Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 47: Einfluss -------------------- Wie vom Donner gerührt standen Victor und Yūri da, bewegten sich erst keinen Millimeter und schauten sich stattdessen fragend an. Victors Gedanken waren leer und er begriff die Lage erst langsam, als sich Yūri die Beine rieb, an denen sich vor wenigen Momenten Potya noch festgehalten hatte. Widerlich..., hörte er Yurios Stimme in Gedanken. Das dachte sein Bruder wirklich über ihn...? Er hörte zwar, dass die Tür hinter ihm wieder aufging, aber sein Kopf konnte es nicht richtig verarbeiten, daher zuckte er zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. „Vitya? Alles in Ordnung?“, hörte er Katyas Stimme hinter sich. „Meine Gute, hier ist ja eine Stimmung wie auf einer Beerdigung“, hörte er eine Stimme, die eindeutig zu Otabek gehörte. Er blickte zu Yūri, der immer noch mit geweiteten Augen da saß, sich die Beine rieb und dabei ein wenig hilflos wirkte. Victor schluckte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber was sollte er sagen? 'Mein Bruder findet mich ekelerregend'? „Wo ist Yura?“, fragte nun Otabek und Victor zog die Augenbrauen zusammen. „Yura?“, krächzte er schon fast. Otabek rollte die Augen. „Na, dein Bruder halt“, schnaubte er. „Du nennst ihn Yura?“, fragte Victor ungläubig. „Nun ja, mit zwei gleich klingenden Namen wird es verwirrend“, Otabek zuckte mit den Achseln und schaute weg. „Ja, das dachten wir auch. Wir nennen ihn Yurio und er hasst es“, Victor versuchte schief zu grinsen, aber auch ohne Spiegel wusste er, dass es ihm deutlich misslungen war. „Ist das der Grund für die Stimmung?“, fragte Katya. „Und wo ist eigentlich Yuri?“ „Ein Stück weit wohl schon. Er ist da drin“, er deutete mit dem Kopf zu Yurios neuem Zimmer. Dann fuhr er seufzend mit einer Hand durch seine Haare und schüttelte den ersten Schock ab. „Als ich ihm Yūri vorgestellt habe, hat er eins und eins zusammengezählt. Er stellte mit einer ziemlich unhöflichen Bezeichnung fest, dass wir zusammen sind, hat es 'widerlich' genannt und hat sich in sein Zimmer verzogen“, er zuckte mit den Achseln, doch er selbst bemerkte, wie belegt seine Stimme war. Katya sah ihn ungläubig an und drückte kurz seine Schulter, Otabek schnaubte und blickte zur Tür, Yūri schaute einfach nur auf den Boden. „Vermutlich ist das der Einfluss meiner Tante“, Victor ließ sich seufzend auf den Sessel neben der Couch fallen und rieb sich mit den Händen durch das Gesicht. Er spürte richtig, wie nun alle Augen auf ihm ruhten, also fuhr er fort: „Als sie herausfand, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle, hat sie so getan, als sei das eine Krankheit, die behandelt werden müsste“, er schaute in betroffene Gesichter. Doch er war überrascht, dass gerade Otabek am Betroffensten aussah. Yūri war betroffen, als er Victors Schilderung hörte. Er hatte schon vorher den Eindruck gehabt, dass Victor nicht gerne über seine Familie sprach, doch jetzt machte es für ihn alles Sinn. Vielleicht war auch die Angst davor der Grund gewesen, dass er sich nicht über Yurios Einzug freuen konnte?, kam ihm der Gedanke. Für ihn war das nicht wirklich abwegig und wenn man die Reaktion von seinem Bruder bedachte, konnte Yūri nun mehr als nur gut nachvollziehen, warum Victor das nicht gewollt hatte. Es war schon schmerzhaft für ihn gewesen, wie war das dann bloß für jemanden der wie sein großer Bruder ausgewachsen ist? Zaghaft blickte er zu Victor, der untypisch zusammengesunken auf dem Sessel saß. Nun, zusammengesunken war nicht das richtige Wort, stellte Yūri fest, denn selbst bei dieser Situation schaffte es Victor noch, ein Stück weit Haltung zu bewahren. Doch wenn man ihn kannte, wusste, wie er sonst war, fiel einem der Unterschied schon auf. Victor ließ seine Schultern hängen und sein, sonst immer so fröhlicher, Blick war fast schon verzweifelt auf seine Hände gerichtet, die nun auf seinem Schoß lagen. Yūri wollte zu ihm, ihn in seine Arme schließen, doch er fragte sich, ob Victor das überhaupt wollte. Immerhin war er Schuld daran, dass es zu dieser unschönen Szene gekommen ist. Er war es, der die beiden, die wie Brüder zusammen aufgewachsen waren, scheinbar entzweit hatte. Es war Otabek, der das betretende Schweigen durchbrach, in dem er laut schnaubend ausatmete. „Ich rede mit Yura. Keine Ahnung was das war, aber ich kann das so nicht glauben“, sagte er und blickte auf die Zimmertür. Victor nickte. „Ich muss auch mal den Transporter ausladen und dann zurückbringen, um mein Auto wiederzubekommen“, sprach er leise, wie zu sich selbst. „Ich komme mit“, nun traute sich Yūri doch, eine Hand auf Victors Arm zu legen. Victor schaute kurz auf und lächelte ihn traurig an, doch Yūri konnte auch Dankbarkeit in seinem Blick erkennen. „Ich kann ja schon mal die Kleinteile hoch tragen“, bot Katya an, die sich offensichtlich fehl am Platz fühlte. So ging jeder seiner Aufgabe nach. Sie saßen schweigend in seinem Auto und waren auf dem Rückweg. Victor wusste es zu schätzen, dass Yūri ihn nicht alleine lassen wollte, denn zu viele Dinge kreisten in seinem Kopf umher. Was würde Yūri nun denken? Er war ja so schon nicht sonderlich extrovertiert und dann so einen Spruch an den Kopf geklatscht zu bekommen? Sie hatten ohne viele Worte den Krempel ausgeladen und vor den Frachtenaufzug gehievt. Katya hatte ein paar Kissen und auch die Bilder nach und nach in die Wohnung getragen. Wenn jemand von ihnen geredet hatte, ging es nur um das Anheben der Kartons oder deren Unterbringung. Aber in der Zwischenzeit war Yūri immer stiller geworden und Victor machte sich langsam wirklich Sorgen, was die Worte seines Bruders bei ihm angerichtet haben könnten. Vielleicht glaubte er sogar, was der da gehört hatte und ging ihm am Ende womöglich noch aus dem Weg? Der Gedanke traf Victor wie ein Blitz. Er fuhr rechts ran, auf einen Parkplatz eines Supermarktes, der ihm gerade recht kam. „Yūri, hör mal, ich-“, doch Yūri unterbrach ihn: „Schon gut, ich kann das verstehen, Victor. Wirklich“, sagte er mit gesenktem Kopf. Verstehen? Wie konnte er das verstehen? Victor zog die Augenbrauen zusammen und ein wenig Ärger kochte in ihm hoch. „Es gibt da nichts, was du verstehen solltest, Yūri. Mein Bruder war einfach nur ein mieses Arschloch“, Victor spie die Worte fast aus und streckte die Hand nach Yūri aus, er sollte ihn endlich anschauen. „Aber trotzdem ist er dein Bruder“, antwortete Yūri, seine Stimme bebte ein wenig. „Was ihn nicht zu einem kleineren Arschloch werden lässt, Любимый. Er wird damit klarkommen müssen oder er muss zu Yakov ziehen", stellte Victor nun klar. Yūris Kopf hob sich mit einem Ruck, braune Augen schauten ihn fassungslos an. „Du machst nicht Schluss?“, fragte er. Victor brauchte ein paar Sekunden, um Yūris Worte zu verarbeiten. Er hatte den Eindruck, dass er einige Male ziemlich dümmlich blinzeln musste, bevor die Worte einigermaßen einsanken. „Ich... Bitte was? Warum um Himmels Willen soll ich mit dir Schluss machen?“, Victor fiel aus allen Wolken und hatte immer noch das Gefühl, irgendeinen kritischen Punkt verpasst zu haben. „Aber er ist doch ein Teil deiner Familie...“, wandte Yūri schwach ein. „Wenn er unsere Beziehung nicht akzeptieren kann, dann ist es sein Problem, nicht meins. Und vor allem nicht deins. Es wird meine Gefühle für dich nicht ändern und das möchte ich auch gar nicht. Natürlich wäre es mir lieber, wenn ihr euch auf Anhieb vertragen hättet. Aber bitte lass dich durch ihn nicht verunsichern. Und wenn er so weitermacht, muss er sich eben eine andere Bleibe suchen. Ich möchte nicht zwischen euch wählen, aber wenn ich muss, dann ist es der, der mich so liebt, wie ich bin und nicht der, der mich deswegen beleidigt“, er suchte Yūris Augen und blickte ihn fest an. Langsam fuhr er mit dem Daumen über Yūris Wangenknochen und Yūri schien sich in die Berührung hineinzulehnen. Sie blieben einen Moment so und genossen die Ruhe. Doch Victor machte sich immer noch Sorgen. „Любимый?“, fragte er daher leise, um die Ruhe des Moments nicht allzu sehr zu stören. „Warst du deswegen so still?“ Eigentlich konnte sich Victor die Frage selbst beantworten. „Auch. Aber ich wusste auch nicht, was ich sagen konnte, um dich zu trösten“, Yūri klang wirklich niedergeschlagen. Victor konnte nicht anders, als ihn zu einem Kuss heranzuziehen. Danach legte er kurz seine Stirn gegen Yūris. „Ich glaube, wir sollten beide mehr miteinander sprechen und weniger denken“, lachte er. „Ich hatte nämlich auch Sorgen, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest. Das hätte ich nicht ausgehalten“, gestand er. Yūris Augen waren groß, als er sich von ihm löste. „Ich würde dich niemals wegen so etwas verlassen“, sagte er und Victor war überrascht, wie erschrocken das klang. Er konnte sich ein Lächeln nicht ganz verkneifen. „Sag ich doch, wir müssen viel mehr miteinander reden. Vertraust du mir zukünftig auch deine Sorgen an, Любимый?“ Als Yūri nickte, legte Victor den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parklücke. „Dann wollen wir mal zu meinem Idioten von Bruder und ihn mal zur Rede stellen!“ Nur, dass sie ihn gar nicht zur Rede stellen mussten. Das wusste Yūri in dem Moment, als sie zur Tür herein kamen. Denn Yurio saß neben Otabek auf dem Sofa und sah ziemlich kleinlaut aus. Makkachin und Potya wurden gerade von Katya mit Futter versorgt, während Otabek leise, aber offenbar bestimmt auf Yurio einredete. Im ersten Moment schien es, als wüsste keiner, was er sagen sollte, doch dann machte überraschenderweise Yurio den ersten Zug: „Mit dem 'widerlich' habe ich nicht eure Beziehung gemeint. Ich will das nur echt nicht wissen, sehen oder hören!“, presste er hervor und hielt sich, wie um seine Worte zu untermalen, die Ohren zu. Yūri schaute zu Victor, der neben ihm stand und erkannte die verschiedensten Emotionen in Victors Gesicht. Aber vor allem konnte er die Erleichterung erkennen. Nicht nur in seinem Gesicht, auch in seiner Körpersprache. Dann machte Victor plötzlich ein paar Schritte nach vorne und zog Yurio in eine Umarmung. Dieser wehrte sich erst vehement, merkte jedoch schnell, dass er gegen seinen großen Bruder keine Chance hatte. „Du hast mir echt einen Schrecken eingejagt“, gestand Victor erleichtert. „Ja, 'tschuldige. Und jetzt lass mich los, alter Sack“, moserte Yurio und stemmte sich nun wieder gegen Victor, der es dieses Mal zuließ und ihn losließ. „Wir haben schon ein paar Sachen hoch gebracht. Ich mache mal Platz in meinem Zimmer“, damit floh er förmlich aus dem Wohnzimmer. Victor schaute ihm hinterher und wandte sich dann zu Otabek. „Wie hast du das geschafft?“, fragte er mit einem Staunen in der Stimme. „Ich habe ihm einfach erzählt, wie das für euch geklungen hat. Das hat schon gereicht. Seitdem warten wir auf eure Rückkehr. Aber er hat noch etwas davon gemurmelt, dass er dafür sorgen wird, dass du endlich dein Versprechen einhältst“, zuckte Otabek mit den Achseln. „Mein Versprechen?“, er zog die Augenbrauen zusammen und legte seinen Finger an die Lippe. „Du solltest das besser wissen!“, Otabek schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Da hatte er natürlich recht. Aber jetzt gab es auch Wichtigeres zu erledigen. „Also schön, dann bauen wir jetzt erst einmal die Möbel auf“, verkündete er. Nachdem sie die 4 Möbelstücke aufgebaut hatten, hatte Victor vorgeschlagen, gemeinsam Pizza zu bestellen. Bis diese geliefert wurden, war das Zimmer voll eingerichtet und Yurio fühlte sich sichtlich wohl. Yūri war erleichtert, dass alles so verlaufen war. Yurios Gefühlsausbruch am Anfang war überraschend heftig gewesen und hatte ihn wirklich erschüttert. Aber vor allem war er froh darüber, dass Victor so sehr zu ihm stand, auch wenn es ihm Sorgen bereitete, dass er dafür sogar seine Familie fallen lassen würde. Für ihn selbst war seine Familie sehr wichtig. Andererseits hatte er auch nie das Problem, dass seine Familie ihn anders haben wollte, als er war. Sie unterstützten ihn, egal was war. Er dachte an sein Telefonat zurück und wie seine Mutter mit ihm geschimpft hatte, als er Victor noch nicht gestanden hatte, dass er ihn auch liebte. Nun saßen sie über ihren Pizzen und es herrschte gefräßiges Schweigen. Bis Yurio unterbrach: „Sag mal, Victor. Wo ist eigentlich dein Laptop oder hast du einen PC?“ „Laptop? Warum?“, fragte Victor sichtlich verwirrt. „Na, so ein klappbarer Computer halt! Lebst du noch in der Steinzeit?“, knurrte Yurio. „Nein, aber warum fragst du? Ich habe meinen Arbeitslaptop“, erklärte Victor. „Ist das dein ernst? Muss ich hier tatsächlich ohne auskommen? Hast du wenigstens ein Tablet?“, schnaubte Yurio. „Nein. Aber du hast doch auch einen Laptop. Warum hast du ihn nicht mitgebracht?“, fragte Victor. „Ich habe einen PC und den schnall ich mir mit Sicherheit nicht auf den Rücken und tingel durch die halbe Weltgeschichte!“ Und schon war die gereizte Stimmung wieder da, stellte Yūri fest. Ob Yurio immer so aufbrausend war? „Wofür brauchst du denn den Laptop? Ich habe noch einen bei mir und mit ein paar Hardware-Modernisierungen wäre er sicherlich wieder in Ordnung. Das ein oder andere Teil habe ich bestimmt noch da“, bot Yūri an. „Dann sag mir später, was du dafür bekommst“, meinte Victor. Ich werde ganz sicher kein Geld von dir nehmen, dachte Yūri und grinste, als ihm eine Idee kam. „Eine Pizza und einen Kuss.“ Yurio imitierte ein Würgereiz und Katya kicherte, doch Victor guckte ihn nur streng an. „Das gilt wohl kaum als Bezahlung“, moserte er. „Du hast mich gerade zum vierten Mal zum Essen eingeladen und dich um mich gekümmert, als ich fast nur im Bett liegen konnte“, konterte Yūri. „Das doch nur, weil ich dir hinten reingefahren bin!“, kam es von Victor. Yurio, der gerade ein Schluck getrunken hatte, spuckte das Wasser quer über den Tisch. Otabek klopfte dem hustenden Yurio auf dem Rücken, während aus Katyas Kichern ein Lachanfall geworden war. „Er ist mir ins Auto gefahren!“, stellte Yūri kichernd klar, auch wenn es ihm ein wenig unangenehm war, während Victor sein Gesicht in den Händen vergrub. „Gib mir am besten deine Nummer, ich rufe dich morgen an, wenn ich von der Uni zurück bin. Dann können wir in Ruhe besprechen, was genau du brauchst, in Ordnung?“ Zu Yūris Erleichterung nickte Yurio und zückte sein Handy. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)