Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 18: Wettbewerb ---------------------- Otabek trug auch nach Ankunft Yuris Tasche, hatte aber auch Katyas Rucksack über den Rücken geworfen. Katya hatte sich wiederum bei ihm untergehakt und pfiff fröhlich vor sich hin. „Erkläre mir noch einmal: Warum muss ich deine Tasche tragen?“, fragte Otabek etwas genervt, vermutlich von ihren etwas überdrehtem Verhalten. Yuri hingegen schaute schon seitdem sie vom Parkplatz losgegangen sind, als könnte er mit bloßem Blick Löcher ins Gebäude bohren. „Weil du mich mindestens genauso liebst, wie ich dich“, flötete Katya, was Yuris Blick nur noch finsterer werden ließ. Victor vermutete, dass es seinem Cousin gar nicht so recht war, die Aufmerksamkeit seines neugewonnen Freundes teilen zu müssen. Sie waren gerade durch die Türen der Eishalle gegangen, da schnappte sich Yuri schon seine Tasche von Otabek und verkündete, dass er jetzt los müsse. Es hatte gerade noch so gereicht, dass sie ihm noch einmal 'Viel Glück' hatten hinterherrufen können, ehe sie dann etwas ratlos da standen. „Gehen wir mal rein und suchen Plätze“, schlug Victor in die ratlose Stille hinein vor. In dem Moment, in dem Victor den Vorraum verlassen und in die eigentliche Eishalle getreten war, atmete er tief durch. Er fand, dass Eishallen einen besonderen Geruch hatten und es roch irgendwie nach Zuhause. Auch die Kälte, die für andere eventuell etwas unangenehm war, fühlte sich für ihn irgendwie richtig an. Er konnte es nicht richtig in Worte fassen, aber er vermutete, dass es daran lag, dass er als Junge so viel Zeit auf dem Eis verbracht hatte. Als er zur Seite blickte, lächelte ihn Aida an. "Man könnte meinen, du fühlst dich hier heimisch. Warst du oft hier?" Victor schüttelte den Kopf. "Hier noch gar nicht. Aber ich bin früher auch gelaufen", erzählte er ihr. "Und warum hast du aufgehört? Nach 'keine Lust mehr' sah mir zumindest deine Reaktion eben nicht aus", schmunzelte sie. Victor musste über so viel Auffassungsgabe und Menschenkenntnis selbst schmunzeln. "Ja, stimmt", doch dann zuckte er mit den Achseln und steckte die Hände in die Taschen seines silbergrauen Anzugs. "Einer muss in die Fußstapfen meines Onkels treten." "Ah und das wolltest du Yuri ersparen, ja? Du bist echt ein guter Kerl“, lächelte Aida mütterlich und erneut musste Victor sich über so viel Durchblick wundern. „Wo sollen wir uns hinsetzen?“, wechselte Victor das Thema und schaute sich in der Halle um, in der erst wenige Besucher waren. „Ich würde vorschlagen, dass wir uns auf die lange Seite der Bahn setzen und da ziemlich mittig, falls die Plätze nicht für irgendwelche Leute reserviert sind“, schlug Victor vor und erhielt ein Nicken von seinen Begleitungen. „Dann auf die Nordtribüne?“, er deutete auf eine der Tribünen. Hintereinander bahnten sie sich den Weg durch die Reihen aus Sitzschalen, bevor sie sich genau mittig von der Eisbahn niederließen. Sofort zog Aida eine Decke aus ihrer großen Handtasche und breitete sie über die Beine von Katya und ihr aus. Während Otabek augenrollend mit den Kopf schüttelte, lachte Victor vergnügt. „An welcher Position startet Yuri?“, wollte Katya wissen. Victor nahm das Programm aus der Innentasche seines Sakkos und entfaltete die Broschüre. „An fünfter Stelle. Direkt hinter einem Amerikaner namens Leo de la Iglesia", las er vor, bevor er das Programm wieder sorgsam zusammenfaltete und einsteckte. Katya nickte und nahm ihren Rucksack ab, öffnete ihn und zog eine Kamera heraus. "Dann habe ich ja ein paar Läufe, um die Kamera zu justieren", lächelte sie. "Soll ich dir einen Platz an der Bande freihalten?", überraschte Otabek sie alle mit der Frage. Katya blinzelte ein paar Mal verwirrt, schüttelte aber dann mit dem Kopf: "Das kann ich nicht von dir verlangen." "Ach, das ist kein Problem. Ich würde dich auch um ein paar Bilder bitten", gab er murmelnd, aber doch für alle hörbar zu. Victor fiel alles aus dem Gesicht und Aida schaute ihn fassungslos an. Katya jedoch fand als erstes Worte. "Du willst Bilder von Yuri beim Eiskunstlauf?!", fragte sie ungläubig. "Ähm... Ja. Yuri und ich haben darüber gesprochen, dass er bald neue Lieder für seine Läufe braucht. Also habe ich meine Hilfe angeboten, aber da ich wenig Ahnung vom Eiskunstlauf habe, hilft mir vielleicht Bildmaterial", erklärte er. „Aber deine Mutter hatte mir mal erzählt, dass du zumindest als Kind immer begeistert Eiskunstlauf im Fernsehen angeschaut hast und das unbedingt auch machen wolltest. Sie war unglaublich traurig, dass sie dir den Traum nicht erfüllen konnte“, überlegte Aida und Otabek sah tatsächlich kurz so aus, als sei er verlegen. „Das ist doch Ewigkeiten her“, winkte er schnell ab und schaute sich dann in der Halle um. Seine Geste sah für Victor so ablenkend aus, als wäre ihm das Thema wirklich unangenehm. Er musste sich ein Grinsen verkneifen. Er freute sich wirklich, dass Yuri jemanden gefunden hatte, mit dem er scheinbar recht gut klar kam. Sonst hätte sich Otabek sicher nicht zum Helfen bereit erklärt und andersherum hätte Yuri seine Hilfe nicht angenommen. Victor seufzte zufrieden. Er freute sich, wenn wenigstens mal ein Teil seines Plans funktionierte. Das war in letzter Zeit doch echt selten geworden. Neugierig und voller Vorfreude blickte sich Phichit in der Halle um. „Yūri! Schau dich mal um!“, er hing fröhlich am Arm seines Freundes. „Ist das nicht schön, wieder in einer Eishalle zu sein?“ Yūri, der gerade die Augen geschlossen hatte, um den Geruch der Halle in sich aufzunehmen, wurde so jäh aus seinen eigenen Gedanken gerissen. „Ähm, ja. Dabei ist es gar nicht so weit. Wir hätten echt mal eine Runde hier drehen sollen“, sagte Yūri etwas schwermütig. „Und in die Fußpilz verseuchten Dinger vom Verleih steigen?“, Phichit zog eine angewiderte Grimasse. „Jetzt stell dich mal nicht so an, die werden gereinigt und desinfiziert“, seufze Guang Hong neben ihnen genervt. „Weißt du das? Und wie gründlich sind die?“, warf Phichit ein. „Ich hole mir bestimmt nicht irgendeine Krätze, nur weil irgendwer seinen Job nicht richtig macht!“ Yūri musste lachen, weil es ihm schon ein wenig aus der Seele sprach, aber auch, weil Phichit mal wieder alles überdramatisierte. „Also das mit der Krätze kann ich nicht beurteilen, du bist hier der Arzt, Dr. Chulanont“, scherzte Yūri und Phichit grinste bei dem Titel. „Aber abgesehen von alldem, wir haben alle mal auf Wettkampfniveau auf dem Eis gestanden. Ich glaube nicht, dass uns die Mietschlittschuhe wirklich Spaß machen würden“, seufzte er und sprach die Erkenntnis aus, die er bereits vor Kurzem beim Joggen gehabt hatte. Sofort kamen ihm wieder die Gedanken in den Sinn, die er vor dem Gebäude von Katya gehabt hatte. Dabei musste er feststellen, dass einfach der Hund es ihm angetan hatte. Makkachin war wirklich ein sehr fröhlicher und aufgeweckter Hund. Er würde gerne mal einen längeren Spaziergang mit ihm machen. Unwillkürlich kam die Frage bei ihm auf, was für ein Hund Victor wohl hatte? Er erinnerte sich an die Situation, als Victor sein Handy holen wollte, um seine Durchwahl aufzuschreiben und sein Hund sich dann an ihm vorbei ins Schlafzimmer gedrückt hatte. Am Ende war eine wirklich schmutzige Badezimmerfantasie daraus geworden. Yūri lachte leise vor sich hin. Er versuchte sich die Situation vorzustellen. Welche Hunderasse würde wohl zu so einem Mann passen? Wie würde er Victor einschätzen? Er vermutete, Victor hatte immer alles unter Kontrolle und lebte ein sehr strukturiertes Leben. Doch irgendwas sagte ihm, dass er damit nicht unbedingt zufrieden war. Vielleicht kam das daher, dass es Victor immer zu erregen schien, wenn Yūri ihn mit der ein oder anderen Fantasie überraschte? Hatte er ihm nicht auch gesagt, dass er gute Überraschungen liebte? Bevor Yūri noch ein peinliches Erlebnis mit seiner Hose mitten in einer Eishalle bei einem Wettkampf eines guten Freundes hatte, lenkte er seine Gedanken wieder auf die Frage, was für ein Hund Victor haben konnte. Leider wusste er nicht, ob sein Hund einfach nur vorbei gehuscht war oder ob er sich mit Kraft den Weg freigemacht hatte. So konnte er sich nicht auf kleine oder große Hunderassen beschränken. Aber irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass Victor einen Chihuahua hatte. Oder einen Malteser. Andererseits vermutete Yūri, dass Victor sehr modebewusst war. Waren nicht diese Nackthunde beliebt? Chinese Crested oder wie sie hießen? Yūri schüttelte sich. Er hoffte nicht, dass das der Fall war. Daher schloss er einfach mal aus, dass Victor einen kleinen Hund hatte. Da sie in Amerika waren, hatte er vielleicht einen amerikanischen Cocker Spaniel? Oder war er dieser Typ Mensch, der einen Labrador hatte? Vielleicht lebte er aber auch in einer der kälteren Regionen Amerikas. Vielleicht in Alaska und er hatte einen Husky? Als Russe würde er sich zumindest von der Temperatur dort wohlfühlen. Vielleicht mochte er es aber auch eher extravagant und hatte eine dieser Windhunderassen. Saluki oder Galgo Espanol, glaubte er, hießen sie. Letztens hatte er erst einen Bericht über Windhunde gesehen. Irgendwie hatte er da immer das Bedürfnis, Futter zu spenden. Oder es war ein Neufundländer. Yūri musste lachen, als er sich vorstellte, wie man mit einem solchen Hund im Bett umgehen musste. Da musste man sicherlich ein riesiges Bett haben, um nicht auf dem Boden zu landen. Aber es gab doch auch eine russische Rasse von Großhunden. Er überlegte angestrengt. Barsoi. So war der Name. „Yūri, schau! Es geht los“, wurde er von Phichit erneut aus den Gedanken gerissen und zuckte zusammen. Erst jetzt stellte er fest, dass er bereits auf den Rängen saß. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er einfach nur noch mitgelaufen war. Das war ihm jetzt tatsächlich etwas peinlich. „Wie viele Eiskunstläufer treten heute an?“, wisperte Yūri zu Phichit, während die Musik des ersten Läufers begann. „Insgesamt sind es Sechs. Nach dem 3. Läufer machen sie noch einmal die Bahn und es gibt eine kleine Pause mit Rahmenprogramm. Dann kommt Leo und danach ein russischer Läufer, der hier in Amerika trainiert. Und dann noch wer, den ich nicht kenne“, lachte Phichit. „Ist das mittlerweile normal? Also die Pause? Kann mich gar nicht daran erinnern… War ich zu nervös, um das mitzubekommen?“, Yūri runzelte die Stirn. „Nein, aber der Wettbewerb dieses Wochenende ist ja auch mehr Schaulaufen und so. Das ist ja kein ernstzunehmender Wettkampf. Angeblich dient das mehr zur Nachwuchsgewinnung“, Phichit zuckte mit den Achseln. „Und dann treten Läufer aus anderen Ländern an?“, fragte Yūri ungläubig. „Nun ja, hier leben auch viele Menschen aus anderen Nationen. Und die anderen Läufer können schauen, wo sie vor der neuen Saison stehen“, argumentierte Phichit, ohne die Augen von dem Läufer zu nehmen. „Ja, du hast wohl recht“, damit fokussierte er sich auf den Eiskunstläufer, der kurz vor dem Finale seines Auftritts war. In Situationen wie diesen vermisste er das Eis unglaublich. Er fragte sich, was passiert wäre, wenn er sich den Schritt doch getraut hätte. Gab es vielleicht eine andere Welt oder eine andere Zeit, in der er das Zeug dafür gehabt hätte, um den Sieg mitzulaufen? Victor verspürte Freude und Leid gleichermaßen. Sich in der Musik und den fließenden Bewegungen der Läufer zu verlieren, machte ihm nach wie vor Spaß. Er fragte sich, ob er es besser gemacht hätte und ob er diese Musik oder jene Figur so verwendet hätte. Er fragte sich, ob er glücklicher geworden wäre, wenn er nur an sich gedacht und mit dem Sport weiter gemacht hätte. Hätte er vielleicht jemanden gefunden? Oder wäre mit sich im Allgemeinen eher im Reinen? Andererseits, hätte er so Chris kennengelernt? Oder Yūri? Wobei, galt das überhaupt? Hatte er Yūri wirklich kennengelernt? Er gab sich gerne der Illusion hin, denn immerhin hatten sie Momente geteilt, über Dinge geredet, die vielen Paaren zu schmutzig waren, um sie vor einander auszusprechen. Wobei das Victor wirklich schade fand. Er sprach nur allzu gerne darüber, was er mit seinem Partner anstellen würde. Nicht, dass er bisher sonderlich viele Gelegenheiten dazu hatte, denn seine bisherigen Beziehungen, wenn man sie so nennen durfte, hatten nie wirklich lange gehalten. Das Einzige, was relativ lange hielt, war das mit Chris. Und das war eigentlich nur so eine Freundschaft-Plus-Geschichte. Keiner von den beiden hatte das damals richtig ernst gemeint, aber sie hatten viel Spaß miteinander gehabt, denn Chris war ähnlich experimentierfreudig gewesen, wie es Victor war. Doch nach der Uni hatte er seine körperlichen Bedürfnisse weitestgehend hinten angestellt. Zwar hatte die ein oder andere Frau oder auch Mann ihn mal angetestet, aber gerade er wollte Berufliches und Privates strikt trennen. Neider gab es immer schnell und sein Partner würde das wohl voll abbekommen. Außerdem würde nach einer Trennung so vermieden, dass man schmutzige Wäsche wusch. Nicht, dass Victor der Typ dafür war. Immerhin war eine Trennung meist hässlich genug, aber die Verbitterung ließ manche Menschen komische Dinge tun. Und die Liebe erst recht. Zwei Dinge, die Victor nur allzu gut kannte. Das Einzige, was den Charakter von Menschen noch mehr vermieste, war Geld. Und als vermutlicher Verlagserbe war das auch noch ein ganz großes Thema. Wer wollte da nicht ein Stück vom Kuchen, wenn er die Möglichkeit hatte. Victor seufzte und bedauerte, fast den kompletten Auftritt des zweiten Läufers verpasst zu haben. Er blickte kurz nach links und stellte fest, dass seine drei Begleiter wie gebannt auf das Eis starrten. Victor musste lächeln. Er fand es wundervoll, wenn man die Macht hatte, Menschen mit dem, was man tat, berühren zu können. War es nicht wunderbar, Menschen ein Lächeln auf die Lippen zaubern zu können, während man das tat, was man am Liebsten machte? Natürlich war soetwas mit viel Arbeit, Anstrengungen und oftmals auch Entbehrungen und Schmerzen verbunden. Aber machten nicht genau diese Momente soetwas wert? Victor beschloss, bei der nächsten Veröffentlichung Alan zu Signierstunden oder einer kleinen Lesetour zu verdonnern. Es wäre gute Werbung und auch Victor konnte endlich mal wieder ein wenig von diesem Gefühl tanken, an etwas gearbeitet zu haben, dass andere Menschen berührte. Nicht, dass es seine Ideen waren und er war sich auch fast sicher, dass er absolut ersetzbar war... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)