Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 23: Kaffee ------------------ Amüsiert sah Victor, wie sich Yūri mit hochrotem Kopf abwendete. Doch mittlerweile fragte er sich, ob nur er diese Wirkung auf ihn hatte oder ob er immer so leicht aus der Fassung zu bringen war. Der Gedanke, der Einzige zu sein, der diese Wirkung auf Yūri hatte, gefiel ihm. Andererseits gefiel ihm gar nicht, dass ihm dieser Gedanke gefiel. Er hatte ihn eben erst kennengelernt, dazu noch unter solch widrigen Umständen und schon fing er an, besitzergreifende Tendenzen an den Tag zu legen? Das ging ihm eindeutig zu schnell. Doch er erklärte sich das Ganze damit, dass Yūri vom Akzent und der Stimmfarbe her Ähnlichkeiten zu 'seinem' Hotline-Yūri hatte. Wobei sich Victor das wiederum damit erklärte, dass es vermutlich daran lag, dass sie beide Landsleute sein mussten. Sie bestellten, einen Cappuccino für Yūri und einen Caramel Macchiato für Victor. Dann stritten sie sich, wer die beiden Kaffees bezahlen würde. Als sie an ihrem Tisch saßen, lachte Victor immer noch. Nicht nur über seinen Sieg bei der Bedienung, sondern auch über das süße Schmollen, dass er danach auf Yūris Gesicht gesehen hatte. Sie besprachen noch ein paar Details zur Abwicklung mit der Versicherung. „Du bist sicher, dass an deinem Auto nicht viel dran ist?“, hakte Victor noch einmal nach. Yūri nickte. „Du hast mich kaum erwischt. Ich habe zwar den Ruck gespürt, aber es scheint nur die Stoßstange etwas abbekommen zu haben“, er wischte über sein Handydisplay und zeigte Victor das Bild, das er vorher gemacht hatte. Victor pfiff durch die Zähne. „Ich sag es ja, die alten Autos sind noch viel stabiler gebaut. Alles was unter 10 Jahre alt ist, geht schon kaputt, wenn man es nur falsch anschaut“, lachte Victor wieder. „Dafür muss man jedes Jahr irgendetwas reparieren lassen, weil die Teile langsam zu alt werden“, konterte Yūri und seufzte. Victor vermutete, dass er gerade an seine letzte Werkstattrechnung dachte. Sie fielen in ein angenehmes Schweigen und tranken von ihrem Kaffee. Doch nach kurzer Zeit blickte Yūri ihn an. „Darf ich fragen, was du beruflich machst?“, wollte er von ihm wissen. „Klar, ich bin Redakteur für Literatur. Und du?“, seine Neugierde war geweckt, auch wenn er vermutete, dass Yūri noch Student war. Zum einen sprach das Auto dafür, zum anderen war es einfach so ein Gefühl. „Ich studiere und arbeite nebenher für eine IT-Firma“, erklärte Yūri. Victor überlegte gerade, ob er den anderen mit einem fadenscheinigen Problem an seinem Laptop dazu bringen könnte, dass sie sich noch einmal treffen könnten, da vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Seufzend nahm er es heraus. Seine Chefin. „Da muss ich kurz dran gehen. Kleinen Moment“, zwinkerte er und erhob sich. Noch im Rausgehen nahm er das Gespräch an. „Ja?“ „Victor, wo bleibst du? Ein Unfall ist ja schön und gut, aber das dauert doch keine Ewigkeit, das zu klären“, fuhr sie ihn direkt zusammen. Victor kniff sich mit der freien Hand in den Nasenrücken zwischen den Augen. „Ich beeile mich ja schon, Anya. Aber leider ist es so, dass ich Eigentum der Stadt dabei beschädigt habe und du weißt ja, wie die Bürokratie ist. Aber ich habe eben noch einmal dort angerufen, mir wurde versichert, dass jemand unterwegs ist, um den Schaden zu begutachten“, log er eiskalt. „Dann beeile dich. Du hast bereits einen Besucher“, kam es entnervt zurück. Da lang lief der Hase also. „Ich rufe Sara an und gebe ihr etwas, womit sie Alan beschäftigen kann und versuche innerhalb der nächsten Stunde im Büro zu sitzen. In Ordnung?“, bot Victor an. „Mach das. Aber wenn du in 45 Minuten nicht in deinem Büro sitzt, werde ich mir was anderes ausdenken müssen, Victor. Und du weißt, dass meiner Fantasie als deine Vorgesetzte wenig Grenzen gesetzt sind“, drohte sie unverhohlen. Victor biss sich auf die Zunge, um ihr nicht eine patzige Antwort zurückzugeben. Es gab eben einen Grund, warum sie unter vorgehaltener Hand 'Satan' genannt wurde. „Ja. Dann bis später“, sagte er und legte auf. Direkt danach suchte er die Nummer von Saras Telefon heraus. „Sara? Hier ist Victor. Tyrannisiert Alan euch wieder?“, scherzte er matt. Noch bevor Sara ihn richtig begrüßen konnte, hörte er Alan im Hintergrund zetern. „Ich weiß nicht was er hat, eigentlich haben wir erst in einer Stunde den Termin. Aber gut, im obersten Fach von meinem Schreibtisch habe ich den Plan zur Promotion des Buchs liegen. Er soll sich das einfach schon mal anschauen, dann ist er beschäftigt“, schlug Victor vor. „Victor, du bist ein Engel“, flüsterte Sara ins Telefon, offensichtlich darauf bedacht, dass Alan nicht mitbekam, dass sie womöglich irgendetwas gegen ihn gesagt hatte. Victor lachte und sie verabschiedeten sich. Dann drehte sich Victor eilig um, denn er wollte noch so viel Zeit wie möglich mit Yūri verbringen. Wer wusste denn schon, wie oft er dazu noch die Möglichkeit hatte? Yūri blickte ihm schon entgegen und hob fragend eine Augenbraue. „Alles in Ordnung. Nur einer meiner Autoren ist zu früh dran und er kann etwas Anstrengend sein“, zwinkerte er ihm zu. „Inwiefern anstrengend?“, wollte er wissen. „Ach, er ist eigentlich ein ganz Netter. Das darf man ihm allerdings nicht sagen. Wenn du mich fragst, macht er nur immer so ein Zirkus, um in Ruhe gelassen zu werden und Praktikanten und Azubis zu verschrecken. Wenn man weiß, wie man ihn behandeln muss, kommt man eigentlich ziemlich gut mit ihm aus“, fasste Victor grob seine Meinung über seinen Starautor Alan Aaronovitch zusammen. „Jedenfalls ist er gut in dem, was er macht. Sehr gut sogar.“ Yūri nickte verstehend. „Klingt aber trotzdem nicht nach einem angenehmen Zeitgenossen“, stellte er fest. Victor lachte. „Ich hatte vor dem ersten Termin die Hosen gestrichen voll, nachdem ich alle möglichen Horrorgeschichten von meinen Kollegen gehört habe. Aber dann haben wir einfach über die Vorstellungen und Pläne gesprochen und plötzlich war die Stimmung total entspannt. Problematisch wird es nur, wenn die Vorstellungen zu weit auseinander gehen. Aber dafür muss man auch Verständnis haben. Er muss von seinen Romanen leben und ich muss sie meinem Arbeitgeber gegenüber anpreisen können. Da gibt es eben manchmal ein paar Konflikte. Außerdem möchte man doch nicht ein Leben lang mit einem Werk assoziiert werden, hinter dem man nicht wirklich steht, oder?“ Die Argumentation leuchtete Yūri ein. Er hatte zum Beispiel schon von vielen Musikern gehört, die das ein oder andere Lied nicht mehr spielten, auch wenn es ein Hit geworden war. „Da hast du wohl recht. Ich wollte auch nicht ewig über meine Arbeit in der...“, er biss sich auf die Zunge. Seit wann war er so redselig geworden und hätte sich beinahe verplappert? War es, weil seine Gedanken immer noch zu ihren ersten, wirklichen 'Begegnungen' abdrifteten? „... also generell mit meiner Arbeit definiert werden“, rette er sich schnell. Victor schien es nicht wirklich aufzufallen, er nickte einfach nur und trank von seinem Kaffee. Der süße Duft des Karamells wehte immer wieder zu ihm herüber und er fragte sich, wie der Kaffee wohl von Victors Lippen schmecken würde. Als das leere Glas auf den Tisch abgestellt wurde, riss das Yūri aus seiner Tagträumerei. „Ich muss jetzt leider los“, verkündete er und Yūri sah den Widerwillen in Victors Haltung. Er schlug noch einmal seine Ledermappe auf und überflog die Zeilen, die Yūri geschrieben hatte, dann blickte er auf. „Könntest du mir noch deine Handynummer notieren? Ich würde gerne in Kontakt bleiben“, fragte er und Yūris Herz hüpfte vor Freude. „Bis die Versicherung den Schaden reguliert hat. Nicht, dass du da noch irgendwelche Probleme mit denen hast“, erklärte Victor und Yūris Herz sank. „Natürlich. Bei Versicherungen weiß man nie“, sagte Yūri und er war sich nicht einmal sicher, ob es nicht ein wenig traurig klang. Doch wenn das so war, ließ sich Victor nichts anmerken. Er verabschiedete sich fröhlich von ihm und Yūri schaute ihm so lange nach, bis er um die nächste Ecke verschwunden war. Dann seufzte er tief und vergrub das Gesicht in den Händen. Du hast seine Adresse. Du kannst auch mal unter einem Vorwand vorbei gehen. Makkachin besuchen oder so etwas. Aber wäre das nicht zu lächerlich? Und wenn er ihm auf die Nerven ging? Aber wir haben uns gut miteinander unterhalten und hatten Spaß. So schlimm wird das dann nicht sein. Aber wusste er es? Vielleicht war es nur aus Höflichkeit, weil er auf die Polizei verzichtet hatte? Er trank den Cappuccino aus und verließ das Kaffeehaus. Die Uni würde er für heute sausen lassen und den Unfall vorschieben. Er konnte ja sagen, er wäre noch wegen Verdacht auf Schleudertrauma im Krankenhaus oder so gewesen. Nicht, dass es irgendwen wirklich interessierte. Er schrieb Phichit noch eine Nachricht und setzte sich dann ins Auto. Vielleicht würde ihm eine Runde joggen die Gedanken aus dem Kopf jagen. Das Klingeln seines Handys holte Yūri aus dem Halbschlaf. „Ja?“, seine Stimme klang noch heiser vom Schlaf. „Hallo Yūri! Hab ich dich geweckt?“, erklang eine Stimme, die er nur allzu gut kannte. Sofort kam Panik in ihm auf. Was, wenn er seine Stimme erkannte? Wäre das gut oder schlecht? Und wie sollte er sich ihm gegenüber jetzt verhalten? „V-v-victor!“, seine Stimme bebte und klang selbst in seinen Ohren ein wenig fremd. „Ähm, ja. Ich hatte mich eben kurz hingelegt“, lachte er dann verlegen. Vielleicht auch mit einer Spur Hysterie. „Geht es dir gut? Ich meine, manchmal entwickelt sich ein Schleudertrauma erst ein paar Stunden später. Ich wollte sicher gehen, dass alles mit dir in Ordnung ist“, fragte Victor. Yūris Herz schlug schneller. Machte er sich etwa Sorgen um ihn? Oder wollte er nur sicher gehen, dass er keinen Ärger wegen unterlassener Hilfeleistung oder so bekam? War das überhaupt machbar oder vernebelte ihm seine Panik jetzt schon die Gedanken? Yūri war nun vollkommen verwirrt. „Yūri?“, kam es wieder aus dem Handy. „M-mir geht es gut. Dir auch?“, fragte Yūri unwirsch zurück und Victor lachte. Für Yūri war es ein wundervoller klang, der seinem Herzen allerdings nichts Gutes tat. „Bei mir ist alles gut, keine Sorge. Ich habe mir eben noch einen Leihwagen organisiert und mache mich schon einmal über den aktuellen Markt schlau“, plauderte er munter drauf los und Yūri konnte nicht anders, als zu grinsen. „Hast du schon irgendetwas ins Auge gefasst?“, wollte Yūri nun wissen, auch wenn es in einem anderen Preissegment gewesen war, hatte Yūri vor nicht allzu langer Zeit vor dem gleichen Problem gestanden. „Aaaach, ich weiß nicht“, seufzte Victor theatralisch. „Das Auto sollte zu mir passen. Modern aber auch elegant. Also wahnsinnig gutaussend“, Yūri konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und Victor stimmte mit ein. „Tatsächlich spiele ich mit dem Gedanken, ein Elektroauto zu holen. Ich habe einen festen Parkplatz, auch wenn ich mit dem Vermieter wegen der Installation für die Ladestation sprechen müsste. So ein Auto ist sparsam, gut für die Umwelt und symbolisiert die Zukunft“, nahm er das Thema nach einer kurzen Pause wieder auf. „Aber sie sind teuer. Es sei denn, du überlegst, dir einen Renault Twizy anzuschaffen und da müsstest du elegant definitiv streichen“, neckte Yūri, der langsam sein Selbstbewusstsein wiederfand. Als er nur ein verächtliches Schnauben auf der anderen Seite hörte, bot er an: „Aber wie wäre es mit einem Hybrid? Einige Hersteller bieten ja diese Plug-In-Hybriden an.“ „Das ist nichts Halbes und nichts Ganzen, Yūri“, maulte Victor. „Entweder machte ich etwas oder ich lasse es bleiben.“ „Hat man ja an deinem Auto gesehen. Bisschen kaputt fahren war auch keine Option, was?“, konterte Yūri. „Yuuuuuri! Du kannst doch nicht so gemein zu mir sein! Ich habe heute mein geliebtes Gefährt verloren“, jammerte Victor übertrieben und Yūri konnte vor seinem inneren Auge sehen, wie er sich in einer dramatischen Geste zusammensacken ließ, als sei er schwer getroffen worden. Yūri wollte gerade ansetzen, da ertönte ein Bellen im Hintergrund. „Ja ja, Makkachin. Du bekommst gleich deine Aufmerksamkeit, keine Sorge“, lachte Victor. Yūri überlegte gerade, ob er fragen sollte, ob sie gemeinsam keine Runde spazieren gehen sollten. Doch Victor kam ihm zuvor: „Also dann Yūri. Gute Nacht.“ „Ähm... Ja. Ja, gute Nacht, Victor“, stammelte er, nicht in der Lage, etwas gegen das drohende Ende zu unternehmen. „V-victor! Warte!“, doch als er gerade seinen Mut zusammengenommen hatte, war das Gespräch bereits beendet. Seufzend hielt Yūri sein Handy vor sich und starrte es an, als würde sich die Verbindung dadurch wiederherstellen. Sollte er ihn noch einmal anrufen? Aber mit welcher Begründung? Das würde doch nur komisch aussehen. Seufzend ging er in sein Schlafzimmer und ließ sich auf sein Bett fallen. Dabei landete er halb auf dem Buch, mit dem er sich schon eine Weile abkämpfte. Ein Geistesblitz traf ihn. Mit zitternden Händen schrieb er: Hast du vielleicht am Wochenende Zeit? Ich könnte den ein oder anderen guten Buchtipp gebrauchen. Mein letzter Kauf war eher ein Reinfall. Gruß, Yūri < Kommt drauf an. Fragst du nach dem Redakteur Victor oder dem Privatmenschen Victor? - V < Yūri überlegte. War das jetzt eine Fangfrage oder vielleicht schon eine Absage durch die Blume? So etwas wie 'Mit Büchern möchte ich an meinen freien Tagen nichts zu tun haben' oder so? Aber was hatte er auch zu verlieren? Den privaten Victor. Gruß, Yūri < Trifft sich gut, der Andere ist am Wochenende nämlich nicht verfügbar. Möchtest du irgendwo Bestimmtes hin? - V < Passt dir Barnes & Noble? Um 10:00 Uhr? Ich kann dich auch gerne abholen. Gruß, Yūri < Abholen klingt gut. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen ist mir nämlich mein Auto abhanden gekommen. Ich stehe dann um 10:00 Uhr vor der Tür. Bis dahin, -V < Yūri befürchtete langsam, dass er noch einen Herzinfarkt bekommen könnte. Dennoch konnte er nichts gegen sein Grinsen tun. Er hatte eine Verabredung mit Victor. Er konnte es nicht glauben. Mithilfe seines Kissen erstickte er seinen Freudenschrei. Yūri konnte es nicht fassen, dass er es gewagt hatte. Schnell speicherte er die Rufnummer in seinem Handy ein und erst jetzt fiel ihm auf, dass er auch hätte schauen können, ob Victor bei What's App war. Mit einem Grinsen stellte er sich vor, welches Profilbild er hatte. Er tippte ja auf ein unglaublich goldiges Foto von Makkachin. Doch seine Mühe wurde nicht belohnt, offensichtlich nutzte er diese App nicht. Dankbar, ein weiteres Gesprächsthema zu haben, legte Yūri sein Handy auf sein Nachttisch und hoffte, bald zur Ruhe zu kommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)