Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 21: Nicht sein Tag -------------------------- Schon als der Wecker geklingelt hatte, war es Victor klar gewesen: Das würde nicht sein Tag werden. Doch auch wenn er es bereits geahnt hatte, wenn er gewusst hätte, was das Schicksal tatsächlich für ihn vorbereitet hatte, dann wäre er im warmen Bett geblieben. Doch er war völlig übermüdet aufgestanden, hatte sich zwei Finger beim Kaffee zubereiten verbrüht, sich beim Rasieren geschnitten, beim Kaffee trinken sein Hemd versaut, sich wieder umgezogen und dann viel zu spät auf den Weg zur Arbeit gemacht. Natürlich konnte Victor nicht behaupten, dass nicht ein gewisser Mitarbeiter – oder Ex-Mitarbeiter – einer Telefonsex-Hotline der Grund dafür war. Eher im Gegenteil. Jeder, der auch nur ein klein wenig von dieser Tatsache abgewichen wäre, hätte gnadenlos gelogen. Aber Victor hatte es auch nicht geschafft, sich zusammenzureißen. Eigentlich war seine Hoffnung gewesen, seinen einzigen Termin am Morgen abzuwickeln und sich dann mit Arbeit nach Hause zu verdrücken, aber das hatte sich mit einem lauten Knall und Scheppern in Wohlgefallen aufgelöst. Stattdessen dröhnten seine Ohren und er blickte verwirrt in den Nebel. Er hatte ein Pfeifen auf den Ohren und alles lief wie in Zeitlupe ab. Und er hatte immer über die langsamen Bilder in Kriegsfilmen oder nach Explosionen in Actionfilmen die Augen gerollt. Nun wusste er, es ist real. Seine Augen erfassten einen Schatten im Nebel, aber er konnte ihn nicht mit einem Blick fixieren. Sein Körper fühlte sich taub an und er hatte völlig die Orientierung verloren. Er nahm etwas am Rande seines Blickfeldes wahr und drehte schwerfällig seinen Kopf dorthin. Da stand jemand, doch Victor konnte keine Details des Gesichts ausmachen. Er kniff kurz die Augen zusammen, doch er erkannte nur, dass er die Lippen bewegte. Dann hörte er ein dumpfes Klacken und einen Schwall frischer Luft. Kalte Hände an seinem Gesicht holten ihn aus seinem Dämmerzustand und mit einem Ploppen war auch sein Gehör wieder da. "... ihnen gut? Hören sie mich? Geht es ihnen gut?", hörte er eine unbekannte und doch irgendwie vertraute Stimme. Er blinzelte und dann war er wieder da. "Ja. Tut mir leid. Ich war wohl kurz weg", dabei rieb er sich selbst mit einer Hand über das Gesicht. Die kalten, aber wohltuenden Hände verließen sein Gesicht und beinahe hätte er 'Nicht' gewimmert. Die Berührung hatte gut getan. Endlich ging seine Hand an den Öffner seines Sicherheitsgurtes und er wandte sich zu der Person um, die ihm zur Hilfe gekommen war. Sofort sprangen die geweiteten, braunen Augen in den Blick. Victor meinte Sorge darin zu sehen, aber auch noch etwas anderes zu sehen. Oder spielte da sein durchgeschütteltes Gehirn einen Streich mit ihm? Der zweite Blick ging zu den Lippen, wie sein Gegenüber sich diese mit der Zunge befeuchtete und sie zum Sprechen teilte. All das und auch seine Stimme, hatten für Victor etwas Sinnliches, ohne auch nur den Grund dafür genau nennen zu können. Es war irgendwie Musik in seinen Ohren. Wie eine Melodie, nach der er schon eine Weile gesucht hatte. "Tut... tut ihnen etwas weh?", fragte der junge Mann vor ihm zögerlich. "Nein, bei mir gehts", winkte Victor ab und warf einen Blick aus der Windschutzscheibe heraus. Beim Wagen vor ihm war ebenfalls die Tür der Fahrerseite geöffnet, doch außer ein paar wenigen Schaulustigen war niemand zu sehen. "Bin ich ihnen reingefahren?", fragte er und blickte wieder zu seinem Helfer, der nur nickte. "Bei ihnen auch alles ok?", wollte er nun wissen, auch wenn er sich sicher, war dass er zumindest nichts Ernstes haben könnte, wenn er ihm zur Hilfe kam. Es dauerte ein wenig, bis die Antwort kam, doch dann hörte er ein kleines, wenn auch unsicheres Lachen. "Sie haben mein Auto nur leicht erwischt, sind aber dafür mit Schwung in die Poller gefahren. Das hätte böse für sie ausgehen können", sorgenvoll schob er die Augenbrauen zusammen und musterte ihn. Victor konnte nicht behaupten, dass er etwas dagegen hatte, dass diese wunderschönen Augen nur auf ihm ruhten. "Soll ich vorsichtshalber einen Sanitäter rufen?", doch Victor schüttelte nur mit dem Kopf und drehte sich auf den Sitz, um seine Füße auf die Straße zu setzen. Behutsam richtete er sich auf und ging mit noch leicht unsicheren Schritten zur Front seines Autos. Er merkte, dass der junge Mann ihm unsicher gefolgt war, während er seufzte, seinen Kopf beugte und die Stirn in die Hand legte. "A-alles ok?", ertönte wieder diese wohlig-warme Stimme neben ihm. Eigentlich nur um den anderen zu beweisen, dass es ihm gut ging, kniete er sich auf den Asphalt. Die Bewegung war für den Anderen scheinbar so abrupt gekommen, dass dieser beinahe überrascht einen Satz machte und sich dann besorgt zu ihm hinunterbeugte, bevor er merkte, dass er nur einen Blick unter sein Auto werfen wollte. Amüsiert hatte Victor das aus den Augenwinkeln wahrgenommen. "Wenigstens läuft kein Öl oder Kühlflüssigkeit aus", stellte er erleichtert fest und drehte sich dann zu der Reihe Poller um, gegen die er gefahren war. "Möchtest du den Unfall von der Polizei aufnehmen lassen? Weißt du, ob man das nicht eh machen muss, wenn man Eigentum der Stadt beschädigt hat?", grinste Victor schief. Sein Gegenüber blickte ihn wieder in die Augen, doch der Rotschimmer auf den Wangen war Victor nicht entgangen. Er fand sogar, dass es ihm ausgezeichnet stand und eine schelmische Seite an ihm wünschte sich, den Anderen möglichst häufig in Verlegenheit zu bringen. Wobei sich Victor nicht sicher war, warum er hätte verlegen sein müssen, aber er vermutete, dass ihm die ganze Situation unangenehm war. Wer konnte es ihm verdenken? "Ähm, nein", der junge Mann räusperte sich. "Also nein, ich bestehe nicht auf die Polizei und ich glaube, wenn man sich bei der Stadt meldet und seine Daten und den Unfallort angibt, dann reicht das. Man bekommt dann den Kostenvoranschlag per Post", erklärte dieser und errötete wieder ein wenig. Ungewollt verzog sich Victors Grinsen beim Wort Kostenvoranschlag. Sicherlich würde ihn die Stadt ordentlich bluten lassen, aber es ließ sich nicht ändern. Und vielleicht war dieses kleine Kennenlernen die Sache am Ende ja auch wert gewesen, dachte er schelmisch. „Ich fahre mal mein Auto auf den Parkplatz“, der junge Mann deutete auf einen Parkplatz direkt gegenüber. „Da stehe ich niemandem im Weg und hole dann meine Unterlagen wegen der Versicherung und so.“ Victor nickte. „Ja und ich rufe mal besser einen Abschleppdienst an, was?“, lachte er noch etwas zittrig. Und rufe auf der Arbeit an, dass es später wird, ergänzte er in Gedanken. Es gab Situationen, in denen Yūri seinen Mitbewohner nicht vermisste. Was er jedoch eindeutig vermisste war, dass er niemanden hatte, der ihn morgens mein Trödeln ertappte und Feuer unterm Hintern machte. So kam es, dass sich Yūri eine gute halbe Stunde später auf den Weg zur Uni gemacht hatte, als er es normalerweise tat. Er war sich schon ziemlich sicher gewesen, dass er keinen Parkplatz mehr bekommen würde und er so eine ziemlich weite Strecke zu Fuß zurücklegen musste, aber das geschah ihm ganz recht, entschied er selbstkritisch. Erfreut musste er jedoch feststellen, dass um diese Uhrzeit nicht mehr ganz so viel Verkehr herrschte und er relativ gut durchkam. Plötzlich rannte eine Katze über die Straße und er bremste etwas stärker ab. Ein Ruck ging durch das Auto, es knallte und durch den Rückspiegel sah er, wie ein Auto hinter ihm in die Metall-Poller knallte, die die Straße von einem größeren, fast menschenleeren Platz abgrenzten. Weißer Nebel stieg aus der Front auf. Wahrscheinlich der Kühler, schoss es Yūri durch den Kopf und war froh, dass es kein Anzeichen auf ein Feuer gab. Natürlich wusste er, dass Autos nicht explodierten, aber mit Feuer war generell nicht zu spaßen. Wie in Trance stieg Yūri aus, nahm das Warndreieck aus dem Kofferraum und lief einige Meter hinter das verunfallte Auto. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, an der offensichtlich benommenen Person vorbei zu gehen. Fast als würde er ihr die Hilfe verweigern. Doch in der Fahrschule hatte er immer gelernt: Erst die Unfallstelle absichern, das schützt dein und auch das Leben der anderen Personen. Er ärgerte sich schon beim Zurückgehen, dass andere Autofahrer einfach auf der anderen Spur an ihnen vorbeizogen, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, ebenfalls zu helfen. Schnell war er an der Fahrertür und klopfte kurz, doch es war deutlich zu erkennen, dass der Fahrer des Wagens benommen war. Doch es war eine große Erleichterung für ihn, dass er nirgendwo Blut sah. Entschlossen griff er nach dem Türöffner und zog die Tür mit einem Ruck auf. Durch den Einschlag hatte sich die Karosserie scheinbar ein wenig verzogen, denn er war sich sicher, dass bei einem Auto dieser Preisklasse die Türen normalerweise sanft ins Schloss glitten und normalerweise eben so leicht auch zu öffnen waren. Er versuchte, die Aufmerksamkeit des Fahrers zu bekommen. „Sind sie ok? Geht es ihnen gut? Hören sie mich?“, immer wieder wiederholte er die Worte, doch der Andere schaute ihn nur benommen aus so unglaublichen blauen Augen an, wie sie Yūri noch nie gesehen hatte. Er zögerte kurz, doch legte seine Finger an das Gesicht des Anderen in der Hoffnung, dass er nun seine Anwesenheit realisierte. Beinahe wäre er zurückgezuckt, als er merkte, wie warm er war. Doch dann fiel ihm auf, dass es nicht an dem Herrn vor ihm lag, sondern seine eigenen Hände eiskalt waren. So viel zum Schock, was?, dachte er sich, während er weiter versuchte, die Aufmerksamkeit des Fahrers auf sich zu ziehen. Doch als dieser mit einem Mal blinzelte und er richtig zusehen konnte, wie sich die Benommenheit auflöste und er seine Frage beantwortete, durchfuhr Yūri ein Schock. Seine Nackenhaare stellten sich auf, sein Herz setzte einen Schlag aus und sein Magen drehte sich. Victor?, ging es ihm durch den Kopf. Die Stimme! Der Akzent! Was, wenn er mich erkennt? Aber konnte das sein? Dieser Gedanke ließ die Röte in seine Wangen schießen. Panik kam in ihm auf, während seine Beine leicht anfingen zu zittern. In Gedanken schimpfte er sich aus, weil er Gespenster sah. Seine Vernunft sagte ihm, dass das einfach nicht realistisch war. Wahrscheinlich waren die Stimmen nur annähernd ähnlich, nur weil er sich solche Gedanken gemacht hatte und wegen dem Akzent möchte sein Unterbewusstsein weiß machen, das sei Victor. Denk doch mal rational!, schimpfte er in Gedanken weiter. Die Frage, die er in der Zwischenzeit gestellt bekam, hörte er nur halb. Er brauchte kurz einen Moment, um sich zu sammeln. “Sie haben mein Auto nur leicht erwischt, aber sind dafür mit Schwung in die Poller gefahren. Das hätte böse für sie ausgehen können", erst als er es sagte, realisierte er, wie recht er damit hatte. Ein Kleinwagen oder ein Auto ohne größere Sicherheitsstandards hätte sicherlich den Aufprall nicht so gut abgefangen. Natürlich hatte auch der Airbag viel abgehalten. Er war froh, dass er bei einem Unfall einer gehobenen Mittelklassenlimousine dabei gewesen war. Phichit hatte da so ein paar gruslige Geschichten über Unfälle mit verrostete Kleinwagen erzählt, bei denen er niemals Ersthelfer sein wollte. Aber das suchte man sich ja nicht aus. Das ihn die blauen Augen weiterhin so anstarrten, machte Yūri ein wenig nervös und er spürte wieder die Hitze in seinem Gesicht. Nur um seine Verlegenheit zu kaschieren, fragte er, ob er einen Sanitäter rufen sollte, doch sein Gegenüber verneinte und stieg, für kurz nach einem Unfall, überraschend elegant aus dem Auto. Erst jetzt fiel Yūri die Kleidung auf. Es war ein silbergrauer Dreiteiler, wobei er nur die Weste trug und Yūri die Jacke an einem Kleiderbügel am Griff vom Rücksitz hängen sah. Zum weißen Hemd hatte Yūri eine Krawatte gesehen, die in einem sehr ähnlichen Blau gehalten war, wie die Augenfarbe seines Trägers. Die Schuhe waren von einem so tiefen dunkelbraun, dass sie schon fast schwarz wirkten. Ein Blick auf die Rückseite verriet, dass der Anzug maßgeschneidert war. So, wie die Weste die schlanke Taille umarmte und die Hose am Hintern saß... Yūri schluckte. Es sollte verboten werden, so herumzulaufen. Es war schon fast unverschämt, wie gut er aussah und wie elegant er sich bewegte. Unentschlossen folgte er ihm um sein Auto herum und begutachtete aufmerksam jede Bewegung. Wie sich der Stoff spannte und wieder lockerer fiel, wie die grauen Strähnen im Wind tanzten. Er fühlte sich ein wenig schlecht, dass er gerade den Fremden anschmachtete, während er den, nicht gerade geringen, Schaden an seinem Auto begutachtete. Als er jedoch in die Knie ging, fuhr Yūri zusammen. Kurz kam die Panik wieder hoch, ob er sich zu viel zugemutet hatte und zusammengesackt war. Dann begriff er jedoch, dass er nur unter sein Auto schaute und atmete erleichtert durch. "Wenigstens läuft kein Öl oder Kühlflüssigkeit aus", ertönte wieder die Stimme, die ihm viel zu vertraut zu sein schien, als er es wirklich wahrhaben wollte. Er nickte nur stumm, traute seiner Stimme keinen Ton und seinem Hirn keinen vernünftigen Satz zu. Doch die Rechnung hatte er nicht mit seinem Gegenüber gemacht, denn er meldete sich gleich wieder zu Wort: "Möchtest du den Unfall von der Polizei aufnehmen lassen? Weißt du, ob man das nicht eh machen muss, wenn man Eigentum der Stadt beschädigt hat?" Zögerlich schaute Yūri wieder zu ihm. Wieder in diese unglaublich blauen Augen und befürchtete schon fast, sich darin zu verlieren. Sein Gesicht fühlte sich mittlerweile an, als würde es jeden Moment in Flammen aufgehen und seine Stimmung lag irgendwo zwischen 'Gott, habe ich ihn wirklich gefunden? Und überhaupt, warum sieht er so unverschämt gut aus?' und 'Wärst du heute Morgen bloß im Bett liegen geblieben!'. Aber wollte er die Polizei holen? Konnte man ihm vertrauen? Ja. Ja, irgendwas ihn ihm sagte ihm, dass er ihm vertrauen konnte. Er hoffte nur, dass er nicht auf die Schnauze fiel. Auf die zweite Frage fiel ihm wieder ein, wie sie einmal morgens die Stadtverwaltung angerufen hatten, weil Phichit felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass die Straßenlaterne noch gebrannt hatte, bevor er aus Versehen dagegen gerannt war. Yūri war zwar der Meinung gewesen, dass die einzige Lampe, die zu diesem Zeitpunkt noch brannte, die in Phichits Kopf war, aber er war nicht davon abzubringen. "Ähm, nein", räusperte Yūri sich, als er bemerkte, dass er ihm noch eine Antwort schuldig war. "Also nein, ich bestehe nicht auf die Polizei und ich glaube, wenn man sich bei der Stadt meldet und seine Daten und den Unfallort angibt, dann reicht das. Man bekommt dann den Kostenvoranschlag per Post.“ Langsam merkte Yūri, wie seine Hände schwitzten. Er musste sich zumindest für ein paar Minuten Luft verschaffen, beschloss er. Er blickte sich um. „Ich fahre mal mein Auto auf den Parkplatz. Da stehe ich niemandem im Weg und hole dann meine Unterlagen wegen der Versicherung und so“, er deutete dabei zu dem Parkplatz an der Seite. Erleichtert nahm er Victors Antwort zur Kenntnis und setzte sich in Bewegung. Er musste sich wirklich zusammenreißen, dass es nicht nach Flucht aussah. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)