doch dadurch nicht, dass wir weglaufen. Das hat die Aktion mit dem Crusado gezeigt. Er kann uns immer und überall erwischen. Er wird erwarten, dass wir weglaufen. Also sollten wir genau das nicht tun. Wir sollten seine Herausforderung annehmen. Das, was er getan hat, war doch schließlich nichts anderes." "Du bist mutig, Drachenreiter. Aber das wird dir nicht viel helfen. Wenn du aber so entschlossen bist, dann geh zu ihm. Finde ihn. Dann kann ich ihn auch erreichen. Ich werde eurer Spur folgen und meinen Schutz über euch halten. Das ist dann alles, was ich tun kann." "Also," meldete sich Hitomi wieder zu Wort. "Ich verstehe ja, warum er Van will. Das ist eine uralte Feindschaft. Aber warum ich? Warum sucht er auch mich?" "Weil du etwas Besonderes bist," erwiderte der Drache. "Du kannst ihn hören. Vielleicht kannst du ihn in Visionen sogar sehen. Er hat Angst, denn du kannst ihn erkennen." Langsam richtete der Drache sich wieder auf. Er streckte sich und breitete dann seine Flügel aus. "Geht euren Weg, meine Kinder. Ich kann euch nicht hindern. Aber ich werde euch begleiten. Wo auch immer euch euer Weg hinführen mag." Er drückte sich ab und verschwand augenblicklich vor dem Dunkel des Nachthimmels. Mit einem Lächeln auf dem schuppigen Gesicht dachte er: Und die Dinge gehen ihren Weg... Ich habe dich doch richtig eingeschätzt, kleiner Drache. Kapitel 13: 13. Am Lagerfeuer ----------------------------- "Van, wie stellst du dir das eigentlich vor? Den Manticor finden! Das ist doch Wahnsinn!" Hitomi blieb auf dem weichen Grasboden der Lichtung sitzen und blinzelte Van an. "Warum? Der Drache hat doch gesagt, dass er uns beschützen wird. Wenn wir ihn finden, dann kann er gegen den Manticor kämpfen." "Jetzt sind wir also schon so weit!" Hitomi schüttelte den Kopf. "Darauf läuft es doch hinaus. Hitomi, der Manticor will uns aus irgendeinem Grund haben. Wir müssen also wichtig sein, sonst würde er sich doch niemals mit uns befassen." Van sah Hitomi eindringlich in die Augen. "Der Manticor wird uns weiter verfolgen und jagen. Er will uns. Und wie du gesehen hast, hat er große Kräfte." Sanft streichelte Van ihr über die Schulter. "Und was sollen wir tun?" seufzte Hitomi. "Wir müssen dieses Mistvieh erst einmal finden," erklärte Van. "Wie der Drache gerade gesagt hat: Wenn du ihn hören kannst, dann kannst du ihn auch sehen. Du kannst ihn also finden." Hitomi zuckte zusammen. Sie hatte so etwas geahnt. "Van, ich weiß aber nicht, ob ich ihn überhaupt sehen will. Du hast diese Stimme nicht gehört. Dieses tiefe Grollen. Diese Grausamkeit und Brutalität. Und Stärke. Du weißt gar nicht, wie sich das anfühlt. Du hast keine Ahnung!" Hitomi sprang auf und funkelte Van an. Sie hatte Angst, Angst vor dem Manticor. Außerdem war sie wütend auf Van, weil er so etwas von ihr verlangte. Etwas, was weit über ihre Kräfte ging. "Ich kann das nicht, Van. Ich kann das nicht," sagte sie unglücklich und starrte zu Boden. Sie kämpfte gegen die Tränen an, konnte aber nicht verhindern, dass sie ihr langsam über die Wangen liefen. "Hitomi." Van stand auf und nahm sie liebevoll in den Arm. "Das wollte ich nicht, Hitomi. Das wollte ich nicht." Sie vergrub den Kopf an seiner Schulter und weinte leise. Langsam streichelte ihr über den Rücken. "Hitomi, du weißt, dass ich dich über alles liebe. Und dass ich nie etwas von dir verlangen würde, was du nicht kannst. Du kannst diesen Manticor finden. Er hat Angst vor dir. Wahrscheinlich mehr als du vor ihm." Durch ihre Tränen musste Hitomi lachen. "Das soll gehen?" schluchzte sie und wischte sich über das Gesicht. "Lass mich mal," lächelte Van und strich ihr zärtlich mit der Hand über das Gesicht. Dann hob er ihr Kinn an und küsste sie auf die Lippen. Als sie sich wieder von einander lösten, fragte er: "Na, machen wir ihn fertig?" "Ja, das werden wir," antwortete Hitomi. Hand in Hand liefen sie zum Lagerfeuer zurück, um ihren Freunden Bericht zu erstatten. Allen, Merle, Louvain, Lothian, Alexander, Shid, Gardes und die sechs Mitglieder der Crusado-Crew saßen um das Lagerfeuer herum und unterhielten sich leise. Zusammen hatten Gardes und Allen ihre Position bestimmt und bestürzt festgestellt, dass sie sich weit von Asturia befanden. Sie waren irgendwo in der Wildnis von Bandura abgestürzt. Der Landstrich Bandura erstreckte sind bis zur Rückseite Gaias, die durch hohe Felsen abgegrenzt wurde. "Bandura," brummte Allen. "Auch das noch. Eine Wildnis, die noch niemand wirklich erforscht hat." "Nun, dann gibt es hier wenigstens etwas zu entdecken," meinte Gardes betont gut gelaunt. Allen funkelte ihn finster an. "Ach und was? Monster, Ungeheuer, Schätze und fremde Zivilisationen?" "So in der Art," grinste Gardes. Der Rest der Crew begann zu lachen und Allen begriff, dass er Gardes auf den Leim gegangen war. Er rang sich ein mühsames Grinsen ab. "Das ist nicht lustig, Gardes," meinte er. Dieser zuckte mit den Schulter. "Das war es auch nicht, als Ihr die Seite des Crusado..." "Ist ja gut!" ging Merle dazwischen. "Ihr beide seid ja nicht mehr zum Aushalten!" "Was ist denn hier los?" fragte Van und trat aus der Dunkelheit. "Die beiden kabbeln sich und Merle hat genug davon," gab Lothian zur Antwort. Seine gelben Wolfaugen leuchteten in der Dunkelheit. "Was habt ihr herausgefunden?" erkundigte sich Louvain ungeduldig. Der Löwenjunge hatte sich bequem auf den Bauch gelegt und rappelte sich langsam hoch, während er sprach. "Immer mit der Ruhe," lachte jetzt Hitomi und gemeinsam ließen Van und sie sich am Feuer nieder. Dann begannen sie zu erzählen. Als sie geendet hatten, ergriff Allen das Wort. "Also, dieser Manticor will euch beide aus irgendeinem Grund in seine Fänge kriegen. Gut, dagegen müssen wir natürlich was machen. Aber direkt in die Höhle des Löwen marschieren? Ist das nicht ein bisschen leichtsinnig?!" "Finde ich nicht," brummte Alexander. "Damit rechnet er nicht. Und wenn der Drache wirklich über uns wacht - Was soll denn daran schief gehen?" "Uns? Wer hat denn hier uns gesagt?" fauchte Merle plötzlich erschrocken. "Es geht doch hier nur um Van und Hitomi, oder?" "Willst du die beiden etwa im Stich lassen?" Louvains braune Augen funkelten sie an. "Es ist doch klar, dass wir da mitmachen. Wir sind schließlich Freunde." "Eben. Einer - oder auch zwei - alleine haben da keine Chance," pflichtete Lothian ihm bei. Auch Allen, Shid und Alexander nickten. "Kommandant, Van, Ihr wisst, dass wir Euch gerne beistehen würden, aber jemand muss sich um den Crusado kümmern," sagte Gardes. "Selbst wenn wir mit dem Guymelefs reisen, uns sieben noch dazu... Das passt auf keinem Fall. Ich würde daher vorschlagen, dass ihr acht auf alle Fälle vorgeht und wir nachkommen, sobald der Crusado wieder repariert ist." Allen nickte zustimmend. "Das klingt vernünftig. Aber wohin nachkommen?" Fragend sah er zu Hitomi. "Ja, ja. Ich muss dieses Mistvieh erst einmal finden. Das ist schon klar. Aber nicht mehr heute Nacht," antwortete sie auf die unausgesprochene Frage. "Da hast du Recht. Wir sollten jetzt vielleicht schlafen," erwiderte Allen. "Reeden und Paile, ihr übernehmt die erste Wache," wandte er sich an zwei aus der Crew des Crusado. Die beiden nickten. "Geht klar, Kommandant. Wen wecken wir danach?" "Mich und Teo." Während es sich die beiden Wachen am Feuer bequem machten, suchten sich die anderen langsam Decken aus der geretteten Fracht des Crusado zusammen und rollten sich schließlich in dem Frachtraum des Luftschiffes zusammen. Hier waren sie zumindest vor Wind und Wetter geschützt. Ich will den Manticor aber gar nicht finden, dachte Hitomi noch, bevor sie schließlich einschlief. Kapitel 14: 14. Beim Manticor ----------------------------- Hitomi träumte. Sie fand sich auf einer sturmumtosten, kahlen Ebene wieder. Sand und Staub peitschten mit dem Wind. Blitze zuckten über den Himmel. Sie hielt sich die Hand vor die Augen und versuchte durch den Sturm zu blinzeln. Dann fiel ihr auf, dass ihr der Wind nichts anhaben konnte und sie ließ den Arm wieder sinken. Sie drehte sich langsam im Kreis und sah sich um. Hinter ihr waren hohe, braune Berge. Vor ihr erstreckte sich die flache Ebene. Am Horizont konnte sie schwach Ruinen erkennen. Seltsam. Ihr ging auf, dass sie anstandslos durch den Sturm hindurch blicken konnte. Fast, als wenn er nicht vorhanden wäre. Hitomi zuckte mit den Schultern und ging los. Überraschend schnell erreichte sie die Ruinen. Nur in einer brannte Licht und schimmerte durch die staubigen Fensterscheiben. An der Tür stand eine vermummte Gestalt und spähte in den Sturm. Nach einer Weile schob sie sich wieder ins Innere und bevor sie die Tür zuschlagen konnte, war Hitomi schon hindurchgehuscht. Als die Wache sich umdrehte und sie direkt ansah, blieb ihr fast das Herz stehen. Doch der Mann blickte durch sie hindurch. Er kann mich nicht sehen, dachte Hitomi erleichtert. Sie schob sich an dem wachhabenden Soldaten vorbei und drang in die Ruine vor. Die Gänge waren durch hohe, steinerne Bögen verziert. Sie vermutete, dass das Gebäude einmal sehr prachtvoll gewesen sein musste. Nur war von der Pracht nicht viel mehr geblieben, als die verblassenden Bilder an den Wänden. Schließlich kam sie in den Thronsaal. Auf dem Thron saß eine schlafende Gestalt, die ihr sehr bekannt vorkam. Sie trat näher und erkannte das engelsgleiche Gesicht. Auriana. Hitomi sah sich weiter um und erkannte einen Fellberg in der dunkelsten Ecke des Saals. Vorsichtig trat sie auf ihn zu. Endlich erkannte sie, was es war. Er sah wie ein schlafender, roter Löwe aus, den Kopf auf die mächtigen Pranken gelegt und die Augen friedlich geschlossen. Dennoch war er ungleich größer und massiger. Er reichte von der Größe her spielend an den schwarzen Drachen heran. Aus seinem Rücken sprossen große schwarze Fledermausflügel, die sich nun eng an seinem Körper drücken. Den Skorpionsschwanz hatte er weit von sich gestreckt, fast als wenn er sich nicht selbst im Schlaf stechen wollte. Manticor, hier bist du also, sagte Hitomi stumm und blickte auf die den Kopf mit der dichten Mähne herunter. "Und hier bist du, Mädchen vom Mond der Illusionen," erklang die grollende Stimme hinter ihr. Hitomi wirbelte herum und blinzelte den Manticor verwirrt an. Dann drehte sie sich wieder um und sah sein schlafendes Ebenbild. "Was...?" fragte sie verblüfft. "Die Traumebene, Mädchen. Interessant, dass du dich auf ihr bewegen kannst, obwohl du sie nicht kennst." Langsam schlich er näher und seine bodenlosen Augen starrten sie an. Hitomi wich schrittweise zurück. Der Manticor grollte leise. Dann begriff sie, was es war. Er lachte. Seine weißen Raubtierzähne blitzen auf. "Du brauchst keine Angst zu haben. Auf der Traumebene kann ich dir nichts." Langsam ließ er sich nieder und nach Katzenmanier klappte er die Vorderpfoten unter. Vorsichtig entspannte sich Hitomi. "Was ist die Traumebene?" fragte sie schüchtern. "Die Traumebene erstreckt sich über die Realität. Ein Traumreisender kann sich auf ihr über ganz Gaia fortbewegen und jeden Ort erreichen. Und wenn er gut ist noch weiter. Zum Beispiel bis zum Mond der Illusionen." Seine Zähne blitzten wieder auf. Er sah auf sein schlafendes Ebenbild herab. "Lass uns woanders hingehen," forderte er. "Du weißt, wo ich bin. Was willst du noch mehr? Und mich verwirrt mein eigener Anblick." "Warum sollte ich denn noch bleiben?" hakte Hitomi mutig nach. Wieder lachte er auf seine grollende Art. "Weil du Antworten suchst. Und ich sie dir geben kann. Komm, bring uns hier weg." "Wie und wohin denn?" Hitomi war verwirrt. Obwohl der Manticor unbestreitbar etwas Grausames und Bösartiges ausstrahlte, benahm er sich höflich und zivilisiert. Fast so wie der schwarze Drache. "Folge deinen Gedanken, Mädchen. Dann werden wir dort sein." Hitomi war sich bewusst, dass sie immerhin ihrem Feind gegenüber stand und gab so nicht dem Gedanken nach, zu Van zu gehen. Sie stellte sich die Klippen von Asturia vor und schon waren sie dort. Der Manticor stand auf, hielt den Kopf in den nächtlichen Wind und lächelte. "Das Meer. Ich habe es schon lange nicht mehr gesehen. Aber das wird sich ändern. Bald. Sehr bald." "Was wird sich ändern?" "Was glaubst du denn, worum es geht?" gab der Manticor zurück und drehte sich um. Sein bodenloser Blick ruhte auf Hitomi. "Natürlich um Gaia. Die Herrschaft über Gaia. Das war nie anders. Deshalb haben wir damals gekämpft, die Drachen und die Manticoren. Um nichts anderes." Hitomi zuckte unter der harten Stimme zusammen. Darum soll es gegangen sein? Davon hat der Drache nichts gesagt! "Ah, ich sehe, du weißt, wovon ich rede." Der Manticor setzte sich in das Gras und betrachtete Hitomi amüsiert. "Und er hat dir nicht gesagt, warum wir gekämpft haben, nicht wahr? Er macht es sich immer so einfach. Ein uralter Kampf. Aber nie warum." Sein spöttisches Lachen tat Hitomi in den Ohren weh. "Weil es um Macht geht, Mädchen. Darum geht es immer. Wir wollen beide herrschen und nur einer kann es. Ein Volk kann es. Und das wird meins sein. Das neue Volk. Das unter meiner Hand heranwächst." "Was für eine neues Volk?" Mit dieser Ankündigung machte er Hitomi Angst. "Die Zukunft, Mädchen. Die Zukunft, der ihr im Weg steht." Er richtete sich plötzlich auf und breitete seine schwarzen Flügel aus. Dann brüllte er der Welt seine Herausforderung entgegen und warf sich in den Wind. Sekunden später war er am Himmel verschwunden. "Ich habe noch ein Abschiedsgeschenk für dich," hörte sie sein höhnisches Grollen. Plötzlich fand sie sich woanders wieder. Sie stand auf dem Balkon des Schlosses von Farnelia. Van stand neben ihr. Er blickte völlig fasziniert zum Himmel. Hitomi folgte seinem Blick. Blutrote Wolken waren aufgezogen und verfinsterten die Sonne. Dann brach der Regen durch und Blut fiel zur Erde. "Das werde ich mit Gaia tun," lachte die Stimme des Manticor Hitomis Gedanken. Van legte neben ihr den Kopf in den Nacken und ließ den blutigen Regen über sein Gesicht laufen. Es schien ihm zu gefallen. Schaudernd wandte Hitomi sich um und starrte in die Nacht hinaus. "Deine Warnung ist daneben gegangen! Jetzt erst recht! Jetzt werden wir erst recht Widerstand leisten!" schrie sie mit sich überschlagender Stimme. In ihrem Kopf antwortete ein überraschtes Fauchen. Damit hatte der Manticor offensichtlich nicht gerechnet. Zitternd wachte Hitomi auf und stellte blinzelnd fest, dass die Sonne gerade aufging. Van lag neben ihr und hatte sich eng an sie gekuschelt. Am niedergebrannten Feuer saßen Louvain und Lothian und würfelten. Leise lachten die beiden Jungen. Erleichtert schloss Hitomi die Augen und lauschte den ersten Vögeln. Wir werden dich bekämpfen, Manticor. Und wir werden siegen, dachte sie entschlossen. Kapitel 15: 15. Aufbruch ------------------------ Hitomi hatte gar nicht gemerkt, dass sie wieder eingeschlafen war, doch schließlich wurde sie von einem hartnäckigen Rütteln an ihrer Schulter geweckt. "Was denn...?" brummte Hitomi und blinzelte in ein paar strahlende blaue Augen. "Steh endlich auf," lachte Merle ihr entgegen. "Es gibt Frühstück." Damit schoss das Katzenmädchen zu der Feuerstelle zurück, an der wieder ein kleines Lagerfeuer brannte. Drumherum hatten sich schon Allen, Gardes, die Crew und die Tiermenschen versammelt. Hitomi sah sich um und erkannte, dass sich auch Van, Alexander und Shid erst langsam aus ihren Decken entwirrten. "Morgen," murmelte Van und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann zog er sie hoch. Am Feuer verteilte Merle schon begeistert den Kaffee. Als alle versorgt waren, ließ sie sich schließlich auch nieder und blickte in die Runde. "Und? Was machen wir heute?" "Wir kümmern uns um den Crusado", meinte Katz und deutete auf den Rest der Crew. Einschließlich Gardes nickten sie zustimmend. "Und wir?" hakte Merle nach. "Wir warten darauf, dass Hitomi den Manticor findet und dann geht's los," schmatzte Alexander. "Darauf müsst ihr nicht warten." Hitomi nippte müde an ihrem Kaffee und verzog des Gesicht. Sie konnte diesem Zeug immer noch nicht allzu viel abgewinnen. "Ich weiß, wo er ist." "Und wo?" Neugierige Blicke trafen sie. "Ich kann es nur beschreiben. Ich weiß ja nicht, wie die Gegend heißt. Es war eine kalte Wüste. Ein ewiger Sturm tobte um alte Ruinen. Blitze zuckten ständig am Himmel. Und in der Ferne waren Berge." "Nicht dahin," stöhnte Shid. "Muss es unbedingt die Rückseite Gaias sein?" "Bist du dir sicher?" Allen sah den jungen Prinzen an. Dessen blaue Augen blickten vorwurfsvoll zurück. "Ihr kennt doch alle die Geschichte über die Rückseite Gaias. Von der kalten Wüste des ewigen Sturm. Von den Ruinen einer toten Zivilisation. In Freyd haben wir in einer unterirdischen Kapelle Bilder davon." Er zuckte mit den Schulter. "Und genau das, was auf diesen Bilder ist, hat Hitomi beschrieben." "Die Rückseite Gaias," stöhnte jetzt auch Van. "Na, das wird kein Spaziergang," mischte sich jetzt Louvain ein und grinste breit. "Aber ein Abenteuer. Wir werden dahin gehen, wo niemand zuvor gewesen ist!" "Wie sieht denn unser Plan aus?" hakte Merle nach. "Wir werden uns mit den Guymelefs auf den Weg machen. Immer weiter nach Westen. Das ist von hier aus am kürzesten," erklärte Allen. "Und dann?" Das Katzenmädchen legte den Kopf schief. "Wie ,und dann'?" Allen sah sie ratlos an. "Was machen wir, wenn wir dieses Vieh gefunden haben?" Merle wurde ungeduldig. "Der Drache kümmert sich um ihn," gab Van als Antwort. "Und das nennt ihr Plan?! Ich nenne das verrückt!" Das Katzenmädchen schüttelte den Kopf. "Warum müssen wir denn zu diesem Monsterviech hingehen? Reicht es nicht, wenn du dem Drachen sagst, wo er ihn findet?" Sie sah Van hoffnungsvoll an. Der schüttelte den Kopf. "Einer seiner Nachfahren muss dahin gehen, damit er folgen kann. Der Manticor hat sich nämlich so verkrochen, dass der Drache ihn nicht erreichen kann. Wahrscheinlich mit einem magischen Schutzschild oder so. Der Drache braucht jemanden, der den Weg geht, damit er dann den Manticor herausfordern kann." "Na toll." Merle schüttelte den Kopf. "Ich hoffe, du weißt, dass das richtig bescheuert klingt! Wie in einem dieser alten Märchen, bei denen der Prinz unbedingt in die Höhle des Monsters gehen muss. Und für diese Reise kommst natürlich nur du in Frage." "Nein." Van schüttelte nun ebenfalls den Kopf. "Alexander könnte auch gehen." Folkens Sohn hatte gerade den Mund voller Kaffee und prustete überrascht ins Feuer. "Ich? Was habe ich denn mit dem Drachen zu schaffen?" Seine dunklen Augen blickten Van verwirrt an. "Du bist auch vom Volk des Drachengottes. Von seinem Volk. Von dir weiß der Manticor aber noch nichts, also wäre es geschickter, wenn ich gehen würde. Und du bleibst als letzte Möglichkeit hier." "Oh nein!" Alexander sprang auf. "Du hast mir nichts zu sagen, Onkelchen. Ich komme auch mit!" Van seufzte leise. "Das hatte ich geahnt." Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Sachen zusammengepackt hatten. Der Versuch Allens, Prinz Shid davon zu überzeugen, doch bei der Crew des Crusado zu bleiben, war gescheitert. Shid hatte sich so hartnäckig geweigert, dass Allen irgendwann nachgegeben hatte. Praktisch hatte nachgeben müssen. Dem blonden Ritter war nicht gerade wohl dabei, den Jungen mitzunehmen. Auf der einen Seite war er schließlich sein Vater, wovon Shid bisher allerdings keine Ahnung hatte, und auf der anderen Seite war der Junge nun einmal der Herzog von Freyd und daher durfte ihm nichts geschehen. Kopfschüttelnd verstaute Allen seine Decke in einer Ecke des Cockpits von Scheherazade. "Allen, nehmt bitte auch noch meine Decke!" rief Shid von unten. Der Ritter sprang herunter und sah den Prinzen lächelnd an. "Ihr seid hartnäckig, mein Prinz." Er nahm dem Jungen die Decke ab. "Bitte, Allen," sagte Shid, "Lasst uns die Förmlichkeiten bei Seite lassen. Wir sitzen schließlich im selben Boot." Allens Lächeln vertiefte sich. "Aber gerne, Shid." Endlich waren alle Sachen verstaut und die vier Guymelefs, Escaflowne, Scheherazade, Castillo und Lavender zum Abmarsch bereit. Auf Escaflownes Schulter saß Hitomi. Bei Louvains Castillo befand sich Merle und bei Lothians neuem Lavender Alexander. Auf Scheherazades Hand hatte es sich Shid gemütlich gemacht. Die Crew des Crusados winkte den Gefährten nach, während die Guymelefs auf ihrem Weg nach Westen im Wald verschwanden. "Viel Glück!" rief Gardes ihnen nach. "Wir folgen euch, sobald wir können!" schrie Kiro und winkte übermütig. Dann wandten sich die sieben Männer wieder der Reparatur des Luftschiffes zu. In Asturia stand Milerna gedankenversunken am Fenster. Die Suchtrupps hatten keine Spur von den Vermissten gebracht. Sie seufzte leise und lehnte die Stirn an die kühle Scheibe. "Wo seid ihr nur?" fragte sie leise. "Wo seid ihr nur hin?" "Wir werden sie finden, Schwester," sagte Eries sanft und legte Milerna die Arme um die Schultern. Sie schmiegte sich an ihre jüngere Schwester und fragte sich, ob sie eigentlich Trost spenden oder finden wollte. Kapitel 16: 16. Unterwegs ------------------------- In der Ruine auf der Rückseite Gaias wachte der Manticor langsam auf. Nun wurde es auch hier hell und das Morgenlicht blinzelte scheu durch den ewigen Sturm. Nachdenklich wetzte der Manticor seine Krallen an einem teuren Wandteppich. "Was ist, Herr?" fragte Auriana vorsichtig. "Ich frage mich, warum das Mädchen heute Nacht hier war. Was hat sie nur hergeführt?" "Sie war hier?" Auriana war entsetzt. "Was kann sie uns schon tun? Auf der Traumebene spielt sie keine Rolle. Was mir Gedanken macht, ist, dass meine Warnung sie nicht abgeschreckt, sondern nur bestätigt hat. In was auch immer sie tut..." Der Manticor schüttelte seine Mähne und blinzelte Auriana aus seinen schwarzen Augen an. Überrascht sah sie, dass er verwirrt war. "Wir müssen uns um sie kümmern. Um sie und den kleinen Drachen. Sobald wie möglich. Nur die beiden können die Zukunft gefährden. Das neue Volk..." Hitomi machte es sich auf Escaflownes Schulter gemütlich. Vor ihnen stapfte Castillo durch den Wald und hinter ihnen Lavender und Scheherazade. "Sag mal, Van," begann Hitomi nachdenklich. "Ja?" "Wann sollen wir den anderen eigentlich von unsere Verlobung erzählen? Ich meine, im Moment ist es doch irgendwie ungünstig." Van überlegte. "Du hast Recht. Am besten behalten wir es erst einmal für uns und erzählen es, sobald sich der Zeitpunkt richtig anfühlt. Außerdem hast du ja auch noch keinen Ring," gab Van beschämt zu. "Ich hatte nur einfach keine Zeit dazu..." "Das macht doch nichts." Hitomi lachte. "Aber noch etwas anderes. Warum fliegen wir eigentlich nicht? Ich meine, für Escaflowne wäre es doch ein Leichtes..." Sie ließ das Ende ihres Satzes offen. Van lächelte in seinem Cockpit. "Ich weiß, was du meinst. Aber hast du die anderen vergessen? Die anderen Guymelefs können schließlich nicht fliegen. Und ehrlich gesagt, ist es mir ganz Recht, unsere Freunde dabei zu haben. Ich meine, wir dringen in das Unbekannte vor. In unerforschte Gebiete. Wer weiß, was uns da erwartet." Nachdem sie einige Stunden unterwegs waren, zog sich der Himmel langsam zu. Merle spähte unruhig durch die Bäume zu den Wolken. Diese hingen bleigrau und schwer über dem Wald. "Oh nein," murmelte das Katzenmädchen. "Bitte nicht..." Ihr Gebet wurde nicht erhört. Wenige Minuten später brach der Wolkenbruch los. Das Wasser strömte in Sturzbächen aus den Wolken. Das Blätterdach konnte den Regen nur kurzzeitig aufhalten und sekundenschnell prasselte er auf die Reisenden nieder. "Spring auf Escaflownes Hand," kommandierte Van. Achselzuckend sprang Hitomi in die rechte Hand des Guymelefs. Als Van die linke darüber hielt, begriff sie, was er geplant hatte. Mit der anderen Hand des Guymelefs konnte er sie von dem größten Teil des Wassers abschirmen. Sobald Hitomi im halbwegs Trockenen saß, rief Van seine Idee den anderen zu und wenig später hielten alle Guymelefs mit den Händen das Wasser von ihren Passagieren ab. Es regnete noch bis zur Abenddämmerung. Keiner sprach mehr ein Wort, denn das schlechte Wetter hatte allen auf die Stimmung geschlagen. Selbst Merle wusste irgendwann nicht mehr, was sie Louvain noch erzählen sollte und schwieg. Mit dem Sonnenuntergang hörte auch der Regen auf. Auf einer kleinen Lichtung fanden sie beinahe zur selben Zeit einen guten Lagerplatz. Die Guymelefs setzten ihre Passagiere ab, danach sprangen die Piloten aus den Cockpits. Sie waren um einiges trockener geblieben. "Oh Mann," knurrte Merle. "Beim nächsten Regen will ich auch einen Guymelef steuern." Das Katzenmädchen fuhr sich durch die feuchten Haare. "Lasst uns trockenes Holz suchen und dann Feuer machen," meinte Alexander und war schon auf dem Weg. "Wo willst du hier denn irgendetwas Trockenes finden?" warf Merle patzig ein. Louvain zog sie kopfschüttelnd bei Seite und gemeinsam suchten sie die Rationen für das Abendessen raus. Lothian wirbelte Alexander hinterher und gemeinsam krochen die beide unter möglichst dichte Büsche, um dort wenigstens etwas trockenes Holz aufzutreiben. Auch Hitomi, Allen und Van beteiligten sich an der wenig erfolgreichen Suche. Shid leistete Merle und Louvain Gesellschaft. Die Ausbeute der Suche war mager. Einige wenige dickere Äste und hauptsächlich Reisig hatten sie auftreiben können. "Na ja, wenn es erst einmal brennt, wird es auch mit feuchten Zweigen gehen," meinte Allen mit einem Achselzucken. "Was bleibt uns anderes übrig?" Während sich Merle, Hitomi und Alexander um das Abendessen kümmerten, stellten die anderen die Guymelefs so zusammen, dass sie einen möglichst geschützten trockenen Raum zur Verfügung stellten. "Das sollte bei einem erneuten Regenschauer erst einmal reichen," meinte Prinz Shid schließlich, der die vier Guymelefs eingewiesen hatte. Nach dem Abendessen legten sich die Reisenden schlafen. Alexander und Van übernahmen die erste Wache und kauerten sich am Feuer zusammen. Die Nacht war kalt geworden. Zitternd zog sich Alexander die Decke enger um die Schulter und stocherte mit einem Zweig im Feuer herum. "Van," fragte er schließlich leise. "Weißt du, warum noch nie jemand dieses Gebiet hier erforscht hat?" Van zuckte mit den Schultern. "Vermutlich haben es Leute versucht und sind nicht zurückgekommen." "Na, du machst mir Mut," brummte Folkens Sohn und starrte wieder ins Feuer. Plötzlich sprang er auf und streckte sich. "Hast du was gehört?" Van war sofort wie elektrisiert. "Keine Panik." Jetzt lachte Alexander. "Ich halte mich nur mit ein paar Übungen warm." Er zog sein Schwert und begann mit kompliziert anmutenden Schlagkombinationen. Van beobachtete ihn aufmerksam, hatte aber immer noch ein Auge und ein Ohr auf die Umgebung. Zwischenzeitlich glitt sein Blick auch zu den schlafenden Gestalten bei den Guymelefs rüber. Er lächelte, als er Hitomis zusammengerollte Gestalt sah. Dann blickte er wieder zu Alexander und bemerkte dessen elegante und flüssige Bewegungen. "Du bist wirklich gut," sagte er schließlich, als Alexander sich wieder neben ihm am Feuer niederließ. Mit roten Wangen lächelte ihn Folkens Sohn an. "Danke. Das haben mir noch nicht viele gesagt. Ich hatte einen harten Lehrmeister." "Wer war er?" fragte Van. "Er war ein Dieb. Ein Wegelagerer. Ein Räuber. Weißt du, nachdem meine Mutter gestorben war, bin ich in seine Hände gefallen. Er hat mich alles gelehrt, was er konnte. Seine Name war Dariusz." Alexander sah wehmütig in das Lagerfeuer und hing einen Moment der Erinnerung nach. "Hast du schon einmal vom ,Schwarzen Schatten' gehört?" erkundigte sich der Junge schließlich. Van nickte. "Ja, der Wegelagerer, der die Strecke zwischen Farnelia und Asturia unsicher macht. Er tritt immer schwarz vermummt auf. Mittlerweile überfällt er schon seit 50 Jahren die Reisenden. Aber niemand hat ihn je schnappen können." Alexander lachte auf. "Kein Wunder. Erst war Dariusz der Schatten und dann ich. Das war sein Erbe für mich. Ich sollte für ihn weiter machen. Und jetzt... Jetzt sitze ich hier im Wald von Bandura und sehe dem Unbekannten ins Augen. Wo das Leben einen hinverschlagen kann..." Er schüttelte mit einem ironischen Lächeln den Kopf. "Du bist also der ,Schwarze Schatten'." Hochachtungsvoll musterte Van ihn. "Das erklärt so einiges." Unter anderem, warum du so gut kämpfen kannst. Und immer so angespannt bist, dachte Van mit einem Lächeln. "Spielen wir Karten?" fragte Alexander schließlich und zog den Stapel aus der Tasche. "Du gibst," erwiderte Van und lehnte sich entspannt zurück. Kapitel 17: 17. Nachtwache -------------------------- Van und Alexander wurden nach zwei Stunden von Allen und Shid abgelöst. Der Prinz hatte sich einfach nicht ausreden lassen, dass er auch Wache halten wollte. Er hatte erklärt, dass er sich schließlich nützlich machen müsse und daraufhin hatte Allen schließlich doch nachgegeben. Jetzt saß der blonde Ritter seinem Sohn gegenüber und fragte sich, worüber er mit ihm eigentlich reden sollte. Er kannte Shid nicht wirklich. Er hatte ihn vor dieser ungeplanten Reise schon lange nicht mehr gesehen. "Sag mal, warum wolltest du eigentlich mitkommen?" fragte Allen schließlich und blickte dem blonden Jungen in die Augen. Dieser lächelte liebenswürdig zurück. "Ich habe das Leben im Palast so satt," erklärte Shid offen. "Immer ist irgendjemand um mich herum und nimmt mir alles ab. Niemand lässt mich allein etwas tun. Ich bin der Herzog von Freyd, ja, aber Freiheit habe ich noch nie gefühlt. Immer fesseln mich Verpflichtungen. Und jetzt... Jetzt kann ich endlich mal etwas anderes tun. Ich meine, es macht doch keinen Unterschied, ob ich hier bin oder mit am Crusado sitze. Ich kann nicht in Freyd sein und darüber bin ich im Moment ziemlich glücklich. Niemand sagt mir, dass das hier viel zu gefährlich ist. Ich darf endlich einmal durchatmen. Und eigene Erfahrungen machen. Niemand mehr, der mich an den goldenen Käfig erinnert. Niemand, der mir seine Erfahrungen mitteilt und mir abnimmt sie zu machen. Ich fühle mich endlich richtig lebendig." Mit traurigen Augen sah er Allen an. "Ich bin an Bord dieses Luftschiffs gekommen, um dich zu fragen, ob du mein Lehrmeister sein willst. Du hast mir immer noch keine Antwort gegeben. Ich brauche jemanden, der das Leben kennt, Ritter Allen. Ich brauche dich. Jemanden, der mich auch mal leben lässt." Allen unterdrückte mit Mühe einen Seufzer. Wenn du als mein Sohn aufgewachsen wärst, dann müsstest du das nicht durchmachen. Du dürftest Kind sein. Etwas, was dir so sehr verwehrt wurde und immer noch wird. Aber was soll ich machen? Dir die Wahrheit sagen? Ach, Shid. Du lebst jetzt schon zwölf Jahre, ohne die Wahrheit zu kennen. Musst du es überhaupt wissen? Bringt es dich weiter? Oder mich? "Ich werde dir gerne ein Lehrmeister sein. Aber aus deinem Gefängnis kann ich dich nicht befreien. Ich weiß, wie es ist, gefangen zu sein. In Konventionen und Regeln. In einem goldenen Käfig mit einem goldenen Schloss. Du musst stark sein, Shid. Das ist das Einzige, was dir helfen kann." Der Ritter strich dem blonden Prinzen liebevoll über das blonde Haar. Shid sah ihn treuherzig an. "Ich habe dich immer bewundert, Allen. Daran hat sich nichts geändert." "Sag mir, Shid, was hat dir Marlene alles über mich erzählt?" Mit einem festen Zweig stocherte Allen in der Glut herum und legte schließlich noch etwas Holz nach. "Sie hat immer von deiner Stärke und deinem Mut geschwärmt. Davon, dass du der beste Ritter von Asturia bist. So ehrenvoll und edel." Shids blaue Augen leuchteten bewundernd. Allen wurde langsam rot. "Sie hat etwas übertrieben. Das hat sie immer getan..." "Du kanntest meine Mutter gut, nicht wahr?" Das war eine Feststellung, keine Frage. "Sie mochte dich. Sehr sogar. Vielleicht sogar mehr als Vater." Shids Stimme klang durch die Nacht. Allen zuckte zusammen. Wieviel weiß er? Wieviel kann er wissen? fragte er sich stumm. "Wir... Wir standen uns sehr nahe," sagte Allen vorsichtig. "Ja," murmelte Shid leise. "Ja." Nachdenklich blickte Allen über den Feuerschein hinaus in die Dunkelheit. Wie es Milerna wohl gerade ging? Sie machte sich sicherlich Sorgen. Ach, Milerna... dachte er und schloss die Augen, um sie den einen Moment vor sich zu sehen. Milerna wälzte sich ruhelos im Bett herum. Sie konnte nicht einschlafen. Nicht, solange sie nicht wusste, wo ihr Mann und ihre besten Freunde waren. Schließlich warf sie Bettdecke bei Seite und stellte sich ans Fenster. Sie blickte in den Sternenhimmel hinauf und faltete die Hände. Ihre Lippen bebten, als sie leise anfing zu sprechen. "Bitte, Drachengott. Ich weiß, dass du immer ein Auge auf Van und Hitomi hast. Bitte wache auch über Allen. Pass auf ihn auf und bring ihn mir gesund zurück. Bitte..." In der Wiege neben ihrem Bett fing das Baby an zu weinen. Milerna nahm es liebevoll auf den Arm. Dann setzte sie sich auf das Bett und fing an die kleine Ayres zu stillen. "Ich hoffe, dein Vater kommt bald nach Hause, Schatz," murmelte sie leise und küsste das Kind auf die Stirn. "Ist alles in Ordnung?" fragte Shid vorsichtig, als Allen nach einer Weile immer noch nicht die Augen geöffnet hatte. Der Prinz blinzelte den blonden Mann besorgt an. "Ja, ja." Allen zwang sich zu einem Lächeln. "Ich mache mir nur Gedanken. Er weiß niemand, dass wir hier sind. Vielleicht glaubt man in Asturia, dass wir tot sind." Shid legte den Kopf schief und dachte nach. "Du hast Recht. Aber... Können wir daran irgendetwas ändern? Kaum, oder? Wir können nur den Moment leben und vollenden, was wir angefangen haben." "Warum bist du für dein Alter nur so vernünftig?" seufzte Allen. "Als ich zwölf war, habe ich es allen Menschen schwer gemacht. Ich war so ein Wildfang. Alles und jeden habe ich herausgefordert. Es ist eigentlich ein Wunder, dass ich überhaupt erwachsen geworden bin." "Ich wusste gar nicht, dass du früher einmal so warst." Shid blinzelte Allen neugierig an. "Meine Mutter hat dich immer als so besonnen, ruhig und sicher beschrieben." "Marlene hat mich so beschrieben, wie sie mich sehen wollte. Wie sie mich gesehen hat. Sie hat die Wahrheit immer etwas zurecht gebogen. Sie war eine Träumerin. Das ist sie schon immer gewesen. Nur hat sie es nicht geschafft ihren Traum zu leben oder ihr Leben zu einem Traum zu machen." Traurig blickte Allen den jungen Herzog von Freyd an. Wenn er nur wüsste... "Was meinst du? Meine Mutter - eine Träumerin? Das kann ich mir nicht vorstellen!" Shids blaue Augen glänzten und der Schein des Feuers malte rötliche Muster auf sein Gesicht. "Weißt du, deine Mutter hat immer viel geträumt. Ihre Träume und Hoffnungen haben ihr die Kraft gegeben den Weg zu gehen, den sie gehen musste. Ich meine, sie hat einen wunderbaren Sohn großgezogen." Der Ritter des Himmels lächelte seinen Sohn liebevoll an. "Und doch ist bei der Hochzeit mit dem Herzog etwas in ihr zerbrochen. Sie..." Allen stockte. "Was? Bitte, sag es mir. Ich muss es wissen." Shids Augen flehten Allen an, doch dieser schüttelte den Kopf. "Besser nicht. Ich habe schon viel zu viel gesagt..." Allens Stimme klang tonlos. "Bitte, Allen. Der Herzog ist nicht mein Vater gewesen, nicht wahr?" Es war mehr einen Feststellung als eine Frage. Shid sah Allen an und das war ihm Antwort genug. "Ich habe es geahnt," flüsterte der Junge leise. "Ich war ihm immer so unähnlich. Er... Er hat sie geliebt, ja. Aber mich... Er hat es versucht und konnte es nur, weil er in mir sie gesehen hat. Meine Mutter. Aber nicht mich. Ich war nie sein Sohn, obwohl er sich bemüht hat. Ich konnte nie so sein, wie er es wollte." Eine einzelne Träne rollte ihm über die Wange. Er starrte blicklos zu Boden. Es kam Allen wie eine Ewigkeit vor, bis der Herzog von Freyd endlich den Kopf hob und ihn ansah. "Wer ist mein Vater, Allen? Du weißt es, also sag es mir. Es ist mein Recht, es zu wissen. Ich muss es wissen." Kapitel 18: 18. Angriff ----------------------- Von einer Sekunde zur anderen brach die Hölle los. Pelzige Gestalten schossen auf die Lichtung. "Wir werden angegriffen!" Allen schrie auf und griff sein Schwert. Shid zog sein Zierschwert und stellte sich Rücken an Rücken mit dem Mann, der sein Vater war und es ihm doch nicht sagen konnte. Auch Shid schrie los. "Aufwachen! Wir werden angegriffen!" Endlich rührten sich die Schlafenden. Alexander warf sich als Erster ins Getümmel, dicht gefolgt von Van, Louvain und Lothian. Merle und Hitomi blinzelten noch verwirrt in den Schlachtlärm. "Was..." brachte Hitomi hervor, dann stürzte sich einer der Angreifer auf sie. Ein Werwolf, schoss es ihr in den Kopf. Sekundenbruchteile bevor er sie erreicht hatte, brach er mit blutigem Schaum vor dem Maul zusammen. Alexander hatte ihm von hinten das Herz durchbohrt. Sofort wandte sich der junge Krieger seinem nächsten Gegner zu. Immer mehr der Werwölfe strömten auf die Lichtung. Sie waren aufgerichtet gut zwei Meter groß. Mal liefen sie auf zwei Beinen, dann wieder auf allen Vieren. Sie waren mit dichtem grauen bis schwarzen Fell behaart und besaßen lange Krallen und scharfe Zähne. Die Wolfsmenschen von Lothians Art waren zwar mit ihnen verwandt, aber bei weitem nicht so wild und unberechenbar. Selbst in Lothians Volk waren die Werwölfe als Bestien bekannt. Sie liebten den Kampf und das Vergießen von Blut. Und genau diesem Drang gaben sie jetzt nach. Hitomi sprang auf. "Klettere in Escaflowne!" schrie ihr Van zu und musste sich gleich darauf gegen zwei Werwölfe auf einmal verteidigen. Hitomi hatte verstanden und erklomm den Guymelef. Sie saß vor dem Cockpit und zerrte hektisch an der Luke. Sie öffnete sich nicht. Hitomi sah nach unten und erkannte, dass sich drei der Bestien auf den Weg nach oben machten. "Geh auf. Bitte, bitte. Geh auf. Escaflowne. Lass mich jetzt nicht im Stich," stammelte sie. Die drei Angreifer kamen immer näher. Einer von ihnen stieß sich ab und sprang hoch. Er griff mit seinem Klauen nach Hitomi. Sie trat zu und stieß ihn runter. Er landetet mit einem Jaulen auf dem Boden und blieb gekrümmt liegen. Endlich sprang das Cockpit auf und Hitomi schlüpfte hinein. Sie konnte es gerade noch schließen, als die übrigen zwei oben ankamen. Wütend hieben sie auf den Guymelef ein, zogen sich aber schnell wieder zurück. Hitomi kauerte sich zusammen und wartete. Etwas anderes konnte sie ihm Moment nicht tun. Merle hatte es Hitomi mit Castillo gleich getan. Sie kauerte sich tief in das Cockpit des Guymelefs und hielt sich die Ohren zu. Die beiden Werwölfe auf Castillos Schultern gaben nicht auf und hämmerten weiter auf das Cockpit ein. Das Katzenmädchen quiekte vor Angst. Auf der Lichtung hatten die sechs Männer einen Ring gebildet und standen Rücken an Rücken. Sie verteidigten sich mit wilden Schwerthieben gegen die Werwölfe. Diese sprangen geifernd um sie herum und stießen immer wieder gegen den Schwertwall vor. Jedes Mal holten sie sich eine blutige Nase oder Schlimmeres, aber sie gaben nicht auf. Mittlerweile war der Nachschub aus dem Wald versiegt, aber es waren immer noch gut zwanzig Werwölfe, die auf der Lichtung hin- und hersprangen. Die meiste Zeit liefen sie auf den Hinterbeinen, doch immer wieder ließen sie sich auf alle viere sinken. Wenn sie dann vorwärts stürmten, wurden sie zu gefährlichen Geschossen, die problemlos jegliche Deckung durchbrechen konnten. "Wo sind Merle und Hitomi?" fragte Louvain unter Keuchen. Nicht nur der Löwenjunge spürte, wie ihm langsam die Kraft ausging. "In den Guymelefs," gab Van zurück und verpasste einem Werwolf einen harten Schlag auf die Vorderpfoten. Jaulend sprang dieser zurück. "Und mit so was bin ich verwandt!" knurrte Lothian angewidert und drängte wieder einen Angreifer zurück. "Man kann sich seine Familie nun einmal nicht aussuchen," gab Alexander trocken zurück. Folkens Sohn setzte sich gerade hartnäckig gegen drei Werwölfe zur Wehr. Zwei hatten sich in seine Hose verbissen und ein dritter hieb mit seinen Klauen auf ihn ein. Shid kam ihm schließlich zur Hilfe. Der junge Prinz stieß sein Schwert einem der kriechenden Werwölfe zwischen die Augen und dem zweiten mitten ins Auge. Heulend brachen beide zusammen. Der dritte ließ von Alexander ab und stürzte sich auf Shid, der sich zu weit aus dem Kreis gewagt hatte. Gierig schnappte er nach dessen Kehle. Alexander brach ihm mit einem beiläufigen Schwertstreich das Rückrad und versuchte Shid in die scheinbare Sicherheit des Kreises zurückzuziehen. Doch zu spät: Die Werwölfe hatten die Gelegenheit genutzt und die Formation aufgebrochen. Allen schlug sich mit zweien herum, die ihn hartnäckig umkreisten, Lothian und Louvain hatten vier um sich streifen und Van wurde gleich von sechs Wölfen immer weiter weggedrängt. Plötzlich sprangen drei Wölfe gleichzeitig auf Van zu. Er konnte dem von vorne noch den Schädel spalten, aber die anderen beiden, einer von der Seite und der andere von hinten, rissen ihn zu Boden. Sofort wurde ihm sein Schwert aus der Hand gerissen. Mit einem Knurren zerrten die Werwölfe Van mit sich. Sie bissen sich in seiner Kleidung fest und zogen ihn hinter sich her. Sobald er versuchte sich zu wehren, bissen sie fester zu. Er blutete aus mehreren tiefen Bisswunden, als er endlich aufgab und sich seinem Schicksal fügte. Sobald der kleine Trupp mit dem König von Farnelia die Lichtung verlassen hatte, war der Spuk vorbei. Die Werwölfe zogen sich in die Dunkelheit der Nacht zurück und ließen sieben erschöpfte Freunde auf der Lichtung zurück. Kapitel 19: 19. Unter Wölfen ---------------------------- Van wurde immer weiter in die Dunkelheit des Waldes gezerrt. Die Bisse, die ihm die Werwölfe andauernd zufügten, schmerzten höllisch. Irgendwann zog er es vor, sich überhaupt nicht mehr zu bewegen, sondern sich einfach seinem Schicksal zu ergeben. Vorläufig jedenfalls. Rücksichtslos rissen ihn die Werwölfe durch Dornen und Gestrüpp. Wenn sie ihm nicht ins Fleisch bissen, dann schrammten ihm Steine, Dornen und Zweige die Haut auf. Endlich kam die kleine Karawane zum Stillstand. Auf einer größeren Lichtung hielten die Werwölfe inne und zogen sich mit gefletschten Zähnen zurück. Ihre gelben Augen funkelten im Mondlicht bedrohlich. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie ihn jederzeit zerfetzen konnten. Und diesem Drang auch nur mit Mühe wiederstanden. Van richtete sich langsam auf und bewegte vorsichtig einen Körperteil nach dem anderen. Er musste wissen, wie schwer er wirklich verletzt war und wie seine Chancen sein würden. Jede seiner Bewegungen wurde mit einem heftigen Knurren begleitet. Er begriff, dass er wirklich in Schwierigkeiten war. Bei den Guymelefs herrschte helle Aufregung. Merle und Hitomi kletterten gerade von Escaflowne und Castillo herunter, während unten Alexander, Shid, Allen, Lothian und Louvain durcheinander redeten. "Verdammt!" fluchte Allen. "Was sollen wir bloß machen? Sie können schon sonst wo sein!" Louvain stimmte ihm grollend zu. "Diese Mistviecher! Wenn ich die in die Finger kriege..." Lothian lief derweil herum und suchte nach einem Überlebenden unter den Werwölfen. Vielleicht... Schließlich wurde er fündig. Einer der Wölfe regte sich noch und als der Wolfsjunge näher kam, wurde er mit einem schwachen Knurren begrüßt. "Ganz ruhig. Ich tu dir nichts," brummte Lothian. Der Werwolf knurrte ihn an und versuchte wegzurutschen. Lothian begriff, dass die Bestie ihn nicht verstehen konnte. Zögernd wechselte er ins Wölfische. Diese Sprache beherrschte er nur unzureichend, da in seinem Stamm hauptsächlich die menschliche Sprache gesprochen wurde. Nur die Alten konnten noch Wölfisch sprechen. Außerdem war ihm diese Sprach zuwider. Sie erinnerte ihn daran, dass es wenig gab, was ihn von den Tieren und diesen Werwölfen unterschied. "Noch einmal: ich tu dir nichts. Wenn du mir antwortest." Er ließ seine Worte auf den Werwolf einwirken. "Du sprichst unsere Sprache?" knurrte der Verletzte zurück. "Ich gehöre zur Familie." Lothian lächelte grimmig. Gleiche Familie. Und doch so große Unterschiede, dachte er mit einem Schaudern. Mittlerweile hatten auch die anderen bemerkt, was geschah und sich um die beiden Wölfe versammelt. "Warum habt ihr uns angegriffen?" fragte Lothian ruhig. "Befehl vom Rudelführer. Wir gehorchen. Sagte, wir sollen Jungen fangen." Lothian übersetzte die Antwort für seine Freunde und fuhr dann fort. "Warum?" "Hat Anführer gesagt. Keine Fragen." Der Werwolf hustete Blut. Es war unschwer zu erkennen, dass es mit ihm zu Ende ging. "Wohin? Wohin habt ihr ihn gebracht?" Ein Lächeln huschte über die Lefzen des Werwolfes. "Ehre über alles. Verrate nie das Rudel." Seine gelben Augen standen noch immer offen, als er seinen letzten Atemzug getan hatte. Lothian schloss ihm sanft die Augen und richtete sich dann mit einem Kopfschütteln auf. "Loyalität bis zuletzt. Er hat mir nicht verraten, wohin Van gebracht wurde. Allerdings scheinen sie ihn nicht töten zu wollen. Wenn der Anführer ihn haben wollte..." Der Wolfsjunge zuckte unsicher mit den Schultern. "Im Moment können wir kaum etwas tun. Es ist mitten in der Nacht und der Wald ist riesig. Wir müssen bis zum Morgen warten. Wir haben kaum eine Wahl. Wenn sie uns da draußen auflauern, dann sind wir so gut wie tot," erklärte Allen schließlich schweren Herzens. "Aber..." Hitomi starrte ihn entsetzt an. "Wir können Van doch nicht da draußen lassen! Allen, das kannst du nicht tun!" "Hitomi, wir haben keine andere Wahl," sagte nun auch Alexander und legte dem Mädchen vom Mond der Illusionen sanft den Arm um die Schulter. "Im Morgengrauen suchen wir ihn, aber jetzt..." Er schüttelte traurig den Kopf. "Ich würde auch am liebsten hinterher rennen. Van ist das Einzige, was mir an Familie noch geblieben ist. Ich werde ihn sicher nicht im Stich lassen. Aber wie sollen wir ihn retten, wenn wir uns umbringen?" Langsam nickte Hitomi und fügte sich dem Unvermeidbaren. Van kauerte sich möglichst klein zusammen. Er versuchte, so viele Werwölfe wie möglich im Blick zu behalten, hatte damit aber wenig Erfolg. Die Werwölfe schlichen in einem Abstand von knapp zwei Meter um ihn herum. Schließlich heulte einer von ihnen, ein wahrer Brocken von Werwolf, auf und sprang vor. Er kam direkt vor Van auf und schnappte zu. Bevor er Van jedoch erwischen konnte, fegte ihn ein heller Blitzstrahl bei Seite. "Verschwinde!" fauchte eine knurrende Stimme. Der Werwolf, der vorgesprungen war, verschwand mit einem Winseln in der Menge. Auf der anderen Seite der wimmelnden Werwölfe bildete sich eine Gasse und ein riesiger Werwolf schritt hindurch. Wie seine Artgenossen lief er auf allen Vieren, überragte sie aber dennoch um gut eine Schulterbreite. Sein Fell war nachtschwarz und während die Augen der anderen gelblich leuchteten, glühten seine in einem blutigen Rot. Er blieb direkt vor Van stehen und sah ihn an. "Jetzt, Drachenkind, bist du also doch in meiner Hand. Und dein Drache kann dich nicht mehr beschützen." Van blinzelte den Wolf von unten herauf an. Langsam rutschte er weiter nach hinten. "Wer bist du?" fragte er. Er versuchte mutig zu wirken, doch sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er hatte so große Angst, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Der Rudelführer legte den Kopf schief und zog langsam die Lefzen hoch. Er ließ spitze Raubtierzähne aufblitzen. "Innerlich bebst du vor Angst und doch bietest du mir die Stirn. Du bist ein wahrer Sohn des Drachen." Der Werwolf lachte spöttisch. "Wer bin ich wohl, hm? Der, den dich suchst. Der Manticor. Im Moment beherrsche ich diese Gestalt." Van musterte den Rudelführer und erkannt nun, dass dem Werwolf ständig Schauer über den Rücken jagten. Innerlich schien er sich zu winden und zumindest zu versuchen, Gegenwehr zu leisten. "Ein einfaches Gemüt. Leicht zu kontrollieren," kommentierte der Manticor bissig und sah auf Van herab. "Nun, Drachenjunge. Hier bist du also. Und hier wirst du sterben." "Warum hast du mich nicht direkt umgebracht?" erkundigte sich Van. "Die Chance hatten deine Wölfe hier doch schon längst. Warum noch nicht? Warum zögerst du?" Der Rudelführer sprang ihn mit einem Knurren an. Van fiel auf den Rücken. Das Gewicht des Werwolfes drückte ihn auf den Boden. Das Maul mit den funkelnden Zähnen näherte sich immer mehr. Van konnte den stinkenden Raubtieratem riechen. "Du bist der letzte deiner Art. Ist da eine gewisse Zeremonie nicht angebracht?" "Dann verrate mir warum. Warum willst du mich töten?" hielt Van dem Wolf entgegen und stemmte sich mit den Händen gegen seinen pelzigen Bauch. Abrupt sprang der Werwolf wieder zurück und setzte sich vor Van auf die Hinterbeine. "Du bist im Weg. Du gefährdest die Zukunft. Die Kinder." Der Wolf schüttelte den mächtigen Kopf. Van begriff plötzlich, dass der Rudelführer für den Manticor doch nicht so leicht zu kontrollieren war, wie er gesagt hatte. Der Wolf wehrte sich. Plötzlich konzentrierte der Manticor sich wieder auf sein Opfer. "Aber es spielt keine Rolle. Du wirst sterben. Jetzt!" Wieder sprang er vor, diesmal mit aufgerissenem Maul und drohendem Knurren. Van wollte ausweichen, konnte aber nirgendwohin. Die Masse des Werwolfrudels schloss ihn ein. Er spannte sich, bereit zum Kampf. Urplötzlich schoss eine schattenhafte Gestalt aus dem Himmel und packte Van an den Schultern. Er fühlte sich hart in die Höhe gerissen. Im gleichen Moment brach der Werwolf die Bewegung mitten im Sprung ab. Statt der Stimme des Manticors hörte Van nun die wahre Stimme des Rudelführers. Er jaulte jämmerlich. "Ich kriege dich noch, Drachenkind," fauchte der Manticor mit einem letzten Kraftakt wütend und seine Stimme hallte in Vans Ohren nach. Dann verlor der Manticor die Kontrolle über den Rudelführer und dieser sank erschöpft zu Boden. Kapitel 20: 20. Mit dem schwarzen Engel fliegen ----------------------------------------------- "Verdammter Wolf!" grollte die Stimme des Manticor durch die Ruinen. Tobend schlug er mit den Flügel und sein Skorpionsschwanz zuckte von einer Seite zur anderen. Er war aus der Trance erwacht, als der Rudelführer seinen Geist endgültig abgeschüttelt hatte. "Herr, was ist passiert?" fragte Auriana demütig. "Ich war zu schwach, um die Kontrolle zu behalten. Dabei hatte ich den Junge. Ich hatte ihn..." Der Manticor warf seine Kopf zornig in den Nacken und schüttelte die dichte Mähne. Das Fackellicht ließ seine schwarzen Augen noch dunkler glänzen. Blanker Zorn zeichnete sich in ihnen ab. "Was ist mit den Kindern?" Abrupt wechselte er das Thema. "Die Damen von Styx und von Lethe haben berichten lassen, dass die Kinder unnatürlich schnell wachsen. Sie entsprechen jetzt Kindern im Alter von fünf Jahren, und das, obwohl sie in Wirklichkeit erst wenige Monate alt sind. Euer Zauber funktioniert, mein Herr." Untertänig verneigte sich die blonde Prinzessin vor dem Manticor. Sie war sich bewusst, dass sie im Moment nichts tun durfte, was ihn in irgendeiner Form reizen konnte, wollte sie nicht das Opfer seines Zorns werden. "Gut, dann sind meine Kräfte wenigstens sinnvoll angelegt. Wie ist die geistige Entwicklung?" "Sie passt sich den körperlichen Bedingungen an. Bald werden beide alt genug sein. Alt genug, um den Kampf aufzunehmen und ihre Bestimmung zu finden." Ein Lächeln ließ die Raubtierzähne aufblitzen. "Gut, dann wird das neue Volk bald auferstehen..." Der Manticor lachte grollend. "Folken?!" Van wandt sich in den starken Armen, die ihn festhielten. "Folken? Bist du das?" "Wer denn sonst, kleiner Bruder?" lachte Folken Farnel und schwang sich noch weiter in den Himmel hinauf. Sie ließen die Bäume des Waldes hinter sich und tauchten in die Wolken des Nachthimmels ein. "Flieg selbst," sagte Vans Schutzengel schließlich und ließ seinen Bruder sanft los. Van breitete seine weißen Schwingen aus und hielt sich ruhig neben Folken in der Luft. "Warum bist du erst jetzt gekommen?" fragte Van. "Ich hätte dich schon eine ganze Weile früher gebrauchen können!" Folken lachte übermütig und seine braunen Augen leuchteten warm. Er schien innerlich zu strahlen und etwas Unwirkliches umgab ihn. "Vorher warst du noch nicht in Lebensgefahr. Außerdem vermute ich, dass der Drache diese Situation genutzt hat, um dir eine kleine Lektion zu erteilen. Du sollst wissen, mit wem du dich da anlegen willst." Wieder lachte Folken. Seine schwarzen Flügel peitschten mit ruhigen Schlägen durch die weichen Wolken. "Eine tolle Lektion," brummte Van. "Diese Bisswunden sind nicht gerade angenehm." Er strich sich über das verkrustete Blut auf seinen Armen und bewegte sich vorsichtig. Mit einem leichten Stöhnen ließ er es wieder und beschränkte sich auf den ruhigen Flügelschlag. Probeweise zog er die Beine an und stellte fest, dass auch sie höllisch schmerzten. "Ich glaube, die Lektion habe ich begriffen." Mühsam musste er Tränen des Schmerzes unterdrücken. "Hey, kleiner Bruder." Folken kam näher und sah ihn mit weichen braunen Augen an. "Ist es wirklich so schlimm?" Er sah besorgt aus. Van unterdrückte eine ungehaltene Entgegnung. Er verzog nur stumm das Gesicht. "Stimmt es eigentlich, dass man durch den Biss eines Werwolfs selbst zu einem wird?" erkundigte sich Van sorgenvoll. Die Erinnerung an alte Gruselgeschichten hatte ihn eingeholt. Folken musste lachen. "Natürlich. Und alles, was sie fressen wollen, wird dann ein Werwolf. Sonst noch was?" Schlagartig wurde er wieder ernst. "Ihr Speichel enthält ein leichtes Gift, das eine betäubende Wirkung entfaltet und das Blut dünner macht, damit die Opfer schneller verbluten. Außerdem verursachen ihre Bisse häufig Infektionen. Ansonsten sind sie aber harmlos." "Toll, und woher weißt du das?" "Erfahrungswerte." Folken grinste breit. "Nein, Scherz bei Seite. Ich weiß es einfach. Wahrscheinlich auch wieder die Kraft des Drachen." "Und der Drache wird langsam ungehalten!" mischte sich die donnernde Stimme des schwarzen Drachen plötzlich ein. "Du trödelst, Folken Farnel. Du solltest gar nicht so lange mit ihm reden. Heil ihn und bring ihn zurück. Sonst war das dein letzter Einsatz. Du kennst die Regeln." Für den Moment tauchte ein drachenförmiger Schatten sie in vollkommene Dunkelheit, dann war er wieder verschwunden und Folken sah seinen jüngeren Bruder traurig an. "Du hast ihn gehört. Komm her, Van. Ich nehme dir deine Schmerzen." Mit einem einzigen kräftigen Flügelschlag befand sich Van direkt vor seinem Bruder. Dieser breitete seine Arme aus und ein helles Leuchten erfüllte ihn auf einmal. Er lächelte Van an und warmes Licht strahlte aus seinen Augen. "Schließ deine Augen, Van." Dann hüllte er Van mit seinen Flügeln ein und das helle Licht umfasste sie beide. Als Folken die Umarmung seiner Flügel wieder löste, waren alle Verletzungen von Vans Körper verschwunden. Dankbar lächelte Van seinen Bruder an. "Danke, Folken." Der Engel mit den schwarzen Flügeln zuckte nur mit den Schultern. "Das ist meine Aufgabe, Van. Außerdem bist du doch mein Bruder. Und jetzt komm. Wir müssen dich zurückbringen." Er hielt Van seine Hand hin und dieser ergriff sie. Hand in Hand näherten sie sich wieder dem Wald an und glitten über den Baumwipfeln dahin. Nahe der Lichtung, auf der sie schemenhaft die Guymelefs erkennen konnten, gingen sie runter. Folken verabschiedete sich noch mit einer liebevollen Umarmung von Van, doch ehe Van noch irgendetwas sagen konnte, schoss sein älterer Bruder schon in den Nachthimmel hinauf und war verschwunden. "Bis zum nächsten Mal!" rief er Van noch lachend zu. Die sieben übrig gebliebenen Reisegefährten saßen um das Lagerfeuer und starrten stumm in die Flammen. Keiner von ihnen konnte schlafen. Zu groß waren die Sorgen, die sich jeder um Van machte. Ein plötzliches Knacken im Gebüsch ließ sie aufhorchen. Sofort sprangen alle auf, Schwerter wurden gezogen. "Passt auf. Vielleicht kommen sie zurück," raunte Allen leise und angespannt. "Nicht ganz," entgegnete Van und trat in den Lichtschein. "Aber es freut mich zu sehen, dass ihr mich vermisst habt." "Van!" Hitomi rannte los und fiel ihm um den Hals. Van erwiderte die stürmische Umarmung liebevoll. "Wie...?" stammelte Hitomi. "Ich hatte einen Schutzengel," lächelte Van. "Folken hat mich da rausgeholt. Der Drache hat ihn mir sozusagen als ,Schutzengel' zugeteilt..." Langsam schritt er mit Hitomi im Arm zum Feuer herüber und ließ sich nieder. "Der Manticor hat die Werwölfe geschickt," ließ er die Worte in die Stille fallen, dann begann er zu erzählen. Van redete lange, vor allem die Sache mit Folken musste er möglichst genau erklären. Als er schließlich geendet hatte, ergriff Alexander das Wort. "Oh Mann," stöhnte er. "Mit was haben wir uns das bloß angelegt?" "Du kannst jederzeit umkehren," meinte Van langsam. "Das kann jeder von euch. Nur Hitomi und ich können es nicht. Uns sucht er und wie er gerade wieder bewiesen hat, kann er uns auch finden." "Wir lassen euch aber nicht im Stich!" Der empörte Protest kam sofort von allen Seiten. Allen, Shid, Lothian, Louvain und auch Alexander blickten Van empört an. Nur Merle sah etwas unglücklich drein. "Was ist mit dir, Merle?" fragte Louvain schließlich behutsam. "Ich habe Angst," erklärte das Katzenmädchen verlegen. "Todesangst. Aber ich werde mitkommen. Ich lasse dich doch nicht im Stich, Van. Die einzige Familie, die ich je kannte." Sie rang sich ein mühsames Lächeln ab. Louvain strich ihr zärtlich über den Kopf. Er begriff, was für ein Opfer sie bereit war zu machen. Hitomi verfolgte die Diskussion schweigend und blickte nachdenklich ins Feuer. Was war wohl das Nächste, auf das sie sich vom Manticor gefasst machen mussten? Kapitel 21: 21. Weiter ---------------------- Sie waren letztlich bis zum nächsten Morgen aufgeblieben. Obwohl die Gefahr durch die Werwölfe gebannt schien, hatte keiner der Reisegefährten wirklich Ruhe finden können. Hin und wieder war einer an der Feuerstelle eingenickt, aber dann doch recht schnell wieder aufgeschreckt. Hinzu kamen die schmerzhaften Bisswunden der Werwölfe, die fast jeder von ihnen davongetragen hatte. Überraschend hatte sich Alexander als recht erfahren im Umgang mit Verletzungen jeder Art gezeigt, sodass es letztlich Folkens Sohn oblag alle Bisswunden zu verarzten. Am nächsten Morgen machten sie sich müde und verschlafen auf den Weg, weiter zur Höhle des Löwen. Weiter zur Rückseite Gaias. Sie nahmen wieder die alte Reiseformation ein. Escaflowne übernahm diesmal die Spitze, gefolgt von Lavender und Castillo. Das Schlusslicht und gleichzeitig die Rückendeckung bildete Scheherazade. Allen hätte viel dafür gegeben, wenn er nicht wieder Shid bei sich gehabt hätte, doch er konnte schlecht sagen, dass er ihn nicht sehen wollte. Nicht bei dieser kleinen Gruppe. Im Nachhinein fragte sich Allen, ob es gut gewesen war, sich mit Shid am Lagerfeuer so zu unterhalten. Der Junge hatte offenbar schon das Gefühl gehabt, dass der Herzog von Freyd nicht sein Vater gewesen war. Und jetzt... Jetzt wusste Shid auch, dass Allen wusste, wer sein wirklicher Vater war. Oh ja, dachte Allen bitter, und was ist, wenn du die Wahrheit hörst? Was ist dann? Ändert sich irgendetwas? Ich weiß ja noch nicht einmal, ob das für mich etwas ändern würde. Doch, wahrscheinlich schon, aber... Verdammt! Ich weiß es einfach nicht! Allen marschierte mit Scheherazade wie in Trance weiter. Er war völlig in seinen Gedanken versunken. "Allen?" Shid blickte das Cockpit des Guymelefs aus großen blauen Augen an. "Gibst du mir jetzt eine Antwort auf meine Frage von gestern Abend?" Allen fühlte sich unsanft aus seinen Gedanken gerissen. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, was Shid meinte. "Mein Prinz," sagte er schließlich, "Das ist jetzt weder die Zeit noch der Ort, um über so etwas zu sprechen. Ich verspreche dir, dass ich es dir irgendwann sagen werde, Shid, aber nicht hier und nicht jetzt." Nachdenklich blinzelte der Herzog von Freyd das Cockpit des Guymelefs an. Er fand es bedauerlich, dass er im Moment nicht Allens Gesicht sehen konnte. Dann hätte er vielleicht eher verstanden, wie er mit dieser Aussage umgehen sollte. Schließlich nickte er langsam. "Versprichst du mir das, Allen?" fragt er mit tonloser Stimme. "Das verspreche ich dir, Shid. Ich schwöre es bei meinem Leben und bei allem, was mir heilig ist." Merle versuchte, es sich auf Castillos Schulter gemütlich zu machen. Sie war müde und konnte nur mit Mühe die Augen offen halten. Dennoch weigerte sie sich hartnäckig, sich in Castillos Hand zusammenzurollen und etwas zu schlafen. "Merle, was ist im Moment eigentlich los mit dir?" fragte Louvain seine Freundin schließlich besorgt. "Was soll schon sein?" murrte das Katzenmädchen. "Wir befinden uns in einer Himmelfahrtsmission. Werwölfe haben uns angegriffen. Und das war wahrscheinlich noch das Harmloseste! Wer weiß, was uns dieser Manticor noch auf den Hals hetzt!" Energisch schüttelte Merle ihren Kopf. "Ich will nicht hier sein, Louvain. Ich will es einfach nicht. Ich möchte in Farnelia sein, gemütlich am See sitzen, Spaß haben. Ich möchte alles, aber nicht hier sein. Aber..." Sie stockte und blickte traurig nach vorne zu Escaflowne und anschließend direkt auf Castillos Cockpit. "...hier sind nun einmal die Menschen, die mir am wichtigsten sind. Die Menschen, die ich liebe. Ich habe Angst, ja. Aber ich kann euch doch nicht einfach im Stich lassen. Das geht einfach nicht. Ich meine, Van ist die einzige Familie, die ich je gekannt habe. Ihn kann ich unmöglich verlassen. Und Hitomi ist meine einzige wahre Freundin. Und du..." Sie lachte verlegen. "Ich liebe dich, Louvain. Wie könnte ich dich da im Stich lassen?" "Ach, Merle..." Louvain blinzelte in seinem Cockpit mühsam die aufkommenden Tränen aus den Augen. Sein kleines Katzenmädchen hatte ihn unglaublich gerührt. "Merle, du weißt gar nicht, wie stark du bist. Und ich liebe dich, meine Kleine. Mit jeder einzelnen Faser meines Herzens und meiner Seele." Jetzt war es an Merle mühsam zu schlucken und gegen die Tränen der Rührung anzukämpfen. Sie streichelte liebevoll über Castillos Schulter und sah wieder mit einem Lächeln in die Zukunft. Lavender hatte die Hand ausgestreckt, sodass Alexander darauf stehen und seine Erzählungen für Lothian möglichst anschaulich darstellen konnte. Der Wolfsjunge hatte nämlich entdeckt, dass Alexander über ein unglaubliches Repertoire an Abenteuergeschichten mit Rittern, Dieben, Prinzessinnen und Ähnlichem verfügte. Jetzt ließ er sich von Alexander alles Mögliche erzählen, während er nebenbei noch halbherzig auf den Weg achtete. Auch Alexander machte diese Art der Unterhaltung Spaß. Folkens Sohn wirkte zwar meist sehr zurückhaltend und in sich gekehrt, doch wenn er Anerkennung fand, taute er regelrecht auf. Plötzlich zuckte Alexander zusammen und wirbelte herum. Sein Blick streifte die Bäume rechts und links des Weges. "Da war was," raunte er Lothian zu, der sofort stehen blieb. Hinter ihm wurden nun auch Louvain, Merle, Allen und Shid aufmerksam. "Was ist los?" fragte Merle schließlich neugierig. "Ich weiß nicht," gab Alexander langsam zurück. "Da ist irgendetwas in den Bäumen. Menschliche Gestalten." Dann wirbelte er herum und begriff, was er vollkommen vergessen hatte. Van! "Van! Hitomi!" Alexander schrie auf. Escaflowne war in dem Dickicht kaum noch zu sehen. Der Guymelef von Isparno blieb stehen und drehte sich behände um. "Was ist?" rief Van zurück. "Da ist was in den Bäumen!" brüllte Lothian zurück. Mit federnden Schritten kam Escaflowne zurückgerannt. "Wo?" erkundigte sich Hitomi und reckte sich auf Escaflownes Schulter. Schließlich erspähte sie eine verschreckte Affensippe, die sich in den Baumwipfeln zusammenkauerte. "Na, ihr seid mir Helden," lachte sie. "Ihr habt ein paar verschreckte Affen aufgestöbert!" Alexander lief knallrot an. Verlegen zuckte er mit den Schultern. "Nach der letzten Nacht..." murmelte er leise. "Besser einmal zu viel vorsichtig, als einmal zu spät," meinte Allen erleichtert. "Lasst uns weiterziehen und möglichst bald einen Rastplatz finden. Wir können alle etwas Schlaf gebrauchen." "Vor allem, wenn man schon Werwölfe auf Bäumen sieht," feixte Merle. Alexander warf ihr einen wütenden Blick zu und verdrückte sich dann aus ihrem Blickfeld. Der Zwischenfall war ihm unendlich peinlich. Kapitel 22: 22. See der Träume ------------------------------ Bald stießen sie auf ein schmales Tal in der hügeligen Gegend. Inmitten des Tals gab es einen kreisrunden See, der von einer saftigen Wiese eingerahmt wurde. Die vier Guymelefs kamen nebeneinander auf einer Hügelkuppe zum Stehen und die Freunde blickten hinunter. "Ist das schön," meinte Merle staunend. Keiner widersprach ihr. "Ein perfekter Rastplatz," lächelte Alexander. "Und man kann sich endlich mal wieder waschen," erkannte Hitomi den praktischen Nutzen. "Also los, worauf warten wir dann noch?" Lothian lief als Erster den Hang hinunter. Einige Minuten später hatten sie den See erreicht. Die Passagiere sprangen von den Guymelefs hinunter und die Piloten kletterten aus den Cockpits. Kurz wurde die Umgebung erkundet, aber dann wurde der Reiz des glitzernden Wassers viel zu groß. Hitomi hatte eine kleine Bucht entdeckt und verkündete nun: "Hier ist der Badeort für die Mädels." Kurzerhand schubsten Merle und sie die Jungen und Männer bei Seite, bis diese sich schließlich zurückzogen. "Lassen wir ihnen ihre Privatsphäre," grinste schließlich Van und deutete auf den See. "Wir wollen uns schließlich auch entspannen. Wer hält Wache?" "Ich mach das schon," meinte Louvain. "Dann geh ich eben heute Abend schwimmen. Das macht auch keinen so großen Unterschied mehr." "Du bist ein Schatz," grinste Shid und streifte nun Hemd und Hose ab. Wenig später tauchten fünf ausgelassene junge Männer in den See ein. An anderer Stelle taten Merle und Hitomi es ihnen gleich. "Ist das schön!" jauchzte das Katzenmädchen begeistert und spritzte Hitomi einen Schwall Wasser herüber. "Hey!" Das Mädchen vom Mond der Illusionen wehrte sich und schnell war eine regelrechte Wasserschlacht im Gange. Als sie schließlich innehielten, ließ sich Merle langsam im Wasser treiben. "Wann waren wir nur das letzte Mal so sorglos?" fragte sie nachdenklich. "Es scheint mir eine Ewigkeit her zu sein..." Hitomi blickte sie nachdenklich an. "Ja..." Irgendwann hatten alle Badenden schließlich genug und trudelten nach und nach an dem Lagerfeuer ein, das Louvain in weiser Voraussicht entzündet hatte. Er hatte auch begonnen das Abendessen in Form eines Eintopfes zu kochen. "Du bist ein Engel!" Merle fiel dem Löwenjungen stürmisch um den Hals und rückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund. "Weiß ich doch," lachte er und streichelte Merle zärtlich über ihren rosafarbenen Haarschopf. Nach dem Essen saßen alle entspannt um das Lagerfeuer herum. Die Ersten lehnten sich zurück und verblüfft bemerkte Louvain, dass einer nach dem Anderen einschlief. Irritiert rüttelte er seinen Freunde einen nach dem anderen an den Schultern, bekam aber niemanden wach. "Hey, aufstehen!" knurrte er ungehalten und zerrte Lothian fest an den spitzen Ohren und schlug dem Wolfsjungen schließlich hart ins Gesicht. Dieser schnarchte aber seelenruhig weiter und macht keinerlei Anstalten aufzuwachen. Endlich gab Louvain auf und setzte sich in Gras. "Verdammt noch mal! Leute, das könnt ihr nicht machen!" Ratlos riss er ein paar Grasbüschel aus und warf sie durch die Luft. Warum waren sie nur auf einmal so müde geworden? Es konnte nicht an den Reisestrapazen liegen. Er war zwar auch etwas kaputt, aber noch nicht derart müde. Der See... Sein Blick fiel auf den schimmernden See. Das Licht der langsam sinkenden Sonne brach sich schillernden auf der leicht gewellten Oberfläche. Der See!? "Man nennt ihn auch See der Träume," sagte eine sanfte Stimme hinter ihm. Der Löwenjunge wirbelte erschrocken herum und zog noch in der gleichen Bewegung sein Schwert. Eine kleine, schillernde Gestalt schwebte vor ihm in der Luft. Wenn es hoch kam, war sie gerade einmal halb so groß wie Merle. Das menschlich anmutende Wesen schimmerte gänzlich Silbern. Das betraf sowohl Haut und Haare, als auch Kleidung und Flügel. "Was bist du?" fragte Louvain entgeistert. "Hast du etwa noch nie von uns gehört?" Das Lachen der Gestalt klang glockenhell. "Ich bin eine Elfe. Farla ist mein Name. Und mit wem habe ich die Ehre?" "Louvain," gab der Löwenjunge zurück, hielt das Schwert aber immer noch angespannt in der Hand. "Und wer sind sie?" Die Elfe deutete mit einer umfassenden Bewegung auf die Schlafenden. "Meine Freunde," gab Louvain knurrend zurück. "Was ist mit ihnen passiert?" "Ich habe euch beobachtet. Sie sind in dem See geschwommen. Jetzt wirkt das Wasser. Der See hat ihnen die Träume gebracht. Deshalb heißt er ja auch See der Träume." Farla lachte leise. "Und wie bekomme ich sie wieder wach?" "Gar nicht. Sie müssen erst zu Ende geträumt haben." Die Elfe schüttelte angesichts so viel Unwissenheit den Kopf. "Und wie lange dauert das?" Louvain bemühte sich, nicht in Panik zu verfallen. Er stellte sich gerade vor, was passiert wäre, wenn er mit in den See gegangen wäre und nicht... Er dachte diesen Gedanken lieber nicht zu Ende. "Das ist unterschiedlich." Die Elfe zuckte mit den Achseln. "Im Dorf hatten wir eine, die über ein Jahr geträumt hat und erst dann aufgewacht ist. Weißt du, man kann sich in seinen Träumen verlaufen. Und wenn das erst einmal passiert ist..." Entsetzt starrte der Löwenjunge Farla an. "Und was mache ich jetzt?" Verzweifelt starrte er seine schlafenden Freunde an. "Wir können euch in mein Dorf bringen. Wir können über euch wachen. Und vielleicht... Vielleicht kann unsere Priesterin euch helfen. Sie kann auf der Traumebene wandern und findet möglicherweise deine Freunde. Es wäre eine Chance..." Langsam ließ Louvain das Schwert sinken. "Und woher weiß ich, dass ich dir trauen kann?" Belustig sah die Elfe ihn an. "Hast du eine Wahl?" Sie legt den Kopf schief und versprach dann, bald wiederzukommen. Mit schwirrenden Flügeln verschwand sie im Wald. Kapitel 23: 23. Im Traum ------------------------ Hitomi träumte... Sie lief durch eine weite Graslandschaft. Die Sonne schien und der Wind spielte mit ihrem Haar. Van kam ihr entgegengelaufen und mit einem Lachen fielen sie sich in die Arme und wirbelten herum. Hand in Hand liefen sie durch das Gras und Hitomi fühlte sich einfach nur glücklich. Keine Sorgen. Keine Gedanken. Alles war einfach. Nur sie und Van. Plötzlich verdunkelte ein schwarzer Schatten die Sonne. Die beiden blieben stehen und blickten zum Himmel. Ein riesiger schwarzer Drache setzte zur Landung an. "Weg!" rief Van entsetzt. "Er darf uns nicht finden! Niemals!" "Aber..." Verstört sah ihn Hitomi an. "Ich kenne ihn. Du kennst ihn doch auch. Er ist ein Freund." "Nein! Er nimmt uns alles! Er zerstört..." Van zerrte sie mit sich, doch Hitomi wehrte sich. "Nein. Ich will mit ihm reden, Van," erklärte sie energisch. "Dann verlieren wir alles... Die Welt zerbricht..." Van sah sie mit traurigen Augen an. Langsam löste er sich auf, wie Schaum in der Sonne. Das Gleiche geschah mit der Graslandschaft. Zurück blieb eine undefinierbare graue Ebene über die wabernde Nebelschleier zogen. Hitomi drehte sich zu dem Drachen um und stellte ohne Überraschung fest, dass dieser noch da war. "Du hast die Illusionen erkannt, ohne dass ich etwas sagen musste. Ich bin beeindruckt." Seine gelben Augen lächelten Hitomi sanft an. "Er wollte nicht mit dir reden." Traurig sah Hitomi den Drachen an und trat auf ihn zu. "Was ist das hier?" "Ihr seid im See der Träume geschwommen. Er zeigt euch, was ihr sehen wollt. Eure tiefsten Wünsche. Eure größten Ängste. Und manchmal... Manchmal schickt er auch Bilder von der Realität und lässt euch sehen, was ihr endlich sehen müsst." Der Drache lächelte sanft. "Er hat dir gezeigt, was du dir von Herzen wünscht. Endlich sorglos zu sein. Zusammen mit dem Drachenreiter. Und doch..." Er legte den Kopf schief und schenkte Hitomi einen liebevollen Blick. "Und doch war es für dich nur ein Moment. Du weißt, dass es so nicht sein kann. Deshalb hast du die Illusion erkannt." Langsam nickte Hitomi. "Was ist mit den anderen?" "Du musst sie finden. Sie drohen sich in ihren Träume zu verlaufen. Wenn das einmal geschehen ist, ist es schwer sie wieder zu finden und zurückzubringen." Der Drache breitete seine Flügel aus und lächelte Hitomi erneut an. "Finde sie, Mädchen vom Mond der Illusionen. Finde deine Freunde." Er schwang sich in den Himmel und Hitomi blieb allein zurück. In Sekundenbruchteilen war der schwarze Drache in den grauen Nebelschleiern verschwunden. "Und wie tue ich das?" flüsterte Hitomi leise und ratlos. Die Priesterin der Elfen sah Louvain ernst an. Sie war gut einen Kopf größer als Farla, die Elfe, die der Löwenjunge zuerst kennen gelernt hatte, ähnelte ihr ansonsten jedoch sehr. Statt eines silbernen Lichtschimmers umgab die Elfenpriesterin jedoch ein sanftes, goldenes Licht. Louvain hatte schon Farla als leuchtend empfunden, doch die Aura der Priesterin übertraf sie noch um einiges. Die Priesterin der Elfen leuchtete nicht nur, sondern sie strahlte regelrecht mit der Sonne um die Wette. "Ich werde jetzt das Wasser trinken und zu deinen Freunden gehen. Zuerst versuche ich es mit dem Mädchen." Sie deutete auf Hitomi. "Du hast gesagt, dass sie besondere Fähigkeiten hat, deshalb werde ich sie am ehesten finden können. Wenn sie begabt ist, dann kann sie mir helfen. Ansonsten..." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich kann dir nichts versprechen, Löwenjunge, aber ich tue, was ich kann." Die Elfenpriesterin trank das Gefäß mit Wasser in einem Zug leer und sank neben Hitomi zu Boden. Einen golden schimmernde Gestalt taucht vor Hitomi auf. Verblüfft starrten sich die beiden gegenseitig an. "Die reine Ebene. Noch nie habe ich sie in einem Traum vorgefunden." Die glockenhelle Stimme der Elfe durchbrach die Stille. "Die Illusion ist zerbrochen," erklärte Hitomi dem Lichtwesen. Die Elfenpriesterin lachte auf. "Dann verstehe ich. Du bist das Mädchen, das mir der See so oft angekündigt hat. Ich habe dich oft gesehen, doch niemals dein Gesicht. Und doch... Ich wusste, dass du kommen würdest. ,Auf der grauen Ebene steht sie. Nach der zerbrochenen Illusion...' So hat mein Traum es mir immer wieder gesagt. Und hier stehen wir nun. Wie ist dein Name, Mädchen?" "Hitomi. Und deiner?" Die Elfe lachte auf. "Mich hat lange keiner mehr danach gefragt. Faisala ist mein Name. Und nun komm. Deine Freunde brauchen uns." Die Elfe streckte die Hand aus und lächelte Hitomi an. Vorsichtig ergriff das Mädchen vom Mond der Illusionen die ausgestreckte Hand der Elfe. "Zu wem gehen wir zuerst?" fragte die Elfe lächelnd. "Zu Van," erklärte Hitomi entschlossen. "Gut, dann konzentriere dich auf ihn..." Langsam traten sie vor und verschwanden im grauen Nebelschleier. Van träumte... Er stand vor dem Altar des Tempels. Die Basaltstatue des Drachen sah ihn aus Rubinaugen liebevoll an. Nervös sah er sich um. Dann erklang die Musik und Hitomi betrat den Tempel. Die Hochzeitsgäste standen auf und zollten der Braut ihren Respekt. Van strahlte Hitomi an. Sie trug ein wundervolles, weißes Kleid und sah unglaublich schön aus. Sie lächelte Van zärtlich an. Anschließend glitt sein Blick über die erste Reihe. Sein Vater und seine Mutter sahen ihn genauso liebevoll an, wie auch sein Bruder Folken. Daneben saßen Vargas und die anderen alten Kämpfer. Van lächelte. Sein Glück war vollkommen. Und doch... Langsam stahl sich eine Träne über seine Wange. "Das kann nur nicht sein..." flüsterte er leise. "Es kann nicht sein..." "Gut, dass du das siehst." Die helle Stimme der Elfe riss ihn aus seiner Traurigkeit. Van drehte sich um und registrierte beiläufig, wie sich das Bild um ihn herum auflöste. Hinter ihm schwebte die Lichtgestalt der Elfe und daneben stand Hitomi und lächelte ihn an. "Wach auf, Van," sagte das Mädchen sanft und streichelte ihm über die Wange. "Ich komme bald nach." Auch Van verschwand nun und Hitomi sah die Elfe an. Die Priesterin lächelte schief. "Das war noch einfach. Aber die Schwierigkeiten kommen sicher noch. Wer jetzt?" "Allen." Wieder fassten sich die beiden an den Händen und verschwanden im Nebel. Van riss die Augen auf und sprang ruckartig hoch. Sofort war Louvain bei ihm und fasste ihn beruhigend an der Schulter. "Was war das?" fragte Van aufgeregt. "Der See. Der See ist schuld." "Wo sind wir?" "Bei den Elfen. Sie haben uns aufgenommen. Und ihre Priesterin versucht, euch alle zurückzuholen. Und zumindest bei dir hatte sie ja Erfolg." Louvain lächelte erleichtert. "Wenn du wüsstest, was ich mir für Sorgen gemacht habe..." Van hörte ihm schon gar nicht mehr zu und blickte auf die schlafende Hitomi. Komm auch wirklich zurück, Hitomi. Bitte... flehte er stumm. Kapitel 24: 24. Traumreisende ----------------------------- "Du wusstest es! Die ganze Zeit über! Ich hasse dich! Ich hasse dich dafür, Vater..." Das letzte Wort spie Shid angewidert aus. "Verschwinde aus meinem Leben!" Allen stand fassungslos daneben und wusste nicht, was er sagen sollte. Dann löste sich Shid allmählich auf und der Ritter fand sich in einer gewandelten Szenerie wieder. Milerna, Drayos und Ayres erwartete ihn an dem sonnenbeschienen Strand von Asturia. Alle drei winkten ihm fröhlich zu. Er lief auf seine Familie zu, doch bevor er sie erreichen konnte, schossen Zaibacher Flüssigmetallstreben aus dem Wasser. Alle drei wurden schnell und urplötzlich durchbohrt und sanken zu Boden. "Nein!" Allen schrie gellend auf und sprang vor. "Siehst du," raunte die Elfe Hitomi leise zu. "Das ist ein Traum, der aus Ängsten gewebt ist. Lass uns ihn schnell erlösen. Es ist ein Albtraum." Die Elfe schauderte. Hitomi nickte zustimmend und blickte Allen mit traurigen Augen an. Langsam hob sie die Arme und konzentrierte sich. Die Illusion zerriss. Die leblosen Körper verschwanden, ebenso das Meer. Zurück blieb nur Allen. "Allen." Hitomi legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. "Wach auf. Das ist nicht die Wirklichkeit." Der blonde Ritter sah Hitomi dankbar an und verschwand dann ebenfalls. "Du weißt, dass du nicht über die Träume der anderen reden darfst, nicht wahr?" fragte Faisala mit einem Lächeln. "Ja. Ich spüre, dass das hier das Privateste, Intimste ist, was ein Mensch hat. Es ist schon eine unglaubliche Verletzung, dass ich überhaupt durch ihre Träume wandere. Aber das lässt sich nun einmal nicht ändern. Wir müssen ihnen schließlich helfen." Hitomi seufzte leise. "Ich wünschte, ich hätte eine so begabte Novizin. Du weißt genau, was du zu tun hast. Du kannst selbst Dinge tun, die ich nicht kann. Woher...?" Die Elfenpriesterin ließ den Rest ihrer Frage offen, doch Hitomi hatte auch so verstanden. "Ich spüre es einfach. Ich weiß, wie ich mich verhalten muss. Wie und wann ich die Illusionen zerreißen kann. Und wie wir durch die Träume wandeln." Sie zuckte mit den Schultern. "Der Drache hat mich schon einmal mit durch die Träume genommen, damit ich mich von meiner Familie verabschieden konnte. Vielleicht daher..." Nachdenklich sah die Elfe sie an. "Möglich," räumte Faisala ein. "Aber nun weiter." Shid sah Allen mit großen Augen an. "Du musst es wissen, Shid," sagte der Ritter langsam. "Dein Vater ist... Ich bin dein Vater..." Der Herzog von Freyd sah ihn überglücklich an. Das war genau das, was er sich immer gewünscht hatte. Allen als Vater. Lachend umarmte er seinen neugefundenen Vater und fühlte sich endlich wieder nicht mehr allein. "Eine Vision!" Die Elfe schaute erstaunt auf Shids Traum. "Der See schickt ihm eine Vision. Das ist mehr als nur selten. Das passiert so gut wie nie." "Vielleicht erkennt der See, wie sehr sein Herz leidet," mutmaßte Hitomi. "Möglich. Kannst du den Jungen auf den richtigen Weg bringen?" "Natürlich." Hitomi trat aus den Nebelfeldern, die sie verborgen hatten und ging auf Shid zu. Die Traumvorstellung von Allen löste sich langsam auf. "Nur ein Traum?" Shid blickte Hitomi kein bisschen überrascht an. Er sah unendlich traurig aus. "Kein Traum." Hitomi lächelte liebevoll und strich ihm über die Stirn. "Aber auch nicht die Wirklichkeit. Eine Möglichkeit. Frag Allen. Stell ihm die Frage, ob er dein Vater ist und er wird dir nicht mehr ausweichen. Das verspreche ich dir. Und nun, wach auf, Shid. Wach auf." Langsam verblasste die Gestalt des Prinzen und wieder einmal standen Hitomi und die Elfe auf der grauen Ebene. "Noch drei," sagte die Priesterin mit einem Lächeln. "Aber ich fürchte, dass es nicht unbedingt so leicht bleibt. Es warten noch drei starke Seelen auf uns." Lothian gefiel überhaupt nicht, wo er war. Sofort fühlte er, dass er sich in einem Traum befand und hatte nicht vor, sich in irgendeiner Hinsicht zu fügen. Es interessierte ihn nicht, dass er in diesem Traum ein Ritter war, eine wunderschöne Wolfsfrau zur Seite hatte und Escaflowne steuern durfte. "Ein Traum! Nichts als ein Traum!" Er rauschte aus dem Thronsaal von Farnelia und hinterließ Verwirrung. Die Traumgestalten der Wölfin und Vans blickten ihm nach. Lothian rannte nach draußen und stieß radikal um, was ihm in den Weg kam. "Wo bin ich?" heulte er schließlich in den Himmel. Die Szene wechselte und er stand im Wald des Grenzgebietes. Auf der einen Seite lag Farnelia und auf der anderen Seite das, was einmal Sarya gewesen war. Wölfe umkreisten ihn. Wolfsmenschen, Werwölfe und Wölfe. Der Wolfsjunge sah sie desinteressiert an. "Verschwindet," knurrte er und stieß mehrere bei Seite. "Du bist einer von uns," schmeichelte eine wunderhübsche Wolfsfrau und lächelte ihn an. "Führe uns, Lothian. Führe uns." "Verschwindet!" Lothian wehrte sich wieder gegen die Traumbilder. So verführerisch diese Träume bisher waren, er wollte sich nicht fügen. So war die Realität nicht. So nicht. Und etwas anderes als die Wirklichkeit wollte er nicht. Er war zu bodenständig um sich den Träumen hinzugeben. Er heulte noch einmal zornig auf, dann zerriss die Vision. "Er hat es alleine geschafft." Die Elfe blickte den Wolfsjungen vollkommen verblüfft an. "Eine wahrlich starke Seele." Lothians Blick wanderte von Hitomi zu der Lichtgestalt und wieder zurück. "Ihr seid nicht schon wieder ein Traum, oder?" Seine gelben Augen funkelten herausfordernd. "Nein," erklärte Hitomi. "Wir versuchen euch aus der Traumwelt zu retten, die der See geschaffen hat. Es sind gefährliche Träume, deren Ende unbestimmt ist und in denen man sich verirren kann." Lothian nickte, als wenn er nichts anderes erwartet hätte. "Ich habe die unterschwellige Bedrohung gespürt. Nun, ich denke, es ist jetzt an der Zeit aufzuwachen. Bis später." Er winkte den beiden noch einmal zu und verblasst dann langsam. Die Elfe schüttelte langsam den Kopf. "Eine unglaublich starke Seele. Wer könnte sie nur in einem solchen Jungen erwarten... Nun gut, die letzten beiden brauchen uns." "Ja, gehen wir weiter zu Merle. Und dann zu Alexander." Auf der Rückseite Gaias schlief der Manticor. Er träumte und spürte im Traum eine seltsame Schwingung. "Ein Drache. Ein Kind des Drachen auf der Traumebene. Ein Kind, das ich noch nicht kenne..." Ein grausames Lächeln huschte über seine Lefzen. "Ich werde dich finden, kleiner Drache. Ich finde dich..." Er bot all seine Kräfte auf und glitt langsam durch die Dimensionen der Traumebene davon. Kapitel 25: 25. Merles Traum ---------------------------- Merle hatte sich auf dem Boden zusammengekauert. Um sie herum tobte die Schlacht. Immer wieder sprangen Guymelefs über sie hinweg und Schwerter sausten knapp an ihr vorbei. Sie zitterte vor Angst und hatte keinen Mut, sich zu rühren. Sie presste die Hände auf die Ohren und weinte leise in sich hinein. "Merle!" Ein gellender Schrei erreichte sie. "Louvain!" Sie hob den Kopf und sah, wie Castillo, Louvains Guymelef, gerade auseinander brach. "Louvain!" Das Katzenmädchen sprang auf und rannte los. Alle Angst war vergessen. Jetzt galt allein ihre Sorge um Louvain. Sie tauchte zwischen den kämpfenden Gestalten hindurch und erreichte den Guymelef. Zitternd blieb sie vor ihm stehen. "Louvain?" fragt sie leise. Blut tropfte aus den Trümmern. Eine von Louvains Händen ragte hinaus und vorsichtig ergriff sie sie. "Louvain?" Sie fühlte vorsichtig den Puls am Handgelenk. Dann brach sie mit einem Aufheulen zusammen. Sie kauerte sich zusammen und weinte hemmungslos. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob sie den Kopf und blickte zu Escaflowne hinüber. Der berühmte Guymelef brach ebenfalls gerade zusammen. Die Kampfmaschine wurde in tausend Stücke zersprengt. Von Van blieb nichts übrig. Merle kreischte erneut auf. Tränen strömten über ihr Gesicht. Dann sah sie Hitomi. Das Mädchen vom Mond der Illusionen rannte quer über das Schlachtfeld zu den Überresten von Escaflowne. Merle sprang auf. Im Gegensatz zu Hitomi sah sie die herannahenden Flüssigmetallstreben. "Hitomi!" Das Katzenmädchen rannte los und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Vielleicht... Die Metallspitze erreichte Hitomi, durchbohrte sie und schleuderte sie wie eine Puppe zur Seite. Merle lief noch schneller und kam keuchend bei der Freundin an. Sofort sah sie, dass diese tot war. Das Katzenmädchen starrte die leblose Freundin verzweifelt an. Dann schrie sie auf. Sie warf den Kopf in den Nacken und schrie ihren Schmerz laut hinaus. Schockiert betrachteten Hitomi und die Elfe Faisala den Traum. Selbst die Elfenpriesterin hatte noch nie so viel Schmerz und Angst gesehen. "Ihre Angst ist riesig. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Angst kann einen töten. Gerade in einem solchen Traum..." Die Elfe schüttelte langsam den Kopf. "So viel Angst... Und doch kommt sie mit uns," flüsterte Hitomi leise. Ein schwarzer Schatten zog über Merle auf. Sie blickte nach oben und erkannte den, den sie suchten. Der Manticor schoss mit einem bösen Grollen nieder. Seine Krallen waren ausgefahren. Seine bodenlosen Augen funkelten schwarz und sein Maul hatte er drohend aufgerissen. Merle quiekte auf und rannte los. Der Manticor war dicht hinter ihr. Sie konnte seinen heißen Atem im Rücken spüren. Das Katzenmädchen stolperte und fiel hin. Sie drehte sich um und blickte dem Tod entgegen. "Zerreiß den Traum!" Die Elfenpriesterin schrie gellend auf. Hitomi reagierte sofort. Einen Sekundenbruchteil bevor der Manticor Merle erreicht hatte, verblasste er. Auf der grauen Ebene blieben nur noch Merle, Hitomi und die Elfe zurück. Das Katzenmädchen starrte noch immer auf die Stelle, an der der Manticor verschwunden war. Dann fiel ihr Blick auf Hitomi und sie sprang auf. Zitternd fiel sie dem Mädchen vom Mond der Illusionen um den Hals. "Hitomi," schluchzte sie und presste den Kopf an Hitomis Schulter. "Ganz ruhig, Merle. Es war nur ein Traum. Nur ein Traum." Sanft streichelte Hitomi ihr über den Rücken. "Es ist vorbei. Es ist alles vorbei. Du kannst jetzt aufwachen. Du hast es hinter dir." Merle blickte Hitomi aus großen, blauen Augen an und nickte zitternd. In Hitomis Armen verblasste sie immer mehr. "Oh Gott." Hitomi ließ sich zu Boden sinken. "Das war knapp. Was wäre passiert, wenn er sie erreicht hätte?" Die Elfe zuckte mit den Schultern. "Ich habe nur die Bedrohung gespürt. Ich weiß es nicht genau. Vielleicht wäre sie vor Angst gestorben. Vielleicht hätte sie den Verstand verloren." Sie zuckte hilflos mit den Schultern. "Ich weiß nur, dass du sie im letzten Moment gerettet hast. Er durfte sie nicht erreichen." Merle wachte mit gesträubtem Fell auf. Sie zuckte ängstlich zusammen, als eine warme Hand sie an der Schulter berührte. Dann erkannte sie Louvain und umarmte ihn heftig. "Louvain... Ich bin so froh..." stammelte sie leise und drückte den Löwenjungen fest an sich. "Ist ja gut, Kleine," brummte Louvain beruhigend. "Es ist vorbei. Es ist ja vorbei." Van, Lothian, Allen und Shid blickten besorgt zu Alexander und Hitomi herüber. Sie waren jetzt die Einzigen, die noch schliefen. Dass Hitomi sie aus ihren Träumen gerettet hatte, war allen klar. Trotzdem machten sie sich ihre Gedanken, besonders Van. Und Alexander... Jeder hatte seinen Traum erlebt und von den anderen zumindest gehört. Wo mochte er nur gerade sein? Hitomi genoss die kurze Verschnaufpause. "Warum hast du Lothian eigentlich eine starke Seele genannt? Und Merle?" erkundigte sie sich bei Faisala. Die Elfe lächelte sanft und ihre goldenen Augen strahlten Hitomi an. "Es ist Lothians Bodenständigkeit, die ihn so stark macht. Er lässt sich durch Illusionen nicht beeindrucken. Er ist fast immun dagegen. Er hat zwar Träume und Hoffnungen, aber er verliert sich nicht in ihnen. Er hat praktisch einen Spürsinn für das, was wirklich ist. Ja, so kann man das am besten sagen... Das macht ihn hier unglaublich stark. In einer Welt, die nur aus Illusionen, Träumen und Hoffnungen besteht, gibt es keine Gefahr für ihn. Aber in der Wirklichkeit... Dort ruhen für ihn die Gefahren. Ohne Träume kann man leicht zerbrechen... Eine Stärke kann auch gleichzeitig eine Schwäche sein. Und das Katzenmädchen... Jeder andere wäre bei dieser Angst gestorben. Ich habe noch nie so große Angst in einem Traum gespürt. Noch nie. Und du kannst mir glauben, dass ich wirklich schon viele Träume gesehen habe. Sie hat der Angst irgendwie standhalten können. Du hast ja gesehen, dass es ihre größte Angst ist, die Menschen zu verlieren, die ihr wichtig sind." "Ja, sie hat ihre Familie verloren. Van ist die einzige Familie, die sie je kannte. Und Louvain ist der Erste, der sie von Herzen liebt. Und ich... Na ja, ich scheine so etwas wie ihre beste Freundin zu sein." "Dann verstehe ich." Die Elfe lachte erleichtert auf. "Ihre Liebe zu euch hat sie stark gemacht. Erst als der letzte von euch gestorben ist, wurde es gefährlich. Davor ist ihr nichts passiert. Die Bedrohung war zwar da, hat sich aber nicht manifestiert. Erst als der letzte Mensch, der ihr etwas bedeutet, gestorben ist, war sie wirklich in Lebensgefahr. Das macht sie stark. Ihre Liebe zu euch. Allein das lässt sie weitergehen." Die Elfe sah nachdenklich in die Ferne. "Nur eine wirklich starke Seele kann solch eine Liebe entwickeln. Die Kleine ist etwas Besonderes..." Abrupt wandte sie sich wieder Hitomi zu. "Komm, der Letzte wartet noch auf uns." Sie streckte ihre schmale Hand aus und Hitomi ergriff sie. Der Manticor schob sich langsam weiter über die Traumebene. Er kostete ihn große Mühe, diesen Weg zu gehen, hatte er doch einiges an Kraft in dem Kampf mit dem Werwolf eingebüßt. Außerdem schwächte ihn der Zauber, den er über die beiden Kinder Aurianas gelegt hatte. Sonst hätte dieser Rudelführer niemals gegen ihn bestehen können. Unwirsch schüttelte er den Kopf. Langsam tastete er sich durch das Traumgespinst. Ja, da war er. Ein weiteres Kind des Drachen... Kapitel 26: 26. Verlaufen ------------------------- Alexander stand im Wald von Asturia vor dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Immer wieder sah er die gleiche Szene. Seine Mutter stand vor dem Haus. Dann bahnte sich der Guymelef seinen Weg, tötete Tayana beiläufig und verschwand wieder. Jedes Mal aufs Neue rannte ein kleiner Junge aus dem Haus und war hilflos. Und jedes Mal aufs Neue spürte Alexander den Schmerz in seiner Brust. Wieder stand seine Mutter vor dem Haus. Und wieder konnte er nichts tun. Ohnmächtig ballte er die Hand zur Faust und starrte auf die Szene. Er konnte sich nicht rühren. Kein Muskel bewegte sich. Er wollte zumindest seine Augen schließen, aber er konnte es nichts. Nichts konnte er tun. Er wusste nicht, wie oft er das Geschehen schon gesehen hatte, als sich plötzlich etwas änderte. Eine neue, dunkle Aura lag in der Luft. Ihm schauderte und plötzlich spürte er, wie er sich wieder bewegen konnte. Er drehte sich um die eigene Achse und suchte nach dem Auslöser. Alexander konnte die Gegenwart nur erahnen, nicht wirklich spüren. Da war etwas und es kam mit jedem einzelnen Atemzug näher. "Was ist das?" fragte Hitomi erschrocken, als sie sich in Alexanders Traum wieder fanden. "Ich weiß nicht," antwortete die Elfenpriesterin verwirrt. "Ich kenne diese Aura nicht. So viel Dunkelheit... So viel Stärke..." Sie schüttelte langsam den Kopf. "Los, zerreiß den Traum. Dann werden wir vielleicht mehr sehen." Hitomi nickte und konzentrierte sich. Langsam löste sich der Traumwald auf und Alexander stand vor ihnen. "Hitomi?!" Alexander wirkte hochgradig verwirrt. "Es ist alles in Ordnung, Alexander. Ich bin hier, um dich aufzuwecken. Wach auf und alles ist wieder gut." "Nein!" Folkens Sohn schüttelte hektisch den Kopf. Er drehte sich weiter im Kreis und suchte die Umgebung ab. "Irgendetwas ist hier..." Auch Faisala sah sie aufmerksam um. "Eine fremde Präsenz. Irgendjemand streift durch die Träume. Aber wer? Wer?" Die Elfe nutzte all ihre geübten Sinne, aber sie konnte die dunkle Aura nicht identifizieren. Schließlich war es Hitomi, die laut aufstöhnte. "Nicht du," flehte sie leise. "Nicht du..." "Wer? Hitomi, wer?" Alexander fasste sie grob an den Armen und schüttelte sie. "Der Manticor. Es muss der Manticor sein. Aber was will er?" "Kind des Drachen!" dröhnte urplötzlich eine grollende Stimme von allen Seiten. "Kind des Drachen. Hier bist du also." Alexander schreckte zusammen. Er ließ Hitomi los und sah sich hektisch um. Schließlich erkannte er eine gigantische, schattenhafte Gestalt, die immer näher kam. "Verschwinde!" fauchte Hitomi wütend. "Verschwinde! Du hast hier nichts zu suchen!" "Zu dir will ich ja auch nicht, Mädchen," lachte der Manticor spöttisch. "Ich will IHN." Das letzte Wort brüllte er. Die Gestalt näherte sich immer mehr und deutlich konnten sie jetzt den Manticor erkennen. Seinen fledermausartigen Flügel trugen ihn schnell vorwärts. Seine Skorpionschwanz zuckte durch die Luft. "Weg!" schrie Alexander auf einmal, fasste Hitomi am Arm und rannte los. Er ging davon aus, dass Faisala ihnen folgen würde. Doch das tat die Elfenpriesterin nicht. "Kommt zurück! Das Labyrinth... Beim Drachengott! Kommt zurück!" Erschrocken starrte die Elfe ihnen nach. Ihre Stimme verhallte ungehört in der Endlosigkeit der Traumebene. Dann blickte sie zu dem heranrasenden Manticor und schloss die Augen. Sekunden später wachte sie auf. Sie konnte jetzt nichts mehr für die beiden tun. Sie mussten alleine einen Ausweg finden. "Alexander! Nicht!" keuchte Hitomi und stolperte hinter Folkens Sohn her. "Wir müssen zurück! Wenn wir aufwachen, kann er uns nichts! Das ist nur ein Traum!" Alexander hörte sie nicht und rannte weiter. Hitomi versuchte sich loszureißen, hatte damit aber keinen Erfolg. Vans Neffe war einfach zu stark. Also gab sie nach und rannte mit. Etwas anderes konnte sie nicht tun. Sie war so mit Laufen beschäftigt, dass sie nicht auf die Umgebung achtete. Plötzlich blieb Alexander stehen und drehte sich um. "Wir haben ihn abgehängt," stieß er hervor. "Du Idiot!" schrie Hitomi ihn an und verpasste ihm eine Ohrfeige. Verblüfft taumelte Alexander nach hinten und fiel auf den harten Steinboden. Er starrte Hitomi ungläubig an. "Was soll das?" knurrte er und sprang auf. "Wir hätte nur aufwachen müssen, dann wäre gar nichts passiert! Überhaupt nichts! Aber was machst du... Läufst weg und zerrst mich mit! Na, herzlichen Dank! Das ist gefährlich hier!" "Wovon redest du überhaupt?" Vollkommen verwirrt starrte Alexander sie an. "Das hier ist ein Traum, den das Wasser des Sees ausgelöst hat. Wir müssen aufwachen, aber dazu müssen wir auf die graue Ebene - Faisala hat sie auch so was wie ,reine Ebene' - genannt zurück. Dann können wir aufwachen. Gott, man kann sich in diesen Träumen verirren!" Langsam sah sich Hitomi um und realisierte, dass das schon längst passiert war. Um Alexander und sie herum ragten massive Wände in die Luft. Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte die gigantische Mauer hoch. Sie konnte kein Ende erkennen. "Und genau das haben wir wohl getan..." murmelte sie leise und sah Alexander angsterfüllt an. Der Junge begriff nun, dass sie wirklich in Schwierigkeiten waren. Faisala öffnete die Augen und blickte sich um. Langsam richtete sich die Elfenpriesterin auf. Sofort waren die Gefährten der beiden Träumer bei ihr und überhäuften sie mit Fragen. "Immer mit der Ruhe," sagte sie schließlich erschöpft und brachte alle mit einer Handbewegung zum Schweigen. "Sie sind weggelaufen und haben sich verirrt. Wenn jemand den Weg aus Labyrinth der Träume heraus finden kann, dann ist das Hitomi. Sie hat ein Gespür für Träume. Ich kann nichts mehr tun. Wir können nur warten. Alles andere ist an den beiden." Die Elfenpriesterin streckte ihre Hand fordernd aus und sofort war Farla, die Elfe, die Louvain zuerst kennen gelernt hatte, bei ihrer Meisterin und stützte sie. "Wir müssen warten..." flüsterte die Elfenpriesterin noch einmal, als sie erschöpft in Farlas Armen zusammensackte. Kapitel 27: 27. Im Labyrinth der Träume --------------------------------------- "Wie kommen wir hier nur bloß raus?" Hitomi drehte sich ratlos im Kreis. "Vielleicht so, wie wir hier hereingeraten sind," meinte Alexander behutsam. Hitomi schüttelte den Kopf. "Hast du dir etwa gemerkt, wo wir lang gelaufen sind? Hast du überhaupt mitgekriegt, dass wir in ein Labyrinth reingerannt sind?" Verlegen zuckte der Junge mit den Schultern. Unsicher pustete er sich eine vorwitzige schwarze Haarsträhne aus der Stirn. "Und was nun?" fragte er kleinlaut. Ratlos zuckte Hitomi mit den Achseln. "Wir gehen einfach weiter. Hier bleiben können wir ja schlecht. Zu dumm, dass wir Faisala verloren haben. Sie hätte uns helfen können." Langsam gingen sie los und drangen weiter in das Labyrinth der Träume ein. Nicht sehr weit hinter ihnen schob sich der Manticor mit einem tiefen Grollen durch die Gänge. Er stapfte vorwärts und seine breiten Flügel streiften die Mauern. Unbeirrt folgte er der Aura des Kindes des Drachens. "Hitomi," flüsterte Van leise und nahm ihre Hand. "Bitte komm zurück. Bitte... Ich warte auf dich. Hitomi..." Hilflos sah er seine Verlobte an. Dann glitt sein Blick zu Alexander und traurig schüttelte er den Kopf. Es war zum Verrücktwerden, dass er nichts tun konnte! "Hast du das auch gehört?" fragte Hitomi plötzlich und legte den Kopf schief. Sie hatte das Gefühl, dass sie Vans Stimme gehört hätte. "Was meinst du?" "Ich dachte, ich hätte Van gehört." "Von wo kam das?" hakte Alexander aufgeregt nach. "Von dort." Hitomi deutete in einen der fünf Gänge der Kreuzung. "Dann lass uns dort hingehen." Folkens Sohn zuckte mit den Schultern. "Diese Richtung ist so gut, wie jede andere." "Ja..." Hitomi dachte nach. "Vielleicht kann mich Van ja leiten. Wenn ich nur fest genug an ihn denke, könnte es klappen. Unsere Verbindung müsste eng genug sein..." "Einen Versuch ist es jedenfalls wert." Unbehaglich sah Alexander sich um. "Lass uns weitergehen. Ich habe ein ungutes Gefühl..." Van glaubte eine kurze Bewegung in seiner Hand zu spüren. Verblüfft blickte er auf Hitomis Hand herunter und sah, dass sich ihre Finger minimal bewegten. "Hitomi," redete er wieder auf sie ein. "Gib nicht auf, Hitomi. Ich bin bei dir." "Kann sie dich hören?" fragte die Elfenpriesterin hinter ihm. Faisala war noch immer schwach, zwang sich aber weiterhin wach zu bleiben. Sie hing in Farlas Armen und ließ sich nun langsam neben den beiden Menschen zu Boden sinken. Das junge Elfenmädchen blieb treu an ihrer Seite. "Ich glaube schon. Sie hat die Hand bewegt," erwiderte Van. "Das ist ein gutes Zeichen," lächelte Faisala und blickte Hitomi mit neuer Hoffnung an. Hitomi lauschte weiter auf ihre innere Stimme und führte sich und Alexander durch die steinernen Gänge. Schließlich erreichten sie den Kern des Labyrinthes. Dort stand ein Pavillon aus leuchtendem Kristall. Um ihn herum erstreckte sich ein Garten, in dem Massen an Blumen blühten und der beinahe an einen Dschungel erinnerte. Ein schmaler Kristallweg führte hindurch zu dem Pavillon. "Wo sind wir hier?" flüsterte Alexander leise. Es schien ihm irgendwie unangemessen an diesem Ort laut zu sprechen. "Ich weiß nicht," zischte Hitomi zurück. Dann warf sie einen Blick über ihre Schulter zurück in das Labyrinth. Und erstarrte. Hinter ihnen schob sich der Manticor in den Gang und blickte sie mit seinen funkelnden Augen an. "Weißt du, wir sollten weitergehen," meinte sie, fasste Alexander am Arm und rannte los. Auf der grauen Ebene hätte der Manticor ihnen nichts tun können, da sie einfach nur hätte aufwachen müssen, aber hier... So fern von der Realität, so tief in der Welt der Träume verstrickt - hier war sie sich nicht so sicher. Alexander blickte kurz über seine Schulter und folgte Hitomi dann. Sie drängten sich durch die Pflanzen hindurch, die sich immer wieder an ihren Schultern festklammerten und ihnen blutige Kratzer in die Haut rissen. "Für einen Traum," keuchte Alexander. "Ist das ein bisschen sehr real!" "Quatsch nicht, lauf!" schrie Hitomi zurück und zog das Tempo noch weiter an. Hinter sich hörten sie den Manticor grollen. Mit lautem Krachen hetzte er durch das Gebüsch. Schnell erreichen sie den Kristallpavillon und da die Tür offen stand, stürzten sie hinein. Sofort umfing sie ein bläulich schimmerndes Licht, fast so, als wenn sie sich in besonders klarem Wasser befinden würden. Hinter ihnen sprang der Manticor durch die Tür. Hitomi und Alexander schrieen auf, doch es gab niemanden, der sie hören konnte. "Gibt es hier denn keinen anderen Ausweg?" Hitomi suchte hektisch die Wände mit den Augen ab, aber die einzige Tür war die, durch die sie eben hineingerannt waren. "Was machen wir denn jetzt bloß?" murmelte Alexander leise, als sie sich gemeinsam zur hintersten Wand zurückzogen. "Hier bist du also, Drachenkind," grollte der Manticor und schlich näher. Er ließ seine scharfen Zähne aufblitzen und zuckte mit dem Skorpionschwanz. Seine schwarzen Augen funkelten sie bösartig an. "Und das Mädchen vom Mond der Illusionen auch noch. Beide in einem Traum des Sees. Welch ein Glückstag für mich... Ein Schlag und ihr beide seit tot..." Er hob die rechte Vorderpranke und langte tapsig zu. Der Schlag ging weit daneben, doch beide konnten sie deutlich seine langen Krallen sehen. "Wieso Traum des Sees?" keuchte Hitomi und presste sich enger an die Wand. "Das hier ist auf seine Weise real," lachte der Manticor und kam noch ein paar Schritte näher. Er ließ seine Opfer nicht mehr aus den Augen. "Sterbt ihr hier, sterben auch eure Körper. Ihr hättet es mir kaum noch leichter machen können..." Erneut hob er seine Pranke und diesmal war es kein Spaß mehr. Angsterfüllt suchten Hitomi und Alexander nach einem Ausweg, konnten aber keinen entdecken. "Seid bereit zu sterben," fauchte der Manticor und schlug zu. Eine massive Wand aus Wasser hinderte ihn urplötzlich daran, Hitomi und Alexander zu treffen. "Verschwinde!" gellte eine hohe Stimme durch den Kristallraum. "Verschwinde! Das ist meine Welt und nicht deine!" Mit einem empörten Knurren sprang der Manticor zurück und warf den Kopf in den Nacken. "Du wagst es?! Du stellst dich mir in den Weg?!" "Wie du siehst," lachte die Stimme. "Hier ist meine Welt. Hier kannst du mir nichts anhaben. Also verschwinde. Geh, Manticor, ehe du es noch bereust." Die Wasserwand näherte sich dem Manticor immer weiter. Knurrend und fauchend zog er sich wie ein geprügelter Hund zurück. Als er rückwärts durch die Tür ging, wandte er sich noch einmal an Alexander und Hitomi. "Das war nicht das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben," versprach er. Dann war der Manticor verschwunden. Kapitel 28: 28. Die Herrin vom See ---------------------------------- Mit einem Seufzer der Erleichterung lösten sich Alexander und Hitomi von der Wand. "He! Wer bist du?" rief der Junge und sah sich in dem Raum um. Plötzlich war der Pavillon mit Wasser angefüllt, dennoch machte beiden das Atmen keinerlei Mühe. "Ich bin die Herrin vom See," erklang die Stimme noch einmal. Dann erschien eine wunderschöne Nixe vor ihnen im Wasser. Sie hatte langes, blaugrünes Haar, das sich um ihre schlanke Gestalt schmiegte. Ihre blauen Augen leuchteten wie das karibische Meer. Ab der Hüfte ging ihr ansonsten menschlicher Körper in einen Fischschwanz über, der mit silbrig glänzenden Schuppen bedeckt war. "Was führt euch her?" fragte sie lächelnd und einige Luftblasen lösten sich von ihren Lippen. "Wir... wir sind hier versehentlich gelandet," begann Alexander und starrte die Nixe vollkommen fasziniert an. "Wir sind im See der Träume geschwommen und eingeschlafen. Ich habe versucht ihn zu wecken. Der Manticor ist dazwischen gekommen und wir haben uns verlaufen," fasste Hitomi die Geschehnisse kurz zusammen. Dabei schenkte sie Alexander einen zornigen Seitenblick. Dieser senkte betroffen den Kopf. "Du warst das also..." Die Herrin vom See lächelte sanft. "Ich habe jemanden gespürt, der mir ähnlich ist. Der durch die Träume gehen kann." Sie schwamm näher und legte ihre Hände an Hitomis Schläfen. Für den Moment schloss sie die Augen. Danach blickte sie Hitomi mit ihren leuchtenden Augen an. "Ja. Deine Stärke sind die Träume. Wir bewegen uns in der gleichen Welt. Du kannst sehen, was passieren wird. Eher passieren kann." Die Nixe lachte leise. "Du hast ein reines Herz. Nutze deine Fähigkeiten weise, Mädchen. Sei weise." Sie blickte Alexander an und Folkens Sohn spürte, wie er verlegen wurde. Er wollte diesem durchdringenden Blick ausweichen und doch fehlte ihm die Kraft dazu. "Und hier haben wir eins der letzten beiden Kinder des Drachen. Kein Wunder, dass er euch gejagt hat. Seine Angst muss groß sein." "Wieso sollte der Manticor Angst vor uns haben?" Hitomi blickte die Herrin vom See verwirrt an. "Du kannst ihn erkennen, Mädchen. Und du, Junge, bist das Kind seines Erzfeindes. Ihr könnt seine Pläne durchkreuzen." Ihr Blick wurde abwesend, doch dann klärte er sich wieder. "Ja... Da ist noch ein anderer Sohn des Drachen. Gemeinsam werdet ihr einen Weg finden. Nur eins noch, bevor ihr geht... Hör auf deine Träume und Visionen, Mädchen. Sie werden den Weg weisen." Die Herrin vom See vollführte eine komplizierte Handbewegung und Hitomi spürte, wie der wassergefüllte Kristallpavillon langsam verblasste. "Warte!" rief sie aus. "Welche Absichten verfolgst du eigentlich?" Doch die Nixe lächelte sie nur sanft an und gab keine Antwort. Dann wurde Hitomi in die Realität zurückgeworfen. Sobald die beiden Menschen aus der Traumwelt verschwunden waren, riss die Herrin vom See ihre Arme hoch und ihre Stimme durchbrach die lastende Stille. "Drache! Halte dein Wort! Befreie mich aus meinem Gefängnis!" Ein massiger Schatten aus einer der leuchtenden Ecken des Kristallpavillons antwortete. "Natürlich. Ich halte mich an mein Wort. Das tue ich immer. Du bist frei!" Langsam löste sich die Traumvorstellung der Pavillons auf und auch die Herrin vom See verschwand. Auf ihren Lippen lag ein erleichtertes Lächeln. Hitomi setzte sich mit einem Ruck auf und riss Van beinahe um, als sie sich an seiner Schulter festkrallte. "Hitomi!" Erleichterte drückte er sie an sich. Hitomi erwiderte die stürmische Umarmung sanft und sah sich dann um. Die Elfenpriesterin sah Van über die Schulter und lächelte beruhigt. "Ich wusste, dass du es schaffen würdest," meinte sie. "Aber nicht allein," erklärte Hitomi. "Wir haben die Herrin vom See getroffen." Das erregte Plaudern, das mit dem Aufwachen der letzten beiden Träumer eingesetzt hatte, verstummte abrupt. "Die Herrin vom See..." Diese Worte raunten durch die Menge der Elfen, die den Schlaf ihrer Gäste interessiert beobachtet hatten. "Die Herrin vom See." Ehrfürchtig sah Faisala Hitomi und Alexander an. "Was ist?" Alexander sah sich wachsam um. In letzter Zeit war er für seinen Geschmack etwas zu oft in brenzlige Situationen geraten. "Wir verehren sie," erklärte Farla, die die hohe Elfenpriesterin immer noch stützte. "Der größte Wunsch jeder Priesterin ist es, ihr einmal zu begegnen und ihren Traum zu finden." "Was ist geschehen?" verlangte die Priesterin zu wissen und verbot allen anderen mit einer herrischen Handbewegung den Mund. Abwechselnd erzählten Hitomi und Alexander, was geschehen war. Während sie sprachen, herrschte eine neugierige Stille unter den Zuhörern. Der Manticor erwachte mit einem drohenden Knurren. Er warf sich herum und sprang auf. Langsam tigerte er durch den Thronsaal. Immer wieder machte er seinem Zorn mit unbeherrschten Schlägen gegen die Wandteppiche und einem lauten Brüllen Luft. Wie konnte sie sich nur einmischen? Wie konnte sie nur? Wie konnte sie es nur wagen? "Immer noch unter einer Decke mit dem Drachen, was Nixe? Nun, wenn er stirbt, dann wirst auch du sterben..." In Asturia herrschte noch immer große Sorge auf Grund des Verschwindens des Crusado. Admiral Vitguer, der derzeitige Führer des Reiches von Farnelia, und Tajas, der Stellvertreter des Herzogs von Freyd, waren zu Besuch gekommen und saßen nun Königin Eries und Prinzessin Milerna gegenüber. "Wir wissen nicht, was passiert ist. Wir können es nicht sagen," erklärte Eries mutlos. "Es ist schlimm, dass unser König weg ist," brummte Vitguer und schüttelte sein graues Haupt. "Gibt es denn noch Hoffnung?" "Ich denke schon," mischte sich Milerna hoffnungsvoll ein. "Hitomi ist schließlich auch schon mit einer weißen Lichtsäule gereist. Warum sollte das mit einer schwarzen nicht auch gehen? Außerdem würde ich es fühlen, wenn meinem Mann etwas geschehen würde." Ihre letzten Worte klangen trotzig. Sanft legte Vitguer seine große Hand auf ihre kleine. "Daran zweifle ich nicht, Prinzessin. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt." Er rang sich ein mühsames Lächeln ab. Tajas nickte zustimmend. Er war ein älterer Mann und normalerweise der erste Ratgeber der Herzogs von Freyd. Der Rolle des Anführers fühlte er sich derzeit nicht gewachsen. "Ich hoffe nur, dass sie alle bald wiederkommen," murmelte er leise. Katz stöhnte laut auf. "Das hier dauert mindestens drei Tage," brummte er und deutete mürrisch auf das Kabelgewirr vor ihm. Es schien ihm immer unmöglicher, dass der Crusado je wieder fliegen sollte. Kiro neben ihm seufzte mit. "Oh Mann. Der Kommandant wird denken, dass wir ihn vergessen haben..." "Vom Jammern wird's auch nicht besser," mischte sich Gardes ein. "Macht weiter." Kapitel 29: 29. Am See ---------------------- "Seht mal! Der See!" Die Stimme eines Elfenkindes durchbrach die Stille. Langsam drehten sich die anderen Elfen und ihre Besucher um. Der See der Träume brodelte fing an zu leuchten. Das Wasser strahlte in tiefem Dunkelblau. Schwärme von Fischen jagten urplötzlich durch die Tiefe und schossen an die Oberfläche. "Die Herrin vom See!" Faisala starrte fassungslos auf das Wasser. "Sie ist wieder da. Sie ist ihrem Gefängnis entkommen!" "Was?" Verständnislos sah Hitomi sie an. "Die Herrin vom See wurde vor Urzeiten von dem Manticor auf der Traumebene eingesperrt. Sie hatte sich auf die Seite des Drachen geschlagen und war eine Gefahr für ihn geworden. Mit ihrer letzten Kraft hat sie den See verzaubert. Das war ihre letzte Hoffnung. Unser Volk hat dann die Traumreisen geübt, in der Hoffnung sie befreien zu können. Und jetzt ist sie wieder da..." Fasziniert starrte die Jungelfe Farla auf das Wasser. "Ein Fest! Das müssen wir feiern!" rief irgendjemand. Am Abend war das Fest der Elfen in vollem Gange. Auch ihre Gäste durften daran teilnehmen. Das war eine kaum zu beschreibende Ehre, denn die Elfen zogen es normalerweise vor, unter sich zu bleiben. Diesmal jedoch machten sie mit Freuden eine Ausnahme. Musik wurde gespielt und alle möglichen Köstlichkeiten wurden serviert. "Louvain, wir haben dir noch gar nicht gedankt," meinte Allen schließlich zwischen den Gängen zu dem Löwenjungen. "Wenn du nicht gewesen wärst..." "Schon gut." Louvain winkte ab. "Das ist doch die Aufgabe eines Ritters, oder? Menschen in Not zu helfen..." Beide lachten und prosteten sich mit Honigwein zu. Merle kuschelte sich enger an Louvains Schulter und zärtlich strich er ihr durch das Haar. "Du bist ja ganz müde, Kätzchen," lächelte er. "Schon." Merle gähnte herzhaft. "Aber erwarte bloß nicht, dass ich so schnell wieder einschlafe. Ich bin doch nicht blöd..." Ein paar Plätze weiter unterhielt sich Hitomi mit Van und Alexander. "Ich bin ja gespannt, was wir als Nächstes für Schwierigkeiten finden," brummte Alexander und fuhr sich durch das gelockte Haar. Er blinzelte grimmig in die Nacht. "Nicht so negativ," versuchte Van ihn aufzumuntern. "Es wird schon alles gut werden." "Du hast leicht reden." Alexander funkelte Van an. "Du hast diesen Manticor ja auch noch nicht gesehen. Diese Augen. Furchterregend. Und wenn er die Herrin vom See einkerkern konnte, dann will ich gar nicht wissen, was er noch kann..." "Du hast sie aber doch gehört," mischte sich Hitomi mit einem Lächeln ein. "Wir können ihm gefährlich werden. Sonst würde er sich gar nicht um uns kümmern. Und genau das sollten wir tun. Seine Pläne durchkreuzen und ihm wirklich gefährlich werden." Ihre grünen Augen blitzen im Schein der Kerzen auf. "Kommt! Es wird getanzt!" unterbrach die Elfe Farla die Stille. Auffordernd sah sie die drei Menschen an. Van und Hitomi tauschten einen Blick und standen dann auf. Alexander blickte die Elfe kopfschüttelnd an. "Mit wem soll ich denn tanzen?" "Mit mir," erklärte das Elfenmädchen und streckte herausfordernd die Hand aus. Alexander lachte auf und wenig später hopsten die vier über die markierte Tanzfläche. Farla blickte Alexander aus ihren silbrigen Augen an und strahlte. Sie wirbelte um ihn herum und streifte ihn immer wieder schwungvoll mit ihren Flügeln. Die kleine Elfe war so glücklich wie noch nie zuvor. Am Rande des Festes nahm Shid Allen bei Seite. "Ich muss mit dir reden," sagte der Prinz. Gemeinsam zogen sie sich an einen stillen Ort am Seeufer zurück. "In meinem Traum," begann Shid langsam, "Habe ich dich gesehen. Und ich muss dir jetzt diese Frage stellen. Ich wollte es so oft tun, aber mir fehlte immer der Mut..." Er brach ab und starrte auf die schimmernde Wasserfläche hinaus. Allen ahnte, was er sagen wollte, und seufzte innerlich. Nun war also der Zeitpunkt gekommen. "Sag es einfach, Shid," forderte ihn der Ritter auf und legte Shid aufmunternd die Hand auf die Schulter. Also, jetzt oder nie... "Bist du mein Vater?" fragte Shid unvermittelt und sah Allen aus angstvollen Augen an. Allen atmete tief durch und nickte dann. "Du musst es wissen, Shid. Dein Vater ist... Ich bin dein Vater." Allens Hände zitterten, als er auf die Reaktion der Herzogs von Freyd wartete. Er war dennoch unruhiger, als er es sich hätte träumen lassen. "Oh Allen!" Der Junge warf sich in die Arme des Ritters und drückte seinen Kopf fest an seine Brust. "Ich hatte es so gehofft..." Behutsam erwiderte Allen die Umarmung und streichelte seinem Sohn über den Rücken. Langsam stahl sich ihm eine kleine Träne ins Auge. Lothian saß stumm an einem Tisch und verfolgte das Geschehen auf der Tanzfläche. Die Elfen wirbelten unkontrolliert durcheinander, während die Paare Van und Hitomi, Merle und Louvain und Alexander und Farla zusammenblieben. Der Wolfsjunge beobachtete sie ruhig aus seinen gelben Augen. "Du bist stark," sagte die Elfenpriesterin Faisala neben ihm. Überrascht blickte Lothian auf. "Was meint Ihr?" "Du hast eine starke Seele, die ihre Kraft aus deiner Bodenständigkeit zieht. Auf der Traumebene hat dir das geholfen. Aber hier... Lass Träume zu, Lothian. Sonst wirst du an der Realität zerbrechen." Nachdenklich sah der Wolfsjunge sie an. "Was sind Träume schon? Illusionen. Nichts weiter." Er rümpfte die Nase. "Du irrst dich," erklärte Faisala sanft. "Träume sind viel mehr. In ihnen sammelt sich die Hoffnung. Und die Hoffnung ist es, die dir in der Wirklichkeit immer wieder Kraft geben kann. Träume sind ein Rückzugsgebiet, wenn du von der Wirklichkeit genug hast. Träume, Lothian. Lass dich träumen. Es wird dir helfen... Du brauchst deine Träume, Lothian. Du brauchst sie." Faisala erhob sich von dem Stuhl und ließ einen nachdenklichen Wolfsjungen zurück. "Faisala!" Hitomi schob sich durch die Menge und blieb keuchend vor der Elfenpriesterin stehen. "Was ist, Hitomi?" fragte diese mit hochgezogener Augenbraue. "Können wir über die Traumebene nicht eine Nachricht schicken? Nach Asturia zu Milerna? Und nach Farnelia? Geht das?" keuchte das Mädchen vom Mond der Illusionen. Auch Van trudelte nun neben ihr ein und fügte hinzu: "Sie werden sich alle Sorgen machen. Niemand weiß, wo wir sind." Langsam nickte die Elfe und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Das sollte möglich sein. Kommt mit. Ihr da!" winkte sie zwei schillernde Elfen aus der Priesterschaft herbei. "Sucht die Anderen. Sie sollen in den Tempel kommen." Die beiden Elfen nickten und schnellten davon. Kapitel 30: 30. Eine Nachricht ------------------------------ Langsam trudelte einer nach dem Anderen im Tempel ein. Allen und Shid kamen als Letzte und wurden schon ungeduldig erwartet. Die Elfenpriesterin hatte kurz entschlossen gesagt, dass, wenn dann, nur Hitomi gehen könne und so wurde das Mädchen vom Mond der Illusionen auf die Zeremonie vorbereitet. Sie bekam ein langes, weißes Gewand angezogen und musste sich auf den Altar aus weißem Stein legen. "Gut," begann die Priesterin, als endlich alle da waren. "Mit wem soll sie sprechen und was soll sie sagen?" "Mit Vitguer," machte Van den Anfang und trat vor. "Sag ihm, dass es uns gut geht, und dass wir wiederkommen werden. Außerdem... Pass auf dich auf, mein Schatz." Er drückte Hitomi einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Dann trat er zurück in die Reihe. Shid kam nun vor und sprach: "Geh zu Tajas. Sag ihm bitte, dass es mir gut geht, dass ich ihn nicht im Stich lasse und zurückkehren werde." Nachdem der Herzog von Freyd wieder in der Reihe stand, war es an Allen. "Rede mit Milerna und sag ihr, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht..." "Das reicht," erklärte Faisala, als Allen fertig war. "Mehr Nachrichten kann sie nicht überbringen." "Ich wüsste auch nicht, mit wem ich reden wollte," flüsterte Merle Louvain leise zu. "Alle wichtigen Menschen sind hier..." "Verlasst jetzt den Tempel! Die Zeremonie möge beginnen!" Faisala breitet ihre Arme herrisch aus und widerstandslos entfernten sich die Freunde. Im Tempel selbst wurden die Wasserlampen angezündet. Sie warfen ihr blaugrünes Licht in den weißen Raum und ließen es so aussehen, als wenn sich der Tempel unter Wasser befände. Die Lampen sollten Hitomi auf der Traumebene als Wegweiser zurück dienen. Sie funktionierten praktisch so, wie ein Bindfaden in einem Labyrinth. Die Elfenpriesterin reichte Hitomi ein Gefäß mit Wasser. "Das letzte Wasser der Träume. Der See hat nun seinen Zauber verloren, da seine Herrin wieder in ihm weilt und nicht mehr in einem Traum gefangen ist," erklärte sie lächelnd. Gehorsam trank Hitomi, ließ sich wieder zurücksinken und schloss die Augen. Als Hitomi sich auf der grauen Traumebene wieder fand, machte sie sich sofort auf die Suche nach den Träumen von Vitguer, Tajas und Milerna. Den Admiral fand sie schnell. Sie stand ihm im Thronsaal von Farnelia gegenüber. Er saß auf dem Thron und sah ihr sorgenvoll entgegen. "Wo ist der König?" fragte er besorgt. "Er ist in Sicherheit," erklärte Hitomi. "Es geht ihm gut. Uns allen geht es gut. Wir werden zurückkehren, sobald wir unsere Aufgabe erledigt haben. Der Drachengott braucht uns." Vitguer nickte verständnisvoll. Hitomi verschwand schon langsam wieder, als seine Lippen ein stummes ,Danke' formten. Hitomi ließ sich weitertreiben und suchte nach den Träumen von Tajas. Schließlich spürte sie den alten Berater Shids. Ihm begegnete sie auf dem Balkon des Schlosses von Freyd. "Wer seid Ihr?" fragte der alte Mann ungehalten. "Eine Freundin des Herzogs," sagte sie mit einer leichten Verbeugung. "Er lässt Euch ausrichten, dass es ihm gut geht und Ihr Euch keine Sorgen machen müsst. Er verspricht, dass er bald wiederkehren wird..." Ein Lächeln huschte über das Gesicht des stellvertretenden Herrschers von Freyd. "Das ist gut," lächelte er. "Das ist gut..." Hitomi ging wieder und machte sich auf die Suche nach Milerna. In der Traumwelt konnte sie sie nicht finden. Sie muss wach sein, dachte Hitomi. Und was jetzt? Vielleicht... Vielleicht kann ich ihr eine Vision schicken... Milerna stand wieder einmal am Fenster ihres Schlafzimmers und starrte in die Dunkelheit hinaus. Sie wusste nicht, wann sie eigentlich das letzte Mal geschlafen hatten. Leise seufzte sie und blickte auf das schimmernde Meer hinaus. "Wo seid ihr nur?" fragte sie leise. "Wo bist du nur, Allen?" "Es geht ihm gut..." Eine schwache Stimme hallte durch den Raum. "Wer ist da?" Milerna wirbelte herum und suchte das Zimmer mit den Augen ab. Im Mondlicht konnte sie nicht viel erkennen. Sie streckte die Hand aus und wollte eine Kerze anzünden, doch die Stimme hielt sie davon ab. "Kein Licht, Milerna. Kein Licht... Ich bin nicht stark genug..." "Hitomi? Bist du das, Hitomi?" Die blonde Prinzessin drehte sich im Kreis und bemühte sich verzweifelt etwas zu erkennen. "Ja... Ich bin es. Hitomi... Mach dir keine Sorgen. Wir kommen wieder... Wir kommen wieder. Hab etwas Geduld. Vertrau auf Allen... Vergiss nicht, dass er dich liebt..." Die Stimme wurde immer schwächer und verhallte schließlich in der Stille. "Danke, Hitomi," flüsterte Milerna und ließ sich erleichtert auf das Bett sinken. "Danke." Vor Müdigkeit fielen ihr die Augen zu und seit langem konnte sie wieder schlafen. Erschöpft lächelte Hitomi auf der Traumebene. Na also. Sie hatte Milerna doch erreichen können. Dann drehte sie sich um und folgte dem blaugrünen Schein der Wasserlampe zurück auf die reine Ebene. Dort angekommen, konzentrierte sie sich und wachte langsam auf. Kapitel 31: 31. Im Sumpf ------------------------ Langsam, aber stetig kamen die Freunde auf ihrer Reise zur Rückseite Gaias voran. Sie hatten noch zwei weitere Tage bei den Elfen verbracht, die sich sehr über ihre Gesellschaft gefreut hatten. Doch nun waren sie wieder unterwegs. Nach dem Wald erwartete sie jetzt eine breite Sumpflandschaft. Der Guymelef, der voranging musste immer höllisch aufpassen, um nicht in einem der Schlammlöcher stecken zu bleiben. Schließlich war es an Escaflowne die Führung zu übernehmen, denn mit seiner Fähigkeit sich in einen Drachen zu verwandeln, hatte er doch noch die besten Chancen sich im Notfall zu befreien. "Mir gefällt das hier nicht," brummte Shid leise und klammerte sich fester an Scheherazades Schulter. "Was ist, mein Sohn?" hakte Allen nach. Er genoss es, endlich diese Worte aussprechen zu dürfen. "Erinnerst du dich nicht an diese Geschichten, die einem als Kind erzählt werden? Ich meine so etwas, wie Untote, Zombies, verlorene Seelen. Schauermärchen halt. Dieser Sumpf erinnert mich daran. Und na ja... An jeder Legende ist immer etwas Wahres dran..." "Shid, so etwas solltest du noch nicht einmal denken!" rief Louvain, der mit Castillo direkt hinter Scheherazade lief und gerade einen Seitenblick auf Merle war, die sich ängstlich zusammenkauerte. "Louvain hat Recht," stimmte Allen dem Löwenjungen zu. "Was soll hier schon großartig passieren? Wir sind vom Manticor entführt worden, haben einen Absturz überlebt, haben gegen Werwölfe gekämpft, sind in der Traumwelt gewandelt und haben Elfen getroffen. Wenn wir jetzt irgendwelchen verlorenen Seelen, Untoten oder sonst was begegnen würde... Weißt du, wie unwahrscheinlich das ist?" "Und vor allem, wie absurd das klingt?" bekräftigte Louvain noch einmal. Er wollte Merle um jeden Preis etwas von ihrer Angst nehmen. "Könnt ihr da hinten nicht mal die Klappe halten?" knurrte Van von vorne. Durch das Gespräch war er so weit abgelenkt worden, dass Escaflowne mit dem rechten Fuß in ein Sumpfloch geraten war, aus dem er sich gerade noch retten konnte. "Ich glaube, es wäre besser, wenn wir mit Escaflowne vorausfliegen und eine trockene Stelle suchen. Es wird langsam Zeit für ein Nachtlager," meinte Hitomi und blickte zu der tief stehenden Sonne. "Du hast Recht. Irgendwelche Einwände?" erkundigte sich Van. Von hinten kam nur Zustimmung, sodass er Escaflowne in einen Drachen verwandelte und sich gemeinsam mit Hitomi in die Lüfte erhob. Jetzt übernahm Scheherazade die Führung. Langsam platschte Allens Guymelef durch den Schlamm. "Tut das gut wieder zu fliegen!" rief Van und lachte begeistert. "Ja! Und von diesem Geruch wegzukommen!" jubelte Hitomi und hielt sich an ihrem Verlobten fest. Sie durchstreiften den Abendhimmel etwas weiter, als es nötig gewesen wäre. Zu schön war es, wieder einmal Ruhe zu haben und für sich zu sein. Liebevoll streichelte Hitomi Van über den Rücken. "Wann waren wir eigentlich das letzte Mal für uns?" fragte sie ihn leise. Van zuckte mit den Schultern. "Viel zu lange her," lachte er gegen den Wind. "Viel zu lange." Schließlich konzentrierten sie sich wieder auf ihre Aufgabe und erspähten auch eine trockene Insel inmitten der Sumpflandschaft. "Da! Und sie ist auch nicht allzu weit von den anderen weg!" Van lenkte Escaflowne wieder nach hinten und schwebte kurzzeitig neben Allen, um ihm den Weg zu weisen. Dann ließ er den Guymelef von Isparno wieder in die Luft steigen und jagte auf die Insel zu. "Ich will auch einen Guymelef, der fliegen kann," murrte Lothian. Der Wolfsjunge hielt nichts von den Schlammlöchern, der Hitze und den aufdringlichen, fliegenden Insekten. Er hielt es für ein Wunder, dass er noch nicht völlig zerstochen worden war. "Es ist zu ruhig hier," meinte Alexander plötzlich. "Hä?" Lothian war verwirrt. Alexander hatte die letzten drei Stunden nichts gesagt und jetzt so etwas. "Ja, es ist zu still. Es sollten hier noch mehr Tiere sein. Schlangen, Krokodile, Vögel und so. Aber hier ist nichts. Nur diese Käfer und Fliegen. Sonst nichts. Das gefällt mir nicht." "Jetzt fängst auch noch du an," stöhnte Louvain in Castillo auf. "Mir hat Shid schon gereicht..." Lothian sagte nichts, sondern stolperte mit Lavender einfach weiter. "Hey! Pass auf, wo du hintrittst!" fluchte Alexander, als Lavender beinahe nach vorne fiel. "Wir können ja tauschen," knurrte der Wolfsjunge zurück. Er hatte die Schnauze gestrichen voll. Van und Hitomi bereiteten das Abendessen vor, als die drei restlichen Guymelefs bei ihnen auftauchten. Erst schob sich Scheherazade mühsam auf den kleinen Hügel, dann folgte Castillo und zum Schluss Lavender. "Ich hab genug!" knurrte Lothian misslaunig, als er aus seinem Cockpit sprang. Kritisch untersuchte er, ob sich Lavender unter der Schlammschicht noch mehr als einfache Kratzer zugezogen hatte. "Kopf hoch," meinte Shid und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. "Du hast wenigstens nicht die ganze Zeit über draußen gesessen!" Der Prinz deutete auf einen unangenehmen Sonnenbrand und mehrere Insektenstiche. "Trotzdem," brummte der Wolfsjunge und wuschelte Shid versöhnlich durch die Haare. Diese Nacht begaben sich alle nur ungern zur Nachtruhe. Sie waren von dem Marsch zwar erschöpft, dennoch hatte jeder ein unbehagliches Gefühl, sodass fast ein Streit um die erste Wache ausbrach. Um Lothian etwas versöhnlicher zu stimmen, durfte der Wolfsjunge schließlich die erste Wache übernehmen. An seine Seite gesellte sich Shid. Die anderen rollten sich in ihren Decken zusammen und versuchten zu schlafen. Kapitel 32: 32. Begegnung im Traum ---------------------------------- Hitomi träumte... Sie befand sich im Schlossgarten von Farnelia, in der Mitte des Labyrinthes. "Was ist?" fragte sie unwirsch in die Dunkelheit. "Ich sehe, du bist nicht überrascht, mich zu sehen," lachte der schwarze Drache und trat aus dem Schatten. Er räkelte sich im Mondlicht neben dem Brunnen und der Trauerweide. "Ich denke, du musst mir so einiges erklären," begann Hitomi. "So? Was denn?" "Worum geht es bei diesem ,uralten Kampf' mit dem Manticor wirklich? Ist es nur Macht, wie er gesagt hat?" "Du hast mit ihm gesprochen?" Der Kopf des Drachen ruckte herum und er blickte sie aus seinen gelben Augen forschend an. Hitomi zuckte mit den Schultern. "Ich habe ihn im Traum gefunden. Aber jetzt lenke nicht ab. Sag mir die Wahrheit. Geht es nur um Macht?" "Worum denn sonst, Mädchen?" lachte der Drache spöttisch. "Es geht immer um Macht. Wen willst du lieber als ,Herrscher' über Gaia sehen? Den Manticor oder mich? Er ist der Tyrann und ich... Nun, ich werde die Dinge ihren Gang nehmen lassen. Ich werde die Einmischung sein lassen. Ein ,Herrscher', der sich heraushält. Ja, so könnte man mich nennen. Wer wäre dir lieber?" "Blöde Frage," brummte Hitomi und verschränkte die Arme vor der Brust. "Natürlich nicht der Tyrann." "Siehst du." Der Drache senkte den Kopf etwas und legte ihn auf seine Vorderpfoten. So zusammengekrümmt erinnerte er irgendwie an einen zufriedenen Hund. Einen großen - sehr großen - schuppigen Hund. "Weiter," forderte er. "Was noch?" "Wie ist das wirklich mit der Traumebene? Erst hat mir der Manticor großartig erzählt, dass er mir dort nichts tun kann. Aber hinterher...ist er auf Alexander und mich losgegangen und später... Da hatte ich das Gefühl, dass er uns etwas tun könnte. Wenn die Herrin vom See nicht eingegriffen hätte..." "Er hat gelogen. Er hätte dich schon bei eurer ersten Begegnung töten können. Er wollte es wohl nur noch nicht. Und wenn er dir erzählt hat, dass er sich auf der Traumebene nicht bewegen kann, dann hat er auch gelogen. Das kann er genauso gut wie ich." Der Drache lachte böse auf. "Glaub ihm nicht. Niemals. List und Tücke sind seine Verbündeten. Unterschätze den Manticor nicht. Niemals. Hörst du: niemals." Er schlug nachdrücklich mit einer Vorderpfote auf den Boden. Hitomi hatte das Gefühl, dass der Boden leicht unter ihren Füßen bebte. "Weiter," meinte der Drache schließlich. "Die Herrin vom See. Die Elfen haben gesagt, dass der Manticor sie eingesperrt hat. Wer ist sie eigentlich? Und warum hat er sie eingekerkert?" "Das ist eine lange Geschichte. Sagen wir es so: es gibt viele mächtige Wesen auf Gaia. Der Manticor und ich sind die mächtigsten unter ihnen. Zwischen uns tobt der ewige Kampf um die Vorherrschaft über Gaia. Und dann gibt es noch andere. Starke Wesen, wie die Herrin vom See. Sie hat sich auf meine Seite gestellt und gegen den Manticor gewandt. Er hat sie im falschen Moment erwischt und konnte sie überwältigen. Dann hat er sie eingesperrt. Bei diesem Zauber machte er aber einen Fehler. Ich konnte die Bedingung einschmuggeln, dass sie jemanden vor ihm beschützen muss und ich sie dann freilassen kann. Daher hat dich auch Vans Stimme zu ihr geführt. Es war der einzige Ausweg, den ihr hattet, du und Alexander. Nur sie konnte euch noch zurückschicken. Und mit dem Manticor im Rücken musstet ihr dort ankommen, damit ich am Ende das Recht hatte, sie zu befreien." Entschuldigend sah der Drache Hitomi an. "Es gibt nun einmal Regeln, die ich befolgen muss... Aber nun weiter, was gibt es sonst noch?" "Er spricht dauernd von einem neuen Volk. Einem Volk, das unter seiner Hand heranwächst. Es kann also nicht sein altes Volk, das der Manticoren, sein. Es muss was anderes sein..." "Interessant. Ich werde sehen, was ich spüren kann... Ja, da ist etwas. Eine neuartige Aura. Sie hat etwas von einem meiner Kinder. Und etwas von ihm. Er hat doch nicht etwa... Zuzutrauen wäre es ihm..." Der schwarze Drache hob urplötzlich seinen Kopf und starrte Hitomi an. "War Auriana schwanger als sie ging?" "Was spielt das denn für eine Rolle?" Hitomi war verblüfft. Was sollte diese Frage? "War sie schwanger?" wiederholte der Drache ungeduldig. "Ich weiß es nicht. Wirklich nicht." Sie zuckte mit den Schultern. Der Drache sank wieder zurück. "Das muss es also sein. Oh, dieser Mistkerl! Dieser dreckige Mistkerl! Und ich habe nichts bemerkt!" Ungläubig schüttelte er seinen massigen Kopf. "Er hat noch geschlafen und es trotzdem geschafft, uns seine Tochter unterzuschieben. Das darf doch nicht wahr sein! Wie blind konnte ich nur sein?" "Was meinst du?" Hitomi kam nicht mehr mit. "Auriana. Sie muss die Kinder zur Welt gebracht haben. Zumindest eins. Und der Vater... Es kann nur Van sein. Wer sonst?" "Van?" schrie Hitomi entsetzt. "Das ist ja furchtbar!" "Ja..." Nachdenklich ließ der Drache seine Schwanzspitze durch den Staub tanzen. "Die Vereinigung von Drache und Manticor... Wo mag das nur hinführen?" "Du weißt es nicht? Dann wirst du langsam alt!" Spöttisch mischte sich ein dumpfes Grollen ein. Behände sprang der Drache auf die Füße und wirbelte herum. Angriffslustig reckte er den Hals vor. Gemächlich spazierte der Manticor aus dem Irrgarten hinaus und sah seinem Feind lässig in die Augen. "Lange nicht mehr gesehen," lächelte er. Seine schwarzen Augen blitzen herausfordernd auf. "So kann man es auch sagen." Der schwarze Drache entspannte sich etwas, blieb aber aufmerksam. Nun, da sie beide zusammen sah, erkannte Hitomi, dass sich der schwarze Drache und der Manticor ebenbürtig waren. Sie waren gleich groß und genauso massig. Selbst die Macht, die sie ausstrahlten, entsprach sich. "Lass es sein," grollte der Manticor. "Gib einfach auf und lass die Dinge geschehen. Das erspart uns eine Menge Ärger..." "Du weißt, dass ich das nicht kann." Das typische Lachen des Drachen klang in seiner Antwort mit. Seine gelben Augen leuchteten im Mondlicht. "Und niemals werde." "Dann werden wir uns wiedersehen." Der Manticor zuckte beiläufig mit den Schultern. Seine Fledermausflügel raschelten leise. "Zu deiner Niederlage." Mit einem Satz schwang er sich in den Himmel und schwebte kurzzeitig neben ihnen. "Ach ja," sagte er und blickte sie von oben herablassend an. "Achte auf deine Kinder..." Er lachte bösartig, als er endgültig in den Wolken verschwand. "Ich werde über euch wachen," hörte Hitomi die Stimme des schwarzen Drachen leise verklingen, als sie erwachte. Kapitel 33: 33. Irrlichter -------------------------- Allen rüttelte Hitomi sanft an der Schulter. "Unsere Wache ist dran," sagte er mit einem sanften Lächeln. Schlaftrunken fuhr sich Hitomi durch die verstrubbelten Haare und nickte langsam. Mit einem lauten Gähnen richtete sie sich auf und stolperte hinter Allen zu dem Lagerfeuer herüber. Sie sah noch, wie sich Alexander und Louvain in ihre Decken wickelten und sofort eingeschlafen waren. Wieder gähnte Hitomi herzhaft und blickte dann in die Dunkelheit jenseits des Feuers. "Was ist das da?" fragte sie und deutete auf die silbrigen Lichter, die über dem Sumpf tanzten. "Irrlichter. Sie locken Wanderer in die Irre. Falls ich dir einen guten Rat geben darf: Traue nie einem Irrlicht. Diese Wesen sind zu allem in der Lage. Heimtückisch und hinterlistig - so kann man sie am besten beschreiben." "Aha." Hitomi sah, wie sich einzelne Lichter aus dem Schwarm lösten und nahe zur Insel hinübertanzten. Nun sah sie, dass es sich um gerade mal handtellergroße, menschliche Gestalten mit durchscheinenden Flügeln handelten. Mit einem sirrenden Laut und einem spöttischen Lachen schossen sie durch die Glut und trieben über den Sumpf davon. "Sie sehen ein bisschen aus wie Elfen," murmelte Hitomi leise. "Vielleicht sind sie verwandt." Allen zuckte mit den Schultern. "Wer weiß das schon." "Ja..." Der Manticor lief langsam in dem Thronsaal auf und ab. Er grollte vor sich hin. Es passte ihm nicht, dass sich das Mädchen und der Drache in der Traumwelt trafen. Diese Verbindung wurde für seinen Geschmack langsam zu eng. Viel zu eng. "Wo seid ihr nur?" brummte er leise und streifte achtlos mit seinen Flügeln an der Wand entlang. Putzbrocken lösten sich und fielen zu Boden. Konzentriert blickte er ins Leere, dann stutzte er. "So nah... Warum so nah? Was führt euch her?" Seine Gedanken tasteten sich vor und langsam begriff er. "Ihr wollt herkommen? Er braucht euch? Er braucht euch, um herzukommen? Oh, wie töricht! Wie dumm!" Lachend schüttelte er seine dichte Mähne, die wie geronnenes Blut rötlich-schwarz im Fackellicht schimmerte. "Dann ist er bei weitem nicht so stark, wie ich dachte... Bei weitem nicht. Dann werde ich euch einmal zeigen, was ich kann... Ihr werdet mich kennen lernen, Kinder des Drachen!" Sein bösartiges Lachen erfüllte die ganze Ruine. "Du vermisst Milerna und die Kinder, nicht wahr?" fragte Hitomi vorsichtig und nippte an ihrem Tee. Allen und sie hatten beschlossen, dass die Wache kurz vor Sonnenaufgang sehr viel leichter fiel, wenn sie etwas Warmes zu trinken hatten. Es war kalt geworden. Leichte Nebelschwaden waberten über den Sumpf. Die Irrlichter waren verschwunden. "Natürlich." Allen blickte das Mädchen vom Mond der Illusionen wehmütig an. "Und wenn ich nicht wüsste, dass das hier so wichtig ist... Dann wäre ich wohl gar nicht mitgekommen." Er seufzte leise auf. "Es gibt nun einmal Dinge, die wichtiger sind. Wichtiger als die Gefühle eines Einzelnen." Tröstend legte Hitomi ihm die Hand auf den Arm. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. "Ist schon gut," murmelte Allen. Seine blauen Augen glänzten traurig im ersten Licht des Sonnenaufgangs. Dann straffte er sich und blickte zu dem roten Licht, das über den Horizont kroch. "Lass uns jetzt noch etwas Tee aufsetzen und danach die anderen wecken. Sie können die paar Minuten noch schlafen." Zustimmend griff Hitomi nach der Kanne und füllte Wasser nach. Dann hängte sie sie wieder übers Feuer und betrachtete an Allens Seite den Sonnenaufgang. Nach dem Frühstück machten sie sich langsam bereit um wieder aufzubrechen. Schnell hatten sie ihre normale Marschformation wieder eingenommen. Van verwandelte Escaflowne wieder in einen Drachen und flog neben dem führenden Guymelef Lavender her. Schlaftrunken tapste Lothian mit seinem Guymelef los und sackte als Erstes in ein Schlammloch. Mit einem Fluchen rappelte er sich wieder auf. "Schläfst du noch?" murrte Alexander ungehalten, denn Folkens Sohn war fast von Lavenders Schulter gefallen. "Kannst ja zu jemand anderes gehen," grollte der Wolfsjunge zurück und brachte Lavender wieder auf festen Boden. Die nächsten Schritte machte er vorsichtiger. Hitomi saß nachdenklich hinter Van und hielt sich an seiner Hüfte fest. Sie wusste nicht, ob sie mit ihm über ihren Traum reden sollte. Vielleicht wäre es besser, wenn er Bescheid wusste... Vielleicht aber auch nicht... Es konnte immerhin sein Kind - oder seine Kinder - sein, mit dem der Manticor dieses neue Volk begründen wollte. War es dann nicht Vans Recht Bescheid zu wissen? Was ist jetzt nur das Richtige? dachte Hitomi geknickt. Sie wusste keine Antwort. "Hey! Träumst du?" rief Van über seine Schulter zurück, da sie sich an ihm festkrallen musste, als Escaflowne von einem plötzlichen Seitenwind erfasst wurde. "Nein..." Hitomi riss sich zusammen und blickte über Vans Schulter nach vorne. Schließlich sah sie wieder nach unten, auf die Schlamm- und Wasserlandschaft des Sumpfes. Escaflowne flog dem Rest der Gruppe mittlerweile etwas voraus und erkundete den Weg. Plötzlich stutzte Hitomi. Leichte Wellen zeigten Bewegung im brackigen Wasser an und sie glaubte dunkle Schatten unter der Wasseroberfläche zu sehen. "Van!" Hektisch zog Hitomi an seiner Schulter. "Sieh! Da!" Der König von Farnelia blickte nun auch nach unten und erkannte die Bewegung im Wasser. "Was ist das?" "Ich habe nicht die leiseste Ahnung," gab er zurück. "Aber wir sollten die anderen warnen!" Langsam wendete er Escaflowne in einer großen Schleife. Lothian fluchte bei jedem einzelnen Schritt, den Lavender machte. Er hatte von diesem ekelhaften Sumpf die Nase voll. Zu allem Überfluss hatte er sich in der letzten Nacht noch einige unangenehme Insektenstiche zugezogen und konnte sich jetzt nicht kratzen. Als er mit Lavender erneut in ein Wasserloch geriet, blieb er stehen. Eine Anspannung lag in der Luft, die ihn innehalten ließ. Auch Alexander richtete sich auf Lavenders Schulter auf und unmerklich wanderte seine Hand weiter zu seinem Schwert. Hinter ihnen blieben auch Castillo und Scheherazade stehen. Louvain fuhr vorsorglich sein Schwert aus und spannte sich. Er rechnete mit allem. Merle kauerte sich auf Castillos Schulter zusammen und suchte festeren Halt. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihn brauchen würde. Auch Allen war unruhig. Sein Blick suchte immer wieder die sumpfige Fläche ab. Er konnte eine leichte Wellenbewegung ausmachen, die ihm mehr als nur missfiel. Langsam brachte der Ritter Scheherazade auf das nächste Stück sicheren Boden und suchte festen Stand. Auf der Schulter des Guymelefs zog Shid mit der rechten Hand sein Schwert und suchte mit der linken besseren Halt. Er blickte zu Escaflowne, der in einem großen Bogen zurückgeflogen kam. "Escaflowne kommt zurück," raunte er seinem Vater zu. Allen nickte. "Er ahnt was..." Plötzlich brach die Wasseroberfläche auf und sie wurden angegriffen. Kapitel 34: 34. Sumpfechsen --------------------------- Schlammige, echsenhafte Kreaturen schossen aus dem Wasser und stürzten sich auf die Reisenden. Sie waren etwas größer als ein ausgewachsener Mann und mit harten Schuppen bedeckt. Ihre langen Schwänze wirbelten das Wasser auf. Sie liefen aufrecht auf zwei Beinen und in jeder ihrer vier Hände befand sich ein Schwert. Ein lautes Zischen und Gurgeln begleitete ihren Angriff. "Sumpfechsen," brummte Alexander, als er den ersten Angreifer von oben ansprang. Gemeinsam gingen sie im schlammigen Wasser unter. Alexander kam als Erster wieder nach oben, dicht gefolgt von dem Echsenwesen, das mit allen vier Schwertern gleichzeitig auf ihn eindrosch. Langsam aber sicher wich der schwarzhaarige Junge zurück und konzentrierte sich nur noch auf seine Verteidigung. Die Sumpfechsen begannen schnell auf Scheherazades Beine einzuschlagen. Allen sprang mit dem Guymelef zur Seite und schaffte es mehrere zu zerquetschen. Dennoch war das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Lavender und Castillo kämpften mit ähnlichen Problemen. "Merle!" schrie Louvain, während er mehrere Angreifer mit einem harten Schwertstreich zur Seite fegte. Das Katzenmädchen hatte beinahe den Halt verloren und konnte sich nur noch mit Mühe an dem Guymelef festhalten. Bei dem nächsten Satz von Castillo rutschte sie weiter ab und hing schließlich nur noch an einer Hand. Ihre Beine baumelten in der Luft. Erschrocken starrte sie nach unten und sah die wimmelnden Echsen, die mit ihren Schwertern unnachgiebig auf Castillos Beine eindroschen. Ihr wurde schlecht vor Angst. Allen fegte mit Scheherazade wie ein Wirbelwind durch die Sumpfechsen. Sein Schwert mähte Reihe um Reihe um, die in das schlammige Wasser zurückpurzelten, nur um dann wieder mit grünem Blut überströmt und voll von Schlamm aufzuspringen und erneut anzugreifen. Sie kannten keinen Schmerz und selbst wenn er ihnen zwei Arme abgeschlagen hatte, kämpften sie immer noch weiter. Shid auf seiner Schulter krallte sich entsetzt fest und kämpfte mühsam darum, den Halt nicht zu verlieren. Dann tat Scheherazade einen unbeherrschten Satz nach vorne und der Herzog von Freyd stürzte ab. Escaflowne jagte näher. "Oh Gott!" Entsetzt schlug Hitomi die Hände vors Gesicht. Mit wildem Kriegsschrei stürzte sich Van ins Kampfgeschehen. Mit Escaflownes Krallen riss er mehrere Echsenwesen aus dem Getümmel und trug sie hoch in die Luft. Dann ließ er sie gnadenlos auf die nahen Felsen prallen. Während Hitomi noch schockiert den Blick abwandte, riss er Escaflowne herum und jagte der Schlacht wieder entgegen. Schließlich sah er, dass sich Merle nicht mehr halten konnte. Das Katzenmädchen verlor seinen letzten Halt und stürzte ab. Mit einem lauten Wutschrei jagte Van Escaflowne noch schneller vorwärts. Mit einer Klaue erwischte er das Katzenmädchen noch, bevor sie in der Menge der Angreifer verschwinden konnte. Langsam zog er den mechanischen Drachen wieder hoch und erspähte schließlich eine steinerne Säule, die nicht so aussah, als wenn die Echsen sie erklettern konnten. "Ich setze euch da ab!" schrie er den beiden Mädchen zu und hetzte der Säule entgegen. Kaum hatten die beiden Mädchen festen Boden unter den Füßen, da wirbelte Van auch schon mit Escaflowne herum und schoss erneut auf das Kampfgetümmel zu. Hitomi rappelte sich gerade auf und starrte zu den Kämpfenden hinüber, als Van Escaflowne auch schon in einen Guymelef verwandelte und sich entschlossen in den Kampf stürzte. Neben ihr richtete sich Merle auf und drückte sich ängstlich an Hitomi. Als das Mädchen vom Mond der Illusionen über die Sumpflandschaft blickte, kam es ihr so vor, als wenn das grollende Lachen des Manticors über dem Schlachtfeld hängen würde. Escaflowne kam als Retter in der Not zu Castillo. Louvains Guymelef mit dem grünen Mantel war ins Taumeln gekommen und drohte umzukippen. Die Sumpfechsen hatten hartnäckig damit begonnen, sich immer wieder gegen ein Bein zu werfen und langsam aber sicher hatte Louvain das Gleichgewicht verloren. Nun kam Escaflowne herbei, stieß die Echsen rücksichtslos bei Seite und fing Castillo mit seiner Schulter auf. "Machen wir sie fertig!" rief Van zu dem Löwenjungen herüber und schlug mit dem Schwert heftig um sich. Alexander hatte inzwischen endlich die Stelle erreicht, an der Shid abgestürzt war. Hart schlug er einer Echse zurück und tastete mit dem Fuß nach einer menschlichen Gestalt. Da! Er machte einen blitzschnellen Rundumschlag, der die Sumpfechsen, die ihn umgaben zurücktaumeln ließ und packte mit der linken Hand zu. Er zog Shid hart am Kragen hoch. "Atmen!" befahl Folkens Sohn und presste den jungen Herzog an sich. Die Echsen stürmten wieder vor. Shid schnappte nach Luft und spuckte schlammiges Wasser aus. Trotz allem hielt er sein Schwert immer noch fest umklammert. Mühsam kämpfte er um sein Gleichgewicht, begann aber schon damit Alexander zu unterstützen. Gemeinsam hieben sie auf die Echsenwesen ein. Langsam aber sicher schlugen die Freunde die Sumpfechsen zurück. Die Guymelefs schlugen um sich und gaben sich gegenseitig Deckung. Alexander und Shid schafften es sogar sich bis zu Lavender zurückzuziehen und verteidigten nun die Beine des Guymelefs. "Pass bloß auf, wo du hintrittst!" schrie Alexander nach oben. Lothian verstand und beschränkte sich nun allein auf das Herumwirbeln seines Schwertes. Bis zur Hüfte in Schlamm und Wasser stehend, schlugen Shid und Alexander Echsenwesen um Echsenwesen zurück. Irgendwann ebbte die Menge der Angreifer ab und als keine mehr kamen, begriffen sie endlich, dass sie gewonnen hatten. "Sie haben's geschafft!" Merle hüpfte begeistert auf und ab und stieß Hitomi übermütig in die Seite. Dabei übersah sie, dass sie sich beide sehr weit an die Kante vorgewagt hatten. Hitomi kam ins Taumeln. Für den Moment schien es noch so, als wenn sie ihr Gleichgewicht wahren könnte, doch dann stürzte das Mädchen vom Mond der Illusionen mit einem lauten Schreckensschrei ab. Kapitel 35: 35. Sturz ins Vergessen ----------------------------------- Hitomi prallte hart auf die Wasseroberfläche auf. Als das schlammige Wasser über ihr zusammenschlug, konnte sie noch Merles Stimme hörte. "Hitomi!" kreischte das Katzenmädchen. "Hitomi!" Dann verlor Hitomi das Bewusstsein. Als Van Merle schreien hörte, verwandelte er Escaflowne sofort wieder in einen Drachen und raste der Steinsäule entgegen. Dort angekommen, sprang er ab und glitt mit ausgebreiteten Flügeln zu Boden. Sobald er die Wasseroberfläche berührte zog er seinen Flügel wieder ein. Hier war die Mischung aus Wasser und Schlamm knapp vier Meter tief und er musste tauchen. Sehen konnte er in der trüben Brühe nichts, doch er verließ sich auf sein Gefühl. Sekunden später hatte er Hitomi auch schon gefunden und schwamm der Wasseroberfläche entgegen. Als er wieder auftauchte, sah er, dass die anderen Guymelefs schon da waren. Scheherazade hielt ihnen die Hand entgegen und dankbar kletterte Van mit Hitomi hinauf. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen. Sie hustete zwar und spuckte Wasser, aber sie kam nicht wieder zu Bewusstsein. Hitomi fand sich auf dem Steinturm wieder. Die Guymelefs standen um die Säule herum und ihre Freunde standen neben ihr. Verwirrt drehte sich Hitomi im Kreis. War sie nicht gerade noch gefallen? War da nicht etwas gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie sah von einem zum anderen und bemerkte überrascht, dass sich keiner bewegte. Jeder starrte stumm vor sich hin und kein einziger Muskel rührte sich. Sie zwinkerten noch nicht einmal. Langsam trat sie an Van heran und stellte entsetzt fest, dass er noch nicht einmal atmete. Als sie seine Hand berührte, fühlte sie sich kalt und hart an. Wie Stein. Blutleer und ohne Leben. "Van?" Zaghaft sprach sie ihm an und fuhr ihm über die kalte Wange. Sie versuchte ihm durch das Haar zu streichen, doch auch das fühlte sich hart an, nicht so weich wie sonst. Er schien ganz eine Statue geworden zu sein. "Van!" Jetzt schrie Hitomi seinen Namen, doch nichts änderte sich. Hektisch rannte sie von einem zum anderen, doch bei jedem war es das Gleiche. Jeder war zu einer Statue geworden. Jeder Einzelne. Langsam fing sie an zu weinen und schließlich sank sie verzweifelt zu Vans Füßen zu Boden. "Was ist nur passiert?" fragte sie sich leise. "Was?" "Es ist nur ein Traum," sagte eine sanfte Stimme hinter ihr. "Kein Grund, Angst zu haben." Langsam drehte sich Hitomi um und sah den Manticor aus verweinten Augen an. In seinen schwarzen Augen lag Mitgefühl und Wärme. Seine Stimme hatte jegliches Grollen verloren und klang sanft und weich. "Du?" schniefte Hitomi und wischte sich über die Augen. "Wer sonst? Wenn alle anderen dich im Stich lassen, dann bin ich da. Ich bin immer für dich da." Er legte den Kopf anmutig schief und die dunkelrote Mähne umspielte sanft sein pelziges Katzengesicht. Er lächelte und diesmal gab es kein gefährliches Aufblitzten seiner Zähne. "Warum sollte ich dir glauben?" "Ist hier irgendjemand anderes? Jemand, mit dem du reden kannst? Jemand, der für dich da ist? Ich sehe hier niemanden sonst. Nur leere Statuen, die nichts bedeuten." Langsam ließ sich der Manticor nach Katzenmanier nieder und schlug die Vorderpfoten über Kreuz. "Wo ist denn jetzt der Drache, der dir versprochen hat, dich zu beschützen? Wo ist jetzt dein Geliebter? Wo ist irgendeiner deiner Freunde?" Hitomi zuckte unter seinen Worten zusammen und sah ihn aus aufgerissenen Augen an. Er war so anders. Er hatte nichts mehr von der Bösartigkeit, die ihn einmal ausgezeichnet hatte. Jetzt wirkte er wie ein guter Freund, fast wie eine Schmusekatze. "Und warum bist du hier?" fragte Hitomi vorsichtig. Sie wusste nicht, ob sie ihm trauen konnte. War da nicht etwas gewesen? Hatte nicht jemand gesagt, dass sie ihm nicht trauen sollte? Das war so lange her. Die Erinnerung wurde immer verschwommener und schwand... "Weil ich dich nicht allein lassen kann. Ich bin ein Freund. Und Freunde lässt man doch nicht im Stich, oder?" Während er sprach, warf Hitomi einen verletzten Blick zu den Statuen hinüber. "Sie haben dich nur benutzt. Alle. Was ist dir denn geblieben? Du hast ihnen geholfen. Und jetzt? Jetzt bist du allein. Sie sind nicht mehr bei dir. Keiner deiner Freunde. Und auf einmal... Auf einmal steht dir jemand bei, von dem gesagt wurde, dass er dein Feind ist... Wem sollst du nun glauben, Mädchen? Wem?" fuhr er mit milder Stimme fort. "Denen, die im Stich gelassen haben? Oder dem, der hier bei dir ist?" Scheherazade hatte Van und Hitomi auf dem Steinturm abgesetzt. Alexander kniete neben Hitomi und schüttelte ratlos den Kopf. "Ich weiß nicht... Sie hat sich nicht verletzt. Ein paar Prellungen, aber das ist es auch... Eine Ohnmacht ist...falsch. Sie sollte nicht ohnmächtig sein. Zumindest nicht mehr." "Kannst du was machen?" fragte Van besorgt. Alexander schüttelte den Kopf. "Dazu weiß ich zu wenig über die Kunst des Heilens. Meine Fähigkeiten reichen nur für einfache Verletzungen aus. Schnittwunden, Brüche, leichte Vergiftungen. So ein Zeug eben. Aber nicht so etwas. Ich kann nichts machen. Tut mir Leid." Traurig blickte Folkens Sohn auf Hitomi hinab. Betroffen schwiegen die anderen, die um die drei herum standen. Van streichelte Hitomi sanft über die Wange. "Komm zurück, Hitomi. Bitte komm zurück." Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen traten. Hitomi legte den Kopf schief und lauschte. Jemand schien sie zu rufen. Eine leise Stimme, fern und doch vertraut. Wie ein Flüstern im Wind streifte sie die Stimme und trieb dann wieder fort. Sie sah nicht, wie sich die Augen des Manticoren verengten und er kurz mit den schwarzen Flügel zuckte. Dann brach die Stimme ab und sie schaute ihm wieder in seine sanftmütigen Augen. "Wem soll ich dann wohl Glauben schenken?" murmelte sie leise und blickte den Manticor mit aufkeimender Hoffnung an. Ein breites Lächeln umspielte seine Lefzen. Kapitel 36: 36. Besiegter Drache -------------------------------- "Wir müssen jemanden finden, der sie heilen kann," brummte Allen. "Aber wer?!" stieß Merle hervor. Händeringend rannte sie über das Plateau der Steinsäule. Das Katzenmädchen machte sich große Vorwürfe und war mit den Nerven völlig am Ende. "Ich weiß es nicht." Allen schüttelte den Kopf und bedeutete Louvain mit einer Hand, sich um das Katzenmädchen zu kümmern. Der Löwenjunge legte ihr liebevoll den Arm um die Schulter und hielt sie fest. "Das ist alles nur meine Schuld!" heulte Merle auf. "Ganz allein meine Schuld!" Schluchzend sank sie in Louvains Armen zusammen. Ratlos blickte der Löwenjunge hoch und sah, dass es den anderen ähnlich erging. "Hey!" Van sprang auf und starrte in den Himmel. "Wo bist du, schwarzer Drache?! Du bist doch sonst immer da! Warum nicht jetzt?! Komm her und hilf uns! Verdammt noch mal! Wir brauchen dich!" Van suchte mit den Augen den strahlendblauen Himmel ab. Nirgends war ein schwarzer Schatten zu entdecken, der seine Ankunft hätte ankündigen können. "Lass uns hier weggehen," sagte Hitomi langsam und blickte traurig auf die Statuen. Dann sah sie den Manticor vertrauensvoll an. "Ich will hier weg." Er nickte verständnisvoll und richtete sich auf. "Steig auf meinen Rücken. Ich trage dich fort..." Langsam schritt Hitomi auf ihn zu. Einen Moment lang hatte sie den Eindruck, als wenn sie wieder jemand rufen würde. Diesmal war es eine andere Stimme. Kraftvoll und leuchtend. Sie erinnerte sich... Die Stimme des schwarzen Drachen. Er rief sie. Oder bildete sie sich das nur ein? Hitomi hielt inne und sah sich noch einmal um. Dann ist es zu spät... Traue ihm nicht, wisperte die Stimme in ihren Gedanken. Sie sah noch einmal in die sanften Augen des Manticor, fasste ihn an der Schulter und kletterte auf seinen Rücken. Sein Fell war weich und warm. Anders, als sie es erwartet hatte. Aber was hatte sie erwartet? Sie wusste es nicht. Vorsichtig griff sie in seine Mähne und hielt sich fest. Sie bemerkte nicht, wie sich der Skorpionsschwanz ihrem Nacken näherte und sanft zustach. Erst ein leichtes Ziehen am Haaransatz machte sie darauf aufmerksam. "He!" "Entschuldige bitte," lächelte der Manticor und breitete seine Flügel aus. "Ich bin Passagiere nicht gewöhnt..." "Schon gut," murmelte Hitomi und spürte, wie sich eine angenehme Wärme in ihrem Inneren ausbreitete. Ja, dem Manticor konnte sie trauen. Ja, er war ihr Freund und jeder andere ihr Feind... Mit einem weichen Satz hob der Manticor vom Boden ab und schob sich in den bewölkten Himmel der Traumwelt. Er tanzte durch den Traumschleier und webte gleichzeitig den Traum, in den er das Mädchen bringen wollte. Hitomi sah das triumphierende Lächeln nicht, dass er zur Schau trug. Das Gift hatte sich längst in ihr ausgebreitet und den Weg geebnet. Mit einem wütenden Knurren ließ der schwarze Drache von dem Traumschleier ab, der ihn von Hitomi und seinem alten Feind trennte. Er konnte ihn nicht durchdringen. Der Drache seufzte unhörbar. Der Manticor hatte sich also doch auf seine Fähigkeiten und Stärken besonnen. Und vor allem seine gesamte Kraft wieder gefunden. Und ich werde immer schwächer... Der Drache schob den Gedanken hart bei Seite und konzentrierte sich auf anderes. Hier gab es keinen Weg zu Hitomi. Vielleicht auf der anderen Seite... Dann lauschte er und hörte den Ruf seines Sohnes. Der schwarze Drache breitete seine Schwingen aus und ließ sich in die Realität gleiten. "Da!" Shid zeigte aufgeregt in den Himmel. Schlamm tropfte von seiner Hand zu Boden. Sofort sahen alle in diese Richtung. Ein schwarzer Schatten näherte sich mit hoher Geschwindigkeit und je näher er kam, desto deutlicher war zu erkennen, dass es sich um den schwarzen Drachen handeltet. Schwungvoll landete der schuppige Riese auf dem Plateau der Säule und wandte sich Van zu. Seine gelben Augen blickten den Jungen durchdringend an. "Du hast mich gerufen," stellte er ruhig fest. "Kannst du ihr helfen?" fragte Van. Der schwarze Drache sah nachdenklich auf Hitomis Körper hinab. "Ich weiß es nicht. Ich war gerade in der Traumwelt. Der Manticor hat sie in seiner Hand. Ich konnte nicht zu ihnen durchdringen." Niedergeschlagen berührte er das Mädchen sanft mit seinem Maul. "Er hat mich besiegt. Dieses Mal hat er mich wirklich und wahrhaftig besiegt." Seine großen Augen schlossen sich. Van und die anderen sahen ihn entsetzt an. "Er ist stärker als je zuvor. Viel stärker. Ich habe gekämpft. Getan, was ich konnte, aber es war nicht genug. Ich war nicht gut genug... Ich mache mir Sorgen. Sorgen um Hitomi..." Als er seine Augen wieder öffnete, schimmerten große, perlengleiche Tränen in ihnen. Erschüttert sah Van den Drachen an. Bisher hatte er immer an die Stärke und Kraft des Drachen geglaubt. Und jetzt... Jetzt war dieser besiegt worden und Hitomi - Hitomis Geist, korrigierte er sich in Gedanken - befand sich in der Gewalt ihres Feindes. Van öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch er konnte nicht. Kein Ton kam ihm über die Lippen. Er wusste auch eigentlich nicht, was er sagen sollte. Langsam lief die Träne über die Wange des Drachen nach unten. Kapitel 37: 37. Anders geworden ------------------------------- Der Manticor trug Hitomi dem Traum entgegen, den er ihr zeigen wollte. Und danach würde sie ihm gehören. Ja, die Aura des Drachen verblasst langsam. Die Verbindung reißt. So sollte es sein... "Wo fliegen wir hin?" erkundigte sich Hitomi und duckte sich tief in die Mähne des Manticor. Der Wind schlug ihr kalt ins Gesicht. "Ich werde dir etwas zeigen. Die Vergangenheit. Deine Erinnerungen..." Sie tauchten in den Traum ein. Bilder prasselten auf Hitomi ein. "Das sind deine Freunde," grollte der Manticor leise. Hitomi sah die Erinnerungen an sich vorbeiziehen. Van, wie er sie am Anfang so grob behandelt hatte. Wie er gesagt hatte, dass er nur ihre Kräfte bräuchte. Wie sie sich nur noch ausgenutzt gefühlt hatte. Milerna, wie sie sie am Anfang so herablassend behandelt hatte. Merle, wie sie sich Hitomi gegenüber so gemein verhalten hatte. Allen, wie er sie küsste und ihr seine Liebe gestand. Dann wie er Milerna heiratete und glücklich war. Van, wie er ihr sagte, dass er sie lieben würde. Und dann Auriana heiratete. Die Hochzeitsnacht. Die Bilder, die Hitomi in dieser Nacht versucht hatte, aus ihren Gedanken zu zwingen, die sich ihr aber immer wieder aufgedrängt hatten. Jetzt sah Hitomi sie so klar wie nie zuvor. Eng umschlungene Körper. Leidenschaft. Vans Gesicht. Seine leuchtenden braunen Augen. Und dann Auriana, wie sie ihn leidenschaftlich küsste und wieder zu sich unter die Decke zog. Hitomi wurde schlecht. "Es reicht," stöhnte sie auf. "Es reicht..." Der Manticor lächelte böse auf. Oh nein, es reicht noch lange nicht. Werde mein, Mädchen vom Mond der Illusionen. Werde mein... Nun mischte sich Fiktion mit wahren Erinnerungen. Bilder von Van, Allen, Merle, Milerna und dem schwarzen Drachen prügelten auf sie ihn. Immer wieder Bilder, die ihr verrieten, wie sehr sie benutzt wurde. Wie wenig sie bedeutete. Wie sehr nur ihre Fähigkeiten zählten. Unwillkürlich fuhr Hitomis Hand zu der Tätowierung, die sie über ihrem Herzen trug. Sie zerrte an ihrem Ausschnitt herum und betrachtete sie. "Wenn du doch nur auf immer verschwinden könntest," flüsterte sie leise. "Verschwinde, Drache. Verschwinde aus meinem Herzen." Während sie noch hinsah, veränderte sich die Tätowierung langsam. Das Schwarz wurde zu einem blutigen Rot und aus dem Drachen wurde ein Manticor. Jetzt ist es genug. Der Manticor lächelte bei diesem Gedanken. Jetzt bist du mein... Dann schluchzte Hitomi laut auf und presste ihr Gesicht trostsuchend in die warme Mähne des Manticor. Der schwarze Drache riss den Kopf hoch. Die Träne verlief sich in den Schuppen seines Halses. "Nein," keuchte er heiser. Er schickte seine Gedanken auf die Reise, doch er konnte Hitomi nicht mehr erreichen. Seit sie sich das schwarze Drachen-Tattoo hatte machen lassen, war er immer in der Lage gewesen sie zu erreichen. Aber nun... Der schwarze Drache spürte schmerzhaft, wie die Verbindung riss und nur noch Leere hinterließ. "Nein." Er heulte verzweifelt auf. "Was ist?" Van neben ihm legte dem schwarzen Drachen die Hand auf das Vorderbein. "Ich habe sie verloren... Die Verbindung... Sie ist gerissen... Völlig," stammelte der Drache und versuchte vergeblich Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Erneut quollen silbrige Träne aus seinen großen gelben Augen hervor. "Es bleibt nur noch die Hoffnung..." murmelte er leise und betrachtete traurig Hitomis leblosen Körper. "Denn die Hoffnung stirbt doch zuletzt..." Allerdings wirkten seine Worte weniger überzeugt als vielmehr wie eine flehendliche Bitte. "Das sind keine Freunde, oder?" fragte der Manticor ernst, als er Hitomi langsam aus dem Traum zurücktrug und mit ihr auf der grauen Ebene landete. Hitomi rutschte von seinem Rücken und schüttelte den Kopf. "Nein, wohl kaum..." "Hilf mir," sagte der Manticor plötzlich und berührte mit seiner schwarzen Nase beinahe ihr Gesicht. Sie konnte seinen heißen Atem spüren. "Lass sie uns gemeinsam fertig machen. Zerschlagen. Zerstören. Nur das haben sie verdient..." "Ja..." Hitomi nickte langsam. Sie mussten bezahlen. Dafür, dass sie sie so benutzt hatten. Für diesen Schmerz. Diesen endlosen Schmerz, der in ihrem Herzen tobte. Dafür mussten sie bezahlen! Der Manticor lächelte triumphierend. Weiter rannen die Tränen über die schuppigen Wangen des Drachen. Er hatte noch immer den Kopf gesenkt und blickte Hitomi an. An seinem Maul sammelte sich die salzige Flüssigkeit und tropfte dann auf Hitomis Stirn. Der Drache weinte noch immer. "Was ist das?" Hitomi wirbelte herum. "Jemand ruft mich..." "Nein..." Der Manticor schreckte zusammen und sah entsetzt, wie Hitomis Gestalt immer mehr verblasste. "Ich werde immer bei dir sein!" rief er ihr nach. "Ich bin nun in deinem Herzen..." Beruhigt über seine Worte, gab Hitomi dem Drängen dieser stummen Stimme nach. Als sie verschwunden war, schüttelte der Manticor bedächtig seinen mächtigen Kopf. "Du hast also immer noch einen Trumpf in der Hand, Drache," murmelte er leise. "Aber dennoch... Ihre Erinnerung an diese Begegnung ist versiegelt. Du wirst nichts finden. Und ich allein habe nun Zugriff auf sie..." Er lachte laut auf. Hitomi schlug hektisch die Augen auf. Sie wischte sich über die Stirn und spürte die Feuchtigkeit. Verwirrt sah sie die klare Flüssigkeit auf ihrer Hand an. Dann klärte sich ihr Blick langsam und sie erkannte, wer sie ansah. "Hitomi!" rief Van überrascht aus. Er kniete neben ihr und zog sie jetzt ungestüm in ihrer Arme. Irritiert ließ Hitomi die Umarmung über sich ergehen und erwiderte sie zögerlich. "Es ist gut, dass du wieder da bist, Mädchen," brummte der Drache und blinzelte sich die Tränen aus den Augen. Seine Verzweiflung war verschwunden, aber er spürte gleichzeitig auch, dass etwas anders an Hitomi war. Sie war von einer neuen Aura erfüllt, die ihm nicht gefiel. Außerdem konnte er die mentale Verbindung zu ihr nicht wieder aufnehmen. Hitomi lächelte ihn an und meinte dann betont gelassen: "Ich lasse mich doch nicht so einfach unterkriegen." Plötzlich stürmte Merle zwischen den anderen hervor und sprang in Hitomis Arme. "Oh Hitomi!" schluchzte das Katzenmädchen. "Ich dachte schon..." Sie zitterte und konnte gar nicht mehr damit aufhören, Hitomi zu umarmen. "Es ist schön, wieder hier zu sein," lächelte Hitomi sanft in die Runde. Irgendetwas ist passiert. Aber was? Was ist passiert? Etwas ist anders geworden... "Geht es dir gut, Hitomi?" erkundigte sich nun auch Allen. "Ja, ja. Ich habe nur etwas... Seltsames geträumt." Hitomis Hand glitt unmerklich zu der Tätowierung über ihrem Herzen. Sie fühlte sich anders an und doch... War sie nicht immer so gewesen? In der Ruine auf der Rückseite Gaias streckte sich der Manticor mit einem zufriedenen Lächeln. Jetzt hatte er jederzeit freien Zugang zu dem Herzen des Mädchens vom Mond der Illusionen. Sie war die perfekte Waffe, denn von ihr erwartete niemand eine Gefahr. Noch nicht einmal der schwarze Drache. Der Manticor lachte spöttisch. "Nun, Drache, was wirst du jetzt tun?" Kapitel 38: 38. Versprechen --------------------------- "Auriana!" Das Grollen des Manticors klang durch die gesamte Ruinenstadt. "Herr." Auriana kam in den Thronsaal und verneigte sich anmutig vor ihm. Sie gab sich weiterhin Mühe mit ihrem Aussehen, obwohl er hier keine Rolle spielte. Es gab außer ihr und Balthéro nur noch wenige Menschen hier. Und der Manticor... Ihn interessierte es nicht, wie Menschen aussahen, sondern nur, was sie leisten konnten. "Was ist mit den Kindern?" fauchte er ungehalten. "Das Wachstum schreitet wie gewünscht voran. Beide entsprechen jetzt in etwa fünfzehnjährigen Kindern." "Gut... Dann ist es Zeit den Zauber zu beenden. Ich muss mich auf anderes konzentrieren. Ich brauche meine Kraft. Großes steht bevor..." Seine scharfen Zähne blitzten hell auf. "Herr, Lauria wird dann mit der Familie von Lethe nach Asturia gehen. Wie Ihr es befohlen habt. Sie werden noch heute abreisen." "Gut... Sag Balthéro, dass er Laures noch zwei Tage unterrichten kann. Danach wird er mit von Styx' nach Farnelia gehen..." Auriana verneigte sich demütig und verschwand wieder. Als sie den Thronsaal verlassen hatte, seufzte sie leise auf. In der Gegenwart ihres Herrn und Meister hatte sie immer das Gefühl, dass er ihr die Luft zum Atmen nehmen würde. Und manchmal wünsche ich mir, dass ihn nicht mehr sehen müsste... Unwirsch schüttelte sie den Gedanken ab und ging weiter. "Dir geht es wirklich gut, Hitomi?" Van fragte sie das nun schon zum zehnten Mal. "Van, lass diese Fragerei endlich sein. Mir geht es blendend!" Hitomi wurde langsam ungehalten. Mittlerweile waren die Freunde wieder unterwegs. Der schwarze Drache hatte ihnen noch vor seinem Abflug versprochen, dass sie den Sumpf bis Sonnenuntergang durchquert haben würden. Danach wartete noch das Gebirge auf sie. Hier hatte er aber kurzerhand auf eine Schlucht hingewiesen, die bis zu der kalten Wüste, die sich über die gesamte Rückseite Gaias erstreckte, führte. Ein letzter besorgter Blick hatte Hitomi noch getroffen, als er letztendlich verschwunden war. "Schau! Da ist der Sumpf endlich zu Ende!" lenkte Hitomi ab und war froh, als Van sich nun auf etwas anderes konzentrieren konnte. Er wandte sich kurz an Allen. "Wir fliegen schon einmal vor!" "Ist gut, Van," stimmte ihm der Ritter zu und sah dem mechanischen Drachen gedankenverloren nach, als er über den Sumpf davon jagte. Nur gut, dass es Hitomi wieder gut ging. Da war es kein Wunder, dass Van die Zeit nutzen wollte, um wenigstens ein bisschen mit ihr allein zu sein. Sanft landete Van Escaflowne. Hitomi sprang ab und sofort stand Escaflowne wieder als Guymelef da. Van sprang aus dem Cockpit und zog Hitomi in seine Arme. "Du hast keine Ahnung, was ich mir für Sorgen, um dich gemacht habe," murmelte er und presste sein Gesicht in ihre Halsbeuge. "Ach, Van," seufzte Hitomi und streichelte ihm liebevoll durch das schwarze Haar. "Ich kann dich doch nicht allein lassen..." Sie lächelte sanft. "Das werde ich niemals tun. Nie..." "Versprichst du mir das?" Vans Augen glänzten feucht, als er sie ansah. "Ja, das verspreche ich dir, Van. Ich werde immer bei dir sein. Was auch immer passieren mag." Zärtlich küsste sie Van. Als sie sich wieder von einander lösten, meinte Van mit einem breiten Grinsen: "Wir sollten jetzt langsam etwas zu Essen machen. Die anderen werden hungrig sein..." Hitomi nickte zustimmend. "Dabei kannst du mir dann auch erzählen, was du gesehen hast, als du ohnmächtig warst," fuhr Van fort und sah seiner Verlobten fest in die Augen. "Was meinst du?" Hitomi war überrascht. "Weißt du, Hitomi," erklärte Van, "Wenn du eine Vision hattest, dann hast du immer so etwas an dir... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Aber ich weiß, wann du eine Vision gehabt hast. Neulich Nacht hattest du auch eine. Bitte, erzähl mir, was passiert ist." Hitomi sah ihn an und verstand, dass er nicht nachgeben würde. Wahrscheinlich war es eh besser, wenn er Bescheid wusste. "Also gut," erwiderte Hitomi, "Aber unterbrich mich nicht." Sie begann von dem Traum mit dem Drachen zu erzählen, in dem sie sich im Irrgarten des Schlossgartens von Farnelia wieder gefunden hatte. Als sie zu der Stelle kam, wo es um die möglichen Kinder, die Auriana zur Welt gebracht haben könnte, ging, sog Van lautstark die Luft ein, aber er sagte nichts. Den Rest nahm er schweigend zur Kenntnis. Während Hitomi erzählte, hatten sie Holz gesammelt und langsam zu einem Lagerfeuer aufgeschichtet. Nun entzündeten sie es und Hitomi hängte den Topf über die Feuerstelle. Es würde wieder Eintopf geben. "Ich soll Vater sein..." murmelte Van leise, als Hitomi vorerst geendet hatte. "Das Schlimme ist nur: es macht ja Sinn, was der Drache sagt... Ist es wahr? Was meinst du?" Hitomi sah Van an und zuckte mit den Schulter. "Ich weiß es nicht, Van. Ich weiß es wirklich nicht. Aber es ist möglich. Und nach Meinung des Drachen sehr... wahrscheinlich. Weißt du, ob Auriana schwanger war, als sie ging?" "Hölle, nein! Dann hätte ich sie sicher nicht weggeschickt! Wer auch immer die Mutter ist, um mein Kind kümmere ich mich. Eine Schwangere wegschicken... Das ist... geschmacklos. Feige. Oh nein, die Verantwortung hätte ich sicher übernommen. Und außerdem: Das Kind, das sie vielleicht zur Welt gebracht hat, hat als Erstgeborenes des Königs von Farnelia das Recht darauf, sich der Prüfung für die Königswürde zu unterziehen..." Van schüttelte ratlos den Kopf. "Es bringt aber nichts, sich in Vermutungen zu verlieren. Wir werden die Wahrheit herausfinden und dann angemessen reagieren. Das ist das Beste, was wir tun können," sagte er schließlich entschlossen. "Du hast Recht..." "Und was ist mit der letzten Vision? Während du ohnmächtig warst." Van sah Hitomi erwartungsvoll an. "Ich weiß nicht... Ich erinnere mich nicht mehr... Nur, dass ich Angst hatte und... mir jemand geholfen hat. Mir hat jemand beigestanden und versprochen, dass er immer bei mir ist. Aber ich erinnere mich nicht mehr. Alles liegt wie unter einem Nebelschleier verborgen. Vielleicht war es ja auch einfach nur ein Traum..." Hitomi sah Van hoffnungsvoll an. "Ja, vielleicht..." brummte dieser zurück und stocherte im Feuer herum. Er glaubte es nicht. Kapitel 39: 39. Pläne --------------------- "Sind die Sandguymelefs einsatzbereit?" Hochmütig sah der Manticor seinen obersten Befehlshaber Balthéro an. "Ja, Herr. Die Kinder sind gute Soldaten. Sie werden ihre Arbeit gut machen," erwiderte der hoch gewachsene Mann. "Ich erwarte nichts anderes," grollte der Manticor zurück. "Sag ihnen, dass sie sich nahe der Schlucht in Position begeben. Unsere Gegner werden dort hindurchkommen..." "Ja, Herr." Balthéro nickte leicht. "Du wirst hier die Stellung halten. Mèo soll die Truppe anführen. Und schick Laures her. Ich will ihn sehen." "Ja, Herr." Der braunhaarige Mann verneigte sich ehrfürchtig und verließ dann den Thronsaal, um seinen Pflichten nachzukommen. Die Freunde hatten ihr Nachtlager direkt vor der Schlucht eingerichtet, die ihnen der Drache beschrieben hatte. Hier war es still und ruhig. Besonders Lothian empfand den festen Fels als willkommen Abwechslung zu dem schlammigen Boden des Sumpfes. "Ich hoffe mal, es gibt keine weiteren Überraschungen," brummte Allen und löffelte seine Suppe. "Wir haben doch jetzt schon alles durch," entgegnet Shid mit einem breiten Grinsen, "Was soll da noch großartig passieren?" "Hey, ist das irgendeine Anspielung?" Scherzhaft griff Allen nach seinem Sohn und verstrubbelte ihm das blonde Haar. "Kein bisschen, Vater. Kein bisschen!" lachte der junge Herzog und machte sie kichernd frei. "Wir nähern uns der Höhle des Löwen," erklärte Alexander ernsthaft. "Da sollten wir vorsichtiger werden. Das Schlimmste steht uns noch bevor." Schweigen antwortete ihm. Die anderen wussten, dass er Recht hatte, hatten diesen Gedanken bisher aber immer verdängt. "Lasst uns schlafen," quengelte Merle schließlich. "Wenn ihr noch weiter so redet, dann kriege ich kein Auge mehr zu!" Das Katzenmädchen griff entschlossen nach ihrer Decke und rollte sich zusammen. Nachdem Louvain es ihr gleichgetan hatte, legten sich auch die anderen hin. Nur Van und Alexander blieben zur ersten Wache auf. Hitomi träumte... "Ich habe dich erwartet," wurde sie auf der grauen Ebene von dem sanften Lächeln des Manticor begrüßt. "Hallo..." erwiderte das Mädchen vom Mond der Illusionen zögerlich. "Wir kennen uns, nicht wahr?" "Aber ja." Der Manticor lächelte und mit einem abrupten Flügelschlag zerriss er den Schleier, den er über ihre Erinnerung gelegt hatte. "Ah, ich erinnere mich wieder." Hitomi erwiderte sein Lächeln vertrauensvoll. "Und nun hör mir zu, Mädchen..." Der Manticor blickte ihr fest in die Augen und sie erlag dem Sog ihrer Bodenlosigkeit. "Was erwartet uns eigentlich, wenn wir den Manticor erreicht haben?" fragte Alexander und blickte Van nachdenklich an. "Ich bin mir nicht sicher," erwiderte der König von Farnelia. "Wenn wir - also die Kinder des Drachen - dort sind, dann kann auch der Drache durch diesen Schleier gelangen, den der Manticor aufrecht erhält, um sich zu schützen." Er zuckte mit den Schultern. "Ich schätze, dann werden sie kämpfen..." "Und wer garantiert uns, dass der Drache gewinnen wird? Was ist, wenn er verliert?" Alexanders dunkle Augen glänzten im Feuerschein. Van seufzte tief. "Ich weiß es nicht. Wir müssen ihm einfach vertrauen. Das ist das Einzige, was wir tun können." "Dieser Manticor ist ziemlich... Furcht einflößend," murmelte Alexander leise. "Der Drache ist es nicht. Aber vielleicht... Scheint es nur für uns so. Vielleicht ist der Manticor für sein Volk ja nicht so schrecklich..." "Herr." Laures verneigte sich zitternd vor dem Manticor. Der schwarzhaarige Junge sah so aus, als wenn er bereits fünfzehn Jahre alt sei, jedoch war er in Wirklichkeit erst vor relativ kurzer Zeit auf die Welt gekommen. Er war schlank und ein wenig schlaksig, aber durchtrainiert. Seine schwarzen Augen blickten ängstlich drein, als er den Manticor ansah. "Du hast Angst vor mir," sagte der Manticor mit schräg gelegtem Kopf. "Warum?" "Herr, ich... Ihr seid..." stammelte Laures und brach dann ab. Mit blassem Gesicht starrte er zu Boden. Der Manticor lachte. "Ich erschrecke also auch schon meine eigenen Kinder... Aber nun hör mir zu." Er näherte seinen Kopf dem Gesicht des Jungen so weit, dass er ihr fast berührte. Laures spürte den heißen Atem des Manticor direkt auf seiner Haut. Angstvoll blickte er in die bodenlosen Augen. Van streckte sich und trat dann zu Lothian rüber. Sanft weckte er den Wolfsjungen, dessen Wache nun an der Reihe war. Gleichzeitig rüttelte Alexander Allen unsanft an der Schulter. Nachdem das getan war, wickelten sich beide in ihre Decken und ließen sich auf dem harten Felsboden nieder. Schnell waren sie eingeschlafen. Van träumte... Verwirrt sah er sich auf der grauen Ebene um. Er war schon einmal hier gewesen, aber damals waren auch Hitomi und die Elfenpriesterin bei ihm gewesen. Aber so allein war dieser Ort unheimlich. Es gab nichts zu sehen. Alles war grau. "Van." Er drehte sich um und der Drache stand hinter ihm. "Du? Sind Visionen nicht Hitomis Sache?" fragte Van verblüfft. "Ich... kann sie nicht erreichen. Seit ihrem Sturz habe ich die Verbindung verloren." Traurig schüttelte der Drache seinen massigen Kopf. Dann straffte er sich wieder und blickte Van aus seinen gelben Augen fest an. "Hör zu, Van. Wenn ihr bei dem Manticor angekommen seid, musst du mich rufen. Dein Herz muss mich rufen. Ansonsten werde ich euch nicht erreichen können. Ich werde das auch Alexander sagen. Aber... Die Verbindung zwischen uns beiden ist nun die engste... Es muss reichen." Van nickte zustimmend. "Dann werde ich dich rufen, Drache. Vertrau mir." Der Drache lachte auf. "Das tue ich, Van. Das tue ich. Aber... Pass auf Hitomi auf. Ich weiß nicht, ob wir ihr noch trauen dürfen..." "Warum?" fragte Van nach, doch langsam löste sich der Traum auf und er konnte die Antwort des Drachen nicht mehr hören. "Vergiss das nicht, mein Sohn," sagte der Manticor eindringlich und zog sich langsam von Laures zurück. Der Junge kauerte zitternd am Boden. Die Bilder, die ihm der Manticor gezeigt hatte, hatten sich tief in seine Seele gefressen. Sein Vater, der ihn und seine Mutter verließ, als er noch so klein war, und sie einfach verstoßen hatte. Aus dem Schloss hinaus in die Wildnis. Seine Mutter, die schließlich an dem Kummer starb. Schlussendlich hatte der Manticor auch dem Drängen des Jungen nachgegeben und ihm den Namen seines Vaters gesagt: Van Farnel. Dann hatte der Manticor ihm versprochen, dass er, Laures Vater, sterben würde. Das war Balsam auf seiner Seele gewesen. "Und nun," lächelte der Manticor zufrieden, "Wirst du mit deiner Ziehfamilie nach Farnelia gehen und dort deinen angestammten Platz einnehmen. Du wirst König von Farnelia sein." "Herr." Laures stand mit wackeligen Beinen auf und sah dem Manticor fest in die Augen. "Ich danke Euch, Herr. Für alles." Dann drehte er sich um und verließ den Thronsaal. Zusammen mit seiner Ziehfamilie von Styx würde er die monatelange Reise nach Farnelia in dem kleinen, altersschwachen Luftschiff der Familie auf sich nehmen, um dort sein Erbe einzufordern. Er lächelte grimmig. Kapitel 40: 40. Durch die Schlucht ---------------------------------- Am nächsten Morgen begannen die Reisenden ihren Weg durch die Schlucht. Rechts und links der Guymelefs reichten hohe Steilwände bis in den Himmel. Immer wieder lösten sich kleine Felsrutsche und Steine prasselten auf den Boden. Das Sonnenlicht drang kaum in die schmale Schlucht hinein und so war es hier empfindlich kalt. Hitomi hatte ihre Decke eng um die Schultern gezogen und hielt sich an Escaflowne fest. "Hier müssen wir wirklich da durch?" knurrte Lothian gereizt hinter ihnen. "Das wir ja immer besser. Erst kaum durchdringbarer Wald, dann schlammiger, widerlicher Sumpf und jetzt eine Schlucht, in der wir jederzeit erschlagen werden können. Echt klasse..." "Hättest ja zu Hause bleiben können," schnauzte Alexander ungehalten zurück. Folkens Sohn machte noch die Traumbegegnung mit dem Drachen, die er letzte Nacht gehabt hatte, zu schaffen. Er hatte nie erwartet, dass der Drache zu ihm kommen würde. Nun gut, er gehörte auch zum Volk des Drachengottes, aber... Sonst war er immer zu Van oder Hitomi gegangen. Er erfüllte ihn mit Stolz, dass der Drache auch ihn brauchte. "Hey, Van!" rief er nach vorne. "Hat dich der Drache auch gestern Nacht besucht?" "Ah, dann war er doch noch bei dir," grinste Van. "Gut, dann weißt du ja, was Sache ist..." "Ja!" Alexander lachte übermütig. "Na toll. Und jetzt hab ich noch einen Verrückten bei mir," murrte Lothian. "Das ist ja nicht zum Aushalten..." "Was ist denn mit Lothian los?" fragte Merle leise und blickte des Cockpit von Castillo so an, als wenn sie es mit Blicken durchdringen und Louvain in die Augen sehen könnte. "Schlechte Laune." Der Löwenjunge zuckte mit den Achseln und Merle kam auf Castillos Schulter ins Rutschen, konnte sich aber festhalten. "Weißt du, manchmal ist er einfach so. Das ist das Raubtier in ihm." Der Löwenjunge grinste breit. "Wölfe sind nun einmal unberechenbar. Außerdem... Ihm macht das alles hier zu schaffen. Vor allem diese Unbestimmtheit unserer ,Mission'. Und da kann ich ihm nur zustimmen. Ich wüsste auch gerne, was wirklich passieren wird, wenn wir den Manticor erreichen. Wir laufen direkt in die Höhle des Löwen und wissen nicht wirklich, was uns erwartet... Lothian ist nur angespannt und macht sich auf alles gefasst. So ist er immer, wenn er unter Stress steht." "Aha." Merle pustete sich eine vorwitzige rosa Haarsträhne aus der Stirn. "Dann ist ja gut. Ich habe mir schon ein bisschen Sorgen gemacht..." Sie lächelte erleichtert. Hitomi fröstelte auf Escaflownes Schulter. Sie hatte irgendwie ein ungutes Gefühl. Sie konnte nur nicht sagen warum. Irgendetwas musste sie gestern Nacht geträumt haben, aber sie erinnerte sich nicht an Einzelheiten. Nur an ein Gefühl. An ein absolutes Vertrauen gegenüber jemandem. Langsam schüttelte sie den Kopf und blickte wieder in die Dunkelheit der Schlucht hinein. Van beobachtete Hitomi aus dem Augenwinkel. Ihr nicht mehr trauen? Wie könnte ich das denn! Ich liebe sie mit jeder Faser meines Herzen, mit jedem Stück meiner Seele! - Wie soll ich da an ihr zweifeln? Aber andererseits... Der Drache hat uns noch nie belogen... Ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll... Er seufzte leise auf und wischte mit Escaflownes Hand einige herabregnete Kieselsteine bei Seite. Sie prallten hinter ihm auf Lavender. "He!" rief Lothian ungehalten. "Pass doch auf!" "Ja, sie sind auf dem Weg..." Der Manticor lächelte leicht und blickte Auriana an. "Dein ehemaliger Ehemann wird uns bald besuchen..." Seine Augen blitzend vergnügt auf. "So?" Auriana desinteressiert eine Augenbraue hoch. "Nun, er wird wohl nicht mehr allzu lange leben." Gelangweilt sah sie den Manticor an. Dieser schüttelte den Kopf. "Ich sehe, du wirst mir immer ähnlicher." Er lachte auf. Innerlich zuckte Auriana zusammen, während sie nach außen weiter den Anschein der Unbeteiligtheit wahrte. Dir immer ähnlicher? dachte sie sorgenvoll. Und was ist, wenn ich das gar nicht will? "Endlich fertig!" Gardes schlug erleichtert die Luke zu und wandte sich an Kiro. "Versuch mal, ob es jetzt endlich funktioniert." Der Pilot nickte und drehte am Steuerrad. Jubel von draußen teilte ihnen mit, dass der Crusado endlich wieder einsatzbereit war. "Alle an Bord!" schrie Gardes durch das Luftschiff. "Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen!" "Mit Freuden," lachte Katz und nahm seine Position ein. Gardes sah mit einem Lächeln aus dem Fenster. "Na also, Kommandant. Wir sind endlich auf dem Weg..." Der Crusado hob von der Wiese ab und machte sich auf den Weg zur Rückseite Gaias. Die Schlucht zog sich lang vor ihnen hin. In dem beständigen Dämmerlicht und ohne einen freien Blick zum Himmel wirkte sie endlos. Schritt für Schritt stapften die Guymelefs vorwärts. Immer wieder gingen kleinere Erdrutsche los, die sie mit Sand und Staub bedeckten. Glücklicherweise waren keine größeren Steine dabei. "Wir sollten vielleicht eine Pause machen," meinte Van schließlich und blickte über die Schulter zurück. Die anderen blieben hinter ihm stehen. "Es ist nicht mehr weit," meinte Hitomi,. "Woher weißt du das?" erkundigte sich Allen von hinten. Hitomi zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es einfach. Es ist unsinnig so kurz vorm Ziel aufzuhören. Außerdem: wer garantiert uns, dass nicht gerade dann eine größere Lawine losgeht, wenn wir uns hier ausruhen?" "Ich finde, das klingt sehr vernünftig," maunzte Merle. Unbehaglich rutschte sie auf Castillos Schulter hin und her. Staub klebte an ihrem Gesicht und sie spähte immer wieder nach oben. "Ich muss den beiden zustimmen," knurrte Lothian. "Ich will hier auch nicht länger, als notwendig bleiben." "Also gut, dann gehen wir weiter. Wie lange, sagtest du, ist es noch?" fragte Van Hitomi. "Noch zwei Stunden, schätze ich," sagte sie und blickte wieder in ihrer Zielrichtung. Irritiert sah Van sie an. "Woher weißt du das so genau?" "Ich weiß es einfach. Ich... spüre ihn. Reicht dir das?" Die Decke war ihr von der Schulter gerutscht und sie zog sie wieder hoch. "Also gut, dann gehen wir weiter," wandte Van sich an die anderen und setzte Escaflowne wieder in Bewegung. "Herr, Mèo und die anderen sind in Stellung gegangen," berichtete Balthéro. "Gut..." Der Manticor räkelte sich gemütlich vor einem Kaminfeuer, während draußen ein besonders heftiger Sturm einsetzte. "Sag ihnen, dass sie bis morgen früh warten müssen. Eher werden unsere Gäste die Schlucht nicht verlassen. Der Sturm wird sie darin hindern. Die Soldaten werden warten müssen." "Ja, Herr. Ich werde es ihnen sagen. Die Funkverbindung sollte noch eine Weile standhalten." Balthéro nahm den Befehl ohne ein Wort des Widerstandes an. Er war nur froh, dass er die Nacht nicht draußen in einem Sandguymelef unter dem grauen Sand verborgen verbringen musste. Vor allem bei diesem Sturm. "Natürlich wird sie das, Balthéro. Sei unbesorgt. Alles läuft nach Plan." Der Manticor lächelte böse. Kapitel 41: 41. Sandsturm ------------------------- Genau zwei Stunden später erreichten sie das Ende der Schlucht und blickten einem gigantischen Sandsturm ins Auge. "Wir bleiben erst einmal hier," sagte Van bestimmt und zog sich mit Escaflowne wieder in den Schutz der Steilwände zurück. Müde kletterten die Freunde aus den Guymelefs oder sprangen von deren Schultern. Schnell wurde ein Feuer entfacht, um das sie sich setzten. "Und was kommt jetzt?" fragte Merle leise und lauschte auf das Heulen des Windes. "Wir müssen nur noch durch die kalte Wüste zu den Ruinen. Da ist der Manticor," erklärte Hitomi mit einem Lächeln und nippte an ihrem Tee. "Mir erscheint das alles etwas zu leicht," brummte Allen nachdenklich. "Irgendetwas muss der doch noch in petto haben. Denkt nur an die Sumpfechsen. Ich wette, da hat der auch hinter gesteckt. Und hier... Das ist doch der perfekte Ort gewesen. Ein wirklich großer Steinschlag und wir hätten keine Chance gehabt. Aber: nichts ist passiert. Und das macht mir Gedanken. Ich habe das Gefühl, dass wir in eine Falle tappen." "Du beschwerst dich, dass die Dinge gut laufen?" Louvain zog eine Augenbraue hoch und schüttelte seine blonde Löwenmähne. "Ehrlich gesagt: ich bin ganz froh, dass wir noch nicht wieder angegriffen wurden." "Ich muss Allen zustimmen," meldete sich Alexander zu Wort. Folkens Sohn stand auf, goss sich etwas Tee nach und setzte sich wieder. Er nippte kurz an der Tasse und stellte sie auf dem Boden ab. Dann stützte er das Kinn in die Hände und blickte in die Runde. "Wir sollen den Manticor wirklich nicht unterschätzen. Ich wette, dass er noch irgendeine Teufelei auf Lager hat. Aber ich denke auch, dass wir es schaffen können. Und dass der Drache am Ende siegen wird." "So viel Optimismus." Lothian knurrte abfällig. "Hast du nicht gestern Abend noch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass der Drache verliert?" "He, ich dachte, du hast geschlafen!" Alexander blickte den Wolfsjungen verblüfft an. "Zu dem Zeitpunkt noch nicht." Lothian lachte leise. "Ich habe euch noch eine Weile zugehört." "Also gut," räumte Folkens Sohn ein. "Ich ziehe nur gerne alle Möglichkeiten in Betracht. Daran ist nichts verkehrt. Es ist nur so... Ich finde, wir sollten etwas in der Hinterhand haben, falls alles schief geht." "Und was willst du gegen so jemanden, so etwas in der Hinterhand haben?" Louvain lachte auf. "Der Drache ist schon erschreckend genug. Und der Manticor... Er dürfte ihm in nichts nachstehen. Du hast ihn doch selbst gesehen. Irgendwelche Ideen?" Alexander schüttelte ratlos den Kopf. "Na bitte. Allein können wir auch nichts gegen ihn tun. Wir sind auf den Drachen angewiesen. Er ist unser einziger Trumpf..." "Was passiert eigentlich dann, wenn der Drache siegen sollte?" fragte Shid urplötzlich. Überrascht blickten ihn die anderen an. "Was ist? Das ist doch eine legitime Frage, oder nicht? Van, Hitomi, was passiert dann?" Van und Hitomi sahen sich an. Dann ergriff Hitomi das Wort. "Weißt du, Shid, es geht um den Kampf zwischen Zweien, die über Gaia herrschen wollen. Auf der einen Seite steht der Tyrann, der Manticor, und auf der anderen Seite steht ein Herrscher, der diese Bezeichnung nicht wirklich verdient, weil er gar nicht herrschen will. Das ist der schwarze Drache. Und wenn der Drache gewinnt, dann wird sich wohl nichts an der ,normalen' Lage ändern. Zumindest hat er gesagt, dass er sich nicht einmischen will." "Aha. Und wenn der Manticor gewinnt?" hakte der Herzog von Freyd nach. "Das will ich mir gar nicht ausmalen... Sagen wir es so, er ist der geborene Tyrann. Reicht dir das?" Shid nickte stumm. "Also, fassen wir einmal zusammen," sagte Van, "Wir gehen da raus, finden den Manticor, rufen den Drachen und lassen die beiden miteinander kämpfen. Toller Plan. Für mich klingt das auch viel zu einfach. Aber andererseits gibt es auch nichts anderes, was wir tun könnten." "Um auf unser Ausgangsthema zurückzukommen: Ich frage mich nur, warum wir bisher kommen konnten. Warum hat uns der Manticor bis hierher kommen lassen? Er hat uns doch schon mit dem Crusado bewiesen, dass er tun und lassen kann, was er will. Zumindest dann, wenn der Drache sich nicht einmischt." Merle spielte gedankenverloren an einer ihrer rosafarbenen Haarsträhnen herum. Ihre babyblauen Augen blickten fragend in die Runde. "Vielleicht ist das alles nur ein Spiel," sagte Van urplötzlich. "Vielleicht sind wir schon längst Teil irgendeines grausamen Spiels, das er mit uns treibt." "Ja, vielleicht." Allen nickte zustimmend und legte noch etwas Holz für das Feuer nach. "Das würde zu ihm passen..." In den Ruinen musste der Manticor lachen. Sein Grollen erfüllte die ganze Ruine und ließ den Boden beben. "Ihr seid wirklich unterhaltsam. Eine gute Wahl das Mädchen zu benutzen..." Er lachte erneut auf. "Und ich verspreche euch: es wird alles noch viel unterhaltsamer und interessanter werden..." Die Freunde beschlossen, diese Nacht die Wachen zu verstärken. Allen, Shid und Louvain blieben am Feuer sitzen, während sich die anderen zum Schlafen legten. Hitomi kuschelte sich eng an Vans Schulter und lauschte dem Heulen des Sturmes und Vans Atem. "Van, was auch immer passieren mag, vergiss nie, dass ich dich liebe. Ich liebe dich über alles," flüsterte sie einer plötzlichen Eingebung folgend. "Warum... warum sagst du das jetzt?" fragte Van verstört. "Ich habe das so eine Ahnung," murmelte sie leise und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. "Ich kann sie aber nicht präzisieren. Ich glaube, dass etwas geschehen wird..." Ihre Stimme wurde leiser und sie schlief ein. Van blickte auf ihr schlafendes Gesicht hinab und strich ihr zärtlich eine hellbraune Haarsträhne aus den Augen. Er seufzte leise und blickte zu der Felswand, die sich über ihnen erstreckte. Er wünschte sich, dass der nächste Morgen niemals kommen würde. Kapitel 42: 42. Hinterhalt im Sand ---------------------------------- "Dann lasst uns mal weiter..." murmelte Van am nächsten Morgen und schritt mit Escaflowne als Erster aus dem Schatten der Schlucht. Das Licht des frühen Morgens war noch schwach und die Sonne wurde durch helle Schleierwolken verdeckt. Nach und nach kamen auch die anderen Guymelefs ins Freie. Sie blieben Seite an Seite stehen und blickten über die kahle Ebene, die vor ihnen lag. Ein beständiger, kalter Wind wehte und trieb kleine Staubwolken vor sich her. Hin und wieder zuckten Blitze über den Horizont und leiser Donner grollte. "Warum fühlt sich das nur an, wie die Ruhe vor dem Sturm?" murmelte Alexander leise. "Wo müssen wir lang?" wandte sich Van an Hitomi. "Da lang!" Sie deutete mit der Hand direkt in westliche Richtung. Der Anblick dort unterschied sich durch nichts von dem, was sie in süd- oder nordwestlicher Richtung sehen konnten. Langsam gingen sie los. Sie waren keine hundert Meter weit gekommen, als der Sand neben ihnen auf einmal aufstob. Schlagartig waren sie von einem Dutzend stämmiger, sandiger Guymelefs umgeben. Schwerter wiesen auf sie. Die Freunde schreckten zusammen und wirbelten herum, doch sie waren von einer Sekunde zur anderen gänzlich eingekreist. "Ergebt euch!" klang eine dünne Stimme aus einem der Guymelefs. "Warum sollten wir das tun?" knurrte Van aus Escaflowne zurück und zog sein Schwert. Die anderen Guymelefs taten es ihm gleich. Auch Alexander und Shid griffen nach ihren Waffen. Merle kauerte sich erschrocken auf Castillos Schulter zusammen. Nur Hitomi blieb ruhig und sah die Sandguymelefs gelassen an. Sie erinnerte sich wieder. An die Begegnung mit dem Manticor und die Bilder, die er ihr gezeigt hatte. Ja, das war die Seite, auf der sie stand. Nicht diese Menschen hier, die sie einmal Freunde genannt hatte. Sie hatten sie im Stich gelassen, benutzt und verraten. Und nun tat sie es ihnen gleich. Allein ihre Verbindung zu dem Manticor hatte es möglich gemacht, dass die Angreifer sie hatten finden können. "Sonst werdet ihr sterben," kam die Antwort aus dem sandigen Guymelef. "Das werden wir ja sehen," fauchte Louvain und hob sein Schwert. "Das glaube ich eher nicht," lachte die Stimme. Dann öffneten sich nach und nach die Cockpits der Guymelefs. "Könnt ihr es verantworten, Kinder zu töten?" Mèo, der Anführer der Truppe, legte den Kopf schief und blinzelte die Reisenden an. In seinen kurzgeschorenen Haaren klebte der Sand und verlieh ihnen eine undefinierbare Farbe. Seine schwarzen Augen blickten hart drein. Sein Gesicht war staubig und offensichtlich er hatte die Nacht nicht geschlafen. "Könnt ihr Kinder töten?" wiederholte er. Die Blicke der Freunde wanderten von einem Guymelef zum anderen. In jedem Einzelnen saß ein Junge oder ein Mädchen, das höchstens zehn Jahre alt war. Dann schlossen sich die Cockpits wieder und Mèo drückte sein Schwert fest gegen Escaflownes Brustkorb. "Wollt ihr etwa mit Kindern kämpfen?" Die Sandguymelefs rückten näher. Verzweifelte Blicke gingen zwischen den Freunden hin und her. Krieger im Kampf zu töten, war eine Sache, aber Kinder...? Einer nach dem Anderen ließ die Waffe sinken. "Eine gute Wahl! Und nun komm her, Mädchen vom Mond der Illusionen." Mèos Sandguymelef streckte die Hand aus und Hitomi sprang hinüber. Sie drehte sich nicht um. "Gute Arbeit. Du hast sie wirklich direkt zu uns geführt. Wie der Herr es gesagt hat..." "Hitomi!" Van schrie auf. Er konnte nicht glauben, was er dort hörte. Sie sollte ihre Freunde verraten haben? Der Drache hatte also Recht gehabt... Aber warum? Warum hatte sie das getan? "Warum, Hitomi?" fragte er traurig. "Warum?" Hitomi drehte sich langsam um und zog ihren Pullover soweit herunter, dass Van die Tätowierung über ihrem Herzen sehen konnte. Statt dem vertrauten schwarzen Drachen blickte ihn von dort nun ein Abbild des Manticor an. "Der einzig wahre Freund..." sagte Hitomi und zog ihr Oberteil wieder zurecht. Sie blickte Van fest in die Augen und er sah eine Kälte, die er noch nie zuvor an ihr erlebt hatte. Das war nicht mehr die Hitomi, die er kannte. "Los, auf zu unserem Herrn," befahl Hitomi. Die Truppe setzte sich sofort in Bewegung. Die Sandguymelefs trieben die Gefangenen vor sich her. Sie drangen weiter in die kalte Wüste ein und waren auf dem Weg zu den Ruinen, in denen sie der Manticor erwartete. Der Crusado hatte den dichten Wald schneller hinter sich gelassen, als Gardes erwartet hatte. Der Rückenwind kam ihnen zu Gute. Langsam überquerten sie einen großen, glänzenden See. "Sieh mal! Sind das Elfen dort unten?" Kiro blickte neugierig aus dem Fenster. "Kann sein," brummte Gardes zurück und blickte auf die schillernden Gestalten herab, die sich am Seeufer aufhielten. "Schade, dass wir keine Zeit für einen Zwischenstopp haben..." seufzte Paile. "Der Kommandant wartet auf uns und wir werden ihn nicht enttäuschen." Entschlossen blickte Gardes wieder auf seine Instrumente. "Korrigier den Kurs ein wenig nach Westen," befahl er Kiro. Dieser nickte stumm und drehte an dem Steuerrad. "Es gibt eben Wichtigeres als die eigene Neugier," sagte er weise. "Balthéro, was soll ich nur mit unseren Gefangenen machen?" seufzte der Manticor theatralisch auf. "Sie direkt zu töten, ist viel zu langweilig..." "Ich bitte Euch, überlasst mir Van Farnel. Meinen Lehrmeister Dilandau zu rächen - das wäre mein größter Wunsch." Der Soldat verneigte sich ehrfürchtig vor dem Manticor und sah ihn bittend an. "Also gut, mein Sohn. Diese Bitte erfülle ich dir mit Freuden..." Der Manticor lachte grollend auf. "Und die anderen... Nun, wir werden sehen. Es gibt viele Arten zu sterben..." Kapitel 43: 43. Durch die kalte Wüste ------------------------------------- Schweigend zog die seltsame Prozession durch den Sand der kalten Wüste. Den gefangenen Guymelefs von Van, Allen, Louvain und Lothian waren die Arme mit schweren Ketten gefesselt worden. Zwar glaubte keiner der Kindersoldaten, dass es auch nur einer der Gefangenen wagen würde, sie anzugreifen, doch es lag nicht in der Natur ihrer Ausbildung unnötige Risiken einzugehen. Alexander, Shid und Merle durften ungefesselt auf den Schultern der Guymelefs sitzen, die sie auch schon die ganze Zeit über getragen hatten. Die Kinder hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass eine Flucht sinnlos wäre. Wohin hätten sie auch fliehen sollen? In die kalte Wüste hinaus, eine leere Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte? Oder zurück in die dunkle Schlucht? Außerdem wartete das Ziel ihrer Reise am Ende dieses Weges. Also rührten sie sich nicht. Hitomi hockte auf der Schulter des Sandguymelefs, der von dem Jungen namens Mèo gesteuert wurde. Sie starrte vor sich hin. Ungewohnter Zorn und Hass machten sich in ihr breit. Bilder tanzten vor ihrem inneren Auge. Bilder, die ihr der Manticor gezeigt hatte und die ihr bewiesen, dass diese Menschen, die sie einmal Freunde genannt hatte, diese Bezeichnung nicht verdienten. Sie niemals verdient hatten. Und doch... Warum gibt es mir keine Befriedigung, sie so zu sehen? fragte sie sich stumm. Ihre Hand glitt zu der Tätowierung des Manticors. Das Bild strahlte Kälte aus. Seltsam. Sie erinnerte sich, wie es sie früher immer mit Wärme erfüllt hatte. Aber damals... Damals hatte es noch anders ausgesehen. "Vertrau mir," klang die Stimme des Manticor sanft in ihren Gedanken und brachte sie davon ab weiter nachzudenken. Ja, ihm zu vertrauen... Das war das Einzige, was sie tun konnte. Van stapfte apathisch mit Escaflowne weiter. Er konnte immer noch nicht fassen, dass Hitomi sie verraten hatten. Dass sie sie direkt in die Arme dieser Soldaten geführt hatte. Und dann noch Kinder. Zehnjährige, einige waren sogar noch jünger. Erwachsene im Kampf zu töten war eine Sache, aber Kinder? Keiner von ihnen brachte so etwas über das Herz und so fügten sie sich. Wohlwissend, dass sie in den sicheren Tod gingen. Van seufzte auf. Hitomi... Was hast du nur? Das bist nicht mehr du... Du hast es geahnt, oder? Warum sonst das Versprechen gestern Abend? ,Was auch immer passieren mag, vergiss nie, dass ich dich liebe. Ich liebe dich über alles.' Das hast du gesagt. Und ich glaube dir. Ich weiß, dass es die Wahrheit ist. Aber warum dann? Warum dieser Verrat? Das macht alles keinen Sinn! Merle saß auf Castillos Schulter und brummelte vor sich hin. Sie war verwirrt. Ausgerechnet Hitomi hatte sie verraten. Hitomi, die Einzige, die sie jemals als Freundin betrachtet hatte. Hitomi, die sonst immer das Richtige tat. Das Katzenmädchen kratzte sich nachdenklich am Kopf. Sie kann Van nicht einfach verraten. Nein, das kann sie nicht übers Herz bringen. Und doch... Sie hat es getan... Merle schüttelte langsam den Kopf. Irgendwie passte das einfach nicht zusammen. Und doch war es so... Sie fragte sich nur warum. Allen hing ebenfalls seinen Gedanken nach, während er mit Scheherazade langsam vorwärts stolperte. Ausgerechnet von Hitomi hintergegangen worden zu sein, schmerzte ihn. Sie war nach all der Zeit eine enge Freundin für ihn geworden. Dass sie sich jetzt so von den Menschen abwand, die ihr wichtig waren, war für ihn absolut nicht nachvollziehbar. Der blonde Ritter seufzte tief auf. Dann dachte er an seine Frau, Milerna. Nur gut, dass du das nicht miterleben musst, Milerna. Wie deine beste Freundin - unser aller Freundin - sich gegen uns wendet... Lothian knurrte ihn Lavender vor sich hin. Er hatte geahnt, dass das hier nicht gut ausgehen würde. Doch alle Anspannung und Vorsicht hatte ihm nichts genutzt. Er war frustriert. Mit allen Angriffen, die von außen hätten kommen können, wäre er in der Lage gewesen umzugehen, aber von innen? Ein Angriff von innen? Von einem Menschen, dem er zu vertrauen gelernt hatte? Der Wolfsjunge knurrte angewidert und zog die Lefzen hoch. Seine scharfen Zähne blitzten im Cockpit auf. Die Familien- und Freundschaftsbindungen der Wolfsmenschen waren sehr eng und erinnerten stark an die engen Bindungen, die ein Wolfsrudel einging. Verrat war undenkbar. Und wer es doch wagte, das Rudel zu verraten, musste dafür mit seinem Leben bezahlen. Innerlich heulte der Wolfsjunge auf, doch er wusste, was er tun würde - einfach tun musste -, wenn er die Möglichkeit dazu hatte. In Castillo kämpfte Louvain mit seinen Gefühlen. Hitomi war einer der ersten Menschen, die ihn wirklich wahrgenommen und nicht nur wie ein Tier behandelt hatten. Merle liebte dieses Mädchen mehr, als sie sich je zugestanden hätte, und auch er hatte bisher an eine besondere Verbindung zu dem Mädchen vom Mond der Illusionen geglaubt. Doch jetzt... Unwirsch schüttelte der Löwenjunge seine dichte Mähne. Er verstand es einfach nicht. Wie konnte man Freundschaft so einfach wegwerfen? Einfach so? Für ihn bedeuteten die Freunde, die er in Farnelia gefunden hatte, alles, denn sie hatten ihm aus der dunkelsten Zeit seines Lebens herausgeholfen. Doch jetzt... Was war denn das hier? War das nicht ein weiterer schwarzer Moment? Nachdenklich blickte er zu Hitomi hinüber, die zusammengekauert auf der Schulter des Feindes saß. Nein, das tat sie nicht freiwillig. Mit Sicherheit nicht. Shid fühlte sich wie paralysiert. Er rutschte auf Scheherazades Schulter hin und her, fand aber keine Haltung, die ihm angenehm war. Wie hatte sie das nur tun können? Seit er Hitomi kennen gelernt hatte, hatte er ihr vertraut. Sie war so etwas wie eine Tante für ihn geworden. Er kannte sie zwar längst nicht so gut, wie Tante Eries oder Tante Milerna, aber er schätzte sie genauso. Und jetzt war er gefangen genommen worden, weil er diesem Mädchen vertraut hatte. Traurig schüttelte der Herzog von Freyd den Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr. Alexander brütete vor sich hin. Er starrte finster geradeaus. Und ihr habe ich vertraut... Aber warum, Hitomi? Wir sind gemeinsam vor dem Manticor weggelaufen! Wir haben die gleiche Angst gespürt! Warum hilfst du ihm auf einmal? Warum? Nein, wenn du uns hättest verraten wollen, dann hättest du es auch auf der Traumebene tun können. Das hier ist etwas anderes... Da steckt mehr dahinter. Wie nannte Van es noch? Ein grausames Spiel. Und ich wette, dass du unschuldig bist, Hitomi. Auch wenn es schwer fällt: Ich gebe den Glauben an dich nicht auf... Folkens Sohn lächelte bei dem Gedanken. Ein wenig Zuversicht keimte in ihm auf. Glaube an den Drachen. Vertrau auf ihn, rief er sich stumm in Erinnerung. Kapitel 44: 44. In der Höhle des Löwen -------------------------------------- Schnell zeigten sich die Ruinen am Horizont. Noch schneller erreichten die Wächter und ihre Gefangenen sie. Fast schien es so, als wenn der ewige Wind, der über der Ebene tobte, die Guymelefs besonders voran schob. "Aussteigen!" befahl Mèo ungehalten, als sie vor der größten Ruine angekommen waren. Rissige, brüchige Mauern ragten in den Himmel und warfen ihre kalten Schatten auf den grauen Sand. Stumm gehorchten die Gefangenen. Kaum hatten sie ihre Cockpits verlassen, als auch schon die Hälfte der Kindersoldaten um sie herum Stellung bezog und sie entwaffnete. Die anderen Kinder versiegelten die Cockpits der vier feindlichen Guymelefs mit schweren Ketten. "Kommt." Mèo ging als Erster durch das hohe Tor in das verfallene Gebäude hinein. Hitomi folgte ihm auf dem Fuße. Nach ihr kamen ihre gefangenen Freunde, dahinter die Wächter. Wie nach Hause kommen, schoss Hitomi durch den Kopf. Ich kenne diesen Ort... Für den Moment überkam sie ein Gefühl der Furcht, doch es verschwand sofort wieder und wurde durch blindes Vertrauen in den Manticor ersetzt. Die Wände des Ganges, durch den sie liefen, bestanden aus weißem Marmor und warfen das Licht kalt zurück. Hin und wieder leuchteten prachtvolle Gobeline an den Wänden. Als sie den Thronsaal betraten, überwältigten sie Pracht und Schönheit. Die Wände waren mehr als nur üppig mit Wandteppichen geschmückt, Gold und Silber glänzte an der Decke. Neben dem Thron stand der Manticor und blickte seinen Gefangenen gelassen entgegen. Seine dunkelrote Mähne glänzte blutig im Licht der Fackeln. Stolz hatte er seinen Kopf erhoben. Auf dem Thron selbst saß Auriana und blickte aus kühlen, blauen Augen in die Runde. Während die anderen stehen blieben, ging Hitomi weiter und fand ihren Platz an der Seite des Manticor. "Pah," knurrte Lothian angewidert. "Alles nur Illusion..." Seine gelben Augen blitzten angewidert auf. Augenblicklich verschwand der Prunk und wurde durch kahle, rissige Steinwände ersetzt. Ein paar Fetzen der edlen Gobeline hingen noch an den Wänden, doch der Großteil lag achtlos auf dem Boden. Alles war verfallen. "So, du kannst also durch meine Illusionen hindurchblicken..." grollte der Manticor und kam ihnen langsam entgegen. Er blieb dicht vor dem Wolfsjungen stehen. "Zuviel Realitätssinn kann einen umbringen, mein Lieber." Lothian zuckte zusammen. Ich sollte lernen, meinen Mund zu halten, dachte er stumm und senkte langsam den Blick. "Nun seid ihr also hier," erhob der Manticor seine Stimme. "Und was ist jetzt? Wollt ihr etwa den Drachen rufen?" Er lachte laut auf. "Versucht es, Drachenkinder. Versucht es doch..." Alexander und Van blickten sich an. Beide konzentrierten ihre Gedanken völlig auf den Drachen, doch nichts geschah. Sie konnten den Drachen nicht erreichen. "Was ist das?" fragte Alexander leise und verwirrt. "Nur sie," der Manticor deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf Hitomi, "kann ihn erreichen. Und das ist das Letzte, was sie noch will..." Er lachte spöttisch auf. Hitomi blickte starr gerade aus. Sie hatte das Gefühl, als wenn sie das alles nichts anging. Tiefe Kälte breitete sich in ihrem Inneren aus. "Wo ist Balthéro?" fragte der Manticor plötzlich. "Er wollte sich doch noch amüsieren..." "Herr." Der hoch gewachsene, dunkelhaarige Mann schob sich durch die Menge an Kindersoldaten. "Nimm ihn dir," knurrte der Manticor und blickte Van an. "Du wolltest ihn doch haben." "Ich danke Euch, Herr." Balthéro verneigte sich anmutig und wandte sich dann Van zu. "Van Farnel," sagte er angewidert. "Dein Tod wird die Rache für den Tod meines Meisters sein. Hier und jetzt." Balthéro drückte Van ein Schwert in die Hand und zog sein eigenes. "Verteidige dich, wenn du es kannst!" lachte der Soldat auf und sprang zurück. Unschlüssig hielt Van das Schwert in der Hand. Er verstand nicht, worum es ging. Welcher Meister? Was soll das alles überhaupt? Während Van noch reglos dastand, trieben die Kindersoldaten die anderen Gefangenen an die Wand zurück, um für den anstehenden Kampf Platz zu schaffen. "Feigling!" schrie Balthéro und sprang ungestüm vor. Van konnte gerade noch rechtzeitig sein Schwert hochreißen und den harten Schlag abblocken. Die nächste Attacke von Balthéro folgte auf dem Fuße. Mit einem Satz zur Seite wich Van dem Schwert aus und schlug zurück. Diesen wahnsinnigen Kampfstil, den Balthéro einsetzte, kannte Van nur zu gut. "Dilandau..." keuchte der König von Farnelia. "Dilandau war dein Lehrmeister." "Du hast es erfasst. Und ich werde seinen Tod rächen..." Balthéro lachte auf und stach erneut zu. Er erwischte Vans Hemd und schlitzte es an der Seite auf. Blut quoll aus dem Schnitt hervor. Van wich mit einem leisen Stöhnen zurück. "Aber ich habe Dilandau gar nicht getötet. Es war der Drache!" "Das spielt keine Rolle! Du bist der Sohn des Drachen, also bist du schuldig!" gab Balthéro unwirsch zurück. "Rede nicht, sondern kämpfe!" Erneut führte er eine blitzschnelle Attacke, der Van nur mit Mühe ausweichen konnte. Der schwarzhaarige Junge sah sich in die Enge gedrängt. Ohne es zu bemerken, war er bis an die Wand zurückgewichen und konnte nun nicht mehr ausweichen. Balthéro holte zu seinem nächsten Schlag aus. Verzweifelte sah Van sich nach einem Fluchtweg um. Dieser verrückte Krieger war viel stärker als er selbst. Dann fiel sein Blick zu der steinernen Decke, die sich gut fünfzehn Meter über ihm erstreckte. Nach oben... Van entfaltete mit einem lauten Schrei seine weißen Flügel. Gedankenschnell stieß er sich vom Boden ab und flog anmutig zur Decke. "Sieh an, der Junge hat Flügel." Balthéro lachte spöttisch. Dann spannte auch er sich und sprang in die Luft. Schwarze, ledrige Flügel breiteten sich aus seinem Rücken aus. Erschrocken sah Van seinen Kontrahenten an, der ihm gegenüber unter der Decke schwebte und sich mit ruhigen Flügelschlägen in der Luft hielt. "Du bist der Sohn des Drachen und ich bin der Sohn des Manticor." Mit diesen Worten griff Balthéro wieder an. Kapitel 45: 45. Freund gegen Freund ----------------------------------- Sowohl die Wächter, als auch die Gefangenen beobachteten die Kämpfenden. Lothian sah sich aus dem Augenwinkel um. Der Kindersoldat neben ihm, ein vielleicht elfjähriger Junge, hatte sein Schwert zurück in den Gürtel gesteckt und schenkte dem Kampf mehr Aufmerksamkeit als den Gefangenen. Lothian griff zu, entwand dem Kind das Schwert und stürzte vor. Hitomi stand noch immer ruhig neben dem Manticor und sah dem Kampf unter der Decke zu. Gerade wich Van einer erneuten Attacke Balthéros aus und startete einen Gegenangriff. Van blickte nach unten und erstarrte mitten in der Bewegung. "Hitomi!" Er schrie gellend auf, als er sah, dass der Wolfsjunge mit dem Schwert in der Hand auf Hitomi zusprang. So abgelenkt erwischte ihn Balthéros Schlag schmerzhaft auf der Brust. Blut sprudelte aus der Wunde hervor und Van stürzte ab. Vans Schrei hatte Merle aufgerüttelt. Sie stand Hitomi und dem Manticor am nächsten. Lothian holte gerade mit dem Schwert aus und wollte zuschlagen. "Niemand verrät das Rudel," knurrte der Wolfsjunge dabei. Merle sprang vor. Gedankenschnell überwand sie die Distanz zu Hitomi und warf sich auf das Mädchen vom Mond der Illusionen. Beide stürzten zu Boden. Lothians Schwert sirrte durch die Luft und riss dem Katzenmädchen den Arm auf. "Bist du total bescheuert geworden?" kreischte Merle entsetzt und sprang wieder auf. Mit einem wütenden Funkeln in den Augen sprang sie auf und stellte sich wieder vor die Freundin, die immer noch am Boden saß. Hitomi verfolgte das Geschehen aus leeren Augen. "Niemand verrät das Rudel." Lothian holte zu einem weiteren Schlag aus. Hinter seinem Rücken erkannte Louvain die Situation. Er entriss einem weiteren Soldaten das Schwert und hetzte auf seinen besten Freund zu. Van konnte seinen Sturz nur mit Mühe abfangen. Wenige Zentimeter über dem Boden gewann er wieder an Höhe und schwang sich erneut in die Luft. Die eine Hand hatte er fest um das Schwert gekrallt, die andere presste er sich auf die blutenden Wunde auf seiner Brust. Sein Blick fiel auf Hitomi, die augenblicklich außer Gefahr schien. Merle stand vor ihr und schirmte sie gegen Lothian ab. Verwirrt registrierte Van, dass außer Louvain niemand Anstalten machte sich noch einzumischen. Sowohl die Wächter, als auch der Manticor verfolgten nur die beiden Kämpfe. Kämpfe... Aus dem Augenwinkel sah Van eine Bewegung über sich und warf sich gerade noch rechtzeitig nach vorn um Balthéros Schlag auszuweichen. Mit einem lauten Fluch wirbelte Van herum und griff den Krieger offen an. "Es reicht..." knurrte der König von Farnelia und drang heftig auf den Sohn des Manticor ein. "Lothian! Lass den Mist!" Louvain hatte den Freund erreicht und fing dessen Klinge gerade eben vor Merles Brust mit seiner eigenen auf. Kraftvoll schlug der Löwenjunge seinen besten Freund zurück. "Lass es sein, mein Freund," keuchte Louvain traurig. "Lass es sein. Du darfst sie nicht töten." Auch wenn sie uns verraten hat, sie ist unsere einzige Chance... Dem Löwenjungen schlug das Herz bis zum Hals. Er wollte nicht gegen seinen engsten Freund kämpfen und doch musste er Hitomi verteidigen. Sie und Merle, seine große Liebe. Er wusste, dass Lothian in seinem Wahn alle töten würde, die sich ihm in den Weg stellten. So waren die Wolfsmenschen nun einmal. Treu bis in den Tod. Und wenn diese Treue verletzt wurde, dann... "Sie hat uns verraten. Niemand verrät das Rudel..." Lothian drängte Louvain langsam zurück und schielte aus dem Augenwinkel nach Hitomi. Diese saß noch immer reglos auf dem Boden. Merle stand vor ihr und hielt sich die tiefe Schnittwunde am Arm. "Verdammt, Lothian! Sie macht das nicht freiwillig!" Eindringlich sah Louvain seinem besten Freund in die gelben Augen. Doch er erkannte dort nichts mehr von dem Verständnis, das sie sonst anfüllte. Hitomi hatte das größte Verbrechen begangen, das man bei dem Wolfsvolk begehen konnte. Sie hatte ihr ,Rudel', ihre Freunde, verraten. Und dafür sollte sie nun sterben. So war die Kultur, aus der Lothian stammte. Und so war seine Denkvorstellung. Der Wolfsjunge konnte jetzt nicht anders handeln. So falsch es auch sein mochte. "Es tut mir Leid, Lothian," murmelte Louvain und hörte auf zurückzuweichen. Sein nächster Schlag war eine harte Attacke gegen seinen besten Freund. Van schlug schonungslos zu und drängte Balthéro langsam zurück, doch der dunkelhaarige Mann war noch längst nicht geschlagen. Van begriff, dass er seinen Kontrahenten empfindlich treffen musste, damit er überhaupt eine Chance hatte. Die Flügel, schoss es ihm durch den Kopf. Mit schmerzverzehrtem Gesicht wich er dem nächsten Angriff Balthéros seitlich aus und hieb fest auf die empfindlichen Flügel des Kriegers ein. Mit einem lauten Knacken brach er den Knochen und zerfetzte die dünne Haut. Blut schoss aus der Verletzung und mit einem lauten Schmerzschrei stürzte der Soldat ab. Van jagte hinterher, fest entschlossen, ihn nicht davon kommen zu lassen. Von Anfang an war es ein Kampf auf Leben und Tod gewesen und Van dachte nicht daran, jetzt nachzugeben und weich zu werden. Er durfte jetzt keine Gnade zeigen. Sein Leben hing davon ab. Hart schlug der dunkelhaarige Soldat auf dem Steinboden auf. Für den Sekundenbruchteil, den Van brauchte, um sicher zu landen, blieb er liegen, doch dann stand er langsam auf. Blut strömte von seinem Flügel herab und tropfte auf den Boden. Mit hasserfüllten Augen starrte Balthéro Van an. "Du wirst sterben..." flüsterte er. Mit einem Überraschungsangriff gelang es Lothian die Deckung des Löwenjungen zu durchbrechen. Nur mit einem halsbrecherischen Satz zur Seite konnte sich Louvain noch retten. Er kugelte über den Boden und kam sofort wieder auf die Füße. Doch dieser Moment hatte dem Wolfsjungen gereicht. Er hetzte zu Merle und Hitomi hinüber. Das Katzenmädchen sah ihn erschrocken an, blieb aber weiterhin als lebendiger Schutzschild vor Hitomi stehen. Teilnahmslos sah Hitomi dem Geschehen zu. "Lothian! Nein!" Entschlossen blickte Merle dem Wolfsjungen entgegen, der auf sie zugestürmt kam. Hinter ihm rannte Louvain, doch sie wusste, dass ihr Freund zu spät kommen würde. Merle zitterte vor Anspannung. Mit dem letzten Schlag hatte Lothian sie schon verletzt. Er würde auch diesmal nicht zögern. Das wusste sie genau. Merle warf einen schnellen Blick über ihre Schulter. Sie musste die einzige Freundin, die sie je gehabt hatte, beschützen. Sie musste es. Koste es, was es wolle. Mit einem lauten Schrei warf sich Merle nach vorn und riss Lothian von den Füßen. Louvain hatte den Wolfsjungen fast erreicht, als Merle gegen dessen Brust prallte, sein Schwert schmerzhaft in die Seite bekam und zusammen mit ihm nach hinten fiel. Instinktiv riss Louvain seine Klinge hoch und durchbohrte den Rücken seines besten Freundes auf Höhe des Herzens. Mit einem Seufzer sackte Lothian zusammen. Blut sprudelte aus der Wunde. Merle rollte sich erschrocken von der Brust des Wolfsjungen herunter. Louvains Klinge hatte auch sie nur um Zentimeter verfehlt. Sie presste die Hand auf die blutende Schnittverletzung an ihrer rechten Seite. Schmerzerfüllte keuchte sie auf. Entsetzt starrte Louvain seinen tödlich verletzten Freund an. "Das wollte ich nicht," flüsterte der Löwenjunge leise. "Das wollte ich nicht..." Silbrige Tränen rannen über seine Wangen. Langsam fiel er neben dem Katzenmädchen und dem Wolfsjungen auf die Knie, ließ das Schwert fallen und presste sich die Hände vor das Gesicht. Laut schluchzte er auf. "Merle! Lothian!" Alexander, Allen und Shid wurden von den Kindersoldaten grob daran gehindert zu ihren Freunden zu laufen. Der Manticor verfolgte das Geschehen mit einem leichten Lächeln. Balthéro konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten, dennoch griff er Van erneut an. Jetzt, wo der groß gewachsene Mann so weit geschwächt war, hatte Van keine Mühe mehr, seine Schläge zurückzuschlagen. Gleichzeitig war dem Jungen aber auch bewusst, dass er einen Sieg möglichst schnell herbeiführen musste, denn auch er selbst verlor durch die Wunde auf seiner Brust viel Blut. Mit einem entschlossenen Schrei sprang er vor und durchbrach Balthéros Deckung. Der Krieger krümmte sich, als Vans Schwert sein Herz durchbohrte. "Guter Kämpfer..." lächelte er kurz auf, bevor er tot zu Boden fiel. Erschöpft ließ sich Van auf die Knie sinken, warf das blutige Schwert bei Seite und presste beide Hände auf die blutende Verletzung auf seiner Brust. Jetzt spürte er den Schmerz erst richtig und war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Kapitel 46: 46. Schwarzer Drache -------------------------------- "Lothian, hör mir zu!" Eine sanfte Stimme drang durch den Schmerz, der die Gedanken des Wolfsjunge erfüllte. "Du musst Hitomi befreien. Du musst den Bann brechen. Das ist eure einzige Chance... Nur du kannst sie zurückholen." Die Stimme des schwarzen Drachen drang eindringlich in Lothians Bewusstsein. "Du allein bist stark genug, um sie aus dieser Illusion zu reißen. Nur du kannst es, Lothian. Du bist der Wirklichkeit so fest verbunden, dass du sie retten kannst. Lass deine Freunde nicht im Stich. Sie ist ihre einzige Chance..." Lothian hustete Blut und schnappte keuchend nach Luft. Seine ganze Konzentration galt der Stimme des schwarzen Drachen. Sein ganzes Denken war von den Worten des Drachen angefüllt und er spürte, wie Zustimmung in ihm emporstieg. Er wollte dem Drachen helfen und seine Freunde retten. Das Letzte, was er auf der Welt tun konnte, sollte etwas sinnvolles sein. "Sprich mir nach, Lothian. Sprich mir nach. Tu es für deine Freunde. Sprich mir nach..." flüsterte der schwarze Drache in seinen Gedanken. Mühsam richtete sich Lothian auf, blickte zu Hitomi hinüber und begann zu sprechen. "Insprinc... haptbandun, invar... vigandun." Er hielt inne und spuckte erneut Blut. Dann wiederholte er die Worte immer wieder. "Insprinc... hapt...bandun, invar... vigandun... Insprinc... haptban...dun, invar vi...gandun... Insprinc... hapt...bandun, invar... vigandun..." Mit letzter Kraft stieß Lothian die Worte hervor. Langsam schlossen sich seine gelben Augen und er fiel zurück. Auf dem Rücken liegend murmelte er schwach: "Alles für das Rudel..." Seine Brust senkte sich zum letzten Mal und er hörte auf zu atmen. Etwas geschah mit Hitomi. Sie krümmte sich auf dem Boden zusammen, als die Erinnerungen auf einmal auf sie einschlugen. Plötzlich rissen die Fesseln, die der Manticor um ihre Gedanken und Gefühle gelegt hatte und sie sah die Wahrheit. Sie sah, wie er sie benutzt hatte. Die Tätowierung über ihrem Herzen leuchtete hell auf. Dann wurde das Licht schwarz und das Bild des Manticor wurde wieder von dem schwarzen Drachen abgelöst. Keuchend blieb Hitomi liegen und starrte zu dem Manticor empor. Unbemerkt hatte er sich ihr genähert und blickte sie nun von oben herab aus seinen bodenlosen Augen an. "Du hast also doch noch einen Weg gefunden, Drache!" grollte er angewidert und hob seine Pranke über Hitomi, bereit zuzuschlagen. Mit schreckensweiten, grünen Augen starrte Hitomi zu der riesigen Tatze empor, die sich über ihren Kopf senkte. Schwarzer Drache, lass uns nicht im Stich! Komm her! Ich rufe dich, dachte sie mit aller Innbrunst und warf sich zur Seite. Ein helles Leuchten erfüllte urplötzlich den Thronsaal und der schwarze Drache erschien. Majestätisch schwebte er in der Mitte des Thronsaals. "Du!" Der Manticor wirbelte mit einem lauten Aufschrei herum, schwang sich in die Luft und stürzte auf seinen Feind zu. Anmutig hielt sich der Drache in der Luft und blickte seinem Erzfeind gelassen entgegen. Dann fiel sein Blick auf Van, der gerade das Bewusstsein verlor und mit dem Gesicht in den Staub fiel. "Na los, Folken. Dein Bruder braucht dich," murmelte der Drache leise. Mit einem hellen Lichtblitz materialisierte Folken neben seinem jüngeren Bruder. Mit ausgebreiteten, schwarzen Schwingen kniete er neben Van nieder. "Was machst du nur für Sachen?" flüsterte Folken leise und streichelte Van sanft über den Rücken. Van spürte, wie eine angenehme Wärme durch seine Glieder drang und das Leben in ihn zurückkehrte. Er erlangte langsam das Bewusstsein wieder. Dann öffnete er die Augen und richtete sich langsam auf. Mit einem Lächeln sah er seinem älteren Bruder in die Augen. "Folken." In Vans braunen Augen schimmerten Tränen. Liebevoll umarmte ihn Folken. "Lasst uns verschwinden," flüsterte Auriana den Kindersoldaten leise zu. In den sich überschlagenden Ereignissen hatte sie den Thron unbeobachtet verlassen und war zu den Soldaten geschlichen. Die blonde Prinzessin huschte als Erste durch die Tür. Nach und nach folgten ihr die Kinder. Sollte der Manticor gewinnen, würden sie es schon früh genug erfahren. Er brauchte sie, das wusste Auriana sicher. Sie war nun die Letzte von seinem Volk. Er hatte nichts davon, wenn sie aus Versehen bei diesem Kampf der Giganten getötet werden würde. Kopfschüttelnd blickte sie zu den ehemaligen Gefangenen zurück, die in Ehrfurcht den Kampf beobachteten. Wie konnte man nur so dumm sein! Aus dem Augenwinkel verfolgte Alexander das allmähliche Verschwinden der Wachen. Als das letzte Kind den Saal verlassen hatte, rannte er los. Allen und Shid folgten ihm. Schnell kamen sie neben Merle, Louvain und Lothian an. Sofort erkannte Folkens Sohn, dass er für den Wolfsjungen nichts mehr tun konnte, aber Merle konnte er helfen. Er zerriss sein Hemd und presste den Stoff auf die Wunde an ihrer Seite. Unter Schmerzen krümmte sich das Katzenmädchen zusammen und stöhnte leise auf. Hitomi hockte sich neben Alexander und bemühte sich ihm zu helfen. Doch die Blutung ließ sich nicht stoppen. Der Manticor prallte mit einem Wutschrei gegen den schwarzen Drachen. Funken sprühten, als sich die beiden Kontrahenten berührten. Fauchend und knurrend wichen beide zurück. Ihre heftigen Flügelschläge wirbelten feinen Staub auf. Der Drache reckte seinen Hals und spuckte laut fauchend Feuer. Die gelben Flammen schlangen sich um den Manticor, der heulend auswich. Kleine Flammen züngelten auf seinem Fell, als er sich auf den Drachen stürzte. Er riss sein Maul auf und spie weißes Feuer. Erschrocken wich der Drache nach oben aus und beobachtete, wie die weißen Flammen wirkungslos auf die Steinwand prallten. "Hast du etwa vergessen, dass ich das auch kann?" grollte der Manticor und griff von unten an. Mit seinen Vorderpranken schlug er nach dem Bauch des Drachen. Dieser wich aus und wirbelte herum. Seine scharfen Zähne fanden ihr Ziel und bohrten sich tief in die schwarzen Fledermausflügel des Manticor. Dann musste der Drache loslassen, weil der Skorpionschwanz seines Erzfeindes heftig nach ihm schlug. Doch er war nicht schnell genug. Der Stachel zerriss die feine Haut seines linken Flügels. Der Drache sackte ab und versuchte vergeblich sich in der Luft zu halten. Als er mit seinen vier Füßen auf den Boden krachte, bebte der Boden. Steine fielen von der Decke. Erschrocken pressten sich Allen und Shid an die Wand. Van und Folken hoben ihre Köpfe. Dann fiel Vans Blick auf das verletzte Katzenmädchen. "Folken!" rief er und deutete auf Merle. Sein Bruder verstand und gemeinsam rannten sie zu ihr. Merle lag auf dem Boden und krümmte sich in einer größer werdenden Blutlache. Sie hatte beide Hände auf die Wunde gepresst. Alexander, Hitomi und mittlerweile auch Louvain bemühten sich vergeblich die Blutung der Wunde zu stoppen. Hilflos mussten sie zusehen, wie das Katzenmädchen langsam aber sicher verblutete. "Lasst mich durch!" Unwirsch schob Folken seinen Sohn und Louvain bei Seite. Stumm blickte Alexander seinen Vater an. Obwohl er ihn noch nie zuvor gesehen hatte, hatte er ihn doch sofort erkannt. Folken legte seine Hände sanft auf Merles Schultern. Warmes Licht erhellte das Katzenmädchen und sie hörte auf sich zu winden. Der Blutstrom aus ihrer Seite versiegte. Ihre Lider flackerten und langsam öffnete sie die Augen. Sie blickte sich verwirrt um. Louvain seufzte erleichtert auf. "Mutiges Mädchen," murmelte Folken und zog Merle sanft hoch. Mit zitternden Knien stand das Katzenmädchen neben ihm und blickte dann zu den kämpfenden Giganten. "Oh Gott!" kreischte sie auf. Der Manticor prallte von oben auf seinen Erzfeind und bohrte seine scharfen Krallen durch dessen Schuppen. Der Drache wand sich unter dem Griff, konnte sich aber nicht befreien. Mit einem hasserfüllten Brüllen schnappte der Manticor zu und grub seine Zähne tief in den Hals des schwarzen Drachen. Mit dem Blick fest auf die beiden Kämpfenden stand Hitomi auf und schob sich zwischen Van und Alexander. "Glaubt an ihn," flüsterte sie leise und nahm die beiden an die Hände. "Vertraut auf ihn. Das ist seine einzige Chance..." Urplötzlich fühlte der Drache, wie ihn neue Kraft durchströmte. Das Vertrauen seiner Kinder stärkte ihn. Mit einem triumphierenden Schrei warf er den Manticor von seinem Rücken, wobei dieser tiefe, blutige Schrammen hinterließ. Schwarze Schuppen prasselten zu Boden und Blut floss aus den Verletzungen auf dem Rücken des Drachen. Fauchend standen sich beide gegenüber und blickten einander in die Augen. "Unser ewiger Kampf," keuchte der Drache. "Wird er jemals zu Ende sein?" "Ich werde es beenden!" brüllte der Manticor und machte einen Satz nach vorn. "Jetzt!" Gleichzeitig sprang auch der Drache vor. Als sich die beiden berührten gab es einen gleißend hellen Lichtblitz. Verwirrt heulte der Manticor auf. "Nein! Was ist das? Nein!" Die Stimme des Drachen klang ungleich ruhiger, als sie zum Abschied durch den Thronsaal dröhnte. "Findet die Kinder. Ihr müsst die Kinder finden. Das neue Volk..." Langsam verhallte seine Stimme und es wurde still. Das Licht löse sich auf. Weder von dem schwarzen Drachen noch von dem Manticor war eine Spur zu entdecken. Sie waren einfach verschwunden. A/N: "Insprinc haptbandun, invar vigandun" ist Altdeutsch und bedeutet übersetzt: "Löse dich aus den Fesseln, entflieh den Feinden". Epilog: 47. Epilog ------------------ "Er ist nicht tot," sagte Hitomi. "Er ist nur verschwunden..." Sie sah Folken Rat suchend an. Aber dieser gab ihr keine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. "Ich muss nun auch gehen," murmelte Folken leise. "Vater..." Alexander sah Folken aus traurigen Augen an. "Muss das sein? Ich habe dich doch gerade erst gefunden..." "Ich werde immer bei dir sein, mein Sohn," sagte Folken mit einem wehmütigen Lächeln. "Ich würde nichts lieber tun, als bei dir zu bleiben, aber ich kann es nicht..." Er streichelte Alexander sanft über die Wange. Dann breitete er seine Flügel aus und stieß sich ab. Als er bereits einige Meter über den Köpfen der Gefährten schwebte, sah er noch einmal zurück. "Wir werden uns wiedersehen. Mit Sicherheit," versprach er mit sanfter Stimme. Danach flog er der steinernen Decke entgegen und durchdrang sie, als ob sie nicht vorhanden wäre. Schweigend sahen ihm die Freunde nach. "Was machen wir mit Lothian?" durchbrach Louvains traurige Stimme die Stille. Er kniete neben seinem toten Freund und strich ihm sanft über das seidige, graue Fell. "Wir nehmen ihn mit. Er hat ein anständiges Begräbnis verdient," sagte Merle leise und legte ihrem Freund sachte die Hand auf die Schulter. "Ja..." Langsam verließen die Freunde die Ruine. Allen und Louvain trugen zusammen Lothians leblosen Körper. Als sie die Guymelefs erreichten, landete gerade der Crusado. "Wenigstens müssen wir nicht zurücklaufen," murmelte Merle leise. In einer stillen Felskapelle, tief unter dem Schloss Farnelias, durchbrach auf einmal ein heller Lichtschein die ewige Dunkelheit. Die glänzendschwarze Basaltstatue eines Drachen erschien auf einem großen Sockel. Als das Licht wieder verblasste, schien es, als wenn die Statue dort schon immer gestanden hätte. Ähnliches geschah in einer weiteren Felskapelle unterhalb der farnelianischen Provinz Sarya. Dort hinterließ der Lichtschein die rot glühende Statue eines Manticor. ENDE (vorläufig - eine Fortsetung erfolgt in "Schwarzer Drache: Silberschwingen") Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)