Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 26: In seinem Element ----------------------------- Widerwillig riss sich Victor vom Anblick von Yūris Kehrseite. Er blickte über seine Schulter die Regale an und nickte. „Dann fangen wir mal mit Science Fiction an?“, lachte Victor eine eher rhetorisch gemeinte Frage und machte schon zwei Schritte auf das Regal zu. Yūri stand jedoch weiterhin wie angewurzelt, noch einige Meter vom Regal entfernt, stehen. Warum denn so scheu?, fragte Victor sich, während seine Augen die Bücherrücken scannten. Die Auswahl war definitiv zu gebrauchen, stellte er zufrieden fest. Da Yūri immer noch nicht näher gekommen war, drehte er sich wieder zu ihm um. „Was hat dir denn in den Genre bisher gefallen? Und was nicht?“, versuchte er ihn wieder in ein Gespräch zu verwickeln. Yūri zuckte ein wenig zusammen und wurde rot. „Ähm... Tut mir leid, ich war gerade in Gedanken“, lachte er und rieb sich verlegen den Nacken. Konnte dieser Kerl noch goldiger werden? Victor war wieder einmal fassungslos, wie gerne er ihn einfach nur in die Arme schließen und nicht mehr loslassen wollte. „Mit 'Perry Rhodan' konnte ich mich bisher nicht anfreunden. Aber ich habe vor Kurzem 'Der Marsianer' gelesen und fand den wirklich gut“, überlegte er. Victor nickte und schaute dann wieder zum Regal. „Kennst du die ‘Hyperion-Gesänge’ oder die 'The Expanse'-Reihe?“, fragte er zum Regal hin. Er hörte, wie Yūri näher kam, bis er schließlich aus den Augenwinkeln sehen konnte, dass er den Kopf schüttelte. Sofort holte er zwei Bücher hervor und drückte sie Yūri in die Hand. „'Hyperion-Gesänge' kannst du schon als Klassiker ansehen. Viele behaupten, dass es ein Muss für jeden Science-Fiction-Fan ist. Die 'The Expanse'-Reihe ist auch sehr gut, wurde vor nicht allzu langer Zeit sogar verfilmt. Davon gibt es aktuell sechs Bände.“ Yūri nickte und fing an, die Beschreibung zu lesen. „Setz dich doch“, lachte Victor und winkte ihn zu einer kleinen Leseecke, die in der Nähe war. Langsam kam er herüber und ließ sich neben Victor nieder, der ihn neugierig von der Seite aus anschaute. Er bemerkte, wie Yūris Lippen sich ganz leicht bewegten, während er las und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er legte den Kopf schief und wartete. „Klingt beides interessant. Hast du beide Bücher gelesen oder kannst du eins besonders empfehlen? Bist du auch der Meinung, dass 'Hyperion' ein Muss ist?“, fragte Yūri Victor und hielt dabei die genannte Ausgabe ein wenig hoch. „Hmmm“, Victor überlegte und legte einen Finger an die Lippe. „Beide sind durchaus spannend und ich würde dir auf jeden Fall empfehlen, beide irgendwann mal zu lesen. Aber ein Muss... Soweit würde ich mich bei den meisten Büchern nicht aus dem Fenster lehnen. Wenn du kein Fan der Thematik bist, kann dich ja niemand dazu zwingen“, lachte er, Yūri nickte nur. Sie schwiegen einen Moment, bevor Victor noch einmal ansetzte: „Lass uns doch einfach mal nach Fantasy-Büchern gucken. Entscheiden kannst du dich ja immer noch.“ Damit stand er auf und ging zurück zum Regal. Dabei freute er sich, dass Yūri ihm ziemlich direkt folgte. Kurz schaute er sich auch hier die Auswahl wieder an und drehte sich dann um. „'Herr der Ringe' hast du bestimmt gelesen, oder?“ „Klar und auch 'Der Hobbit' und so ziemlich alle anderen Sachen von Tolkien“, lachte Yūri. Zufrieden nickte Victor. „Das Lied von Feuer und Eis?“, fragte Victor nun, auch hier nickte Yūri. Nachdenklich legte Victor den Kopf schief. Eigentlich hatte er ihn jetzt genau da, wo er ihn haben wollte. Aber so direkt wollte er die Katze nicht aus dem Sack lassen... Ach, was soll's. „Kennst du die 'Loch-Leven'-Saga?“, fragte er nun neugierig. „Nein, noch nie etwas davon gehört. Warum geht es?“, gab Yūri zurück. Victor musste zugeben, dass es ihm einen kleinen Stich versetzte. Aber man konnte ja nicht erwarten, dass jeder die Bücher seiner Autoren kannte, oder? „Na ja, grundlegend spielt es in den schottischen Lowlands, also dem Gebiet zwischen den Highlands. Loch Leven ist ein großer See mit einigen Inseln, auf einem steht sogar Loch Leven Castle, aber die ist heutzutage nur noch eine Ruine. Und im Prinzip geht es um Clans, Intrigen und Kriege. Natürlich auch noch etwas Tiefgründiger und so, aber das ist es im Groben“, Victor zuckte mit einem schiefen Grinsen mit den Achseln. Er wollte nicht zu viel verraten. „Du scheinst diese Saga recht gut zu kennen, bist du ein Fan von ihr?“, wollte Yūri wissen. Victor lachte. „Ja... Ja, sozusagen.“ Er wollte unbedingt, dass Yūri ein Buch las, an dem er beteiligt war, aber er wollte auch ebenso Yūris ehrliche Meinung. Daher wollte er ihm, nach Möglichkeit, noch nichts verraten. Der erste Band dieser Reihe war auch gleichzeitig sein erstes Buch als Co-Redakteur. Zu diesem Zeitpunkt hatte er Emil über die Schulter geschaut und hatte nach und nach alle Arbeiten mit Alan übernommen. Das war auch der Auslöser, warum schlussendlich er auf Alan sitzengeblieben war. Fluch und Segen zugleich, dachte Victor und schob Yūri nun zurück in die Leseecke. Dort schaute er wieder gebannt den leichten Bewegungen seiner Lippen zu. „Ja, ich glaube, ich nehme das hier“, nickte Yūri und blickte Victor mit einem kleinen Lächeln an. „Wunderbar! Du musst mir unbedingt sagen, wie du es fandest“, strahlte Victor und Yūri wurde wieder rot. Das Buch klang wirklich interessant und dann noch die Aussicht darauf, dass sie sich über die Reihe austauschen konnten, fand Yūri wirklich verlockend. Er freute sich tatsächlich wie ein kleines Kind darauf. „Ja“, er nickte dabei eifrig und spürte wieder, wie die Hitze in seine Wangen stieg. Sollte er noch eines der anderen Bücher mitnehmen? Oder vielleicht schon den zweiten Band dieser 'Loch-Leven'-Saga? Doch seine Vernunft riet ihm davon ab, außerdem konnte er ja jederzeit wiederkommen. Noch mehr beschäftigte ihn die Frage, ob es hier vielleicht ein Buch gab, an dem Victor als Redakteur mitgewirkt hatte. Aber ihm war es unangenehm zu fragen, immerhin hatte Victor direkt bei ihrer Verabredung gefragt, ob er den Redakteur oder die Privatperson wollte. Er hatte sich für die Privatperson entschieden, also sollte er die Arbeit wohl komplett außen vor lassen. Er nahm die anderen beiden Bücher auf, aber Victor nahm sie ihm aus der Hand. „Geh du schon an die Kasse, ich räume das hier weg“, bot er ihm mit diesem Strahlen an, dass Yūris Herz schneller schlagen und seine Knie weich werden ließ. Nickend stand er auf und verfluchte dabei alle ihm bekannten Gottheiten, dass man zugelassen hatte, dass so ein attraktiver Mensch existierte. Es war für ihn schon einschüchternd, neben so einem Mann zu stehen. Er trug teure, ausgewählte Kleidung, konnte sich gut ausdrücken, sah gut und sportlich aus und schien obendrein auch sonst keinen größeren Makel zu haben. Er dagegen war das glatte Gegenteil. Seltsamerweise half seine Erfahrung mit ihm in der Telefonsex-Hotline einerseits, dass er für ihn nicht so unerreichbar war. Immerhin kannte er einige von Victors schmutzigsten Fantasien. Aber andererseits machte das den Umgang mit ihm umso schwieriger. Ständig hatte er Fragmente von ihrem Intermezzo im Kopf, besonders wenn Victor ihm in die Augen sah und mit ihm sprach. „Wollen sie eine Tüte?“, riss ihn die Verkäuferin aus seinen Gedanken und Yūri erschrak. Unbewusst hatte er ihr das Buch gegeben und auch schon sein Portmonee in der Hand. Er schimpfte innerlich mit sich, so in Gedanken zu sein. „Ja, gerne“, antwortete er und blickte sich verstohlen um, doch Victor stand noch am Regal. Was machte er da? Sprach er mit einer Frau? Schnell bezahlte er, bedankte sich und nahm die Tüte. Er hörte das unverkennbare Lachen von Victor und ein glockenhelles Kichern, das ihm irgendwie schon jetzt nicht passte. Neben Victor stand eine, fast schon dürre, Frau, Yūri schätzte sie ungefähr in seinem Alter, mit rotblonden Haaren und jeder Menge Sommersprossen, die sie versuchte, mit viel zu viel Make-up zu überdecken. Sie trug ähnlich teure Kleidungsstücke wie Victor, nur mit viel weniger Stil. Geschmack kann man halt nicht kaufen, dachte sich Yūri wieder mit Blick auf Victor. Irgendwie musste er sich dazwischen drängen und seinen Anspruch auf ihre Verabredung geltend machen. Er würde sich sicherlich nicht von so einer Frau Victor wegschnappen lassen. „Also ich sage dir, die Typografie ist das Wichtigste. Die Diktion ist zwar schön und gut, aber die orthotypografische Korrektheit ist das Optimum, nach dem man streben sollte. Akzidenzsätze sind zwar ganz charmant, aber damit weit zu kommen ist reine Utopie. Mit dieser Genese gehe ich nicht d'Accord“, nicht nur ihre komisch schrille Stimme zehrte an Yūris nerven, sondern auch ihre Ausdrucksweise ging ihm tierisch auf den Keks. Es hörte sich unglaublich hochtrabend an, aber irgendwas sagte ihm, dass sie nur Stuss redete. Sie wollte Victor offenbar beeindrucken. Schaffte sie es? Ergaben ihre Worte vielleicht für jemanden, der in dem Gebiet arbeitete, Sinn? Konnte sie ihn tatsächlich beeindrucken? Panik stieg in Yūri hoch und er ging nun geradewegs auf die beiden zu. Und da fiel es ihm auf. Von dem strahlenden Lächeln, das er ihm schenkte, war nichts zu sehen. Es wirkte aufgesetzt und einfach nur notgedrungen höflich. Als Victors Blick zu ihm glitt, sah er schon fast erleichtert aus. „Yūri! Du hast ja schon bezahlt. Tut mir so leid, ich habe dich warten lassen“, Victors Gesicht hellte sich auf und Yūri kam neben ihm zum Stehen. Doch plötzlich spürte er Victors Hand an seiner Taille und wie er ihn näher an seine Seite zog. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und er dachte, er müsse sich jeden Moment vor Panik übergeben. Doch gleichzeitig fühlte sich die Wärme an den Stellen, die sich berührten, so wahnsinnig gut an. Natürlich nur, um das Spiel mitzuspielen, glitt seine freie Hand auch zu Victors Taille. Nein, Yūri war ehrlich genug zu sich selbst um sich einzugestehen, dass er es nur tat, weil er die Chance nicht verstreichen und ihr dann hinterher trauen wollte. Eigentlich wollte er Victor ein fröhliches Lächeln zuwerfen, aber er wusste, dass es scheu und verlegen aussah. Victors Lächeln war dafür umso strahlender. „Ah, bitte entschuldige. Darf ich dir-“, setzte Victor an, doch die Frau warf ihnen beide einen vernichtenden Blick zu, drehte sich dann mit wehenden Haaren auf ihren hochhackigen Schuhen um und stürmte davon. Yūri hörte, wie Victor etwas amüsiert gluckste und ihn dann losließ. Mit Bedauern tat er es ihm gleich und merkte erst dann, dass er den Atem angehalten hatte. Keuchend holte er Luft, sein Kopf – wieder einmal – knallrot. „Yūri! Du hast mich gerettet! Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie höflich wieder los werde“, erleichtert sah Yūri wieder das echte Lächeln im Gesicht des Anderen. „Na ja, höflich würde ich das jetzt nicht nennen“, schnaubte er verlegen. „Liebe hat nichts mit Höflichkeit zu tun“, zwinkerte Victor und setzte sich, in Richtung Ausgang in Bewegung. Wie versteinert stand Yūri da. Liebe? Hatte er das jetzt wirklich gesagt? Victor drehte sich wieder um und grinste ihn an. „Bei dieser schauspielerischen Meisterleistung kann sie ja nicht wissen, dass wir kein Paar sind“, zwinkerte er dann. War er enttäuscht? Natürlich war er enttäuscht. Andererseits war er auch froh, denn so zwischen Tür und Angel ein Liebesgeständnis zu bekommen, hätte ihn mehr als nur überfordert. Dennoch könnte er sich im Augenblick nichts Schöneres vorstellen, als ein Liebesgeständnis von Victor. Aber sollte er ihn davor nicht besser kennenlernen? Vielleicht war da irgendwo ja doch ein Haken? Aber wie soll sich so ein Mann, wie Victor es war, in so einen wie Yūri verlieben? Er musste dringend mal wieder mehr Sport machen und beruflich hatte er noch rein gar nichts erreicht. Victor hingegen stand mitten im Leben. Außerdem würde so ein Mann sicherlich Frau und Kinder wollen. Bei einer Telefonsex-Hotline nur mit Männern anzurufen war wahrscheinlich nur eine Befriedigung bisexueller Neugierde. Und da Yūri nicht schlecht darin gewesen war, hat er der Einfachheit halber eben nur noch bei ihm angerufen. Ja, so musste es sicher sein. Langsam hatte er sich wieder beruhigt, auch wenn sein Kopf immer noch so heiß war, als könnte man darauf Spiegeleier braten. Victor stand am Eingang und beäugte ihn aufmerksam. Yūri atmete kurz durch und ging dann zu ihm. Wie bei der Ankunft schon hielt Victor ihm die Tür auf, so trat Yūri als Erstes auf die Straße. Direkt stieg ihm ein verlockender Essensgeruch in die Nase und sein Magen knurrte. Victor neben ihm blieb stehen und schnüffelte auch. „Vkusno!“, rief er aus und blickte sich um. "Sollen wir etwas zu Mittag essen? Ich lade dich ein", strahlte er ihn wieder an. "Du musst mich nicht einladen", wehrte Yūri peinlich berührt ab. "Nein, nein. Ich bestehe darauf. Das habe ich schon geplant. Ehrlichkeit muss belohnt werden, Yūri, also lass mich dich verwöhnen! Ich war ganz schön überrascht, als mir der Herr von meiner Versicherung von dem versuchten Betrug erzählt hat!“, zwinkerte Victor. „Ach... Das war doch selbstverständlich. Du musst wirklich nicht“, murmelte Yūri verlegen und schaute zu Boden. „Yuuuuuuuri“, brummte Victor langgezogen und als Yūri aufschaute, sah er, dass er seine Auge zu schmalen Schlitzen verengt hat. „Keine Widerrede, haben wir uns verstanden?“ Yūri nickte. „Ja, in Ordnung. Ich nehme die Einladung an“, Yūri war immer noch verlegen, doch sofort hatte Victor wieder sein breites Grinsen im Gesicht. „Super! Dann lass uns los!“, damit umfasste er sein Handgelenk und zog ihn die Straße entlang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)