Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 37: Ungeschickt und unschuldig -------------------------------------- Yūri hatte sich gerade nach der Dusche angezogen und verließ das Badezimmer, als Victor in die Wohnung eintrat. Er hatte einen Karton unterm Arm und seine Arbeitstasche umgehangen. „Yūri! Du bist ja schon wach“, er strahlte ihn an, während er die Tür hinter sich schloss. „Ich hoffe, es war in Ordnung, dass ich mir einen Schlüssel geborgt habe. Ich wollte dich nicht wecken“, sagte er dann und legte Yūris Wohnungsschlüssel wieder auf den richtigen Platz. „Ich leihe dir mein Auto, aber du darfst dir nicht meinen Wohnungsschlüssel ausleihen? Macht keinen Sinn, oder?“, lachte Yūri. Victor stellte den Karton auf den Couchtisch ab und rieb sich den Nacken. Sah er vielleicht ein wenig verlegen aus? „Du hast recht!“, lachte er leise und stellte ebenfalls seine Tasche ab, um seinen Mantel auszuziehen. Yūri runzelte die Stirn. „So viel Arbeit?“, fragte er besorgt. Er hätte nicht zulassen sollen, dass Victor seine Arbeit für ihn vernachlässigte. Victor sah ein wenig verwirrt aus. „Viel? Nein, tatsächlich relativ wenig. Meine Kollegen sind super, sie haben mir sogar noch etwas abgenommen“, lachte er freudig, doch Yūri konnte nur mit der Stirn runzeln. „Aber das...“, er deutete auf den Karton und man konnte richtig sehen, wie Victor ein Licht aufging. „Ach das! Nein, nein. Das ist keine Arbeit!“, lachte er und öffnete den Karton. „Also zum Einen ist hier Frühstück für uns drin. Ich hoffe du magst Croissants?“, er schaute kurz hoch, sodass Yūri nickte. „Gut, gut. Und das hier...“, er winkte Yūri zu sich rüber. „Ich dachte, du hättest Lust, ein wenig zu lesen? Wir könnten es uns gemeinsam auf der Couch gemütlich machen?“, er holte ein paar Bücher heraus und reichte sie Yūri. Er hielt den Atem an. „Das sind die restlichen Bücher der Loch-Leven-Reihe, Victor“, sagte er ohne sie entgegen zu nehmen. „Ja, genau“, Victor schaute ihn erwartungsvoll an. „Das kann ich nicht annehmen, Victor“, sagte er leise. Er war mit ihm in die Buchhandlung gegangen, um ihm Bücher zu empfehlen, obwohl er auch ganz einfach ihm ein paar Titel hätte nennen können. Er war mit ihm Essen gewesen, hatte ihn eingeladen... Sie waren gemeinsam im Kino gewesen und es war im Prinzip Yūris Schuld gewesen, dass sie rausgeworfen worden waren. Danach hatte er sich liebevoll um ihn gekümmert und sogar seinen Hund für ihn vernachlässigt, ihn extra bei Katya untergebracht. Hatte vermutlich Unsummen für Lebensmittel und Medikamente ausgegeben. Hatte für ihn gekocht. Blieb von der Arbeit fern, um ihn zu pflegen. Kaufte Frühstück beim teuersten Bäcker des Viertels und hielt ihm nun die restlichen Bände der Reihe unter die Nase, die er ihm empfohlen hatte. Und all das, obwohl er ihm noch nicht einmal seine Liebeserklärung beantworten konnte. Yūri war fassungslos. Wie selbstlos war dieser Mensch? „Victor, du musst das nicht alles für mich tun“, sagte er mit belegter Stimme. Seine Brust schnürte sich ein bei dem Gedanken, dass er immer nur an seine eigene Angst gedacht hatte, statt an Victors Gefühle. Er hatte das Gefühl, als würde er ihn ausnutzen. Er spürte Victors Hände auf seinen Schultern, konnte sich aber nicht dazu bringen, ihn anzuschauen. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln und er blinzelte mehrfach heftig, um zu vermeiden, dass er nun auch noch losheulte. „Ich habe das alles nicht verdient. Du kümmerst dich so selbstlos tagelang um mich und ich kann dir noch nicht einmal eine Antwort geben?“, brachte er heiser hervor und schüttelte frustriert den Kopf. Immer noch kämpfte er gegen die Tränen an, während er spürte, wie Victors Hände leicht seine Schultern massierten. Es beruhigte ein wenig und gleichzeitig machte diese zärtliche Geste seine Schuldgefühle nur noch schlimmer. Victor war mit der Situation vollkommen überfordert. Eben noch kam ihm Yūri fröhlich entgegen, die Haare noch leicht feucht von der Dusche und nun bebten seine Schultern unter der Anstrengung, nicht loszuweinen. War etwas während seiner Abwesenheit passiert? Er schlang die Arme um Yūri, drückte ihn an sich und küsste seinen Scheitel. „Es ist alles in Ordnung, Любимый. Worauf solltest du mir denn eine Antwort geben? Und nenn mich nicht selbstlos, wenn alles was ich tue purer Egoismus ist", murmelte er in seine Haare. Natürlich war ihm ein Stück weit klar, worauf Yūri anspielte, aber im Prinzip war es ein verzweifelter Versuch ihm klar zu machen, dass alles in Ordnung ist, ohne das Thema anzusprechen und Yūri noch unkomfortabler zu machen, als er es ohnehin schon war. Immerhin war er krank und brauchte seine Energie, um wieder gesund zu werden. Langsam strich er über Yūris Rücken und war überrascht, dass er nicht versuchte, sich von ihm zu lösen. „Wie kann all das egoistisch sein?“, fragte Yūri leise gegen seine Brust und Victor musste lächeln. „Ganz einfach, so kann ich bei dir sein. Dafür würde ich auch noch einiges mehr machen. Dafür würde ich mein letztes Hemd geben“, sagte er und küsste wieder Yūris Scheitel und vergrub dann die Nase in seinen Haaren. Sie rochen nach grünem Apfel. „Du bist unmöglich“, lachte Yūri leise und Victor war erleichtert, endlich eine andere Reaktion von ihm bekommen zu haben. Doch dann drückte Yūri seine Hände gegen seine Brust und schob sich so von ihm weg. „Ich bin dir noch von Freitag eine Antwort schuldig. Ich...“, Yūri wurde wieder leise und Victor musste schlucken. Er sah, wie Yūri seine zitternden Hände zu Fäusten ballte. War sich Yūri nur einfach unsicher oder wusste er nicht, wie er ihm eine schlechte Nachricht mitteilen könnte? Der Augenblick zog sich, während Yūri sichtlich mit den Worten kämpfte. Die Gedanken von Victor spielten vollkommen verrückt. Um sich zu beruhigen atmete er tief durch und trat dann die Flucht nach vorne an. „Yūri, ich habe dich nichts gefragt, ich habe dir etwas gesagt. Du musst dich zu nichts zwingen, das möchte ich nicht. Aber vielleicht gibst du mir eine Chance, mich in einem richtigen Date zu beweisen?“, Victor lächelte schief, doch es überraschte ihn selbst, wie fest seine Stimme klang. Er hat sich noch nie in seinem Leben so unsicher gefühlt. Doch Yūri schüttelte den Kopf und Victor hatte das Gefühl, sein Herz zersprang in tausend Teile. Doch gleichzeitig nahm Yūri behutsam seine Hand mit einer Hand auf und verschränkte ihre Finger miteinander. Scheu schaute er auf, mit einem kleinen, unsicheren Lächeln auf den Lippen und funkelnden, braunen Augen. „Du brauchst dich schon lange nicht mehr beweisen, Victor. Es ist mir etwas peinlich... aber ich habe mich schon in deine Stimme verliebt“, gab er nun zu und senkte wieder den Blick. Doch Victor wollte das nicht zulassen, er wollte in diese braunen Augen schauen und sich darin verlieren. Er beugte sich ein wenig hinunter. „Yūri? Darf ich dich küssen?“, fragte er etwas unsicher, doch schaute dabei geradewegs in seine Augen. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, drohte zu explodieren und seine Aufregung hatte einen neuen Höhepunkt gefunden. Er hatte schon geküsst. Mehrfach. Frauen und Männer, doch niemals, noch nie zuvor war es ihm so wichtig gewesen, wie jetzt. Noch nie zuvor hatte er solche Angst, zu versagen oder zurückgewiesen zu werden, gehabt. Wieder spürte er Yūris Hände an seiner Brust. „Nein! Du steckst dich nur an!“, Yūris Augen waren groß. Hatte er Angst? Er lehnte seine Stirn gegen die von Yūri, fuhr mit seinem Daumen über seine Unterlippe. „Yūri, wir leben praktisch seit 3 Tagen gemeinsam in dieser Wohnung. Wenn ich mich anstecke, dann hat das nichts mit einem Kuss zu tun“, sagte er, doch Yūri schüttelte trotzdem den Kopf. So schwer es ihm fiel, er musste es akzeptieren. Langsam zog er sich zurück und sah Yūri an. Er versuchte zu grinsen, doch wusste, dass er kläglich gescheitert war und seine Augen Enttäuschung widerspiegelten. Er freute sich wahnsinnig darüber, dass Yūri seine Gefühlte entgegnete und wusste auch, dass er vielleicht gerade missverständliche Signale aussendete, wenn er so enttäuscht wirkte... Aber er brauchte das Gefühl von Yūris Lippen auf seinen. Nur um zu wissen, dass das alles echt war und kein seltsamer Traum. Victor hatte es ihm von Anfang an so einfach wie möglich gemacht. Das wusste Yūri und er konnte seine Dankbarkeit dafür nicht in Worte fassen. Er wusste auch, dass Victor recht hatte, was das Ansteckungsrisiko anging. Doch Yūri hatte Angst, dass er es wieder vergeigte. Doch wenn er nun so in Victors Gesicht blickte, das angestrengte Lächeln sah, dass er nur aufsetzte, damit sich Yūri nicht schlecht fühlte, konnte er sich selbst nicht mehr leiden. Er schloss kurz die Augen, atmete tief durch und war dankbar, dass er sich gerade eben erst die Zähne geputzt hatte. Dann überbrückte er mit einem Schritt die entstandene Distanz zwischen ihnen, schlang die Arme um Victors Nacken, zog ihn ein wenig zu sich hinunter, während er sich selbst leicht auf die Zehenspitzen stellte. Yūri merkte, dass er Victor völlig überrumpelt hatte. Der Kuss war erst fest und ungeschickt, doch als sich Victor kurz darauf von seinem Schock erholt hatte, Yūri an sich zog und sich weiter zu ihm hinunterbeugte, wurde er sanfter und verspielter. Erst als sich Victor widerwillig von ihm löste, merkte er, dass er den Atem angehalten hatte. Doch nun war das Lächeln auf Victors Lippen ehrlich. Yūri hingegen war wieder schwindelig und heiß, doch er wusste, dass das diesmal nicht an seiner Erkältung lag. „Setz dich, setz dich“, sagte Victor hastig und drückte ihn aufs Sofa. Mit einigen wenigen Handgriffen hatte er den Wohnzimmertisch wieder freigeräumt und lief nun in die Küche. „Möchtest du einen Kaffee oder Tee?“, rief er Yūri zu, Yūri musste lachen. „Du fühlst dich überraschend heimisch in meiner Küche“, neckte er ihn. Victor kam mit Geschirr und Besteck in der Hand wieder und schaute Yūri verdutzt an. „Oh... Ich habe gar nicht daran gedacht, dass es dir nicht recht sein könnte...“, es schien wirklich, als hätte er niemals drüber nachgedacht. Irgendwie hatte ein verlegener Victor etwas an sich. Auch wenn Yūri wusste, dass das schwierig werden würde, nahm er sich vor, Victor viel öfters aufzuziehen in der Hoffnung, solche Gesichtsausdrücke von ihm zu sehen. „Nein, ich will dich nur aufziehen und Wasser reicht erst einmal für mich“, gestand Yūri mit einem schelmischen Grinsen. „Yuuuuri!“, empörte sich Victor. „Du bist manchmal echt fies“, seufzte er und schüttelte den Kopf, bevor er wieder in der Küche verschwand. Er fühlte sich unheimlich gut, seit er sein Ballast abwerfen und mit Victor reden konnte. Sein Gespräch mit seiner Mutter hatte ihm auch gut getan. Zwar konnte er es immer noch nicht fassen, dass Victor sich tatsächlich in ihn verliebt haben sollte, doch er wollte die Momente unbedingt auskosten. Während er die Kaffeemaschine bediente, konnte Victor sein Glück kaum fassen. Seine Lippen kribbelten immer noch von ihrem Kuss. Verstohlen fuhr er mit seinem Zeigefinger über seine Unterlippe und ließ den Moment noch einmal Revue passieren. Der Moment war weit davon entfernt, perfekt gewesen zu sein und doch war er es irgendwie. Sie hatten sich beide ungeschickt angestellt, aber zumindest bei Yūri fand er uns unwiderstehlich. Und nun neckte er ihn auch noch hemmungslos. Er musste Grinsen, während er zusah, wie die dunkle Flüssigkeit in seine Tasse lief und die Maschine brummte. So könnte ein Arbeitstag für Victor öfters aussehen, entschied er sich. Er freute sich auch schon auf ihren Spaziergang mit Makkachin und hoffte inständig, dass das Wetter nicht noch umschlug. Als er mit der Tasse Kaffee ins Wohnzimmer kam, hatte Yūri schon die Teller ausgeteilt und hatte die verschiedenen Varianten an Croissants in die Schüssel getan, die Victor aus der Küche geholt hatte. „Victor, das ist viel zu viel. Wer soll das alles essen?“, fragte er. „Im Zweifel: Du. Immerhin musst du wieder zu Kräften kommen“, grinste er. „Wenn du so weitermachst brauche ich mehr als nur einen Spaziergang, um die Pfunde loszuwerden, die ich durch dich anfuttere. Immerhin wolltest du heute auch noch Piroschki machen“, gab er mit einem Grinsen zurück. „Erinnerst du dich? Sonntagsbraten!“, lachte er und setzte sich neben Yūri auf das Sofa. Auch wenn er diese Wohnung erst seit Freitag kannte, fühlte sie sich schon heimisch an. Zuhause ist, wo das Herz ist, dachte Victor und blickte Yūri von der Seite an, der überlegend die Croissants anstarrte. Als es schien, dass sich Yūri nicht entscheiden konnte, half er ihm und deutete auf jedes Gebäck. „Natur, Lauge, Schinken-Käse, Schokolade, Vanille, Fruchtgelee und... irgendetwas mit Tomate“, lachte er dann, da er sich doch nicht alles hatte merken können. Yūri lachte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Und du hast von jeder Sorte zwei gekauft“, sagte er fassungslos. „Natürlich! Wir sind ja auch zu Zweit“, zwinkerte er ihm unschuldig zu. „Aber es ist schade, wenn das verdirbt!“, Yūri runzelte die Stirn. Victor konnte nicht anders, als ihm über die Stirn streichen, um die Falten sanft glattzustreichen. „Mach dir keine Gedanken, Любимый. Was übrig ist, geben wir Katya und ihrer Familie, wenn wir Makkachin abholen. Die freuen sich darüber“, sagte er beschwichtigend. „Einfach die Reste geben? Klingt irgendwie nicht sehr wertschätzend“, gestand Yūri, genoss aber sichtlich die Berührungen von Victor. „Ach, Quatsch. Das machen wir öfters“, lachte Victor. Yūri wandte sich zu ihm um. „Darf ich dich was fragen?“, er schaute ihn dabei in die Augen. Jetzt zog Victor die Augenbrauen zusammen. „Natürlich. Du kannst mich jederzeit alles fragen. Was ist los?“ „Du hast heute zum zweiten Mal etwas gesagt, was ich nicht verstanden habe? Eben auch wieder. Was bedeutet das?“, Yūri sah ihm neugierig in die Augen und Victor musste kurz überlegen, was er meinte. Was hatte er nicht verstanden? „Du meinst 'Любимый'?“, fragte er dann, als es ihm einfiel. Yūri nickte einfach. „Nun...“, Victor beugte sich zu Yūri vor und flüsterte in sein Ohr: „Es heißt 'Liebling'.“ Yūri wurde wieder rot und Victor konnte nicht anders, als einen kurzen Kuss auf seine Lippen zu drücken. Er holte sich eines der Croissants, ohne zu beachten, welche Sorte es war und biss ein Stück ab. Er bemerkte, dass Yūris Bewegungen wieder eingefroren waren und er ihn einfach nur mit großen Augen anstarrte. Er kämpfte mit sich, Yūri noch mehr zu ärgern. Und da er manchmal ein bisschen gemein, aber vor allem neugierig war, wandte er sich zu Yūri, wischte sich seinen Krümel Blätterteig von der Lippe und lächelte unschuldig. „Yūri, du sagtest am Freitag, du wolltest dein 'Alles' für den Karamell Macchiato haben. Was hattest du dir da eigentlich vorgestellt?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)